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Das Leben ein Ausnahmezustand: Eine junge Frau entdeckt auf kuriose Weise den Verlust ihrer Schönheit, eine Mutter ringt mit ihrer Ohnmacht angesichts des Todes ihrer Tochter. In sechs klugen, zutiefst berührenden Erzählungen richtet Annette Pehnt ihren Blick auf kurze Momente großer Intensität.
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Mein Name ist Simone Saalfeld, und ich bin heute Ihre Zugbegleiterin. Mein Name ist Susanne Sieler. Mein Name: Heute ist mein Name Salomé Santrac, und ich begleite Sie auf Ihrer Fahrt von Zürich nach Hamburg. Ich weiß, mein Name ist ungewöhnlich, und dennoch stehe ich Ihnen bei Fragen stets zur Verfügung. Auch sonst, wenn Sie Bedürfnisse haben, wenden Sie sich doch einfach an mich und mein Team. Vielleicht haben Sie Durst oder Hunger oder andere einfache Bedürfnisse, dann kann ich Ihre Wünsche vielleicht sogar an Ihrem Platz erfüllen, erst recht, wenn Sie in der ersten Klasse dürsten oder hungern, erstklassiger Durst wird sehr schnell gestillt, auch der Hunger, wenn es sich um Hunger der harmloseren Art handelt, kann im Handumdrehen aus der Welt geschafft werden, guten Morgen, Fahrkarten bitte, ich muss das sagen, auch wenn Sie wissen, warum ich auf Sie zukomme, trotz der Geschwindigkeit halte ich mich nicht an den Sitzen fest, sondern eile freihändig und lächelnd auf Sie zu, mein Satz für Sie, und während Sie nach dem Ticket suchen, bleibe ich kurz bei Ihnen stehen, halte mich nun doch mit einer Hand fest, während wir über die Weichen hinter Basel fahren, und werfe einen Blick in das sanft gekrümmte Fenster, mit der Hand fahre ich mir rasch durch die Haare, die etwas strähnig sind und vorne angeknabbert aussehen, obwohl ich weiß, dass es darauf nicht ankommt. Die runden Leuchten schräg über Ihnen strahlen auf Ihre Finger, mit denen Sie flink Ihre Handtasche durchsuchen, die Wände des ICEs kaum merklich um Sie gewölbt. Ich weiß, dass Sie das Ticket finden werden, Sie haben gepflegte weiche Finger und ein bis an die Ränder eingecremtes Gesicht, natürlich haben Sie also auch ein Ticket, und ich bin froh, dass Sie es nicht zur Hand haben; so kann ich kurz neben Ihnen stehen, sanft hin und her getrieben von der Bewegung des Zuges, und Ihnen beim geschickten Suchen zuschauen; es gibt Fahrgäste, die ungeschickt und wild suchen, von Angst ergriffen, dass sie nicht bei uns bleiben dürfen, aber bei Ihnen ist es keine Frage, Sie gehören hier hin und wissen es, und da ist auch schon die Karte, natürlich ist es kein Ticket, sondern die Bahncard 100, Sie haben eine Mitgliedschaft erworben, und wir sind im selben Verein Mitglieder, also im Grunde eine Familie. Inzwischen haben Sie sich vielleicht sogar an meinen Namen gewöhnt, auch wenn wir nicht gesprochen haben, aber man kann sich auch wortlos aneinander gewöhnen, das muss gar nicht lange dauern. Weil ich mich schon an Sie gewöhnt habe, löse ich mich nur zögerlich von Ihnen, gehe langsam weiter, drehe mich noch einmal nach Ihnen um, Sie haben sich über eine Zeitung gebeugt, die mir eben nicht aufgefallen ist, aber mich können Sie nicht täuschen, ich weiß, dass Sie sich mit der Zeitung über unsere Trennung hinweglesen, bis Sie mich vergessen haben, wenn ich drei, nein fünf oder vielleicht sogar acht Reihen weiter bin und die Dunkelheit über der Landschaft sich unmerklich erhellt hat. Das können Sie nicht sehen, weil die Fenster im Schein der Leselichter schräg über Ihnen schwarz sind und die Landschaft verbergen, auf die es auch nicht ankommt, Ihnen nicht und mir erst recht nicht.
Jeder Platz ist mein Platz, denn auf jedem habe ich schon gesessen, an jedes Fenster schon meinen Kopf gelehnt, jede Armstütze schon heruntergeklappt, ich habe jeden Zug schon überall berührt, das gehört dazu, ich begleite den Zug und berühre ihn an den Stellen, die dafür vorgesehen sind.
Da liegt jemand, der sich eingerichtet hat, Zeitungen auf den Doppelsitz gebreitet, Schuhe ausgezogen, ein süßlicher Geruch kündigt ihn an, die Nachbarreihen um ihn herum sind frei geblieben, er hat sich ein Tuch oder einen Schal über die Augen gezogen und vergessen, dass ich kommen werde. Geschickt hat er sich über den Spalt zwischen den Sitzen hinweg verteilt, den Kopf auf der zusammengerollten Jacke, die hochgeklappte Armlehne im Rücken, es ist nicht bequem, aber das ist ihm egal, er muss etwas wegschlafen und ausschlafen, er kann nur im Zug schlafen, deswegen ist er hier. Seine Müdigkeit schlägt mir entgegen und gleich in die Augen, ich muss sie reiben, vorsichtig, um den Kajal nicht zu verschmieren, der meinem Blick Festigkeit verleiht oder sogar Strenge, die sich mit meinem Namen gar nicht verträgt, ich brauche sie ja auch nicht, ich brauche sie nur, wenn jemand nicht dazugehört und auch nicht bereit ist, eine Mitgliedschaft zu erwerben, und sei es nur die einfachste Sorte, eine Kurzfahrt, eine Pendlerfahrt, ein oder zwei Stationen, eben nicht der Rede wert, nichts, was in meinen Augen wirklich gälte, aber ich drücke beide Augen zu, wenn Sie dabeisein wollen.
Aber dieser hier will nirgends sein und schon gar nicht bei uns, er will schlafen, seine lähmende Schläfrigkeit sackt mir entgegen, es ist ihm egal, wo er ist, er könnte auf irgendeinem Boden in irgendeiner Bude herumliegen und würde sich dort genauso einrollen, er könnte sogar unter einer Brücke oder bei einer Frau liegen, er könnte bei mir liegen, es wäre ihm egal, er braucht keine Karte, er gehört nicht dazu.
Ich stelle mich dicht neben ihn, guten Morgen, in Freiburg noch zugestiegen, Fahrkarten bitte, er bewegt sich überhaupt nicht, er könnte sogar tot sein, und, heftiger als geplant, stoße ich gegen seinen Fuß, der etwas über den Sitz hinausragt, weil eine Bewegung des Zuges mich ihm entgegen presst. Er zieht den Fuß zurück, aber ich gebe nicht nach, ich drücke mit den Knien gegen seinen Fuß, bis er mit einer raschen Bewegung das Tuch von den Augen reißt und mich anstarrt.
Mein Name heute ist Salomé Santrac, sage ich deutlich, und ich bin Ihre Zugbegleiterin. Kann ich bitte Ihre Fahrkarte sehen.
So heißt doch keiner, murmelt er und starrt mich immer noch an. Ich fasse an den weißen Kragen, der makellos über meinem Jäckchen liegt und meinen Hals einrahmt, eine Kette trage ich nicht, obwohl weiße Perlen gut zu dem Kragen passen würden, aber wir dürfen uns nicht schmücken. Ich bin auch ungeschmückt sehr ansehnlich, trotz der angeknabberten Haare, die mir immer schon dürr und struppig auf dem Kopf gesessen haben, ich brauche keinen Schmuck.
Ich begleite Sie, sage ich zu dem Fahrgast und lehne mich ansehnlich an die Rückenlehne vor ihm, und ich sehe, wie er mich einschätzt, er sieht meine Aufgabe nicht, er sieht nur die Haare und vielleicht auch die Falten an den Augen und die Haare an den Beinen, die schon wieder nachwachsen, obwohl ich sie immer rasiere und blickdichte Strumpfhosen trage, tragen muss, das gehört zur Ausrüstung, so wie die Fenster unserer Züge blickdicht sind, niemand kann von außen hineinschauen, wenn die Zurückbleibenden am Bahnsteig den Abreisenden zuwinken wollen, treten sie ganz nah an die Fenster, umrahmen manchmal sogar ihr Gesicht mit den Händen und pressen es ans Glas, wild und blind lächelnd, Abschiede, die an Heftigkeit gewinnen, weil sie ins Leere gehen, und so ist das auch mit den Strumpfhosen.
Nur kann es sein, dass dieser Fahrgast durch die Strumpfhosen hindurch sieht, es gibt solche Blicke. Neulich erst hat jemand zwischen Ulm und München durch meine Jacke und die Bluse hindurch entdeckt, dass meine linke Brust halb aus dem BH-Korb gequollen war, ich hatte es natürlich auch gemerkt und unauffällig versucht, sie durch die beiden Stoffschichten hindurch wieder zurückzuschieben, aber es gab zu viel anderes zu tun, bis ich den Fahrgast erreicht hatte, der mit einem Blick die überbordende Brust entdeckt hatte und die Lippen amüsiert spitzte, ein genießerischer Glanz trat in seine Augen, er rieb sich auch die Hände und setzte sich ein wenig auf, als wollte er sich eine Serviette umbinden und sich auf eine schmackhafte Mahlzeit vorbereiten. Es blieb mir nichts übrig, als ihn zu strafen. Ich verlangte seine Fahrkarte, seine Bahncard, seine Kreditkarte und seinen Personalausweis, und während er alles hervorkramte, hörte er auf, die Lippen zu spitzen, und ich fuhr schnell mit dem Finger unter die Jacke und die Bluse und drückte die Brust zurück in den Korb, es war mir egal, ob er mir dabei zuschaute oder nicht, er hatte mich ja eh schon ertappt.
Aber heute habe ich einen besseren Namen, es ist ein wirklich klangvoller, ein verträumter Name, der mir einiges ersparen wird, und ich wende den Blick ab von dem schläfrigen, trotzigen Fahrgast, der noch einmal murmelt, so kann man doch nicht heißen, aber er kann mir den Namen natürlich nicht ausreden, er ist neidisch, das wird es sein. Er hängt immer noch auf den Sitzen, als wollte er sich für die Nacht einrichten, die doch gerade vorübergegangen ist, zum Glück, mit dem Wecker zur Frühschicht, wieder vorübergegangen, immer melde ich mich so früh wie möglich. Die Arme hat er vor der Brust verschränkt, es sieht nicht aus, als wollte er eine Fahrkarte suchen, er mustert mich störrisch und etwas angewidert und verbreitet süßlichen Schlafgeruch. Ich bleibe stehen, ich darf nur nicht weggehen, bis er aufgibt. Ich kann gut stehen, ich kenne die Bewegungen des Zuges, ich bin ihnen nicht ausgeliefert, nur auf dem Festland bewege ich mich ungeschickt, mit leichtem Hohlkreuz, mein Nacken so verspannt, dass ich die Schultern hochziehen muss, weil sie nicht herunterhängen können, die Hände in den Taschen geballt um den Hausschlüssel oder den Hotelschlüssel oder Wohnungsschlüssel, damit ich ihn nicht verliere, denn irgendwo muss ich schlafen.
Zu Hause muss ich schlafen, ich tue dort nichts anderes, immer wenn ich zu Hause bin, ist es Zeit zu schlafen, deswegen komme ich zu Hause eben auch zu gar nichts anderem, sondern lege mich gleich ins Bett und nehme rasch vorher ein leichtes Schlafmittel, etwas Pflanzliches, damit ich schlafen kann. Es bleibt ja nicht viel Zeit für den Schlaf, ich muss früh aufstehen, zur Frühschicht früh raus. Es ist gleich, ob ich zu Hause schlafe oder im Intercity Hotel, ich habe meine Wohnung ähnlich eingerichtet, um mich nicht immer umstellen zu müssen: ein Bettlämpchen, ein Fernseher, ein frisch bezogenes Doppelbett, ein heller Teppich, die Regale leer und aufgeräumt.
Die Notwendigkeit zu schlafen verbindet mich mit dem schläfrigen, wütenden Fahrgast, gleich können Sie weiterschlafen, sage ich besänftigend, ich brauche nur schnell Ihre Fahrkarte, und er wirft mir noch einen scharfen Blick zu, bevor er sich halb zur Seite rollt, was auf den schmalen Sitzen nicht einfach ist, aus seiner hinteren Gesäßtasche die Karte zieht, mit einem höhnischen Schulterzucken, und ich sehe schon an der Farbe, dass es wieder die schwarze Bahncard 100 ist, wie lackiert glänzt sie in seiner Hand, und dieser Triumph trifft mich in die Kehle. Er gehört dazu, er kann schlafen, solange er will, er kann sich nach Hamburg oder Berlin hinschlafen, und mir schuldet er nichts. Ich kann nichts sagen, ich kann auch die Karte nicht anschauen, ich müsste das Datum überprüfen, vielleicht gilt sie nicht mehr, vielleicht betrügt er mich, aber ich stehe nur da und starre auf seine Wollstrümpfe, die sich mir über den Sitz entgegenrecken, und die Schuhe, die auf dem grau gestreiften Boden achtlos übereinanderliegen, und ducke mich unter seinem Blick weg zum nächsten Fahrgast.
Mein Chef ist im vorderen Zugteil, er erwartet viel von mir, und ich gebe es ihm, jeden Tag von Neuem. Er begrüßt die Fahrgäste, auch im Namen seines Teams. Sein Englisch ist, anders als das der meisten, makellos. Er kann ein saftiges th und ein schönes amerikanisches r, und er sagt Thank you for travelling with Deutsche Bahn in einem beschwingten und ermutigenden Rhythmus, ich habe das Gefühl, er dankt auch mir, und es hilft mir, ihn dabei nicht zu sehen. Ich kann ihn mir vorstellen, ich habe ihn ja vorhin gesehen, bei der Abfahrt, ich habe gar nicht so genau hingeschaut. Er sah nicht aus wie einer, der das Englische makellos beherrscht. Ich beherrsche es auch nicht makellos, obwohl ich daran arbeite, ich suche mir aus dem Fortbildungsprogramm oft Sprachkurse aus, einmal auch einen »Body Percussion Kurs«, eine Entscheidung, für die ich büßen musste, und ich plane einen Sprachurlaub in Südengland, weil man dort das schönste, sauberste Englisch spricht und ich ein schönes Englisch sprechen möchte, denn es ist nützlich, eine Sprache zu beherrschen.
Den Percussion Kurs leitete ein wilder, struppiger Kerl in einem kupferblauen Hemd, das mit dem gemäßigten Blau unserer Jäckchen und dem gebügelten Hellblau unserer Blusen nichts zu tun hatte, es war ein unerbittliches Knallblau, ins Explosive gesteigert durch seine leuchtend gelbe Hose. Wir starrten ihn an wie einen von diesen bunten Vögeln, die man im Fernsehen sieht, in Reiseberichten über Australien oder die Tropen, die glaubwürdig klingen, aber hierzulande kann solche Farben eigentlich keiner glauben, und so standen wir da, fünfundzwanzig Bedienstete der Bahn in Freizeitkleidung, die nicht viel anders aussah als unsere Dienstbekleidung, weil wir einfach keine Zeit haben, uns ständig umzustellen, und wir nahmen diesem Kerl sein blaues Hemd kaum ab, es machte sein Gesicht blass. Er hatte eine laute, etwas raue Stimme und fragte uns, was wir uns erwarteten von seinem Kurs, und alle antworteten höflich, neue Impulse, mehr Dynamik, einen eigenen Rhythmus. Ich musste annehmen, dass alle außer mir schon solche Kurse besucht hatten, sonst hätten sie sicher nicht solche Dinge sagen können. Ich weiß nicht, murmelte ich, als ich an der Reihe war, und das gefiel ihm besonders, ja, rief er, dann bist du ganz offen für alles, und es klang wie eine Gratulation, auch war ich damit in sein Augenmerk gerückt, und er hatte es auf mich abgesehen, den ganzen Tag über auf mich. Wir machten Übungen, um unseren Atem zu spüren, mussten uns die Hände auf den Bauch legen und die Augen schließen, und als er sah, dass sich meine Augen ständig und ohne mein Dazutun öffneten, kam er zu mir und legte mir die Hand über die Augen. Es geschah so schnell, dass ich nicht zurückweichen konnte, schon spürte ich seine warme Hand im Gesicht und schaute in seine Handfläche. Ich hielt mich gerade und rührte mich nicht, und nach einer Weile, als ich gerade anfing, mich an diese fremde Hand und die geschenkte Dämmerung zu gewöhnen, flüsterte er, du sitzt da wie ein Betonpfeiler, und schon riss ich die Augen wieder auf und wand mich unter seinem Griff weg, verteidigte mich, wieso denn, ich bin ganz entspannt. So ging es weiter, er hatte mich im Visier, er griff mich heraus, um einen Tanzschritt vorzuführen, er gab mir die größte Trommel, du musst deine Sprache finden, raunte er, aber ich habe doch gar nichts zu sagen. Stell dir vor, die Trommel ist ein Mann, den du umarmst. Ich starrte auf das klobige, hautbespannte Fass und schob es etwas von mir weg. Wenn ich sie umarme, kommt doch kein Ton raus, sagte ich patzig, man muss doch draufhauen, oder.
Ich verstehe nichts von Liebe, auch wenn ich sie von morgens bis abends vor Augen habe. Zwar fahren die meisten Kunden allein, aber sie tragen einen Geliebten mit sich herum, eine Angebetete, einen Mann, eine Frau, ein Kind, sie steigen in den Zug ein und haben doch gerade noch gevögelt, haben sich an jemanden geklammert, haben mit jemandem in der Ecke gestanden und ihm unters Hemd gefasst, haben Brüste geknetet, Hände zwischen Beine geschoben, vielleicht haben sie ein Kind gehalten, ich kann ja nicht in die Köpfe hineinschauen, aber ich sehe, wenn sie von der Liebe kommen, sie haben es noch in den Mänteln, in den Handys, auf denen sie fahrig herumtippen, um die Finger wieder von der Haut zu entwöhnen, sie sind noch außer Atem, sie reichen mir die Fahrscheine, ohne mich zu sehen, lieber hielten sie die Augen noch geschlossen, um der Liebe hinterherzuschauen.
Es gibt auch die, die nicht aufhören können. Zu zweit drängen sie sich ins Behinderten-WC, triumphierend schließen sie ab, der Geruch, der feuchte Boden, der chemische Dunst, das alles stört sie nicht, im Gegenteil, es macht ihre Liebe noch strahlender oder noch dreckiger, wie es eben jedem gerade gefällt, Schlangen vor dem WC, Leute klopfen, ich klopfe, aber das ist ihnen egal, im Gegenteil. Oder sie klappen die Armlehne hoch und drängen sich auf den Sitzen aneinander, was nicht leicht ist, weil die vorgeformte Schale der Rückenlehne keine Übergriffe vorgesehen hat, jeder soll schön für sich sitzen und sich aufrecht halten, aber das kümmert sie nicht, sie drängen sich aneinander, als gäbe es kein Morgen mehr, und dann kommt das eigentliche Schauspiel: Sie breiten einen Mantel über beide Schöße, die Hände verschwinden darunter, sie schließen die Augen, knabbern aneinander herum und denken allen Ernstes, niemand wüsste, was sie unter dem Mantel treiben, während ihre Gesichter immer heißer werden. Hier habe ich nichts zu melden, ich kann nach den Fahrkarten fragen oder auch nicht, sie lassen sich nicht stören, sie rangeln unter dem Mantel, die anderen Fahrgäste schauen verstohlen, ob es was zu sehen gibt, und auch ich halte mich länger in der Nähe auf, als nötig wäre.
Am Vierertisch sitzt ein kleines Mädchen, eines von diesen dünnen langhaarigen Geschöpfen mit Ohrstöpseln und MP3-Playern, ich finde sie zu jung dafür, aber mich fragt ja keiner, und ich kann das Alter von Kindern nicht gut schätzen, sie sehen sich alle ähnlich, und auf einmal sind sie erwachsen. Diese ist nicht erwachsen, eine Kleine, Süßigkeiten liegen vor ihr auf dem Tisch, Weingummi und Zuckerbrombeeren mit Geleefüllung, die ich als Kind sehr gemocht und auch gegessen habe, ich wollte sie, kaufte sie und aß sie, so einfach war das. Dieses Kind steckt sich die Zuckerbrombeeren in den Mund, eine nach der anderen, zu schnell, wenn man mich fragt, man schmeckt ja nichts, wenn man so schlingt, und ich sage zu dem Kind, langsam langsam, und erwarte, dass es verschreckt hochschaut wie die meisten Kinder, die ja auch nicht grüßen können oder nicht wollen, weil sie die Zähne nicht auseinanderkriegen, nur für die Zuckerbrombeeren geht der Mund immer auf, wie bei einem kleinen Reptil klappt das Maul auf und zu. Das Kind schaut hoch, aber verschreckt sieht es nicht aus, es nickt gleich und lächelt mir zu, als sei es solche Ermahnungen gewohnt, und den Fahrschein muss es gar nicht suchen, er liegt schon bereit neben der Brombeerpackung. Bitte schön, sagt es und streckt ihn mir entgegen. Es ist höflich und furchtlos, und ich möchte wissen, wieso ein so braves Mädchen allein im Zug verreist, und ich möchte auch wissen, ob es wirklich so wohlerzogen ist oder ob es mich blendet.
Kinder in deinem Alter sollen nicht allein verreisen, sage ich streng, es ist eine Probe, damit ich sehen kann, was das Kind mir zu erwidern hat, ob es frech wird oder ob sich vielleicht seine Augen mit Tränen füllen, das kann schnell gehen bei Kindern, sie strahlen dich an, und mit einem Mal reißt das Strahlen ab, und ihre Lippen zittern, und auch die Tränen können bei Kindern ganz plötzlich aus den Augen spritzen, ich habe das studiert, sie fangen einfach an zu flennen, als sei das nichts. Dieses Kind weint nicht, sondern überlegt kurz und nickt dann.
Ich verstehe nicht, was es mit dem Nicken meint, ob es findet, dass ich recht habe, oder ob es mich besänftigen will, und ich hake nach. Wo sind denn deine Eltern. Ich komme von der Mama und fahre zum Papa, sagt es, und auf einmal steigen mir Tränen in die Augen, obwohl das Kind nicht darunter zu leiden scheint, ganz vergnügt schaut es mich an, überhaupt schaut es mich ständig an und liest in meinen Augen, was ich hören möchte und als Nächstes sagen werde, und als nun meine Augen feucht werden, muss ich mich rasch abwenden und aus dem gegenüberliegenden Fenster sehen, und bei der Gelegenheit sehe ich im Fenster, dass mein Halstuch etwas verrutscht ist. Ich richte es, den Knoten in die Mitte, den Zipfel auf die Knopfleiste der Bluse, und während ich noch an mir herumzupfe, sagt das Kind, willst du eine, und streckt mir die Tüte mit den Zuckerbrombeeren entgegen. Ich wende mich wieder ihm zu, es hat den Blick nicht von mir gelassen, es will mir eine Freude machen, ich hab schon ganz viele gegessen, sagt es, die sind übrig. Da steigt, so plötzlich wie eben noch die Tränen, in mir eine Wut auf das Kind hoch, auf einmal scheint es mir unerträglich, wie es um mich wirbt, wie es sich um meine Gunst bemüht, wie es unendlich aufmerksam auf mich achtgibt, was ich sage, wie ich schaue, sicher hat es die Feuchtigkeit in meinen Augen bemerkt, es hat mir dabei zugeschaut, wie ich mein Tüchlein hin und her geschoben habe, als sei da etwas zu retten. Es hat ordentlich geschnittene Haare und Kleider, wie man sie früher getragen hat, einen altmodischen dunkelblau gerippten Pullover mit weißem Kragen, seine Backen sind rot, vielleicht ist es noch jünger, als ich dachte. Es muss beim Friseur gewesen sein, oder die Mutter hat die Haare frisch geschnitten für den Vater, der die Mutter nicht mehr liebt, die Ponyfransen liegen akkurat über den Augenbrauen, es ist zum Verrücktwerden, nichts stimmt nicht an diesem Kind, und höflich ist es auch.
Ende der Leseprobe