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Ein neuer Fall für Isabelle Bonnet, die Madame Le Commissaire - charmant, spannend, atmosphärisch Madame Le Commissaire – das ist Isabelle Bonnet, ehemalige Leiterin einer Pariser Spezialeinheit, die es an die Côte d'Azur in Südfrankreich verschlagen hat. Im zweiten Band der erfolgreichen Provence-Krimis von Pierre Martin ermittelt die charmante Kommissarin in einem bisher ungeklärten Mordfall. Der Duft von Lavendel, die Sonne und liebenswerte Nachbarn – kein Wunder, dass sich Kommissarin Isabelle Bonnet gegen die große Karriere in Paris entschieden hat und lieber im beschaulichen Dörfchen Fragolin geblieben ist. Doch hinter der Idylle lauert auch hier das Verbrechen. Beim Durchforsten alter Akten stößt Isabelles Assistent, der schrullige Apollinaire, auf einen nie aufgeklärten Mord. Sofort erwacht der Jagdeifer der Kommissarin – vor allem als sie bei ihren Untersuchungen über ein anderes Verbrechen stolpert. Bald entdeckt sie Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Fällen, die alle übersehen haben … Eine Kommissarin, die man nicht so leicht vergisst, ein verführerisches Ambiente und Mord: Das ist ein Provence-Krimi mit Flair von Bestseller-Autor Pierre Martin Die Provence-Krimis mit Madame le Commissaire – mehr Frankreich und Côte d'Azur geht nicht: der Duft von Lavendel, sanft geschwungene Hügel und das azurblaue Meer, dazu das "leichte Leben" mit gutem französischen Essen, dem Verweilen in Cafés und Brasserien. Gepaart mit der spannenden und unterhaltsamen Ermittlungsarbeit von Isabelle Bonnet ist dieser zweite Provence-Krimi von Pierre Martin die perfekte Sommerlektüre – nicht nur für Liebhaber der Côte d'Azur. »Frankreichliebhaber und Kenner der französischen Sprache [...] würden am liebsten die Koffer packen und an die Côte d'Azur oder Provence reisen.« Gavroche Entdecken Sie weitere Fälle der Madame le Commissaire-Bestseller-Krimi-Reihe: - Madame le Commissaire und der Tod des Polizeichefs (Band 3) - Madame le Commissaire und das geheimnisvolle Bild (Band 4) - Madame le Commissaire und die tote Nonne (Band 5) - ... - Madame le Commissaire und das geheime Dossier (Band 11) Unterhaltsamer Cozy Crime von Bestseller-Autor Pierre Martin: - Monsieur le Comte und die Kunst des Tötens - Monsieur le Comte und die Kunst der Täuschung
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Seitenzahl: 407
Pierre Martin
Madame le Commissaire und die späte Rache
Roman
Knaur e-books
Die Kommissarin Isabelle Bonnet hat sich gegen die große Karriere in Paris und für ein Leben im beschaulichen Fragolin entschieden. Immer noch leidet sie unter dem Trauma, das ein Attentat in der Hauptstadt bei ihr hinterlassen hat.Als ihr Assistent Apollinaire in den Akten auf einen alten Mord stößt, bei dem ein Mann mit einer Mistgabel übel zugerichtet wurde, erwacht Isabelles Jagdeifer – vor allem als sie bei ihren Untersuchungen über einen anderen Mord stolpert, bei dem eine nackte Leiche am Strand gefunden wurde. Bald entdeckt sie Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Verbrechen, die alle übersehen haben …
Warum Madame le Commissaire? Und nicht Madame la Commissaire?Das erste Buch dieser Reihe ist bereits 2014 erschienen. Damals waren im Französischen noch Berufsbezeichnungen wie Madame le Président oder Madame le Ministre gebräuchlich. Entsprechend auch Madame le Commissaire. Im Zuge der Genderdebatte wandelt sich auch in Frankreich die zuvor stark männlich geprägte Sprache. Weshalb es heute wohl Madame la Commissaire heißen würde. Der Titel der Reihe ist also seiner Zeit geschuldet. Im übrigen hat sich unsere Protagonistin schon vor Jahren in einem Dialog mit Apollinaire zu diesem Thema geäußert (im Buch: »Madame le Commissaire und der tote Liebhaber«). Dabei hat sie klargestellt, dass sie sich nicht diskriminiert fühlt. Was natürlich Ansichtssache ist. Aber es passt zu ihrer Persönlichkeit.
Le cœur a ses raisons que la raison ne connaît point.
Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt.
Blaise Pascal
(17. Jh.)
Zu napoleonischen Zeiten konnte einem Mörder die Todesstrafe erlassen werden, wenn ihm zur Tat der Mistral den Geist verwirrt hatte. Und wenn ein Kind gezeugt wurde, während draußen bei sternenklarer Nacht der provenzalische Sturmwind an den Fensterläden rüttelte, dann fürchtete der Volksmund, dass es schwachsinnig werden könnte.
Isabelle Bonnet gingen Geschichten wie diese durch den Kopf, als sie wach im Bett lag und dem Pfeifen, Heulen und Scheppern lauschte. Sie verstand, warum der alte Georges den Mistral vent du fada genannt hatte – den Wind, der einen verrückt machen konnte. Le vieux Georges, der viel Unsinn geredet hatte und mittlerweile verstorben war, hatte in diesem Punkt recht gehabt: Der Wind konnte einen wirklich in den Wahnsinn treiben. Vor allem, wenn man wie Isabelle sowieso unter Schlafstörungen litt, auch ohne Mistral oft Kopfschmerzen hatte und des Nachts von einer inneren Unruhe geplagt wurde. Das alles waren Folgen eines Sprengstoffanschlags, dem sie vor einiger Zeit in Paris zum Opfer gefallen war. Aber das war eine andere Geschichte. Daran wollte sie heute Nacht nicht denken.
Paris? Dort hatte es keinen Mistral gegeben – trotzdem wollte sie nicht mehr zurück in die Stadt an der Seine, in der sie so lange gelebt hatte. Um keinen Preis. Sie hatte sich entschieden, in Fragolin zu bleiben, jenem kleinen Ort im südfranzösischen Département Var, wo sie ihre Kindheit verbracht hatte und in den sie nach dem Attentat zurückgekehrt war. Hier wollte sie fortan leben, dafür hatte sie ihre Karriere bei der Police nationale an den Nagel gehängt. Sie hatte es noch keine Sekunde bereut. Selbst jetzt nicht, da ihr der Mistral den Schlaf raubte.
Isabelle schlug die Decke zur Seite, stand auf und trat ans Fenster. Draußen war es noch dunkel. Der Sternenhimmel war von einer unglaublichen Intensität – der Mistral hatte jeden Schleier weggeblasen, weit weg, hinaus aufs Meer. Es hatte deutlich abgekühlt. Irgendwas peitschte in den Böen gegen das geschindelte Dach. Das war tatsächlich zum Verrücktwerden. Sie zog sich Jeans an, ein T-Shirt, Sneakers und eine Fleecejacke. Dann verschloss sie die Tür ihrer kleinen Dachgeschosswohnung, lief die schmale Treppe hinunter und durch die menschenleeren Gassen zu ihrem geparkten Auto. Auf ihrer Kühlerhaube lag der abgebrochene Zweig einer Platane. Sie lächelte. Ihrem alten Renault konnte das egal sein, der war Schlimmeres gewöhnt. Im Pariser Straßenverkehr herrschten rauhe Sitten. Beulen und Kratzer gehörten zur Tagesordnung.
In Fragolin gab es Bewohner, die nur selten hinunter ans Meer fuhren. Vor allem die älteren konnten keinen Sinn darin erkennen. Le vieux Georges hatte sogar behauptet, in seinem ganzen langen Leben nie am Meer gewesen zu sein. Er kenne es nur als fernen blauen Streifen am Horizont, hatte er erzählt. Wenn in seiner Gegenwart jemand glamouröse Orte wie Saint-Tropez erwähnte, pflegte er verächtlich auf den Boden zu spucken – und auf den Schrecken einen Pastis zu bestellen. Im arrière-pays, im Hinterland der Côte d’Azur, ging zwar keiner so weit wie Georges, Gott sei seiner Seele gnädig, aber man schätzte sehr wohl die relative Abgeschiedenheit vom turbulenten Treiben an der Küste. Gleichwohl hatte man nichts dagegen, wenn Touristen den Weg nach Fragolin fanden, um hier ihr Geld auszugeben. Das war in Ordnung. Einige durften sogar über Nacht bleiben, halt so viele, wie es Fremdenzimmer gab – aber das waren nicht allzu viele.
Vielleicht lag es daran, dass Isabelle zwar in Fragolin geboren war, aber die meiste Zeit ihres Lebens zunächst in Lyon und dann in Paris verbracht hatte. Jedenfalls mochte sie es, hinunter ans Meer zu fahren. Allerdings versuchte auch sie dem Trubel aus dem Weg zu gehen. Sie kannte eine versteckte Bucht mit einem kleinen Sandstrand, zu der steile Stufen durch einen Wald mit Schirmpinien führten. Oder sie machte an der Halbinsel von Saint-Tropez eine Küstenwanderung auf dem sentier littoral, von der Plage de la Bonne Terrasse hinüber zum Leuchtturm, dann zum Cap Camaret, schließlich weiter über Felsen und durch unverbaute Natur, mit Blick auf das azurblaue Meer, soweit die Füße trugen und es die Zeit zuließ. Dagegen mied sie geflissentlich die nahe gelegenen Nobelstrände von Pampelonne. Das ausgelassene Partyleben an der Plage de Tahiti oder beim Club 55 machte sie nervös, das war ihr Ding nicht.
Isabelle hätte in dieser Nacht überall hinfahren können, zum Beispiel an einen Strand bei Le Lavandou, nach Cavalaire-sur-Mer oder Brégançon, aber weil sie kein konkretes Ziel hatte und die Straßen leer waren, fand sie sich plötzlich auf der Straße nach Saint-Tropez. Was wollte sie dort? Offenbar verwirrte der Mistral auch ihren Geist. Vor Saint-Tropez bog sie nach Süden auf die Nationalstraße D 93. Und jetzt? Ihr kam der Gedanke, dass die frühe Stunde eine gute Gelegenheit bot, eine Ausnahme zu machen – die Baie de Pampelonne. Wenn nicht jetzt, wann dann? Am Übergang von der Nacht zum Tag würde sie die Bucht für sich alleine haben. Sie könnte barfuß im Sand spazieren, sich vom Wind den Kopf durchlüften lassen und auf den Sonnenaufgang warten. Doch, das war eine gute Idee. Vielleicht etwas verrückt, aber bei Mistral waren verrückte Ideen ganz normal. Kurz entschlossen wählte sie eine der vielen kleinen Stichstraßen, die links zu den Stränden abgingen. Im Scheinwerferlicht fand sie den Weg zu einem verwaisten Parkplatz unter Pinien, durch deren Gipfel der Wind rauschte. Als sie über einen Pfad den Strand erreichte und auf die Schaumkronen des tosenden Meeres blickte, am Horizont die aufkommende Morgenröte, dachte sie, dass das hier unendlich viel schöner war, als bei schlagenden Fensterläden im Bett zu liegen und das Ende der Nacht herbeizusehnen.
Sie zog die Schuhe aus, lief über den Strand, fühlte den Sand zwischen den Zehen, blieb stehen, rollte die Hosenbeine hoch und ging dann am Wasser entlang, gerade so weit von der Brandung entfernt, dass nur ihre Füße nass wurden. Der Wind, der hier, vom Land kommend, aufs Meer stürzte, war in den Böen so heftig, dass sie Mühe hatte, ihr Gleichgewicht zu halten. Aber die Kopfschmerzen waren wie verflogen. Ihr linkes Bein, das oft schmerzte, tat nicht weh, auch nicht der Rücken. Isabelle begann zu lachen, erst verhalten, dann immer lauter. Es war keiner da, der sie hören und für wahnsinnig halten könnte. Es wäre ihr aber auch egal gewesen.
Sie kam an einer verlassenen Strandbar vorbei, mit einer Pergola, an der der Mistral rüttelte, mit einigen massiven Holztischen und Bänken. Sie setzte sich und blickte über das aufgewühlte Meer nach Osten, der aufgehenden Sonne entgegen. Hätte sie je daran gezweifelt, in diesem Moment wusste sie, dass sie alles richtig gemacht hatte. Sie hatte Paris den Rücken gekehrt – und damit ihrem vorigen Leben adieu gesagt. Sie war nicht mehr Chefin einer Spezialeinheit der Police nationale, sie würde nie mehr einen Einsatz leiten wie jenen am Arc de Triomphe, der alles verändert hatte. Keine Bombe mehr, die von Wahnsinnigen gezündet wurde, um den Präsidenten der Republik zu töten. Keine Jungs aus ihrem Team, die mit ihrem Leben dafür bezahlen mussten. Keine Notoperation und keine Intensivstation. Als Erinnerung blieben ihr die Verletzungen, die sie bei der Explosion davongetragen hatte, am Körper und an der Seele. Und das Kreuz der Ehrenlegion, das ihr der Präsident im Élysée-Palast verliehen hatte. Sie hatte das Kästchen mit dem Grand-croix de la Légion d’Honneur ganz tief in einem Umzugskarton versteckt, unter alten Jeans. Sie wollte es nie mehr sehen oder gar in die Hand nehmen. Sie dachte an ihre eigenwillige Entscheidung, zur Rekonvaleszenz in die Provence zu reisen, nach Fragolin, ihren Geburtsort, den sie schon fast vergessen hatte. Dass sie dort mit einem Kriminalfall konfrontiert wurde, war fast schon eine Ironie des Schicksals. Auf Wunsch ihres obersten Chefs war sie in die Rolle einer Madame le Commissaire geschlüpft und hatte ordentliche Polizeiarbeit geleistet. Zu ihrer eigenen Überraschung hatte ihr das gutgetan, hatte sie sich währenddessen immer besser gefühlt, waren der Arc de Triomphe und die traumatischen Erlebnisse in immer weitere Ferne gerückt.
Und jetzt? Isabelle fuhr sich durch die vom Wind zerzausten Haare. Jetzt saß sie hier am Strand von Pampelonne – und in Paris wunderte sich Maurice Balancourt noch immer über ihre Entscheidung. Ihr großer Chef im Innenministerium, vor dem alle kuschten, der für sie aber wie ein väterlicher Freund war, hatte ihren Entschluss letztendlich akzeptiert. Wirklich verstanden hatte er ihn nicht, aber ihren Willen kopfschüttelnd zur Kenntnis genommen. Er schien immer noch zu hoffen, dass sie bald zur Besinnung kommen und ihre Karriere bei der Police nationale fortsetzen würde. Alle Türen stünden ihr offen. Aber Isabelle hatte diese Türen längst zugeschlagen. Sie wollte nicht mehr, c’est fini!
Lächelnd dachte sie daran, dass sie freiwillig das Gegenteil einer Karriere gemacht hatte. Sie hatte um Degradierung zu einer einfachen Kommissarin gebeten. Und sie hatte Maurice so lange bekniet, bis er eine Lösung gefunden hatte, wie sie ganz offiziell in Fragolin bleiben konnte. Mit einem Büro im Rathaus – ohne aktuelle Befugnisse. Denn für kleinere Verbrechen war die Gendarmerie zuständig, und bei größeren Delikten, die in die Zuständigkeit der Police nationale fielen, kam das Kommissariat in Toulon ins Spiel. Eigentlich müsste es in Fragolin noch einen Chef de Police geben, aber der letzte war schon vor Jahren dem Alkohol verfallen, und der Bürgermeister hielt den Posten für überflüssig. Auf diese Weise vermied er das übliche Kompetenzgerangel mit der Gendarmerie. Sollte diese doch die Arbeit machen, dann hatte er seine Ruhe.
Erst vor einigen Tagen hatte Isabelle die Beurkundung erhalten. Jetzt leitete sie ganz offiziell als Madame le Commissaire ein Kommissariat für besondere Aufgaben. Eigentlich gab es so etwas nicht, ein solches Kommissariat war in der Organisationsstruktur der Police nationale nicht vorgesehen, aber Maurice Balancourt hatte es kraft seines Amtes einfach erfunden. Speziell und ausschließlich für Isabelle Bonnet, sozusagen als Dankeschön für ihre erbrachten Leistungen. Immerhin habe sie sich um die Nation verdient gemacht und fast mit ihrem Leben dafür bezahlt. Sie könne sich ja um alte, unaufgeklärte Fälle aus der Region kümmern, deren Akten in den Regalen verstaubten – wenn es denn solche Fälle überhaupt gebe. Und wenn nicht, sei das auch egal. Mit den antiquarischen Kriminalfällen, für die sich keiner mehr interessiere, komme sie weder Commandant Bastian vom Kommissariat in Toulon in die Quere noch Capitaine Briand von der Gendarmerie in Fragolin. Sie sei aus der Schusslinie. Ihr Tun oder Nichtstun interessiere keinen.
Isabelle stand auf und setzte ihren sturmumtosten Strandspaziergang fort. Es war mittlerweile so hell, dass sie die zusammengeklappten Liegestühle und verzurrten Schirme sah, die dem Mistral trotzten. Ein losgerissener Korb tanzte über den Strand und wirbelte ins Meer. Noch war sie tatsächlich alleine, jedenfalls war niemand zu sehen. Irgendwo da vorne war Saint-Tropez, da schliefen die Nachtschwärmer gerade ihren Rausch aus. Die Yachten würden an ihren sicheren Plätzen im Hafen bleiben. Jedenfalls solange der Mistral blies. Sie hatte gelernt, dass man nie wissen konnte, wann ihm plötzlich die Kraft ausging. Man sagte, dass er mindestens drei Tage durchhalte oder sechs oder neun. Sie lachte. Als ob der Mistral zählen und durch drei dividieren könnte. Sie hob einen Stein auf und warf ihn in die Brandung. Sie würde also ein Kommissariat leiten, das außer ihr keine Mitarbeiter hatte und auch keine aktuellen Fälle. Eigentlich schwachsinnig. Irgendwie bizarr. Aber originell, das immerhin.
Sie stieg über einen Balken, der offenbar einen Strandabschnitt markierte. Sie überlegte, bald umzudrehen und zurückzulaufen, sich vom anbrechenden Morgen zu verabschieden, retour nach Fragolin zu fahren und sich im Bett zu verkriechen. Plötzlich stockte ihr Schritt. Sie blieb abrupt stehen. Von einer Sekunde auf die andere wusste sie, dass das mit dem Bett nicht so schnell klappen würde. Der Tag, der am Strand von Pampelonne so vielversprechend begonnen hatte, dieser Tag war versaut. Der Sturmwind konnte nichts dafür. Aber er konnte auch nicht helfen, denn es gab kein napoleonisches Gesetz mehr, das Mördern bei Mistral eine verminderte Schuldfähigkeit zubilligte.
Die Kollegen von der Polizei waren irritiert, dass zu nachtschlafender Zeit ausgerechnet eine Kommissarin die Leiche gefunden hatte. Eine Madame le Commissaire, die über keine aktuelle Dienstmarke verfügte, sich stattdessen mit einem respekteinflößenden Ausweis deklarierte, der direkt vom Élysée-Palast ausgestellt war. Die Beamten gaben es auf, den Bereich rund um das Opfer mit einem Absperrband zu sichern. Der Mistral machte alle diesbezüglichen Versuche zunichte. Außerdem hatte man den Strand zu dieser frühen Stunde für sich alleine, eine Absperrung war also gar nicht nötig. Die Spurensicherung trug weiße Schutzanzüge, die im Wind flatterten. Außerdem taten sie von Anfang an die Meinung kund, dass man eh nichts finde. Der Wind habe wie ein Sandstrahlgebläse alle möglichen Spuren vernichtet.
Isabelle stand teilnahmslos in zweiter Reihe und beobachtete die polizeilichen Aktivitäten. Das war für sie eine neue Erfahrung. Sie befand sich am Ort eines Gewaltverbrechens und hatte nichts damit zu tun. Sie war nicht zuständig, durfte keine Anweisungen geben, hatte keine Ermittlungen zu leiten. Vor dem Leichnam kniete ein Pathologe. Er musste das Opfer nicht umständlich entkleiden, der Tote war bereits nackt. Isabelle fand, dass der ärztliche Gutachter einen ziemlich hilflosen Eindruck machte. Aber was sollte er auch feststellen? Der Mann war tot, das war offensichtlich.
Beim Warten auf die Polizei, die Isabelle mit ihrem portable verständigt hatte, hatte sie viel Zeit gehabt, den Toten zu betrachten. Aus gebotener Entfernung, schließlich wollte sie sich keinen Ärger einhandeln. Sie hatte schon viele Leichen gesehen, von denen manche grausam zugerichtet waren, aber diesen armen Kerl hatte es besonders übel erwischt. Ihm war zu wünschen, dass er beim entscheidenden »Eingriff« bereits tot gewesen war. Die Einschusslöcher in seiner haarigen Brust sprachen für diese Annahme. Die Gerichtsmedizin würde es noch genauer herausfinden, aber nicht hier, am Ort des Verbrechens. Wenn es denn überhaupt der Ort des Verbrechens war. Schleifspuren im Sand hatte sie keine gesehen, was angesichts des Mistrals nichts besagte. Der Mann war vielleicht fünfzig Jahre alt und deutlich übergewichtig, um nicht zu sagen fett. Aber das war nicht das Besondere an ihm, auch nicht das Unappetitliche. Ekelhaft war, dass der Mörder dem Opfer sein bestes Stück abgesäbelt und in den Mund gesteckt hatte. Das sah nicht gut aus, gar nicht gut. Ein junger Polizeibeamte hatte sich beim Anblick übergeben.
»Gehen Sie immer so spät in der Nacht am Strand spazieren?«, wurde sie von einem Beamten gefragt, der gleichzeitig versuchte die flatternden Blätter seines Notizblocks zu bändigen.
Isabelle fand die Frage ziemlich blödsinnig. Sie lächelte nachsichtig. »Es war nicht spät in der Nacht, sondern früh am Morgen«, präzisierte sie. »Nein, solche Spaziergänge zählen nicht zu meinen täglichen Gewohnheiten. Genau genommen bin ich heute zum ersten Mal am Strand von Pampelonne.«
»Tatsächlich? Warum gerade heute?«
Sie deutete auf die Pinien, die sich im Wind bogen. »Ich konnte nicht schlafen. Der Mistral, Sie verstehen.«
Er sah sie misstrauisch an. »Und deshalb fahren Sie von Fragolin den weiten Weg bis hierher an den Strand von Pampelonne? Das soll ich Ihnen glauben?«
»Werter Kollege«, antwortete Isabelle, »sind Sie mal in Paris während des Berufsverkehrs von Sacré-Cœur zum Boie de Boulogne gefahren? Das dauert entschieden länger, so gesehen war das ein Katzensprung.«
Er machte sich eine Notiz in seinen Block. Isabelle musste lächeln. Sie fragte sich amüsiert, ob der »werte Kollege« die Fahrzeit im Pariser Stoßverkehr überprüfen wollte. Viel Spaß dabei.
»Sie haben also zuvor keinen Hinweis auf eine Straftat bekommen?«, fuhr er fort. »Sie ermitteln auch in keinem Fall, der mit dem Toten in Verbindung steht? Und seine Identität ist Ihnen nicht bekannt?«
Langsam nervten Isabelle die Fragen. Sollte sie bei einem Mistral wieder mal wach liegen, würde sie im Bett bleiben, definitiv.
»Nein, kein Hinweis«, antwortete sie, »kein Fall, keine Identität, kein Garnichts. Ich bin per Zufall über die Leiche gestolpert. C’est tout.«
»Gestolpert?«
»Im übertragenen Sinne, nicht wirklich. Kann ich jetzt gehen? Sie wissen, wo Sie mich erreichen können?«
Der Kriminalbeamte nickte. »Im Rathaus von Fragolin, ja, habe ich notiert. Wusste gar nicht, dass es dort ein Kommissariat gibt.«
»Ist auch ganz neu«, sagte sie. »Aber ich kann Sie beruhigen, wir beschäftigen uns nicht mit aktuellen Fällen.«
»Nicht mit aktuellen Fällen? Das ist gut, sehr gut.«
Isabelle verkniff sich einen Kommentar.
»Kann ich also gehen?«, fragte sie erneut.
»Natürlich können Sie das.« Er räusperte sich. »Gute Heimfahrt. Und passen Sie auf herumfliegende Gegenstände auf. Mit dem Mistral ist nicht zu spaßen. Wir sind damit vertraut, aber …«
Zum Abschied riss ihm der Wind den Block aus den Händen und beförderte ihn per Luftfracht hinaus aufs Meer. Der Kriminaler sah seinen Notizen fassungslos hinterher.
Nach ihrem Ausflug an die Baie de Pampelonne hatte sich Isabelle noch mal hingelegt und war tiefer eingeschlafen, als sie das vorgehabt hatte. Jetzt saß sie auf dem Bett und rieb sich verwundert die Augen. Es war so still und friedlich. Kein Pfeifen des Windes mehr, kein Klappern der Fensterläden, stattdessen eine fast schon unwirkliche Ruhe. Hatte sie alles nur geträumt? Den Mistral, ihren Strandspaziergang, die nackte Männerleiche und deren grausame Verstümmelung? Sie fuhr sich durch die Haare und spürte Sand an den Fingern. Mit der Zunge benetzte sie ihre Lippen und schmeckte Salz. Nein, natürlich hatte sie das alles nicht geträumt. Aber was war mit dem Mistral? Sie stand auf und öffnete ein Fenster. Der Himmel war immer noch blank geputzt und die Sicht von ungewöhnlicher Klarheit. An einem Fenster auf der Gasse gegenüber stand Marie-Claire und winkte ihr fröhlich zu. Sie hatte die alte Dame erst gestern beim Anstehen in der Boulangerie-Pâtisserie kennengelernt. Weil sie Nachbarn waren, hatten sie sich gleich geduzt. Marie-Claire hatte das provenzalische Olivenbrot empfohlen. Bestrichen mit Tapenade, schmecke es köstlich. Sie hatte recht gehabt.
»Bonjour, Isabelle, comment ça va?«
Natürlich ging es ihr gut, da doch der Spuk vorbei war.
Sie erwiderte den Gruß und lachte. Von wegen drei, sechs oder neun Tage – diesmal hatte der Mistral genau vier Tage gedauert und dann schlagartig aufgehört, als ob jemand aus der großen Windmaschine den Stecker gezogen hätte.
Sie schaute auf die Uhr und stellte mit Erstaunen fest, dass der Tag schon weit fortgeschritten war. Hätte ihr Kommissariat geregelte Öffnungszeiten, würde es bald schon wieder schließen. Pause de midi, Mittagspause! Da traf es sich gut, dass sie gar nicht erst aufgesperrt hatte. Wozu auch? Sie hatte nichts zu tun. Dass sie sich um alte, unaufgeklärte Kriminalfälle kümmern sollte, war eine hübsche Idee. Aber noch hatte sie keinen auf ihrem Tisch. Also könnte sie genauso gut ins Café des Arts gehen, dort ein Croissant in den café au lait tunken und dazu die regionale Tageszeitung Var-Matin lesen. Vom Mord am Strand von Pampelonne würde nichts drinstehen, erst morgen. Außerdem ging es sie nichts an, hatte sie nicht zu interessieren. Auf dem Weg ins Badezimmer musste Isabelle lächeln. Na ja, vielleicht in einigen Jahren, wenn der Mord unaufgeklärt ins Archiv gewandert sein sollte. Dann wäre sie zuständig, aber erst dann.
Clodine setzte sich im Café zu Isabelle an den Tisch. Sie hatte in Fragolin einen kleinen Laden, in dem sie Mitbringsel für Touristen verkaufte, zum Beispiel herzförmige Seifen in Pastellfarben, die nach Lavendel oder Rosen dufteten. Jetzt hing ein Schild an ihrer Ladentür: Fermé!
Die beiden hatten sich seit ihrer Kindheit nicht mehr gesehen, zum ersten Mal wieder vor einigen Monaten, als Isabelle nach Fragolin gereist war, um sich hier eine Auszeit zu gönnen. Obwohl sie nicht unterschiedlicher sein könnten, hatten sie sich gleich gut verstanden. Dann hatte es eine Belastungsprobe gegeben, an der ihre Freundschaft fast zerbrochen wäre. Isabelle hatte Clodines Bruder des mehrfachen Mordes überführt. Aber das war eine andere Geschichte. Sie versuchten, nicht mehr darüber zu reden. Und Clodine war gescheit genug, nicht ihrer Freundin dafür die Schuld zu geben.
»Wie gefällt es dir in deiner neuen Wohnung?«, fragte sie.
»Die Wohnung gefällt mir total gut«, antwortete Isabelle. »Ich kann immer noch nicht glauben, dass das mein neues Zuhause sein soll, unter dem Dach, mit alten Balken, mit blauen Fensterläden – und einer Dusche, aus der oft nur kaltes Wasser kommt und in der ich mir regelmäßig den Kopf anstoße.«
»Das ist der Charme der Provence«, lachte Clodine. »Dafür hast du eine kleine Dachterrasse, du bist zu beneiden.«
»Stimmt, die ist ein Traum. Ich liebe die Terrasse, sie ist mein kleines Stück vom Paradies. Wenn ich mich aufs Geländer stelle, kann ich das Meer sehen.«
»Bist du verrückt?«
»Weißt du doch. Aber ich halte mich fest, an der Regenrinne.«
»Wie geht es Thierry?«
»Thierry Blès, dem Bürgermeister?«, fragte Isabelle mit Unschuldsmiene.
»Du kannst mich nicht für dumm verkaufen. Ihr seid immer noch zusammen, oder?«
»Wir verstehen uns gut.«
Clodine schmunzelte. »Ihr versteht euch sehr gut, richtig?«
»Mal mehr, mal weniger«, antwortete Isabelle sibyllinisch, »komm, lass uns das Thema wechseln.«
»Ungern, aber weil du meine beste Freundin bist: Was macht deine Arbeit?«
Isabelle hob die leeren Hände in die Luft und lachte. »Nichts, gar nichts. Wenigstens vorläufig. Aber ich hab’s schwarz auf weiß. Das Kommissariat wird es weiter geben. Nur muss ich mich selber um die Beschaffung meiner Fälle kümmern.«
»Was heißt denn das?«
»Ich bin sozusagen die zuständige Kommissarin für Karteileichen. Die sind schon mumifiziert, keiner will sie mehr haben. Ich bekomme sie geschenkt, aber erst muss ich sie finden.«
»Lass dir Zeit damit. Du bist immer noch nicht fit. Was macht dein Bein?«
»Mein Bein? Ich hab zwei.«
»Du weißt schon.«
Isabelle strich sich verlegen die Haarlocke über die Narbe an der Stirn. »Besser, immer besser. Ab und zu vergesse ich, was geschehen ist.«
In der Eingangshalle des Rathauses blieb Isabelle vor der Gemäldegalerie mit den früheren Bürgermeistern stehen. Unter ihnen ihr Vater, der streng und ungemein würdig dreinblickte. Sie hatte ihn viel liebevoller in Erinnerung und entspannter. Aber er war schon lange tot, so lange, dass sie nicht mehr sagen konnte, wie er wirklich gewesen war. Im Rückblick verklärte sich vieles. Aber in einem Punkt war sie sich sicher: So streng hatte er sie nie angeschaut. Nicht einmal, als sie verbotenerweise am Feuerlöschteich gespielt, hineingefallen und fast ertrunken war.
Sie hauchte ihrem Vater einen Kuss zu und ging zum Büro, das ihr vor Monaten Thierry überlassen hatte, damit sie einen Mordfall aufklären konnte. Und einiges mehr. Sie schmunzelte, als sie im Gang neben der Tür das Messingschild sah – Police nationale. Darunter stand auf einem Pappkarton Commission spéciale.
Das Messingschild hatte Apollinaire im Touloner Kommissariat abgeschraubt. Sous-Brigadier Jacobert Apollinaire Eustache, ihr Assistent im vorangegangenen Fall. Ein Mann, der seine Eigenarten hatte, bevorzugt verschiedenfarbige Socken trug, so groß und hager war, dass er sich zusammenfalten musste, um in seinem 2CV hinter dem Lenkrad Platz zu finden, der zur Entspannung Kopfstände machte, die so schief waren wie der Turm von Pisa – und der Kakteen liebte. Dieser Kauz, der von vielen Dingen des Lebens keine Ahnung hatte, gleichzeitig über ein verblüffendes Wissen verfügte, hatte ihr das Leben gerettet. Jetzt war er wieder in Toulon – unter der Fuchtel von Commandant Bastian, der nichts lieber tat, als ihn zu schikanieren. Aber der Commandant hatte versprochen, ihn nicht wieder in den Keller zu verdammen, ins Archiv. Dort hatte Apollinaire zuvor sein Dasein gefristet, und da wollte er nie mehr hin. Isabelle hatte ihm ihr Wort gegeben, dass ihm dieses Schicksal fortan erspart bleibe.
Sie betrachtete das von Apollinaire handgefertigte Pappschild mit der Commission spéciale. Nun, genau genommen stimmte das noch immer. Zugegeben, es klang etwas hochtrabend, aber in der Sache war es zutreffend. Sie würde Thierrys Sekretärin fragen, wo man ein Messingschild in Auftrag geben könnte.
Sie schloss das Büro auf. Alles stand noch da, wie sie es vor Wochen verlassen hatte. An der Wand hing ein Foto von Charles de Gaulle. Auch das war ein Einfall von Apollinaire gewesen. Der General gebe dem Kommissariat Autorität, hatte er gesagt. Auf diese Weise habe es etwas Staatstragendes. Auf die Idee, den aktuellen Präsidenten aufzuhängen, war er überhaupt nicht gekommen. Gut so. Bald gab es Neuwahlen.
Isabelle machte die Fenster auf und ließ frische Luft in den Raum. Sie entdeckte den vergessenen Kaktus, um den sich Apollinaire so liebevoll gekümmert hatte. Gott sei Dank kamen Kakteen über längere Zeit ohne Wasser aus. Sie holte eine Gießkanne.
Dann saß sie an ihrem Schreibtisch und dachte nach. Ganz schön einsam hier, kein Leben. Was war das für eine Commission spéciale, die nichts zu tun hatte? Es war ihr bewusst, dass sie die Situation selber verschuldet hatte. In Paris könnte sie sich mit Arbeit zuschütten lassen, könnte Menschen herumkommandieren und von einem Termin zum nächsten hetzen. Aber genau das hatte sie nicht mehr gewollt. Vor allem wollte sie nicht mehr dafür verantwortlich sein, dass jemand in Gefahr geriet, weil sie eine Entscheidung getroffen hatte, womöglich eine falsche. Nein, diese Last wollte sie nicht mehr tragen. Aber das bedeutete nicht, dass sie in einem verwaisten Büro sitzen musste, keinen Fall zu bearbeiten und als einzigen Gesprächspartner einen Kaktus hatte.
Sie gab sich einen Ruck. Ihr Auftrag war es, alte Fälle auszukramen, die nie aufgeklärt wurden, wo die Täter frei herumliefen und längst nicht mehr glaubten, dass ihnen noch was passieren könnte. Isabelle schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Das war doch eine schöne Motivation: es denen zu zeigen, die dem Gesetz eine lange Nase gedreht hatten. Dabei gab es zwei Probleme. Erstens musste sie solche Fälle erst mal finden. Und zweitens durften sie nicht verjährt sein. Was sie zum ersten Problem brachte. Wo gab es solche Fälle? Sie sollten sich möglichst in relativer Nähe zugetragen haben. Das machte es nicht einfacher, die Provence war ein friedliches Stückchen Erde. Isabelle lächelte. Nun, das stimmte nicht ganz, davon hatte sie sich erst in der letzten Nacht überzeugen können.
Sie beugte sich unter den Tisch und schaltete den Computer ein. Weil das ein älteres Modell war und schon von der Forstbehörde ausrangiert wurde, setzte sich der Rechner mit lautem Gekreische des Ventilators in Gang. Das hörte sich an wie eine Kreissäge. Sie gab dem Computer einen Tritt. Das war zwar wenig fachmännisch, aber jetzt war Ruhe. Könnte natürlich sein, dass sich der Ventilator nun vollends verabschiedet hatte. Das würde sie spätestens dann merken, wenn der Rechner wegen Überhitzung zu qualmen begann. Sie warf einen Blick zur Gießkanne – sie war sehr groß und fast voll. Ein möglicher Brand würde sich löschen lassen.
Sie drehte die Tastatur um. Dort hatte Apollinaire die Passwörter aufgeklebt. Ein Verfahren, das von einem hohen Sicherheitsbewusstsein zeugte. Schnell hatte sie sich in die Datenbank der Police nationale eingeloggt. Doch sehr viel weiter kam sie nicht. Es gab kein Verzeichnis mit unaufgeklärten Mordfällen in der Provence. Wäre auch zu schön gewesen. Und jetzt? Sie hatte für so etwas immer ihre Leute gehabt. Natürlich würde sie sich selber durchfinden, irgendwann, sie war ja nicht blöd. Aber das war nervig. Apollinaire hätte das im Handumdrehen erledigt. Er mochte zwar keine Computer, jedenfalls behauptete er das, aber es musste sich um eine Art Hassliebe handeln. Er schimpfte über die kindliche Einfalt der Programmierer, machte sich über unlogische Suchpfade und schwachsinnige Algorithmen lustig – und war bereits am Ziel.
Apollinaire, Apollinaire …
Ob er mit seiner Arbeit in Toulon glücklich war? So wie sie seinen Chef kannte, sprach nicht viel dafür. Commandant Bastian konnte ein ziemliches Ekel sein.
Isabelle dachte nicht länger nach. Sie nahm ihr portable und suchte nach der Telefonnummer von Sous-Brigadier Jacobert Apollinaire Eustache.
Ihr früherer Assistent freute sich so über ihren Anruf, dass er zunächst keinen zusammenhängenden Satz zustande brachte. Das passierte ihm häufig, wenn er aufgeregt war. Da überschlugen sich seine Gefühle und Gedanken, galoppierten ihm so schnell davon, dass er ihnen verbal nicht folgen konnte. Es dauerte, bis er sie einholte. Sie musste lächeln. Apollinaires verhaspelte Freude war irgendwie anrührend. Sie wusste, dass sie ihm nur etwas Zeit geben musste, dann würde seine Sprache in geordnete Bahnen gelangen und sich der Sinn seiner Satzfragmente erschließen.
Später musste sie einige Male nachhaken, um schließlich von ihm bestätigt zu bekommen, was sie gleich gespürt hatte: Er war in seiner Arbeit kreuzunglücklich. Sein Chef Bastian hatte sich wirklich als linke Bazille erwiesen. Zwar hatte er Apollinaire nicht zurück ins Archiv verdammt, insoweit also Wort gehalten, allerdings war aus dem erhofften Einsatz im Außendienst auch nichts geworden. Stattdessen schien sein Schreibtisch in einer besseren Besenkammer zu stehen, wo er am Rechner irgendwelche schikanösen Statistiken erstellen musste, die kein Mensch brauchte. Apollinaire deutete an, dass er kurz davor stand zu kündigen. Innerlich habe er es bereits getan.
Isabelle sagte, dass er damit noch warten solle. Sie habe eine Idee. Ob er sich vorstellen könne, wieder für sie zu arbeiten, hier in Fragolin. Seine Antwort fiel so konfus aus, dass sie das als überschwenglichen Gefühlsausbruch interpretierte. Dabei bekam sie fast ein schlechtes Gewissen, denn das war soeben ein spontaner Einfall gewesen. Sie sagte, dass sie nichts versprechen könne, aber sie melde sich wieder.
Als Nächstes rief sie in Paris ihren obersten Vorgesetzten Maurice Balancourt an. Kein anderer kleiner Kommissar in Frankreich würde ihn so ohne weiteres an die Strippe bekommen.
»Hallo, chérie«, begrüßte er sie. »Hast du es dir anders überlegt? Kommst du doch zurück?«
»Nein, tut mir leid, deshalb rufe ich nicht an.«
»Hätte ich mir denken können. Du hattest schon immer einen Dickschädel«, brummelte er.
»Geht’s dir gut?«, fragte sie, um die Stimmung etwas aufzulockern.
»Natürlich, mir geht’s doch immer gut. Abgesehen davon, dass der Bordeaux heute Mittag Kork hatte und der Idiot von Koch die wunderbaren Lammkoteletts durchgebraten hat. Aber darüber komme ich hinweg.«
Isabelle lachte. »Da bin ich aber froh.«
»Nun sag schon, warum rufst du an, was kann ich für dich tun?«
»Ich hätte gerne eine Planstelle für einen Assistenten«, kam sie ohne Umschweife auf den Punkt.
»Genehmigt!«, antwortete er kurz und knapp.
»Danke«, sagte sie perplex. Sie hatte immerhin erwartet, dass er nach dem Grund fragen würde. Ob sie schon einen Fall in Arbeit habe oder so etwas Ähnliches.
»Wie ist das Wetter in der Provence?«, fragte er stattdessen.
»Wir hatten Mistral, aber der ist jetzt vorbei.«
»Ich hasse Mistral, davon bekomme ich Ohrensausen. Ein Grund mehr, in Paris zu leben, du wirst es schon noch merken. Die Vorstellung, dass das Leben im Süden eine einzige Wohltat sei, ist eine romantische Illusion. Vielleicht trifft das für Engländer zu, die stehen daheim den ganzen Tag im Regen und bekommen nichts Anständiges zu essen. Aber für einen Parisien ist der Gedanke völlig abwegig. Die Provence ist schön, um dort Urlaub zu machen, kein Zweifel, aber nicht, um dort das ganze Jahr zu verbringen.«
Wieder musste sie lachen. »Du gibst nicht auf, oder?«
»Ich wette zehn zu eins, dass du über kurz oder lang …«
»Schon verloren!«
»Abwarten, meine liebe Isabelle, abwarten. Gibt’s noch was? Ich hab einen Termin beim Innenminister.«
»Nur noch eine klitzekleine Bitte. Ich hätte als Assistenten gerne den Sous-Brigadier aus Toulon, du weißt schon, der mir …«
»Geht in Ordnung«, unterbrach er sie. »Jacqueline hat seinen Namen. Ich sag ihr, dass sie dem Commandant in Toulon ein Fax mit der entsprechenden Dienstanweisung schickt. Das wär’s dann, oder?«
»Maurice, ich liebe dich.«
»Wenn das meine Frau hört«, erwiderte er kichernd.
»Grüß sie von mir!«
»Mach ich, sie wird sich freuen. Pass auf dich auf. Bonne journée!«
Sie stand auf und streckte sich. Das war gut gelaufen. Allerdings hatte sie sich unbeabsichtigt in Zugzwang gebracht. Maurice würde nun erwarten, dass ihr kleines Kommissariat die Arbeit aufnahm. Eigentlich könnte es ihm egal sein, aber der Wunsch nach einem Assistenten dürfte seine Neugier geweckt haben. Irgendwann würde er anrufen, sich nach dem Wetter erkundigen und wie beiläufig fragen, woran sie gerade arbeite und wie sie vorankomme. Sie wollte ihn dann nicht enttäuschen. Isabelle massierte ihre Schläfen. Kurze Zeit später setzte sie sich wieder hin und wählte die Nummer von Commandant Bastian. Sie freute sich nicht darauf, aber es musste sein.
»Madame le Commissaire«, begrüßte er sie mit scheinheiliger Freundlichkeit. »Was verschafft mir die Ehre?«
Isabelle wusste, dass der Chef der Touloner Police nationale sie auf den Tod nicht leiden konnte. Nie würde er ihr verzeihen, dass sie ihn beim letzten Fall ausgebootet hatte. Er fand es unerträglich, dass sie einen Sonderstatus genoss und von oberster Stelle gedeckt wurde. Er hasste sie schon deshalb, weil sie ihm seinen neuen Dienstwagen weggenommen hatte. Was nicht ihre, sondern Apollinaires Idee gewesen war, aber egal. Außerdem hatte Bastian den Wagen unbeschädigt zurückbekommen. Am schlimmsten aber war für den alten Macho, dass die freche Kommissarin eine Frau war. In seinem Weltbild konnte es nicht sein, dass Frauen im Beruf eigenverantwortlich handelten und noch dazu Erfolg hatten. Das war eine biologische Unmöglichkeit.
»Lieber Commandant Bastian«, antwortete sie mit nicht minder heuchlerischer Freundlichkeit, »Sie wissen ja, dass ich in Fragolin mit einem kleinen Kommissariat ansässig bleibe und mich alten, unaufgeklärten Fällen widmen werde.«
»Dabei wünsche ich Ihnen viel Vergnügen«, spöttelte er.
»Sie waren schon mal so freundlich, mir Ihren Sous-Brigadier Jacobert Apollinaire Eustache auszuleihen.«
»Gern geschehen.«
»Ich brauche wieder einen Assistenten …«
»Wozu? Zum Kaffeekochen?«, unterbrach er sie mit einem heiseren Gelächter.
»… und dachte da erneut an Monsieur Eustache«, fuhr sie unbeirrt fort. »Er hat hervorragende Arbeit geleistet.«
»Den kann ich nicht entbehren«, entgegnete Bastian, »da müssen Sie sich jemand anderen suchen.«
»Geht leider nicht. Sous-Brigadier Eustache fängt morgen bei mir an.«
»Da täuschen Sie sich gewaltig«, sagte Bastian.
»Ich hab keine Lust, mit Ihnen zu diskutieren …«
»Sehr vernünftig!«
»… deshalb bitte ich Sie, in den nächsten Stunden mal in Ihr Faxgerät zu schauen. Dort werden Sie eine entsprechende Anweisung aus Paris vorfinden. Ich danke Ihnen schon jetzt für Ihr Verständnis.«
Statt einer Entgegnung hörte sie nur heftiges Schnaufen. Wahrscheinlich hatte er einen roten Kopf. Und ganz sicher verstand er die Welt nicht mehr. Sie fragte sich, warum er sich das Leben so schwer machte? Sie war nicht auf Konfrontation aus, im Gegenteil, sie hätte nichts dagegen, mit ihm einvernehmlich zusammenzuarbeiten. Na ja, jedenfalls in der Theorie, gestand sie sich lächelnd ein, in der Praxis würde das wohl nicht funktionieren.
»Ich hätte noch eine Bitte. Würden Sie bitte Monsieur Eustache die Mappen mitgeben, die Sie für mich vorbereitet haben.«
»Welche Mappen?«
Na bitte, er hatte seine Stimme wiedererlangt, auch wenn sie sich etwas dünn anhörte.
»Die Mappen mit den unaufgeklärten Fällen.«
»Ach so, ja. Ich bin bisher noch nicht dazu gekommen.«
»Kein Problem, dann beauftragen Sie Eustache, die Mappen rauszusuchen. Im Archiv kennt er sich ja aus.«
»Noch heute?«
»Selbstverständlich.«
»Was wollen Sie mit dem alten Mist? Glauben Sie wirklich, dass Sie in der Lage sind, irgendeinen Fall aufzuklären, der Jahre zurückliegt und an dem sich meine besten Leute ihre Zähne ausgebissen haben?«
»Keine Ahnung. Möglich wäre es.«
»Dass ich nicht lache. Viele Akten werden es eh nicht sein. Wir haben eine exzellente Aufklärungsquote.«
»Das will ich nicht in Abrede stellen. Aber leider gibt es immer unaufgeklärte Fälle, nicht nur bei Ihnen, auch bei den anderen Kommissariaten im Département Var. Und meine Aufgabe ist es, diese Fälle einer erneuten Prüfung zu unterziehen. C’est tout!«
»Wie ich schon sagte, viel Spaß dabei.«
»Also, was ist mit den Ermittlungsakten?«
»Meinetwegen. Eustache soll sie raussuchen und Ihnen mitbringen.«
»Vielen Dank für die Kooperation.«
»Aber eines sage ich Ihnen …«
»Ja bitte?«
»Wenn sich dieser respektlose Lulatsch wieder meinen Dienstwagen schnappt, lasse ich ihn standrechtlich erschießen.«
Isabelle lächelte. »Das wird er nicht tun, versprochen.«
»Oder ich lege ihn unter die Guillotine.«
»Au revoir, mon Commandant.«
Unmittelbar nach dem Auflegen wählte sie die Nummer von Apollinaire und berichtete ihm von seiner »Versetzung«. Der konnte sein Glück nicht fassen. Er versprach, alles zu ihrer vollen Zufriedenheit zu erledigen. Er bemächtige sich sogleich der in Frage kommenden Ermittlungsakten, wenn nötig, arbeite er die Nacht durch. Und morgen sei er pünktlich zum Dienstbeginn in Fragolin.
Isabelle bat ihn, sich morgen früh Zeit zu lassen. Einen offiziellen Dienstbeginn gebe es gar nicht. Sie schlafe aus und frühstücke danach in Ruhe. Ach so, sie habe noch eine Anweisung. Er solle sich auf keinen Fall im Fuhrpark des Touloner Kommissariats bedienen. Ob er noch seinen alten 2CV habe? Sehr schön, dann solle er mit seinem Privatwagen kommen – in aller Ruhe. À demain!
Sie hatte gut geschlafen. Kein Mistral hatte ihre Nachtruhe gestört. Die beruflichen Arrangements, die sie gestern getroffen hatte, gaben ihr ein gutes Gefühl. Also ließ es Isabelle am Morgen langsam angehen. Sie hatte sich vorgenommen, sich dem provenzalischen Lebensrhythmus anzupassen. Die Pariser Hektik war hier nicht nur fehl am Platz, sondern geradezu verpönt. Sie schlüpfte in ihre ausgetretenen Espadrilles. Clodine, die die leichten Sommerlatschen aus Baumwolle und mit der charakteristischen Jutesohle auch in ihrem Laden verkaufte, hatte ihr gestern erklärt, dass das Wort Espadrilles aus dem Provenzalischen stamme. Schon Grace Kelly alias Princesse Grace de Monaco und Sophia Loren hätten sie gerne getragen. Nun, da war sie ja in bester Gesellschaft. Sie lief die Treppe hinunter, um sich ums Eck eine Tageszeitung zu kaufen und in der Boulangerie-Pâtisserie frische Croissants.
Zurück in ihrer Wohnung, machte sie sich in einer Glaskanne einen traditionellen französischen Kaffee. In der cafetière à piston wird der Kaffee mit einem Stempel nach unten gedrückt. So mochte sie ihn am liebsten. Sie presste einige Orangen aus, dazu die Croissants und die regionale Tageszeitung Var-Matin. Dann balancierte sie ihr Frühstückstablett über die wacklige Wendeltreppe nach oben auf die Terrasse. Als sie schließlich gemütlich am kleinen Blechtisch saß und am Topf mit dem Rosmarin vorbei auf die Dächer von Fragolin blickte, da dachte sie, dass sie schon erhebliche Fortschritte gemacht hatte. Sie tunkte ein Croissant in den Kaffee und blätterte durch die Zeitung. Auf der Titelseite stand nichts von der Leiche am Strand von Pampelonne. Erstaunlich, aber vielleicht folgten die Redakteure den Wünschen der Tourismusbehörde, die es nicht mochte, wenn Verbrechen aus der Region groß herausgestellt wurden. Das schrecke Feriengäste ab und schade dem Geschäft. Wie sie wusste, vertrat auch Fragolins Bürgermeister Thierry Blès diese Auffassung.
Weiter hinten wurde sie fündig. Natürlich gab es kein Foto von der Leiche. Stattdessen wurde ein sympathisches Bild des Opfers gezeigt, wie es am Strand neben einer Strohhütte posierte. Raphaël Dubois, so hieß der bemitleidenswerte Mann, hatte einen Strandabschnitt gepachtet, wo er Liegen und Sonnenschirme verlieh. Er sei allseits beliebt gewesen und von fröhlichem Naturell. Umso unerklärlicher sei seine Ermordung. Der Text deutete an, dass seine Leiche übel zugerichtet war, ohne auf Details einzugehen. Auch dass er nackt war, wurde verschwiegen. Eine »Strandläuferin« habe den Toten in den frühen Morgenstunden gefunden. Isabelle musste schmunzeln, als sie las, dass diese Frau der Tat unverdächtig sei. Die Polizei tappe noch völlig im Dunkeln. Es gebe keine Zeugen. Auch fehle jeglicher Hinweis auf ein Motiv.
Sie legte die Füße auf einen Stuhl und rührte gedankenverloren im Kaffee. Nun, das mit dem Fehlen eines Motivs stimmte nicht ganz. Wer seinem Opfer das Gemächt abschnitt, hatte eine Botschaft. Die Entmannung deutete entschieden darauf hin, dass sich Raphaël Dubois mit seinem Sexualverhalten einen Feind gemacht hatte. Dem Täter reichte es nicht, ihn umzubringen. Er musste ihn noch auf grausame Weise verstümmeln. Welche Motive könnte es dafür geben? Ihr fielen gleich mehrere ein, mit der Eifersucht an erster Stelle. Vielleicht hatte Raphaël Dubois als Strandgigolo ein Verhältnis mit einer verheirateten Frau angefangen? Ihrem Ehemann oder Freund hatte dies nicht gefallen.
Sie glaubte sich zu erinnern, dass es in der griechischen Mythologie Beispiele für die gewaltsame Entmannung als Ausdruck totaler Entmachtung gab. Das wäre ein weiteres Motiv. Fast bedauerte es Isabelle, dass sie für den Fall nicht zuständig war, aber nur für einen kurzen Augenblick, dann war sie wieder froh, es nicht zu sein. So konnte sie in aller Ruhe auf der Terrasse frühstücken und Zeitung lesen. Es gab keinen Druck von der Staatsanwaltschaft, vom Untersuchungsrichter oder von den Medien. Das könnte der größte Vorteil sein, wenn man sich mit Kriminalfällen beschäftigte, die lange zurücklagen. Es gab keine Erwartung, von niemandem.
So hatte sie das bislang noch gar nicht gesehen. Sie nahm einen entspannten Schluck aus der Kaffeetasse. Blieb dennoch zu hoffen, dass sie mit Apollinaires Hilfe einen Fall aufstöberte, der die Beschäftigung lohnte. An die Möglichkeit, dass es keinen gab, im Zuständigkeitsbereich von Toulon nicht und auch anderswo im Département Var, an diese Eventualität mochte sie nicht denken. Erst recht nicht daran, dass sie bei der Aufklärung scheitern könnte. Bastian würde sich vor Freude nicht einkriegen und einen Kübel voller Häme über sie ausschütten. Dann würde sie noch bereuen, sich darauf eingelassen zu haben.
Sie stand auf und machte eine Yogaübung. Ommm … Ihr Atem ging ganz ruhig. Es gab keinen Grund, sich aufzuregen.
Eine halbe Stunde später schlenderte sie hinüber zum Hôtel de ville. Sie kam am Brunnen mit der Gedenktafel vorbei, die an die tapferen Kämpfer der Résistance erinnerte, überquerte den kopfsteingepflasterten Platz mit den Platanen und musste beim verwaisten Bouleplatz lächeln, weil sie hier schon einige schöne Stunden verbracht hatte. Sie war die einzige Frau, die von den Männern als Mitspielerin akzeptiert wurde. In Fragolin kam das einem Ritterschlag gleich. Zugereisten war die Teilnahme ohnehin verwehrt. Zu ihrem Glück war sie hier geboren, was letztlich den Ausschlag gegeben hatte. Jetzt galt es, das Privileg zu verteidigen und den Männern zu beweisen, dass Frauen gleichwertige Mitglieder der Gesellschaft waren – sogar beim Pétanque, wie das traditionelle Boulespiel in der Provence genannt wurde. In manch einen südfranzösischen Schädel wollte das nicht rein. Aber wenn sie mit einem guten Wurf die Kugel eines notorischen Machos traf und aus dem Spiel beförderte, dann klickte es vielleicht auch im Kopf. Besondere Hoffnung machte sie sich freilich nicht.
Isabelle sperrte ihr Büro auf, öffnete die Fenster, setzte sich an ihren Schreibtisch und fuhr mit der flachen Hand über die leere Arbeitsfläche. Sauber. Sie hatte den Tisch schon gestern abgewischt. Der Papierkorb war leer. Die Drahtkörbe für den Posteingang waren es auch. Sie hob den Telefonhörer ab, hörte das Freizeichen und legte wieder auf. Verdammt, war das trostlos. Sie startete ihren Computer. Selbst der Ventilator ließ sie im Stich, kein Kreischen – und kein Grund, dagegenzutreten.
Auf ihrem portable entdeckte sie eine Nachricht von Thierry. Er hieß sie im Rathaus willkommen und wünschte ihr einen schönen Arbeitstag. Idiot. Er hätte sich doch persönlich herbemühen können. Wann hatte sie ihn das letzte Mal gesehen? Das war schon einige Tage her. Und einige Nächte. Dann fiel ihr ein, dass er nach Marseille gereist war, zu einer mehrtägigen Tagung der Bürgermeister der Region Provence-Alpes-Côte d’Azur. Na meinetwegen, er war entschuldigt und vielleicht doch kein Idiot.
Gerade wollte sie Thierry eine Antwort schicken, da hörte sie im Flur Lärm, irgendwas krachte gegen die Tür, dann drang ein lautes Merde zu ihr durch. Isabelle schmunzelte. Sie ahnte, wer für diese Ruhestörung verantwortlich war, eine Ruhestörung, die sie direkt herbeigesehnt hatte. Sie drehte sich zum Fenster und sah draußen einen alten 2CV stehen, mit aufgerolltem Dach und mit den Vorderrädern in einem Blumenbeet. Sie blickte wieder zum Eingang, verschränkte lächelnd die Arme über der Brust und wartete ab.
Jetzt ging die Tür auf, aber nur einen Spalt, und wurde dann mit einer Entschuldigung sofort wieder geschlossen.
»Pardon, excusez-moi.«
Nun wurde förmlich angeklopft.
Erst nach ihrem »Entrez, s’il vous plaît« wagte der Besucher einen zweiten Versuch.
Apollinaires Haare standen wirr vom Kopf, beim Zuknöpfen seiner Jacke hatte er sich mit den Löchern vertan. Mit rudernden Armen kam er auf sie zu. Weil er himmellang war und von hagerer Gestalt, sah es aus, als ob er gleich stürzen würde.
Um Schlimmeres zu verhindern, hob Isabelle die Hand.
»Arrête, stehen bleiben!«
Mit einem gewagten Bremsmanöver gehorchte er aufs Wort. Breit grinsend strahlte er sie an.
»Madame le Commissaire, ich melde mich zum Dienst.«
Hoffnungsvoll sah sie auf seine Socken. Mit Erleichterung stellte sie fest, dass er seiner alten Gewohnheit treu geblieben war und verschiedene Farben gewählt hatte – links rot, rechts gelb. Eine gewagte Kombination.
»Schön, Sie wiederzusehen. Ich freu mich«, sagte sie.
Er schlug sich theatralisch auf die Brust. »Und ich erst. Sie haben mich vor meinem sicheren Untergang bewahrt.«
Sie deutete hinaus auf den Flur. »Was ist da passiert?«
Er rückte verlegen seinen Krawattenknoten zurecht. »Pardon, ein kleines Missgeschick. Die Akten, Sie wissen schon, um die Sie mich gebeten hatten. Sie sind von der Sackkarre gerutscht.«
»So viele sind es, dass Sie eine Sackkarre brauchen?«
»Doch, doch, es sind einige. Ich hatte ja keine Zeit, sie durchzusehen. Da habe ich vorsichtshalber alle Fälle mitgenommen, die in den letzten zwanzig Jahren nicht aufgeklärt wurden. Wobei ich mich auf Gewaltverbrechen und Kapitaldelikte konzentriert habe. Das war doch in Ihrem Sinne, oder?«
Sie schmunzelte. »Also keine gestohlenen Fahrräder oder geklaute Handtaschen?«
»Nein, natürlich nicht, hoffe ich jedenfalls. Es musste ja schnell gehen. Commandant Bastian hatte mich angewiesen, spätestens um Mitternacht das Kommissariat zu verlassen.«
Isabelle stand auf, ging zu Apollinaire und tat etwas, was völlig gegen ihre Natur war – sie umarmte ihn. Aber nur kurz, dann forderte sie ihn auf, die Akten hereinzubringen.
Eine Stunde später gab es auf dem Besprechungstisch verschiedene Stapel. Der ganz links war am kleinsten, aber am interessantesten. Sie musste an Bastians Worte von der hohen Aufklärungsquote denken. Wahrscheinlich hatte er sogar recht, aber im Lauf von zwei Jahrzehnten kam so einiges zusammen. Gott sei Dank. Es stellte sich heraus, dass in Toulon auch die unaufgeklärt abgelegten Fälle anderer Kommissariate der Region aufbewahrt wurden. Das machte es einfacher. Wobei Apollinaire darauf verwies, dass man im Onlinearchiv der Police nationale auf weitere »Karteileichen« stoßen könne. Er kümmere sich später darum.
Isabelle nickte. Aber weil sie nichts überstürzen müssten und da heute Apollinaires erster Arbeitstag war, sei es ihr ein Vergnügen, ihn zum Mittagessen einzuladen.
Sie schlossen das Büro ab. Mit Parteiverkehr war nicht zu rechnen, aber die Akten waren nicht für fremde Augen bestimmt. Apollinaire fuhr seinen 2 CV ordnungsgemäß auf den Parkplatz, dann liefen sie hinüber zum Bistro Chez Jacques. Als Tagesempfehlung standen auf der Schiefertafel moules marinières, frische Miesmuscheln. Außerdem gab es magret de canard à l’orange, Entenbrust in einer Rotwein-Orangen-Sauce.
Apollinaire schnalzte mit der Zunge – und bestellte beides.
Isabelle entschied sich für einen Klassiker, den es hier immer gab, für eine salade niçoise mit in Öl eingelegten Anchovis, Kapern, Tomaten, hart gekochten Eiern und schwarzen Oliven.
Den Rosé gab es auch au verre, glasweise. Sie stieß mit Apollinaire auf ihre erneute Zusammenarbeit an. Isabelle sagte, dass sie sich auf ihn verlasse, sie brauche einen fähigen Assistenten. Auch wenn sie nicht wisse, was ihnen bevorstehe. Das Ganze sei ein Experiment mit ungewissem Ausgang. In ihrer früheren Tätigkeit sei sie es gewohnt gewesen, ganz in der Gegenwart zu leben und in die Zukunft zu blicken. Die Zeiger der Zeit stattdessen zurückzudrehen, sich in Situationen zu versetzen, die schon lange zurücklagen, diesen Umgang mit der Vergangenheit habe sie nie gelernt.
Apollinaire zitierte Albert Einstein. Der habe argumentiert, dass die Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur eine besonders hartnäckige Illusion sei. Weil Einstein an Klugheit nicht zu übertreffen sei, habe er wohl recht. Folglich müsse sie sich keine Sorgen machen.