Madame le Commissaire und der Tod des Polizeichefs - Pierre Martin - E-Book
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Madame le Commissaire und der Tod des Polizeichefs E-Book

Pierre Martin

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Beschreibung

Lieben Sie die Provence? - Dann begleiten Sie Madame le Commissaire bei ihren Ermittlungen! Madame Le Commissaire – das ist Isabelle Bonnet, ehemalige Leiterin einer Pariser Spezialeinheit, die es an die Côte d'Azur in Südfrankreich verschlagen hat. Im dritten Band der erfolgreichen Provence-Krimis von Pierre Martin ermittelt die charmante Kommissarin im Dickicht der High Society von Cannes und Toulon. Eigentlich will sich Isabelle in der schönen Landschaft an der Côte d'Azur von ihren traumatischen Erlebnissen in Paris erholen, doch ihre außergewöhnliche Expertise ist mal wieder gefragt: bei dem angeblichen Selbstmord eines hohen Polizeibeamten aus der Côte d'Azur-Hafenstadt Toulon kommt sie einigen Ungereimtheiten auf die Spur. Und da sind ja auch noch die ungeklärten Fälle, die sie mit ihrem schrulligen Assistenten Apollinaire lösen muss: Der tödliche Überfall auf ein Juweliergeschäft in Cannes offenbart sich nach einiger Recherche als ein abgekartetes Spiel und so dauert es nicht lange, bis Gangsterbosse und das organisierte Verbrechen an der Côte d'Azur auf der Bildfläche erscheinen... Ein Provence-Krimi mit viel Flair, Lokalkolorit und einer Kommissarin, die man nicht so leicht vergisst Die Provence-Krimis mit Madame le Commissaire – mehr Frankreich und Côte d'Azur geht nicht: der Duft von Lavendel, sanft geschwungene Hügel und das azurblaue Meer, dazu das "leichte Leben" mit gutem französischen Essen, dem Verweilen in Cafés und Brasserien. Gepaart mit der spannenden und unterhaltsamen Ermittlungsarbeit von Isabelle Bonnet ist dieser dritte Provence-Krimi von Pierre Martin die perfekte Sommerlektüre – nicht nur für Liebhaber der Côte d'Azur. »Spannend geschrieben mit überraschenden Ereignissen ist es eine anregende Urlaubslektüre.« badische-zeitung(.de) »Frankreichliebhaber und Kenner der französischen Sprache [...] würden am liebsten die Koffer packen und an die Côte d'Azur oder Provence reisen.« Gavroche Entdecken Sie weitere Fälle der Madame le Commissaire-Bestseller-Krimi-Reihe: - Madame le Commissaire und das geheimnisvolle Bild (Band 4) - Madame le Commissaire und die tote Nonne (Band 5) - Madame le Commissaire und der tote Liebhaber (Band 6) - ... - Madame le Commissaire und das geheime Dossier (Band 11) Entdecken Sie auch unterhaltsamen Cozy Crime von Bestseller-Autor Pierre Martin: - Monsieur le Comte und die Kunst des Tötens - Monsieur le Comte und die Kunst der Täuschung

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Pierre Martin

Madame le Commissaire und der Tod des Polizeichefs

Kriminalroman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Das Sirren der Zikaden, der würzige Duft von Lavendel und hinter sanft geschwungenen Hügeln das azurblaue Meer, von einem silbrigen Schleier aus flimmerndem Licht ins Reich der Märchen gerückt. Das Dörfchen Fragolin im Hinterland der Côte d’Azur wäre der ideale Ort, um die Seele baumeln zu lassen – doch dazu fehlt Kommissarin Isabelle Bonnet mal wieder die Zeit. Der angebliche Selbstmord eines hohen Polizeibeamten, der Besuch eines exzentrischen Bekannten und ein Überfall auf ein Juweliergeschäft an der Croisette in Cannes halten Madame le Commissaire in Atem.

Warum Madame le Commissaire? Und nicht Madame la Commissaire?Das erste Buch dieser Reihe ist bereits 2014 erschienen. Damals waren im Französischen noch Berufsbezeichnungen wie Madame le Président oder Madame le Ministre gebräuchlich. Entsprechend auch Madame le Commissaire. Im Zuge der Genderdebatte wandelt sich auch in Frankreich die zuvor stark männlich geprägte Sprache. Weshalb es heute wohl Madame la Commissaire heißen würde. Der Titel der Reihe ist also seiner Zeit geschuldet. Im übrigen hat sich unsere Protagonistin schon vor Jahren in einem Dialog mit Apollinaire zu diesem Thema geäußert (im Buch: »Madame le Commissaire und der tote Liebhaber«). Dabei hat sie klargestellt, dass sie sich nicht diskriminiert fühlt. Was natürlich Ansichtssache ist. Aber es passt zu ihrer Persönlichkeit.

Inhaltsübersicht

1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. KapitelFinLeseprobe »Madame le Commissaire und das geheimnisvolle Bild«
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1

Der Friedhof hätte nicht schöner liegen können. Von La Seyne reichte der Blick über die Meeresbucht nach Toulon und den dahinter liegenden monts toulonnais, den Hausbergen der Hafenstadt mit dem markanten Gipfel des Mont Faron. Aber heute interessierte sich kein Mensch für das eindrucksvolle Panorama. Auch Isabelle nicht, die das baldige Ende der Trauerfeier herbeisehnte. Sie hasste Beerdigungen – und fragte sich, warum sie überhaupt hier war. Allenfalls aus Pflichtbewusstsein, vielleicht aus Betroffenheit, aber ganz bestimmt nicht aus Sympathie für den Verstorbenen. Eine uniformierte Kapelle spielte einen Trauermarsch von Frédéric Chopin. Isabelle hatte sich hinter einer dunklen Sonnenbrille versteckt. Sie schaute auf die Begräbnisstätte mit den vielen Kränzen und Blumenbouquets. Eine unübersehbare Schar von ergriffen dreinblickenden Menschen drängte sich zwischen den Grabsteinen. Draußen vor dem cimetière waren alle Gassen und Bürgersteige mit Autos zugeparkt. Aber es würde keine Strafzettel geben, denn die meisten Fahrzeuge waren weiß-blau lackiert und trugen die Aufschrift Police. Dazwischen dunkle Limousinen mit getönten Scheiben. Sogar der Bürgermeister von Toulon war gekommen. Commandant Bastian von der Police nationale wäre zufrieden und geschmeichelt. Aber er hatte nichts mehr davon. Er war tot!

 

Isabelle Bonnet konnte nicht anders, sie musste an die vielen Streite denken, die sie als Madame le Commissaire mit dem verstorbenen Polizeichef von Toulon ausgefochten hatte. Schon bei ihrer ersten Begegnung waren die Fetzen geflogen. Bastian, der für das gesamte Département Var zuständig war, hatte geglaubt, er wäre ihr disziplinarisch vorgesetzt und könnte sie von ihrem Fall abziehen. Als sie ihm kalt lächelnd Kontra gab, hatte er zunächst mit ihrer Entlassung aus dem Staatsdienst gedroht, dann sogar versucht, ihr Handschellen anlegen zu lassen. Das hatte sie amüsiert. Sie mochte es, wenn großtuerische Machos in verblendeter Selbstüberschätzung über das Ziel hinausschossen – und voll gegen eine imaginäre Wand rannten. Es hatte eines einzigen Anrufs bedurft, bei Balancourt in Paris, und Bastian musste sich mit eingezogenem Schwanz und rotem Kopf davonschleichen. Natürlich hatte er ihr das nie verziehen. Fortan hatte er keine Gelegenheit ausgelassen, ihr Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Aber sie war nie ins Stolpern geraten, geschweige denn zu Fall gekommen. Ihr kleines Kommissariat mit Sitz in Fragolin, im Hinterland der Côte d’Azur gelegen und für besondere Fälle zuständig, hatte sich allen Anfeindungen zum Trotz behauptet.

 

Isabelle schluckte. Ihr wurde bewusst, dass ihr Bastian dennoch fehlen würde. Kein empörter Anruf mehr aus Toulon und keine Wutausbrüche mit Schnappatmung. Schade. Das Leben in der Provence würde zukünftig langweiliger werden, es würde gewissermaßen an Würze fehlen. Sie gestand sich ein, dass sie so was wie Mitleid empfand. Selbst ihren ärgsten Rivalen wünschte sie nichts wirklich Böses – sie sollten sie nur in Ruhe lassen. Dass der einflussreiche Polizeichef von Toulon, der von Sanary-sur-Mer über Saint-Tropez bis Fréjus das Sagen hatte, freiwillig aus dem Leben geschieden war, hatte allgemein große Bestürzung ausgelöst. Alles hätte man von ihm erwartet, aber keinen Selbstmord. Selbst ihr wundersamer Assistent Apollinaire, der seinem früheren Chef in tiefer Abneigung zugetan war, hatte eine Träne verdrückt. Er habe Bastian zwar die Pest an den Hals gewünscht, aber deshalb hätte er sich doch nicht umbringen müssen.

Isabelle warf einen Blick zu Sous-Brigadier Apollinaire, der regungslos dastand, wie so oft in seltsamer Schräglage, aber mit korrekt geknöpfter Uniformjacke und vorschriftsmäßig sitzendem Krawattenknoten. Das durfte man als späte Respektsbezeugung interpretieren.

Das Polizeiorchester beendete den Trauermarsch. Jetzt trat der Bürgermeister von Toulon ans Grab, um Worte der Anteilnahme zu sprechen und das Leben des Verstorbenen zu würdigen. Das würde dauern. Isabelle hielt den Moment für geeignet, ihren Rückzug einzuleiten. Dafür, dass sie mit Trauerfeiern nicht klarkam und sich fast immer vor ihnen drückte, hatte sie es erstaunlich lange ausgehalten. Apollinaire erkannte ihre Absicht. Er nickte ihr kurz zu, er würde bleiben und die Stellung halten.

Isabelle gelang es, sich ohne größeres Aufsehen zu entfernen. Das war nicht schwer, denn unter den Trauergästen gab es nur wenige, die sie kannten. Durch ein schmiedeeisernes Seitentor verließ sie das Friedhofsgelände. Ihr Auto parkte an der Place du Souvenir Français direkt unter einem Halteverbotsschild. Sie atmete tief durch. Geschafft. Sie hatte dem Commandant ihre Referenz erwiesen. Das gehörte sich so. So viel Anstand musste sein. Aber jetzt musste sie weg – weg von den vielen Grabsteinen, von den Gebeinen, die darunter vermoderten, weg von der Totenglocke und der chapelle, in der Kerzen brannten und es nach Weihrauch roch. All das weckte Erinnerungen in ihr, schlimme Erinnerungen, mit denen sie nur schwer fertig wurde. Auch nach so vielen Jahren. Aber das war eine andere Geschichte – sie wollte jetzt nicht daran denken.

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2

Im Café des Arts war wenig los. Auch sonst machte Fragolin zu dieser nachmittäglichen Stunde einen verschlafenen Eindruck. Isabelle saß im Schatten unter einer Markise, legte den Kopf zur Seite und betrachtete ihr Glas mit menthe à l’eau. Vielleicht hätte sie statt des verdünnten Pfefferminzsirups doch besser einen Wein bestellt? Ein kleiner Stimmungsaufheller würde ihr guttun. Die Trauerfeier steckte ihr noch in den Knochen, da hatte auch die kalte Dusche nichts geholfen.

Sie trug Bermudas, ausgetretene Espadrilles an den Füßen und eine luftige weiße Bluse. Damit entsprach sie kaum dem Bild einer Madame le Commissaire – während der Dienstzeit. Das war das Schöne an ihrer Tätigkeit. Kein Hahn krähte danach, wie sie sich kleidete, niemand wunderte sich, dass ihr Kommissariat im Rathaus gerade geschlossen war. Es kam sowieso niemand vorbei. Für alle kriminellen Belange des Alltags war die Gendarmerie zuständig. Wo die Verantwortlichkeiten ihres Büros lagen, wusste kaum einer so richtig. Um ehrlich zu sein, war es ihr selber nicht immer klar. Aber das machte nichts, Hauptsache, ihre kleine Außenstelle der Police nationale wurde nicht geschlossen. Was aktuell nicht zu befürchten war, denn das Kommissariat war extra für sie gegründet worden, von keinem Geringeren als von Maurice Balancourt im Ministère de l’intérieur, sozusagen ihr oberster Dienstherr in Paris und zudem so etwas wie ein väterlicher Freund. Er fand, dass die Police nationale ihr diesen Gefallen schuldig war, nach allem, was sie in der Vergangenheit geleistet und durchlitten hatte. Außerdem hatte sie in ihrer neuen Funktion bereits spektakuläre Erfolge vorzuweisen. Sie hatte in relativ kurzer Zeit gleich mehrere Morde aufgeklärt, darunter einen, der über zehn Jahre zurücklag, hatte die Täter hinter Schloss und Riegel gebracht – und fast nebenher einem Kronzeugen der Staatsanwaltschaft den Hintern gerettet. Isabelle lächelte. Nicht schlecht für eine Aussteigerin, die der großen Karriere in Paris adieu gesagt hatte, die sich freiwillig zu einer kleinen Kommissarin hatte degradieren lassen, um sich in ihrem provenzalischen Geburtsort von den Blessuren ihrer früheren Tätigkeit zu erholen. Verletzungen, die sie als hochdekorierte Kommandeurin einer Spezialeinheit an Leib und Seele erfahren hatte. Stattdessen wollte sie den Duft von Lavendel atmen, dem Zirpen der Zikaden lauschen und gelegentlich hinunter ans Meer fahren, um den Sand an den nackten Füßen zu spüren und nach dem Schwimmen das Salz auf den Lippen.

In der Theorie hatte das gut geklappt, in der Praxis war sie von der Realität eingeholt worden. Sie hatte sich in Kriminalfälle verstrickt, die ihren vollen Einsatz forderten. Sollte sie sich beklagen? Nein, natürlich nicht. Die Ablenkung hatte ihr gutgetan, es ging ihr heute entschieden besser als zuvor. Es kam wohl auf die richtige Balance an: Spannung und Entspannung. Wie bei Yin und Yang. Momentan war Entspannung angesagt. Sie hatte nichts zu tun. Das wurde fast schon langweilig. Zu viel dunkles Yin machte müde.

»Hallo, Isabelle. Ich dachte, du bist auf der Beerdigung in Toulon?«

Sie hatte Clodine nicht kommen sehen. Ihre Freundin aus Kindertagen setzte sich an ihren Tisch.

»Die Trauerfeier war schon heute Morgen. Ich bin nicht bis zum Schluss geblieben und gleich zurückgefahren.«

Clodine gab dem Ober ein Zeichen und bestellte zwei Gläser Rosé.

»Vom Pfefferminzwasser bekommt man Magenflöhe«, stellte sie mit Blick auf Isabelles Glas fest.

»Was ist mit deinem Laden? Hast du zugesperrt?«

Clodine, die gleich um die Ecke ein Geschäft hatte, in dem sie feine Seifen verkaufte und allerlei Schnickschnack für Touristen, nickte.

»Ich gönne mir eine Pause, kommt eh keiner. Solche Tage gibt es.«

»Morgen wünsche ich dir einen Reisebus mit Japanern.«

»O ja, das wäre toll. Japaner lieben meine Seifen, vor allem die herzförmigen cœurs mit Lavendelduft.« Clodine musterte Isabelle. »Du siehst erschöpft aus, oder täuscht der Eindruck?«

Isabelle zuckte mit den Schultern. »Erschöpft bin ich nicht, wovon auch? Aber die Trauerfeier hat mich mitgenommen. Ich hätte nicht hingehen sollen.«

»Hab mich auch gewundert. Du gehst doch grundsätzlich auf keine Beerdigungen. Stimmt doch, oder?«

»Ja, seit dem Tod meiner Eltern. Damals war ich noch ein Kind. Als später meine Großmutter gestorben ist, war ich gerade auf einer Fortbildung in Amerika. Das war’s dann. Du hast recht, Beerdigungen sind nichts für mich. Heute Morgen musste ich prompt an meine verstorbenen Eltern denken und an meine toten Kollegen, die …« Isabelle brach mitten im Satz ab. Sie holte tief Luft, ihr Blick ging ins Leere, sie strich sich über die Narbe an ihrer Stirn.

Clodine nahm ihre Hand. »Tut mir leid.«

»Ist schon gut. Auf der Beerdigung meiner Kollegen war ich auch nicht, da lag ich auf der Intensivstation.« Isabelle rang sich ein Lächeln ab und versuchte es mit einem Scherz: »Also tu mir einen Gefallen und bleib möglichst lange am Leben, am besten länger als ich. Dann muss ich nie mehr zu einer Trauerfeier.«

Clodine nahm ihr Glas und stieß mit Isabelle an. »Ich versuche mein Bestes.«

»Sehr schön, mehr kann ich nicht erwarten.«

»Trotzdem interessiert mich, warum du gerade bei dem Ekel Bastian eine Ausnahme gemacht hast? Du hast ihn nicht gemocht.«

»Vor allem hat er mich nicht gemocht. Aber das ist kein hinreichender Grund, ihm die letzte Ehre zu verweigern. Na ja, ich hab auch keine wirkliche Erklärung. Vielleicht hat er mir leidgetan? Ein kraftstrotzender Typ wie Bastian wird mit einer Krebsdiagnose konfrontiert und stürzt sich aus dem zwölften Stock eines Apartmenthauses. Das ist schon ziemlich tragisch.«

»Aber zu verstehen. Gerade solche Männer haben eine Heidenangst davor, zum Pflegefall zu werden. Da bringen sie sich lieber um.«

»Ist wohl so.«

Isabelle machte Clodine auf eine Familie aufmerksam, die am Café vorbeischlenderte. »Meinst du nicht, du solltest deinen Laden möglichst rasch wieder aufsperren?«

Clodine drehte sich um, nahm noch einen schnellen Schluck vom Wein und sprang auf. »Unbedingt. Für die Mutter hätte ich ein Shampoo mit Rosenduft, für den Vater ein Eau de Vie de Provence und für die Kinder Kappen mit Asterix und Obelix.«

»Lauf schon, ich übernehme die Rechnung.«

»Du bist ein Schatz.«

Isabelle sah Clodine erleichtert hinterher. Die Familie war gerade zur rechten Zeit gekommen. Sie hatte schon überlegt, wie sie das Thema wechseln könnte, denn sie hatte keine Lust, sich weiter über ihre Beerdigungsphobie zu unterhalten, über den verblichenen Commandant Bastian und über seinen Suizid. Der Tag war so schon unerfreulich genug. Nun ja, Clodine hatte es nur gut gemeint. Und die Idee mit dem Wein war nicht schlecht. Das immerhin. Jetzt musste sie nur noch an was Schönes denken. Aber das sagte sich so leicht.

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3

Den nächsten Morgen begann sie mit Croissant, café au lait und der aktuellen Ausgabe des Var-Matin. Auf der Titelseite der lokalen Tageszeitung gab es einen enthusiastischen Bericht über ein Jazz-Konzert im Belle-Époque-Casino von Beaulieu-sur-Mer. Darunter stand ein Kommentar zur Entwicklung der Fremdenverkehrszahlen an der Côte d’Azur. Und schon auf Seite zwei gleich mehrere Fotos von Bastians Beerdigung in La Seyne. Als ob es kein wichtigeres Thema gäbe als die Trauerfeier für einen cholerischen Polizeichef. Isabelle tunkte ein Croissant in den Milchkaffee – und entschuldigte sich für diesen Gedanken. Natürlich war das für die Region von Interesse. Nicht zuletzt boten die vielen Polizeiautos vor dem malerisch gelegenen Friedhof ein eindrucksvolles Bild. Doch, das ging in Ordnung. Aber nun war es auch gut.

 

Eine Stunde später öffnete sie die Tür zu ihrem Kommissariat im Rathaus von Fragolin. Apollinaire war schon da. Er befand sich in einer lebensbedrohlichen Situation. Auf einem Drehstuhl stehend, mit einem Fuß auf der Lehne, versuchte er ein Bild mit dem Konterfei von Charles de Gaulle aufzuhängen. Das Ganze machte einen ausgesprochen instabilen Eindruck. Es war den hohen Räumen im alten hôtel de ville geschuldet, dass ihr Assistent überhaupt eine Aufstiegshilfe benötigte, denn er war ebenso klapperdürr wie himmellang.

»Der General hatte Staub angesetzt«, gab Apollinaire eine kurzatmige Erklärung. »Jetzt glänzt er wieder, aber er will nicht mehr an seinen angestammten Platz zurück.«

Isabelle eilte zum Drehstuhl, der schon bedrohlich hin und her schlingerte, und hielt ihn fest.

»Merci, Madame. Jetzt schaff ich es.«

Es war Apollinaires Idee gewesen, in ihrem Büro den ersten Staatspräsidenten der Fünften Republik aufzuhängen. Der sei wesentlich respekteinflößender als der aktuelle Präsident – und habe eine längere Halbwertszeit.

Isabelle hatte Apollinaires Socken in Augenhöhe und stellte beruhigt fest, dass ihr Assistent nur bei der Trauerfeier eine Ausnahme gemacht hatte. Heute trug er wieder verschiedenfarbige Modelle, links rot-weiß gestreift und rechts marineblau. Für seine Verhältnisse fast schon konservativ.

»Attention, ich komme.«

Er stützte sich auf ihre Schulter und wagte den Absprung.

»Sie hätten sich den Hals brechen können. Gibt es im Haus keine Leiter?«

»Es ging auch so, dank Ihrer Hilfe. Ich bin ein großer Freund der konstruktiven Zweckentfremdung.« Er betrachtete den General, nahm Haltung an und salutierte. »Übrigens hat er eine Form der Gelbsucht«, stellte er mit Bedauern fest.

Isabelle runzelte die Stirn. »De Gaulle? Er ist 1970 gestorben, soviel ich weiß, an den Folgen eines Aorta-Risses.«

»Bien sûr, genauer gesagt am 9. November in Colombey-les-Deux-Églises, wo er auch begraben ist.«

»Aber Sie erwähnten doch gerade seine Gelbsucht?«

Apollinaire schüttelte den Kopf und deutete über die Schulter. »Ich sprach natürlich nicht von ihm, sondern von unserem Kaktus.«

»Aber warum schauen Sie dann das Bild vom General an, wenn Sie vom Kaktus auf dem Fensterbrett sprechen?«

»Madame, verzeihen Sie, ich gebe zu, das war verwirrend. Meine Gedanken sind meinem Blick vorausgeeilt.«

»Und warum Gelbsucht? Unser Kaktus ist doch kein Mensch. Außerdem macht er einen gesunden Eindruck.«

»O ja, dafür, dass er von seinen früheren Besitzern sträflich missachtet wurde, hat er sich glänzend gehalten. Jede andere Pflanze wäre jämmerlich eingegangen. Unser Pilosocereus chrysostele hat einen bemerkenswerten Überlebenswillen.«

Isabelle ging zum Fenster und nahm den Kaktus genauer in Augenschein.

»Meinen Sie die gelben Stellen?«

»Ganz genau. Erst dachte ich an eine Wurzelfäule und hatte den Schadpilz Phytophthora in Verdacht.«

Isabelle, die es gewohnt war, dass Apollinaire auf den unglaublichsten Gebieten Bescheid wusste, je abwegiger, desto genauer, war jetzt doch verblüfft.

»Ich wusste gar nicht, dass Sie sich so gut mit Kakteen auskennen?«

»Nicht wirklich, Madame, aber es gebietet der Respekt gegenüber unserem einzigen Bürogenossen, sich mit ihm eingehend zu beschäftigen. Und jetzt weiß ich, dass er wohl nur unter Eisenmangel leidet und unter einem zu hohen pH-Wert. Ich denke, wir sollten ihn umtopfen.«

Isabelle lachte. »Dann tun Sie das. Ich bewillige hiermit den Kauf eines neuen Topfes.«

»Und Blumenerde.«

»Selbstverständlich, die Investition kann ich verantworten.«

»Merci. Ich hoffe, Sie hatten eine gute Rückfahrt.«

»Gestern? Aber ja, kein Problem. Und Sie?«

»Ich habe noch mit einigen ehemaligen Kollegen ein Glas getrunken und über frühere Zeiten geredet. Aber dann hatte ich auch genug. Qu’il repose en paix!«

»Möge er in Frieden ruhen! So soll es sein.«

 

Sie deutete auf eine abgegriffene Akte, die auf ihrem Schreibtisch lag. »Wir sollten uns zur Abwechslung mal wieder einen Fall vornehmen.«

»Einen aus der Kiste mit den verstaubten, unaufgeklärten Fällen? Eine wunderbare Idee. Haben Sie einen Vorschlag?«

»Ich habe noch mal über den Überfall auf das Juweliergeschäft in Cannes nachgedacht, bei dem nicht nur die Frau des Inhabers erschossen wurde, sondern auch eine prominente Kundin aus dem Filmgeschäft.«

»Ich erinnere mich. Auch daran, dass Sie gesagt haben, dass alles für einen bandenmäßigen Überfall spreche und dass solche Gangs leider zur Côte d’Azur gehörten wie die Palmen zur Croisette. Ich glaube, das waren Ihre Worte.«

»So habe ich das gesagt? Nun, da hatte ich leider recht, aber wohl auch mit der Annahme, dass die Ganoven nach über sechs Jahren sicherlich längst über alle Berge sind, nicht mehr am Leben oder wegen eines anderen Delikts im Gefängnis.«

»Weshalb es wenig Sinn mache, den Fall wieder aufzurollen. Das war Ihre Schlussfolgerung.«

»Ich hab mir die Akte erneut angeschaut. Es gibt da einige Ungereimtheiten. Angenommen, es war kein bandenmäßiger Überfall, sondern man hat sich nur der bekannten Muster bedient, um eine falsche Spur zu legen, dann würde es vielleicht doch Sinn machen, mal genauer nachzuforschen. Einen Versuch wäre es wert.«

Apollinaire rieb sich erfreut die Hände. »Absolut. Wo fangen wir an?«

»Zunächst kaufen Sie einen Blumentopf und Kaktuserde, dann sehen wir weiter.«

»Blumentopf, Kaktuserde«, wiederholte Apollinaire, »und dann kommen die Juwelen.«

Isabelle nickte. »Ganz genau, und zwar in dieser Reihenfolge.«

 

Wenig später war sie alleine im Kommissariat, sie hatte die Füße auf einen Hocker gelegt und dachte nach. Sie griff zum Telefon, zögerte, zog die Hand wieder zurück und biss sich auf die Unterlippe. Nein, den Gefallen würde sie ihm nicht tun. Thierry Blès, die untreue Seele. Wirft einfach seine vielgepriesenen Prinzipien über Bord und lässt sich für ein politisches Amt nach Paris locken. Von wegen savoir-vivre und die genussvollen Freuden eines entspannten Lebens in der Provence. Alles blödes Gerede. Offenbar waren die Verlockungen einer Politkarriere größer. Sein Schreibtisch im Bürgermeisterbüro, nur ein Stock über ihrem, war verwaist. Offiziell übte er das Amt noch aus, bis zur vorgezogenen nächsten Wahl. Er hatte versucht, ihr seine Entscheidung zu erklären, dass es nämlich eine Chance sei, den oft missachteten Interessen der Region in Paris eine Stimme zu geben. Er mochte ja recht haben, aber es war trotzdem ein Bruch mit seiner Lebensphilosophie. Gleichzeitig setzte er ihre Beziehung aufs Spiel, auch das. Sie stand auf und ging im Zimmer auf und ab. Ihre Beziehung? Nun, sie hatten nicht zusammengelebt, aber sie waren gut befreundet gewesen, sehr gut sogar – auch in den Stunden zwischen den Tagen.

Sie blieb erschrocken stehen. Hatte sie in ihren Gedanken gerade die Vergangenheitsform gewählt? Waren befreundet gewesen … Thierry glaubte, sie würden es schaffen. Er komme so oft nach Fragolin, wie es nur gehe. Mit dem Hochgeschwindigkeitszug TGV sei das kein Problem. Paris liege doch nicht auf einem anderen Stern. Natürlich lag Paris auf einem anderen Stern. Wenn das jemand wusste, dann sie. Deshalb hatte sie ja die Galaxie gewechselt und lebte jetzt hier. Ob das gutgehen würde? Ob ihre Beziehung eine Perspektive hatte? Möglich war es – aber sie spürte, dass es nicht einfach werden würde.

Zögerlich näherte sie sich erneut dem Telefon. Sollte sie oder sollte sie nicht? Oder lag es nicht vielmehr an ihm, zum Hörer zu greifen?

Sie zuckte zusammen, als just in diesem Augenblick das Telefon klingelte. Gedankenübertragung? Gab es das? In fester Erwartung, dass Thierry am Apparat war, hob sie ab.

»Hallo, chérie«, wurde sie von einer sonoren Stimme begrüßt.

Nein, das war nicht Thierry. Aber das Gespräch kam aus Paris, das schon, und zwar aus dem Innenministerium. Maurice Balancourt war nicht nur ihr oberster Chef, sondern der Einzige, der sich die Freiheit nahm, sie chérie zu nennen. Er durfte das. Balancourt durfte fast alles, er schwebte gewissermaßen über den Dingen.

»Hallo, Maurice«, antwortete sie, »schön, dich zu hören.«

»Das Pläsier ist ganz auf meiner Seite. Wie geht es meiner kleinen Isabelle?«

Sie lächelte. Meiner kleinen Isabelle? Balancourt durfte auch das. Er war schon im Seniorenalter.

»Tout va bien, mir geht es gut. Die Sonne scheint, es riecht nach Lavendel.«

»Nach Lavendel? In deinem Büro? Du willst mich wohl veralbern. Nur weil du weißt, dass vor meinem Fenster die Autos im Stau stehen und die Luft verpesten. Aber ich liebe das. Das ist Paris, hier pulst das Leben, das hält mich jung.«

Unpassenderweise musste er gerade jetzt heftig husten. Isabelle verkniff sich einen Kommentar. Balancourt war ein großer Zigarrenraucher, da kam es auf die Abgase auch nicht mehr an.

Schließlich fuhr er fort: »Wie war es auf der Trauerfeier in La Seyne?«

»Du weißt, dass ich dort war?«

Balancourt ließ ein heiseres Lachen vernehmen. »Du kennst mich doch, ich weiß alles. Auch, dass du frühzeitig gegangen bist. Aber ich fand’s gut, dass du überhaupt dort warst.«

»Ist mir nicht leichtgefallen.«

»Hast du gerade viel zu arbeiten?«, wechselte Balancourt das Thema.

Sie warf einen Blick auf die Mappe mit dem Bericht zum Überfall auf das Juweliergeschäft. Es wäre verfrüht, davon zu sprechen.

»Eine ehrliche Antwort? Nein, habe ich nicht.«

»Lust auf etwas Abwechslung?«, fragte Balancourt.

Isabelle schwante Schlimmes. »Nicht schon wieder. Ich hasse deine kreativen Einfälle.«

»C’est pas vrai, in Wahrheit liebst du meine Einfälle, gib es zu.«

»Das letzte Mal hast du mir einen Kronzeugen untergejubelt, hinter dem bezahlte Killer her waren. Das war nicht nett.«

»Ihr hattet doch eine schöne Zeit miteinander. Na egal, was ich dir heute anbiete, ist völlig harmlos.«

»Das sagst du immer.«

»Doch, doch, völlig ungefährlich, nur etwas delikat, aber ganz bestimmt kurzweilig. Außerdem würdest du mir einen großen Gefallen tun.«

Isabelle lachte. »Jetzt hast du mich wieder am Haken. Wie kann ich dir einen Gefallen abschlagen?«

»Ich würde es akzeptieren, schweren Herzens, aber ich würde.«

»Also, schieß schon los! Worum geht es?«

»Nun, wo soll ich anfangen? Machen wir es kurz: Es geht um Commandant Bastian. Ich möchte dich als Sonderermittlerin einsetzen.«

»Wie bitte?«

»Du hast schon richtig verstanden. Sozusagen eine Madame le Commissaire mit besonderen Befugnissen.«

»Was hat das mit Bastian zu tun?«

»Ich möchte, dass du seinen Selbstmord untersuchst. Ich will wissen, weshalb er sich umgebracht hat.«

»Es gibt einen Abschiedsbrief«, stellte sie fest. »Er hatte Krebs.«

»Tja, das wird wohl der Grund gewesen sein. Ich sagte ja, der Auftrag ist völlig harmlos.«

»Die Kollegen in Toulon haben die näheren Umstände seines Suizids gewiss untersucht. Das ist Routine, erst recht im Fall ihres Chefs.«

»Natürlich haben sie das, der Bericht liegt auf meinem Schreibtisch. Aber sagen wir mal so: Er stellt mich nicht zufrieden. Deshalb würde ich dich bitten, die Begleitumstände seines bedauerlichen Ablebens etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. C’est tout.«

Isabelle versuchte sich vorzustellen, wie das ablaufen könnte.

»Die Kollegen in Toulon werden nicht begeistert sein«, stellte sie fest.

Balancourt hüstelte. »Ich sagte ja, der Auftrag ist etwas delikat, das muss ich zugeben. Freunde wirst du dir keine machen.«

»Ich brauche keine Freunde, ich hab ja dich.«

»Chérie, ich küsse dich.«

»Danke, grüß deine Frau von mir.«

»Das mache ich. Um auf deinen Auftrag zurückzukommen: Ich will sicherstellen, dass es keine anderen Gründe für seinen Selbstmord gibt, vielleicht interne Gründe, die von seinen Mitarbeitern vertuscht werden.«

»Hoppla, gibt’s dafür Anhaltspunkte?«

»Nein, mir sind keine bekannt. Aber bei dem Selbstmord eines Commandant gehen bei mir die Warnlampen an. Ist alles schon da gewesen.«

»Das kann ich nachvollziehen«, sagte sie, »wobei Bastians Krebserkrankung als Motiv schon ziemlich überzeugend ist. Aber ich kann mich ja mal umhören.«

»Bravo, wir sind uns also einig. Dein neuer Dienstausweis ist bereits in der Post. Das Protokoll zu Bastians Selbstmord ist auch unterwegs. Gleich im Anschluss geht eine Nachricht an die Präfektur in Toulon, die dich als Sonderermittlerin der Police nationale legitimiert und mit allen Vollmachten ausstattet.«

»Du sagtest, der Dienstausweis sei schon in der Post? Was, wenn ich abgelehnt hätte?«

Balancourt lachte. »Isabelle, ich kenne dich, wahrscheinlich sogar besser als du dich selbst. Warum solltest du ablehnen?«

»Da gäbe es viele Gründe.«

»Dennoch hast du meinen Auftrag angenommen.«

»Das stimmt, aber nur, weil du es bist.«

»Sehr schön. Hoffen wir, dass nichts dabei herauskommt. Das wäre mir am liebsten.«

»Mir auch.«

»Au revoir, chérie!«

»Adieu, du alter Verführer.«

»Na, na, so alt bin ich nun auch wieder nicht.«

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4

Apollinaire sah sie ungläubig an. »Ist das wahr? Wir sollen unseren Kollegen ins Handwerk pfuschen und Bastians Selbstmord untersuchen? Das gibt böses Blut.«

Obwohl Isabelle seine Befürchtungen teilte, wiegelte sie ab. »Für böses Blut gibt’s keinen Grund. Ich gehe davon aus, dass es nichts zu verbergen gibt. Also führe ich ein paar höfliche Gespräche und schreibe einen abschließenden Bericht. Das war’s dann.«

Apollinaire griff sich in den Hemdkragen und zog daran. Dabei riss der oberste Knopf ab, was er nicht zu bemerken schien.

»In Toulon mögen die uns eh nicht, und jetzt kommen wir daher und schauen ihnen auf die Finger. Ich bleib dabei, das gibt Ärger.«

Isabelle sah ihn herausfordernd an. »Und wenn schon, damit kommen wir klar.«

»Ich hoffe, Sie haben recht. Immerhin kann uns Bastian nicht mehr in die Parade fahren, das ist schon mal ein Vorteil. Aber sein Nachfolger ist nicht viel besser. Capitaine Richeloin ist ein Abziehbild vom Alten, nur hat er mehr Haare auf dem Kopf.«

»Und genauso viele Haare auf den Zähnen, ich weiß. Capitaine Richeloin und ich hatten bereits das zweifelhafte Vergnügen. Er war dabei, als mich Bastian von meinem ersten Fall abziehen wollte. Er und ein gewisser Lieutenant Parpin.«

Apollinaire nickte. »René Parpin ist ganz okay, aber er hat nicht viel zu sagen.«

Isabelle überlegte und kam zu einer Entscheidung. »Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte sie, »ich nehme Sie aus der Schusslinie. Ich kann Sie ja verstehen, das sind Ihre ehemaligen Kollegen, mit denen Sie schon mal einen trinken gehen, so wie nach Bastians Beerdigung. Wir machen es so: Sie bleiben im Hintergrund und helfen mir bei der Recherche. Offiziell treten Sie nicht in Erscheinung. Als Erstes können Sie mir mal alles ausdrucken, was Sie im Internet, in den Medien und im Polizeicomputer zu Bastians Selbstmord finden. Auch wenn es irgendwelche Berichte aus der Vergangenheit zu seiner Person geben sollte. Einfach alles, und sei es noch so belanglos. Dann haben wir schon mal ein eigenes Dossier, das ist ein Anfang. Ansonsten können Sie sich mit dem Überfall auf das Juweliergeschäft befassen.«

Ihrem Assistenten war die Erleichterung anzusehen. »Das ist ein großartiger Vorschlag. Ich werde Sie nicht enttäuschen.«

»Davon bin ich überzeugt.«

Isabelle deutete unter seinen Schreibtisch. »Da unten müsste irgendwo ihr Kragenknopf sein. Ihre Freundin Shayana kann ihn ja wieder annähen.«

Er sah sie empört an. »Einen Knopf annähen? Das kann ich natürlich selbst, so was lernt man auf der Polizeischule in der ersten Woche. Wo, sagten Sie gleich, wäre der Knopf?«

 

Später, als sie sich auf den Weg nach Hause machte, am verwaisten Bouleplatz vorbei und nur kurz an die zurückliegenden Partien mit Thierry denkend, realisierte sie langsam, worauf sie sich eingelassen hatte. Noch heute Morgen hatte sie gehofft, dass das Kapitel Bastian endgültig der Vergangenheit angehörte, und jetzt wurde einfach eine neue Seite aufgeschlagen. Der Mann verfolgte sie über den Tod hinaus. Und sie war so blöd, sich darauf einzulassen. Selber schuld. Sie hatte kein Mitleid verdient. Commandant Bastian, dessen Nachname auch als Vorname taugte. Bastian hieß einfach Bastian. Obwohl Enzo nicht schlecht war. Enzo Bastian, das hatte Ausdruck, das passte zu seinem forschen Auftreten. Man konnte dem Commandant viel nachsagen, aber er war kein Weichei. Eben deshalb kam sein Selbstmord so überraschend. Was vielleicht ein Trugschluss war. Wie viel Mut brauchte es, um sich aus dem zwölften Stock eines Apartmenthauses zu stürzen? Sie hatte noch nie darüber nachgedacht, ob ein konsequent vollzogener Selbstmord eher etwas für Feiglinge war oder ganz im Gegenteil viel Mut und Entschlossenheit voraussetzte.

Sie dachte an Maurice Balancourt, der sie wieder mal auf dem falschen Fuß erwischt hatte. Oder auf dem richtigen, das würde sich noch zeigen. In der Vergangenheit hatten sich seine vermeintlich »harmlosen« Aufträge zwar immer als ziemlich aufregend erwiesen, aber sie hatte sie regelmäßig erfolgreich zum Abschluss gebracht und war so auf andere Gedanken gekommen. Genau das lag vielleicht in Balancourts Absicht. Das war seine Form von Therapie. Nach dem Anschlag vom Arc de Triomphe, der schon eine Weile zurücklag, ihr aber oft wie gestern vorkam, hatten Psychologen bei ihr eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert – und einiges mehr. Ganz abgesehen von den lebensgefährlichen Verletzungen durch die gezündete Bombe. Alle gutgemeinten psychologischen Therapien hatte sie schnell abgebrochen. Das war nichts für sie. Stattdessen hatte sie sich nach Südfrankreich abgesetzt, um hier Abstand zu gewinnen. Abstand von ihrem früheren Job als Kommandeurin einer geheimen Spezialeinheit der Police nationale, Abstand von der Detonation, bei der einige ihrer besten Jungs gestorben waren – Abstand von ihrem vorigen Leben, das sie noch in Albträumen verfolgte, aber erfreulicherweise immer weniger. Balancourt war das krasse Gegenteil eines Seelendoktors, aber seine »Behandlungsstrategie« hatte Erfolg, vielleicht gerade deshalb.

Isabelle machte einen Bogen um Clodines Laden. Sie hatte gerade keinen Sinn für ihr fröhliches Gerede. Sie setzte ihre Gedanken mit der Frage fort, ob Balancourts aktueller Vorstoß unter therapeutischen Gesichtspunkten vielversprechend war. Nein, das ganz bestimmt nicht. Ein Polizeichef, der seine Mitarbeiter schikanierte und zu cholerischen Anfällen neigte, war an sich schon kein Lustbringer und weckte auch nach seinem Tod keine positiven Gedanken. Dazu das Schicksal einer Krebserkrankung und sein Sturz, der in einer großen Blutlache endete, auch das war kaum erheiternd. Ob sein Nachfolger Richeloin wirklich so kratzbürstig war, wie von Apollinaire befürchtet, würde sich noch zeigen. Leider sprach viel dafür – vor allem, falls sie irgendwas herausfinden sollte. Was könnte das sein? Dass nicht nur sein Krebs für den Suizid verantwortlich gewesen war, sondern irgendeine schmutzige Intrige? Eine Verstrickung in illegale Machenschaften? Irgendein Komplott, das noch schlimmer war als der Tumor und ihn deshalb in den Tod getrieben hat?

Isabelle kam an der Boulangerie-Pâtisserie vorbei und kaufte provenzalisches Olivenbrot. Tapenade zum Bestreichen hatte sie noch daheim. Sie stieg die steile Treppe hinauf zu ihrer Dachwohnung. In der Küche bereitete sie ein Tablett mit einem Imbiss vor, dazu eine Karaffe Eiswasser. Dann balancierte sie alles auf ihre kleine Terrasse. Sie setzte sich unter ihren Sonnenschirm, den ihr Thierry Blès geschenkt hatte. Der Stoff war gelb und blau und mit dem Schriftzug einer Spirituosenfirma aus Marseille bedruckt. Nicht besonders schön, aber er war stabil und hatte sogar den letzten Mistral überstanden. Kein Grund, mit übermäßiger Dankbarkeit an Thierry zu denken. Hoffentlich regnete es in Paris und der Kaffee in seinem Büro schmeckte nach Pappe.

Sie steckte sich eine Olive in den Mund und versuchte sich auf ihre neue Mission zu konzentrieren. Sie war neugierig auf den angekündigten Untersuchungsbericht. Was hatte Maurice daran missfallen? Was hatte seinen Argwohn geweckt? Hatten sich die Kollegen nicht viel Mühe gegeben, weil sowieso alles klar schien? Ja, das könnte sein, wäre sogar zu verstehen. Auch wäre nachzuvollziehen, wenn Bastians Mannschaft Skrupel hatte, ihrem verstorbenen Chef hinterherzuschnüffeln. Vor allem, wenn es keinen Grund dafür gab. Warum sollten sie also? Es sei denn …

Isabelle lehnte sich zurück, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und schloss die Augen. Es sei denn … Nun, man würde sehen.

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5

Toulon war eine Stadt, deren Charme sich erst auf den zweiten Blick erschloss. Die tristen Betonbauten in der Peripherie wirkten als Willkommensgruß wenig einladend. Der Boulevard de Strasbourg bot ein solches Verkehrsdesaster, dass man die alten Häuserfassaden kaum wertschätzen konnte. Als einer der wichtigsten Militärhäfen Frankreichs hatte Toulon alles zu bieten, was Marinesoldaten so schätzten – weshalb manche Kneipen und Bars kaum dem entsprachen, was sich Feriengäste so erwarteten. Aber ein Spaziergang durch die Altstadt lohnte sich dennoch, man hatte in der letzten Zeit viel getan, um sie zu verschönern. Etwas abseits der Fußgängerzone zwischen der Place Victor Hugo mit dem Opernhaus und der Avenue de la République am Hafen gab es malerische Gassen und verschwiegene Plätze zu entdecken. Im östlich angrenzenden Stadtviertel Mourillon waren aufgeschüttete Strände und sogar Beachrestaurants zu finden.

Aber Isabelle war nicht gekommen, um nach den versteckten Reizen Toulons zu suchen. Wie sie überhaupt hoffte, sich möglichst schnell wieder auf den Heimweg machen zu können. Sie wollte keine Minute länger als nötig hierbleiben.

Auf direktem Weg erreichte sie das Hauptkommissariat der Police nationale in der Avenue Jean Moulin. Das festungsähnliche Gebäude war an Hässlichkeit kaum zu überbieten. Sie fuhr in eine Seitenstraße und parkte, wo es nur für Polizeifahrzeuge erlaubt war. Nachdem sie ausgestiegen war, sah sie, dass die Straße nach einem Commissaire Morandin benannt war. Ob Bastian bald seine eigene Straße bekommen würde? Rue du Commandant Bastian vielleicht? Aber dann hätte er wohl im Polizeieinsatz erschossen werden müssen, mindestens. Ein Sprung von der Terrasse machte sich weniger gut.

Vor dem Haupteingang, über dem auf den blau-weiß-roten Nationalfarben Hôtel de Police stand, holte sie tief Luft. Dann ging sie die Stufen hinauf, zeigte ihren Ausweis und machte sich auf den Weg zum Büro des Capitaine Richeloin, der jetzt hier das Sagen hatte. Sie kam an der Zimmertür von Commandant Bastian vorbei, an dem ein großes Foto mit Trauerschleife hing. Wieder beschlichen sie Zweifel an der Sinnhaftigkeit ihrer Mission. Warum musste man die Motive seines Selbstmordes näher erforschen? Er hatte eine Entscheidung getroffen, und die galt es zu respektieren. Eine Auffassung, die natürlicherweise auch Richeloin vertreten würde. Entsprechend wenig Verständnis würde er aufbringen, dass Nachforschungen angestellt werden sollten. Und noch weniger würde er verstehen, dass gerade sie mit dieser Aufgabe betraut wurde, eine kleine Kommissarin aus dem Provinzkaff Fragolin. Isabelle straffte den Rücken. Nun, dass ihre Position nicht ganz so einfach zu definieren war, hatte auch er schon leidvoll erfahren müssen, wobei er nicht wissen konnte, warum und wieso. Aber dass sie Rückendeckung von ganz oben hatte und ihre Weisungen direkt aus Paris erhielt, das dürfte sich bei ihm eingebrannt haben.

Sie stand vor seiner Tür und klopfte an.

»Entrez!«

Capitaine Richeloin verzog das Gesicht und erhob sich von seinem Schreibtischstuhl. Ob er sich überwinden musste, war nicht zu erkennen, aber er reichte ihr zur Begrüßung die Hand.

»Bonjour, Madame Bonnet«, sagte er mit bittersaurer Miene. »Wie Sie wissen, habe ich wenig Zeit. Aber bitte nehmen Sie Platz.«

Sie dachte, dass er im Irrtum war. Er würde sich genau die Zeit nehmen müssen, die sie brauchte. Allerdings wollte sie heute nur einen Höflichkeitsbesuch abstatten. Deshalb widerstand sie der Versuchung, ihn gleich in seine Schranken zu weisen. Dann hätte sie sich die Fahrt nach Toulon auch sparen können. Sie war um Schönwetter bemüht.

»Mon Capitaine, Sie wissen, warum ich hier bin?«

Richeloin ließ sich stöhnend auf seinen Stuhl sinken.

»Ich weiß es, aber ich verstehe es nicht.«

Isabelle setzte sich ihm gegenüber und versuchte zu lächeln.

»Da geht es mir kaum anders. Ich möchte Ihnen sagen, dass mir diese Aufgabe überhaupt nicht gefällt. Ich finde, man sollte Bastians tragischen Selbstmord und seine Privatsphäre respektieren. Außerdem sollten mögliche Nachforschungen ausschließlich in den Verantwortungsbereich Ihres Kommissariats hier in Toulon fallen.«

Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Genauso ist es. Haben Sie das den Sesselfurzern in Paris so erklärt?«

»Ja, das habe ich. Wobei ich unsere obersten Vorgesetzten nicht so bezeichnen würde.«

»Oh, da fällt mir noch viel mehr ein. Aber Sie sind eine Frau, ich möchte nicht Ihr Schamgefühl verletzen.«

»Machen Sie sich keine Sorgen um mein Schamgefühl. Doch gebe ich zu bedenken, dass diese ›Sesselfurzer‹ Sie gerade zum Leiter des größten Kommissariats im Département Var befördert haben.«

»Na ja, das schon. Aber warum sollen jetzt Nachforschungen zu Bastians Selbstmord angestellt werden? Das ist doch völliger Schwachsinn. Und warum hat man gerade Sie damit beauftragt?«

Isabelle beherrschte sich. Sie zuckte mit den Schultern. »Wir beide können es nicht ändern. Also sollten wir versuchen, ganz entspannt zusammenzuarbeiten. Umso schneller haben wir diesen blöden Job vom Tisch.«

Er sah sie zweifelnd an. »Haben Sie so was schon mal gemacht?«

»Ich habe schon sehr viel gemacht«, antwortete sie mit einem vieldeutigen Lächeln.

»Warum weiß ich davon nichts? Ist das Geheimsache oder was?«

»Ganz genau, das ist es.«

»Ich hasse das. Ich weiß gerne, mit wem ich es zu tun habe.«

»Deshalb bin ich hier, damit wir uns besser kennenlernen. Außerdem möchte ich mit Ihnen die weitere Vorgehensweise absprechen, um etwaige Irritationen von vornherein zu vermeiden.«

»Irritiert bin ich schon jetzt, das dürfen Sie mir glauben.«

»Das Protokoll zu Commandant Bastians Selbstmord habe ich gelesen.«

»Und?«

»Ich finde, da steht alles drin«, log sie. Tatsächlich wies es große Lücken auf.

»Ganz genau, da steht alles drin.«

»Dennoch muss ich einige Gespräche führen, ob ich will oder nicht.«

»Mit wem wollen Sie reden?«

»Ich weiß noch nicht. Mit Bastians Witwe zum Beispiel, um mehr über den Gemütszustand ihres Mannes zu erfahren, und mit seinem Arzt. Mit Freunden von ihm, mit Kollegen, die ihn besser kannten, also unter anderem auch mit Ihnen, aber nicht heute, ein anderes Mal, wenn Sie mehr Zeit haben. Ich will wissen, an welchen Fällen er aktuell gearbeitet hat. Dann schreibe ich einen Abschlussbericht, und das wär’s dann.«

»Da haben Sie ja einiges vor. Muss das sein?«

»Ich habe meine Anweisungen. Wenn ich es nicht mache, dann schicken die einen anderen.« Wieder versuchte Isabelle zu lächeln. »Und der ist dann vielleicht nicht so nett wie ich.«

Richeloin runzelte die Stirn. »Sie sind nett? Das ist mir bisher entgangen.«

»Doch, doch, ich bin sogar sehr nett. Solange man mich nicht ärgert. Dann kann ich auch anders. Aber so weit wollen wir es doch nicht kommen lassen, oder?«

Richeloin sah demonstrativ auf die Uhr und stand auf. »Man wird sehen. Ich kann auch ganz anders, das dürfen Sie mir glauben. Aber jetzt habe ich leider wirklich einen Besprechungstermin.«

Zum Abschied verzichtete sie darauf, ihm die Hand zu geben.

»Vielen Dank für die Zeit, die Sie sich genommen haben«, sagte sie mit leicht spöttischem Unterton.

»Immer gerne.«

»Sie sind ja ein Charmeur …«

Er verzog keine Miene.

»… aber ein schlechter Lügner«, fügte sie hinzu.

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6

Natürlich hätte sie gleich mit den Gesprächen beginnen können, nun, da sie schon mal in Toulon war. Aber sie wollte sich noch etwas Zeit gönnen und erst mal ihre »Hausaufgaben« machen, also das ganze Material studieren, das Apollinaire zusammengetragen hatte, all die Zeitungsberichte über Bastians Suizid, vor allem aber die alten Artikel, die zum Teil viele Jahre zurücklagen und über seine Arbeit informierten, ihn auf Pressekonferenzen zeigten oder als obersten Repräsentanten der Polizei bei irgendwelchen Veranstaltungen. Kein Zweifel, der Commandant war ein bekannter Mann gewesen. Und wenn sie die Fotos richtig interpretierte, war er auch eitel.

Isabelle wollte erst eine genauere Vorstellung von Bastian haben, bevor sie sich mit Menschen aus seinem Umfeld unterhielt. Da würden ihr Ungereimtheiten eher auffallen – oder auch nicht, das würde sich zeigen. Und sie wollte sich darüber klarwerden, welche Fragen sie überhaupt stellen wollte. Aus der Hüfte schießen war ja kein Fehler, aber man traf besser, wenn man ein Ziel im Auge hatte.

Also fuhr Isabelle zurück nach Fragolin. Mit einem Abstecher zu ihrem versteckten Lieblingsstrand, der über steile Stufen durch einen kleinen Pinienwald zu erreichen war. Dort ging sie schwimmen und legte sich auf die mitgebrachte Strohmatte. Ihr Polizeiwagen war der einzige im Département, der immer eine Badetasche im Kofferraum hatte.

 

Am nächsten Morgen saß sie am Schreibtisch und dachte nach. Sie sah hinüber zu Apollinaire, der eine große Tafel aufgebaut hatte und einer seiner Leidenschaften frönte: Er klebte Bilder auf, verband sie mit Linien, malte Pfeile, die ins Nichts führten … Oben stand in großer Schrift: Vol de bijoux, Juwelenraub. Ihr Assistent war also dabei, sich bei »seinem« Fall einen ersten Überblick zu verschaffen. Wie immer war die Transformation seiner Gedankenspiele in eine Grafik so rätselhaft, dass nur er sie verstehen konnte. Und das war erst der Anfang.

Isabelle nahm den Abschiedsbrief zur Hand, den Bastian hinterlassen hatte. Sie las ihn zum wiederholten Mal. Erneut beschlich sie dabei ein flaues Gefühl. Was war in Bastians Kopf vorgegangen? War sein Selbstmord von ihm schon länger geplant gewesen oder hatte er sich sozusagen im Affekt dazu entschlossen? Seine letzten Worte gaben keinen wirklichen Aufschluss. Es war ja auch kein Abschiedsbrief im klassischen Sinne. Bastian hatte sich wenige Minuten vor seinem Suizid an sein Notebook gesetzt, eine knappe E-Mail geschrieben und an ihm nahestehende Menschen verschickt.

»Liebe Estelle, liebe Familie, liebe Freunde. Ich will mich nur kurz von Euch verabschieden. Ich wäre gern noch etwas geblieben, aber ich habe Krebs. Die Krankheit wird mich nicht besiegen, da mach ich lieber selber den Schalter aus! Bitte habt Verständnis dafür. Ich umarme Euch. Adieu! Euer Enzo«

Kurz und knapp, ohne Gefühlsduselei. Das passte zu ihm. Für seine Frau Estelle hatte er einen Ausdruck neben sein Notebook gelegt und mit einem Glas beschwert. Dann war er auf die Terrasse gegangen, war auf das Geländer geklettert, hatte vielleicht noch kurz hinaus auf das Meer geblickt – dann war er gesprungen.

»Da mach ich lieber selber den Schalter aus!« Genau das hatte er getan. Gleichwohl war er einem Irrtum unterlegen. Natürlich hatte ihn der Krebs besiegt, denn ohne Krankheit wäre er nicht gesprungen.

Warum sollte es einen anderen Grund für seinen Selbstmord geben? Alles war stimmig. Wieso wollte Balancourt eine Untersuchung? Hatte er eine Information, die er ihr vorenthielt? Es wäre nicht das erste Mal.

Isabelle legte den Abschiedsbrief zurück in die Mappe. Sie würde ihn nicht mehr lesen müssen, sie kannte ihn längst auswendig.

 

Sie holte sich eine Tasse Kaffee und ging zu Apollinaire und seinem Chart. Ihm standen die Haare wirr zu Berge. Das war normal und kein Ausdruck seiner Gemüts- oder Geistesverfassung.

Nachdenklich strich er sich mit dem Zeigefinger über die Lippen. Er deutete auf einen roten Pfeil.

»Ich glaube, der ist falsch«, sagte er.

»Aber als Hypothese können Sie ihn mal stehen lassen«, erwiderte sie, ohne den blassesten Schimmer, was er bedeuten sollte.

»Richtig, der Pfeil ist eine vage Spekulation, die wir nicht gänzlich außer Acht lassen sollten.«

Sie konnte sich ein Lächeln kaum verkneifen. »Bis zum Beweis des Gegenteils«, sagte sie.

»Ganz genau, aber es gibt keinen Grund für die rote Farbe, da ist mir ein Fehler unterlaufen.«

»Wollen wir einen Ausflug machen?«, fragte sie, einer spontanen Idee folgend.

»Einen Ausflug? Wie darf ich das verstehen?«

»Das Juweliergeschäft liegt in Cannes. Das Apartmenthaus, aus dem sich Bastian gestürzt hat, befindet sich ein Stück weiter kurz hinter Antibes. Ich würde die beiden Schauplätze gerne mal in Augenschein nehmen.«

»In Augenschein nehmen, natürlich, ich verstehe.« Er räusperte sich. »Das heißt, ich verstehe es nicht, also nicht wirklich. In den Untersuchungsprotokollen gibt es gutes Bildmaterial. Und Spuren der Tat werden wir nicht mehr finden. Was versprechen Sie sich also davon?«

Sie lachte. »Ich verspreche mir nichts davon, gar nichts. Das ist ja das Schöne dran. Wollen wir fahren?«

»Gleich?«

»Warum nicht? Nehmen Sie die Protokolle mit, wegen der Adressen und so.«

 

Sie fuhren über kurvige Bergstraßen des Massif des Maures zur Autobahn A8, die von Aix-en-Provence kommend an Fréjus und St-Raphaël vorbei Richtung Nizza führte. Isabelle ließ ihren Assistenten fahren, der das mit immer größerer Routine bewerkstelligte. Mittlerweile konnte er sogar ohne Anstrengung gleichzeitig ein Gespräch führen.

»Wussten Sie während Ihrer aktiven Zeit in Toulon, dass Bastian bei Cagnes eine Ferienwohnung hatte?«, fragte sie.

»In der Marina Baie des Anges. Ja, das war im Kommissariat allgemein bekannt. In Notfällen brauchte er entsprechend länger, bis er im Büro sein konnte.«

»Ich kenn die Pyramiden nur vom Vorbeifahren.«

»Amiral, Baronnet, Commodore und Ducal.«

»Wie bitte?«

»So heißen die vier Hochhäuser, das ist ihr Name. Entworfen wurden sie von dem Architekten André Minangoy, aber der war schon tot, als sie 1993 fertig wurden.«

»Muss man das wissen?«

»Nein, aber ich hab’s gestern nachgelesen.«

»Und dass er ein Boot hatte, das war auch bekannt?«

»Na klar. In seinem Büro hing sogar ein Bild von seinem Schiff. Eine Motoryacht mit dem ironischen Namen La vie est dure.«

»Das Leben ist hart? Bastian hatte ja Sinn für Humor, das hätte ich nicht gedacht.«

»Davon hat man sonst auch nichts bemerkt«, stellte Apollinaire lakonisch fest.

»Ganz sicher nicht«, sagte sie, an ihre Begegnungen denkend. »Es überrascht mich, dass er sich eine Ferienwohnung in der Marina Baie des Anges und eine Motoryacht leisten konnte«, fuhr sie fort. »Ein Commandant bei der Police nationale verdient zwar nicht schlecht«, räumte sie ein, »aber eine Wohnung in einer noblen Ferienanlage und eine eigene Motoryacht sind trotzdem erstaunlich.«

»Da vorne ist ein Stau. Soll ich das Blaulicht anmachen und mich vorbeidrängen?«

Isabelle kannte Apollinaires Leidenschaft, da war er wie ein kleines Kind.

»Wir haben es nicht eilig.«

»Wirklich nicht? Wie schade. Was war noch mal die Frage? Ob er sich das leisten konnte? Na ja, ganz offensichtlich konnte er. Kommt Ihnen das verdächtig vor?«

Isabelle dachte nach. »Nein, natürlich nicht. Trotzdem möchte ich gerne wissen, was der Spaß gekostet hat. Nur so, aus reiner Neugier.«

»Ich mach mich schlau.«

»Tun Sie das.«

 

Es dauerte, bis sie Antibes erreichten und die Abzweigung, die hinunter ans Meer führte. Die Hochhäuser waren von weitem zu sehen. Sie standen an exponierter Lage an der Baie des Anges zwischen Cap d’Antibes und Cagnes-sur-Mer. Ein Schild wies auf die Gemeinde Villeneuve-Loubet-Plage hin, zu der die Ferienanlage gehörte.

Einen rond-point musste Apollinaire gleich zweimal umrunden, bis er die richtige Ausfahrt fand. Er habe gelesen, sagte er, dass es in keinem anderen Land der Welt so viele Kreisverkehre gebe. Er drehte mit dem Finger einige Kreisel in die Luft. Kein Wunder, dass viele Franzosen so durchgedreht seien.

Isabelle enthielt sich eines Kommentars.

Die Einfahrt ging unter einer der Pyramiden durch, dann waren sie innerhalb der Anlage am Hafen. Apollinaire parkte das Auto an der Uferpromenade vor einer Brasserie.

Bastians Frau war nicht zugegen, das wussten sie. Isabelle hatte für den morgigen Tag einen Termin mit Estelle in Toulon vereinbart. Also konnten sie nur etwas herumlaufen und sich umsehen. Die geschwungenen Hochhäuser umschlossen eine Anlage, zu der Restaurants, Einkaufsmöglichkeiten, Tennisplätze und ein Schwimmbad zählten. Hier hatte es sich Bastian also gutgehen lassen, wenn er freihatte – und nicht damit beschäftigt war, seine Mitarbeiter zu schikanieren.

»Nicht schlecht«, sagte Apollinaire, »aber mein Geschmack wäre es nicht. Ich finde Fragolin schöner.«

»Kann man wohl schwer miteinander vergleichen«, räumte Isabelle ein, »aber ich sitze auch lieber auf meiner winzigen Dachterrasse als hier in einem Penthouse.«

Apollinaire schaute auf ein Foto aus dem Untersuchungsprotokoll in seiner Mappe. Dann musterte er die Häuserfassaden, kniff ein Auge zu und drehte den Kopf hin und her. Schließlich schien er sich sicher. Er deutete in eine bestimmte Richtung.

»Da vorne muss es passiert sein«, stellte er fest und marschierte los. Isabelle folgte ihm gemächlichen Schrittes. Dabei zählte sie die Stockwerke nach oben. Zwölfte Etage. Hier hatte Bastian also gewohnt, in einem dieser Apartments mit Terrasse und Meerblick.

Sie kamen an ein Tor, das wohl eher zufällig offen stand, denn auf einem Schild war zu lesen: Propriété privée! Zutritt nur für Residenten! Sie gingen einen Weg entlang, der von gepflegten Büschen und Rasenflächen gesäumt war. Apollinaire blieb vor einem großen Fleck auf dem Boden stehen.

Man hatte versucht, den Asphalt zu reinigen, aber die Spuren waren unübersehbar.

»Ich weiß nicht, ob das ein schöner Tod war«, murmelte er.

Isabelle sagte nichts, dachte aber, dass ein selbst herbeigeführter Tod wohl selten schön war. Vor allem hatte sich Bastian einen schnellen Tod gewünscht. Gemäß den Worten in seinem Abschiedsbrief: »Die Krankheit wird mich nicht besiegen, da mach ich lieber selber den Schalter aus!« Nun, genau das hatte er hier getan.

Von Isabelle unbemerkt, hatte sich ihnen eine alte Frau genähert.

»O ja, hier ist es geschehen«, sagte sie mit zittriger Stimme. »Quelle tragédie, was für ein schreckliches Unglück.« Sie hielt sich gebeugt an ihrem Rollator fest und wackelte mit dem Kopf. »Ich hab das entsetzliche Geräusch immer noch in den Ohren. Ich dachte erst, da wäre irgendwo ein Reifen geplatzt, dann habe ihn da liegen sehen. Quelle tragédie, der arme Mann.«

Apollinaire sah sie interessiert an. »Sie haben gesehen, wie der Mann von seiner Terrasse gesprungen ist?«

»Junger Mann«, antwortete sie, »das habe ich natürlich nicht gesehen. Schauen Sie mich an, ich habe eine starke Verkrümmung der Wirbelsäule und kann nicht nach oben gucken. Das ist sehr unangenehm, das dürfen Sie mir glauben.«

»Tut mir leid. Aber Sie waren zugegen, als er auf dem Boden aufgeschlagen ist?«

Die alte Dame warf Isabelle einen verzweifelten Blick zu. Dann wies sie Apollinaire zurecht: »Junger Mann, Sie sind wohl etwas begriffsstutzig. Ich sagte doch eingangs, dass ich das Geräusch des Aufschlags gehört und den Mann hier habe liegen sehen. Das bedingt wohl, dass ich zugegen war.«

Isabelle musste lächeln. Die Frau hatte körperliche Gebrechen, aber geistig schien sie voll auf der Höhe.

»Da haben Sie, da haben Sie, ich meine, da haben Sie wohl recht«, stotterte Apollinaire.

Jetzt hatte ihn die alte Frau doch wirklich aus der Fassung gebracht.

»Seit dieser Tragödie habe ich kein Auge mehr zugetan. Ich hatte schon vorher Schlafstörungen, aber jetzt geht gar nichts mehr. Ich muss mir stärkere Tabletten verschreiben lassen. Und wenn ich mir vorstelle, dass alles noch viel schlimmer hätte ausgehen können. Mon Dieu, wie schrecklich.«

Apollinaire sah sie verständnislos an. »Der Mann ist bei dem Sturz zu Tode gekommen. Toter als tot geht nicht.«

Die alte Dame wandte sich jetzt direkt an Isabelle. »Mit dem jungen Mann rede ich nicht mehr, dafür ist mir meine Zeit zu schade. Aber Sie verstehen, was ich meine, habe ich recht?«

»Das alles hätte viel schlimmer ausgehen können? Doch, das habe ich verstanden. Darf ich fragen, wie Sie das meinen?«

Die alte Dame ruckelte an ihrem Rollator. »Genau hier, da, wo ich jetzt stehe, na ja, vielleicht ein paar Meter weiter, aber nicht viel, jedenfalls ganz nah. Ich darf mir das gar nicht vorstellen.«

Isabelle hatte keine Ahnung, nickte aber verständnisvoll. »O ja, das wäre schlimm gewesen.«

»Schlimm, schlimm, schlimm. Die beiden jungen Mütter, die sich hier unterhalten haben, hatten ihre Kinderwagen dabei. Ein Junge, gerade sechs Monate, und ein Mädchen, kaum älter.«

»Die Mütter und die Kinder wären fast erschlagen worden?«, fragte Apollinaire.

»Na bitte, jetzt haben sogar Sie es verstanden. Jetzt werden Sie mir wohl zustimmen, dass alles noch viel schlimmer hätte ausgehen können.«

»Definitiv.«

»Papperlapapp, definitiv ist so ein Modewort. Sie meinen wohl eher fraglos oder unstreitig. Jedenfalls haben die jungen Frauen mit ihren bébés unstreitig großes Glück gehabt. Aber ich würde mich nicht wundern, wenn sie jetzt auch Schlafstörungen haben, so wie ich.«

»Madame, ich vermute, Sie wohnen hier«, sagte Isabelle.

»Schon seit dreizehn Jahren.« Die alte Dame warf einen schelmischen Blick zu Apollinaire, der in seinen Unterlagen blätterte. »Und ich bin definitiv zufrieden«, sagte sie.

Isabelle lächelte. Der alten Dame saß der Schalk im steifen Nacken.

»Davon steht nichts im Protokoll«, murmelte Apollinaire. »Ich meine, die gefährdeten Mütter werden mit keinem Wort erwähnt.«

Die Greisin nahm seine Äußerung nicht zur Kenntnis. Vielleicht war sie ein bisschen schwerhörig, jedenfalls, wenn Apollinaire was sagte.

»Kannten Sie die beiden Mütter?«, fragte Isabelle.

»Die eine kannte ich, die kenne ich sogar noch immer, ich hab ja kein Alzheimer. Das war Joseline. Wenn sie nicht gerade schwanger ist, arbeitet sie bei Pierre im Frisiersalon.«

»Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt«, sagte Isabelle und reichte ihr die Hand. »Mein Name ist Bonnet, ich bin bei der Kriminalpolizei.«

»Das habe ich mir schon gedacht, obwohl Sie Zivil tragen. Übrigens hat Ihr Kollege seine Jacke falsch zugeknöpft, und er hat zwei verschiedenfarbige Socken an. So was sehe ich, denn ich schau immer nach unten, geht ja nicht anders. Mein Name ist Adelaine Aubespine, ich wohne im Haus Baronnet. War nett, sie kennengelernt und mit Ihnen geplaudert zu haben. Aber ich muss jetzt weiter, ich habe einen Termin bei meinem Akupunkteur.«

»Au revoir, Madame. Ich hoffe, dass Sie bald wieder besser schlafen können.«

»Das hoffe ich auch. Ich besorge mir stärkere Tabletten. Quelle tragédie, was für ein Unglück. Aber es hätte noch viel schlimmer kommen können.«

Isabelle und Apollinaire sahen der alten Dame hinterher, die mit gesenktem Kopf, aber erstaunlichem Tempo ihren Rollator vor sich herschob.

»Ob das alles stimmt, was sie uns erzählt hat?«, fragte Apollinaire.

»Nun, mit den verschiedenfarbigen Socken hatte sie schon mal recht, übrigens auch mit den Knöpfen an Ihrer Jacke. Warum sollte also der Rest nicht stimmen?«

Apollinaire schaute an sich hinunter und knöpfte seine Jacke neu.