Madame Legros - Heinrich Mann - E-Book

Madame Legros E-Book

Heinrich Mann

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Beschreibung

Paris 1789 — am Vorabend der französischen Revolution: Die Frau des Strumpfwirkers Legros findet den Brief eines Häftlings, der seit über vierzig Jahren in der Bastille einsitzt — und schreit auf: »Es handelt sich um einen Menschen!«

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Seitenzahl: 89

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Madame Legros

HEINRICH MANN

Madame Legros

Drama in drei Akten

1. Auflage 2025

ISBN 978-3-911717-01-4

Dromedar Verlag UG (haftungsbeschränkt)

Hanauer Landstraße 204, 60314 Frankfurt am Main

https://dromedar-verlag.de/

›Madame Legros‹ erschien zuerst 1913

bei Paul Cassierer, Berlin.

Textvorlage für diese Ausgabe ist

›Madame Legros‹, Kurt Wolff Verlag,

Leipzig, 3. bis 5. Tausend,

ohne Jahresangabe [1917].

Das Buch

Paris 1789 — am Vorabend der französischen Revolution: Die Frau des Strumpfwirkers Legros findet den Brief eines Häftlings, der seit über vierzig Jahren in der Bastille einsitzt — und schreit auf: »Es handelt sich um einen Menschen!«

Über den Autor

»Mit fünfundzwanzig Jahren sagte ich mir: Es ist notwendig, soziale Zeitromane zu schreiben. Diese deutsche Gesellschaft kennt sich selbst nicht. Sie zerfällt in Schichten, die einander unbekannt sind, und die führende Klasse verschwimmt hinter Wolken.«

Luiz Heinrich Mann, geboren 1871, wuchs in großbürgerlichen Verhältnissen auf, sein Vater Thomas Johann Heinrich Mann war Kaufmann, Reeder, Konsul und Senator, seine Mutter Julia da Silva-Bruns war die Tochter eines nach Brasilien ausgewanderten Kaufmanns. Ab 1894 veröffentlichte er zum Teil gesellschaftskritische Literatur; bekannt wurde er vor allem durch die Romane ›Professor Unrat‹ (1905) und ›Der Untertan‹ (1918).

Mann engagierte sich für Republik und Demokratie, betrieb Kulturpolitik und wurde 1931 Präsident der Sektion Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste. — Im Februar 1933 wurde er aus der Preußischen Akademie der Künste ausgeschlossen, seine Werke wurden öffentlich verbrannt und aus Bibliotheken und Büchereien entfernt, im August 1933 wurde er ausgebürgert. Mann emigrierte zunächst nach Frankreich, dann in die USA, wo er fast mittellos in Los Angeles und Santa Monica lebte, teils mit Unterstützung durch seinen Bruder Thomas. 1949 wurde er in der neu gegründeten DDR zum Präsidenten der Akademie der Künste gewählt, starb aber im März 1950 im US-amerikanischen Exil in Santa Monica.

PERSONEN:

Madame Legros

Die Königin Marie Antoinette

Die Comtesse d’Orchat

Die alte Marquise de Sarclé

Eine Verwandte des Ehepaares Legros

Madame Touche

Fanchon

Madame Crozet

Legros

Der junge Chevalier d’Angelot

Der Abbé de Zorane

Der Baron de Clairvaux

Vignon

Ein Akademiker

Ein Offizier

Ein Türhüter

Nachbarn und Nachbarinnen des Ehepaares Legros

Volk

Soldaten

Paris 1789

ERSTER AKT

Die größere Hälfte der Bühne wird von dem Laden des Ehepaares Legros eingenommen. Er ist nach der Seite offen und hat Auslagen von Weißwaren, auch auf der engen Gasse, die zwischen hohen alten Häusern (das schönste ist der Gasthof zum »Weißen Pferd«) nach dem Hintergrund verläuft. Dort öffnet sich der Platz der Bastille, einer ihrer Türme bildet den Abschluß.

ERSTE SZENE

Madame Legros. Die Verwandte.

VERWANDTE

Das Häubchen ist hübsch. Der Herr Graf von Coutras hat richtig gewählt: es wird dem Fräulein Palmyre gut stehen. Finden Sie nicht, Madame Legros?

MADAME LEGROS

(an der Kasse, schreibend)

Der Herr Graf hat gewählt, was ihm passend schien.

VERWANDTE

O nein, sondern ich selbst habe es ausgesucht und es dem Herrn Grafen aufgenötigt. Der Herr Graf würde dieses andere hier genommen haben, aber es ist nicht schön genug für Fräulein Palmyre. Ich bin ihre gute Freundin.

MADAME LEGROS

Ich denke, du bist bei uns im Dienst und wirst schon darum einem Kunden die bessere Ware empfehlen.

VERWANDTE

Nun ja . . . Ich könnte das Häubchen gleich hintragen.

MADAME LEGROS

Du weißt, daß ich noch die Schleifen daranzunähen habe.

VERWANDTE

Das kann auch ich tun.

MADAME LEGROS

Bildest du dir ein, man würde den Unterschied nicht sehen?

VERWANDTE

Ich habe doch auch schon Geschmack erlernt, seit ich in Paris bin. Ich bin keine Bäuerin. Herr Legros ist mein Vetter, er wird mir erlauben, was ich will.

MADAME LEGROS

Die Schachtel mit den Strümpfen ist nicht fortgeräumt, und ein so teures Jabot treibt sich am Boden umher: das Fräulein aber hat keinen andern Gedanken, als zu einem Ballettmädchen zu laufen und wieder den ganzen Abend hinter den Kulissen nach galanten Herren auszuschauen.

VERWANDTE

Ich brauche nicht erst auszuschauen. Sie, Madame Legros, gönnen niemandem ein Vergnügen. Sie denken nur an sich.

MADAME LEGROS

Ich denke an das Interesse des Herrn Legros. Dafür bin ich seine Frau.

ZWEITE SZENE

Die Vorigen. Legros.

LEGROS

Guten Tag.

MADAME LEGROS

Guten Tag, lieber Mann. Wie geht es in der Werkstätte? Bist du zufrieden mit deinem neuen Gesellen?

LEGROS

Er ist ein tüchtiger Mensch.

MADAME LEGROS

Ich sehe dir an, daß du Ärger gehabt hast.

LEGROS

Meister Ambroise war da wegen der Bezahlung der Wolle.

MADAME LEGROS

Es ist noch nicht der Zahltag.

LEGROS

Meister Ambroise brauchte das Geld. Seine Frau ist schon lange krank. Er hat Schwierigkeiten.

MADAME LEGROS

Du hast es ihm gegeben?

LEGROS

Freilich haben auch wir es schwer — wie alle Welt jetzt. Aber ich sagte mir, man muß einander helfen.

MADAME LEGROS

Was du tust, ist recht, lieber Mann.

LEGROS

Obwohl: — wer wird eines Tages u n s helfen?

MADAME LEGROS

O! Dahin wird es nicht kommen. Der Herr Graf von Coutras hat unser schönstes Spitzenhäubchen gekauft, das für vierhundert Pfund.

VERWANDTE

Ich habe es ihm aufgeschwatzt!

LEGROS

Vielleicht hast du es ihm aufgeschwatzt. Madame Legros aber hat es angefertigt.

MADAME LEGROS

Aber Lob verdient doch nur sie: ich nicht, denn du bist mein Mann.

LEGROS

Das ist wahr.

MADAME LEGROS

Nun haben wir bald keine Spitzen mehr. Wann werden endlich die aus Alençon kommen?

LEGROS

(befangen)

Das frage auch ich mich. Kann sein, daß sie schon da sind und beim Stadtzoll liegen. Dabei fällt mir ein, daß dein Vetter, der Zollbeamte, uns lange nicht besucht hat . . . Was tust du da?

MADAME LEGROS

Ich muß an das Häubchen des Fräuleins Palmyre noch die Schleifen nähen.

LEGROS

Tue das später. Jetzt solltest du zu deinem Vetter auf das Zollamt gehen und ihn für Sonntag zum Mittagessen laden.

MADAME LEGROS

Gleich jetzt?

LEGROS

Ich schulde ihm die Höflichkeit.

MADAME LEGROS

Kann nicht Lisette gehen?

LEGROS

Das wäre nicht höflich genug.

MADAME LEGROS

Ich tue, was du befiehlst, lieber Mann. (Sie macht sich zum Ausgehen fertig.)

LEGROS

Und sage deinem Vetter, daß wir eine fette Gans haben werden! . . . und sei zurück zum Essen!

MADAME LEGROS

Es ist weit, aber ich werde eilen. (Ab.)

DRITTE SZENE

Legros. Die Verwandte.

LEGROS

Bring’ mir die Leiter her! . . . Nun? ich glaube gar, man weint?

VERWANDTE

Es wäre nicht zu verwundern. Ich habe das teuerste Häubchen verkauft, — und wie werde ich belohnt? Ich darf nicht einmal meine Freundin besuchen.

LEGROS

(tröstend)

Madame Legros ist sonst nicht hart. Warum verbietet sie dir ein harmloses Vergnügen?

VERWANDTE

Und sie verbietet es mir in Ihrem Namen!

LEGROS

Sie glaubt wohl recht zu tun.

VERWANDTE

Aber wollen denn auch Sie, Herr Legros, ein Mädchen nur langweilige Pflichten lehren?

LEGROS

(näher bei ihr)

Was soll ich dich sonst lehren?

VERWANDTE

Wenn Sie es nicht wissen . . . Ich hätte gewünscht, daß ein ernsthafter Mann sich meiner annimmt. Aber auch bei meiner Freundin kann ich manches lernen. Es ist Fräulein Palmyre vom Opernballett.

LEGROS

Das ist eine Freundschaft, die ich nicht billige.

VERWANDTE

Warum denn nicht? Fräulein Palmyre ist aus unserem Dorf. Sie mag mich leiden, ich kann Zofe bei ihr werden.

LEGROS

Zofe bei einem Mädchen ohne Herkunft?

VERWANDTE

Der Herr Graf von Coutras schützt sie. Schon jetzt ist sie reich.

LEGROS

Und auch du möchtest es wohl auf diesem Wege werden? Man kennt das. Man wird achtgeben müssen auf dich. Madame Legros hatte recht, als sie dich nicht fortließ.

VERWANDTE

Statt dessen ist sie selbst fort: zu dem Zollbeamten, ihrem Vetter.

LEGROS

Was soll das! Hüte dich!

VERWANDTE

O! Wie Sie jetzt böse sind. Noch soeben waren Sie so lieb mit mir, daß Madame Legros es nicht hätte sehen dürfen.

LEGROS

Ich weiß, was ich Madame Legros schulde: einer Frau, so treu und unschuldig.

VERWANDTE

Weniger unschuldig als Sie.

LEGROS

Und von einer Geradheit, an der du dir ein Beispiel nehmen solltest.

VERWANDTE

Aus Geradheit tut sie wohl, als wüßte sie gar nicht, warum sie auf das Zollamt geht.

LEGROS

Sie geht, weil ich es ihr befehle. Du aber bring’ mir die Leiter her.

VERWANDTE

Einen Augenblick. Madame Legros versteht so gut wie wir beide, daß sie die Spitzen zollfrei in die Stadt schaffen soll. Ihrem Vetter wird sie dafür eine fette Gans anbieten; und wer weiß, ob nicht noch etwas.

LEGROS

Was sagst du da? Ich werfe dich hinaus!

VERWANDTE

Dann gehe ich geradewegs zu Fräulein Palmyre.

LEGROS

Ah! Dort lernst du solche Dinge. Madame Legros denkt an Arges so wenig wie ich selbst. Ihr Vetter sieht sie gern; er ist ihr Pate, und wer beim Zoll keinen Freund hat, zahlt, bis er ruiniert ist.

VERWANDTE

Ich habe es nicht böse gemeint. Aber glauben Sie mir, Herr Legros, die Frauen sind einander wert. (Nahe bei ihm) Kein Mann braucht sich ihretwegen Bedenken zu machen.

LEGROS

Spitzbübinnen wie du gibt es gleichwohl nicht viele.

VERWANDTE

Fort! Madame Legros kommt.

VIERTE SZENE

Die Vorigen. Madame Legros.

Madame Legros kehrt zurück, nachdem sie, Nachbarn begrüßend, die Gasse entlang bis unter den Turm gegangen ist und dort etwas vom Boden gehoben hat. Das letzte Stück bis zur Schwelle läuft sie, ist entsetzt, da die andern sie sehen, und versteckt ein Papier.

LEGROS

Man hat wohl Geheimnisse?

MADAME LEGROS

Ich kann nichts dafür. Plötzlich hielt ich es in der Hand. Ach . . .

LEGROS

(entreißt ihr das Papier)

VERWANDTE

(neugierig herbei)

MADAME LEGROS

(verbirgt ihr Gesicht)

LEGROS

Was ist das? Wer hat es dir gegeben?

MADAME LEGROS

Es fiel vom Turm.

LEGROS

Von welchem Turm?

MADAME LEGROS

Von der Bastille.

LEGROS

Vorhin sagtest du, jemand habe es dir zugesteckt.

MADAME LEGROS

Es ist so ungeheuerlich, daß ich mich mitschuldig fühlte, als ich es las.

LEGROS

Du?

MADAME LEGROS

Alle Menschen sind mitschuldig.

LEGROS

Ein Narr hat es geschrieben. Und du verlierst deine Zeit daran.

MADAME LEGROS

Ein Narr? Ein Mensch, der seit dreiundvierzig Jahren unschuldig im Turm sitzt.

LEGROS

Ein Spaßvogel. Vielleicht Ärgeres. Es gibt Leute, die Unzufriedenheit mit dem König und seiner Regierung säen möchten. So einer hat den Wisch in die Luft geworfen.

MADAME LEGROS

Ich sah ihn herabflattern. Ich erhob den Blick: auf dem Turm, ganz droben auf der Plattform, war ein Mensch, der winkte. Eine Sekunde — und bevor ich recht gesehen hatte, riß ein Soldat ihn zurück.

VERWANDTE

(liest stotternd den Brief)

»O Vorübergehender! Wer du auch seiest, ein Unschuldiger ruft dich an. Unter der vorigen Herrschaft, zur Zeit Seiner Majestät unseres gnädigsten Königs Ludwig, ward ich in die Bastille geworfen wegen eines unzarten Versuches, die Aufmerksamkeit der Frau Marquise von Pompadour auf mich zu lenken, und seit dreiundvierzig Jahren hat man mich hier vergessen. Nicht einmal meine Wächter wissen mehr, wer ich bin. O Freund, dem der Wind oder Gottes Atem dieses Blatt vor die Füße weht, sag’ du es den Menschen! Sag’ ihnen, was keiner mehr weiß, so viele geboren werden und sterben: ich heiße Latude und bin ein Unschuldiger, der leidet!«

(Ergriffenes Schweigen.)

MADAME LEGROS

(hat sich abgewandt, seufzt schwer)

VERWANDTE