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Die Briefe von Vincent van Gogh sind ein Stück Weltliteratur. Als Schriftsteller war er so talentiert, wie er als Künstler bahnbrechend wirkte. Die neu übersetzte Auswahl seiner wichtigsten Briefe bietet zum ersten Mal in deutscher Sprache den originalen Text. Diese Briefe sind ein Fenster zur Seele eines Ausnahmekünstlers, der mit dem Leben wie mit der Kunst kämpfte und verzweifelte, der das Größte wollte und erreichte.
Van Gogh war ein höchst schwieriger Mensch, ein gewaltiger Egozentriker, und sein Leben entgleiste ihm mehr als einmal. Doch seine Vision der Kunst, seine Ambitionen, seine Gedanken über die Gesellschaft und das menschliche Dasein konnte er mit bestechender Klarheit entwickeln. Die Briefe, die er oft in innerer Einsamkeit verfasste, sind Dokumente einer großen Suche, bei der stets viel auf dem Spiel stand. Gleichzeitig berühren sie durch ihre unverfälschte und sprachmächtige Prosa. Diese Neuübersetzung beruht auf der preisgekrönten Neuedition sämtlicher Briefe Van Goghs, die 2009 nach 15-jähriger Forschungsarbeit erschien. Der prächtig ausgestattete Band präsentiert zudem die 110 Zeichnungen, die Van Gogh seinen Briefen beigab – Meisterwerke von einer großen Unmittelbarkeit. Van Goghs Briefe leuchten hier in ihrem ursprünglichen, teils hellen, teils dunklen Glanz – ein unvergleichliches Zeugnis der menschlichen Existenz.
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Vincent van Gogh
«Manch einer hat ein großes Feuer in seiner Seele»
Die Briefe
Mit 110 Originalzeichnungen
Ausgewählt und herausgegeben von Leo Jansen, Hans Luijten und Nienke Bakker
Übersetzt von Marlene Müller-Haas und Susanne Röckel unter Mitarbeit von Andrea Prins
C.H.Beck
Blühender Pfirsichbaum, 1888, Öl auf Leinwand, 80,9 x 60,2 cm (F404),Van Gogh Museum, Amsterdam
«Manch einer hat ein großes Feuer in seiner Seele, und nie kommt jemand, um sich daran zu wärmen»
Die Briefe von Vincent van Gogh sind ein Stück Weltliteratur. Sie sind ein Fenster zur Seele eines Ausnahmekünstlers, der mit dem Leben wie mit der Kunst kämpfte, der das Größte wollte und erreichte.
Van Gogh war ein höchst schwieriger Mensch, und sein Leben entgleiste ihm mehr als einmal. Doch seine Vision der Kunst, seine Sehnsüchte und Ambitionen, seine Gedanken über die Gesellschaft und das menschliche Dasein konnte er mit bestechender Klarheit entwickeln. Die Briefe, die er oft in innerer Einsamkeit verfasste, sind Dokumente einer großen Suche, bei der stets viel auf dem Spiel stand. Gleichzeitig berühren sie durch ihre unverfälschte und sprachmächtige Prosa.
Dieser Band versammelt in neuer Übersetzung die 265 wichtigsten Briefe. Er beruht auf der preisgekrönten Neuedition sämtlicher Briefe van Goghs, die nach 15-jähriger Forschungsarbeit erschien. Der prächtig ausgestattete Band präsentiert zudem die 110 Zeichnungen, die van Gogh seinen Briefen beigab, Meisterwerke von einer großen Unmittelbarkeit. Van Goghs Briefe leuchten hier in ihrem ursprünglichen, teils hellen, teils dunklen Glanz – ein unvergleichliches Zeugnis der menschlichen Existenz.
«Es gibt kaum einen Brief von van Gogh, der mich nicht fesselt.» W. H. Auden
«Ein Stil von höchster Reinheit.» Charles Bukowski
«Ein großes literarisches Testament, ein wortgewandtes Bekenntnis.» John Updike
1994 starteten Leo Jansen und Hans Luijten das Van-Gogh-Briefe-Projekt, eine Zusammenarbeit zwischen dem Van Gogh Museum, Amsterdam, und dem Huygens Institut für Niederländische Geschichte, Amsterdam, mit der Absicht, eine neue wissenschaftliche Ausgabe der Korrespondenz Vincent van Goghs zu erarbeiten. Seit 2002 gehörte auch Nienke Bakker zum Team. Gemeinsam haben sie herausgegeben: Vincent van Gogh, Painted with Words. The Letters to Emile Bernard (2007), die Web-Version der vollständigen Korrespondenz van Goghs, www.vangoghletters.org (2009), sowie die sechsbändige gedruckte Ausgabe Vincent van Gogh– De brieven. De volledige, geïllustreerde en geannoteerde uitgave (veröffentlicht auf Niederländisch, Französisch und Englisch, 2009). Zudem haben sie gemeinsam verfasst: The Real Van Gogh. The Artist and his Letters (2010).
Leo Jansen war von 2005 bis 2014 Konservator der Van-Gogh-Gemälde am Van Gogh Museum, Amsterdam. Er verfasste Van Gogh en zijn brieven (2007) und ist Co-Redakteur von Kort geluk (1999), der Korrespondenz Theo van Goghs und seiner Verlobten und späteren Ehefrau Jo Bonger. Seit Mai 2014 ist Leo Jansen als Herausgeber des Mondriaan-Editionsprojekts (RKD – Netherlands Institute for Art History und Huygens ING, Amsterdam) tätig.
Hans Luijten ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Van Gogh Museum. Er verfasste Van Gogh en de liefde (2007) und arbeitet derzeit an einer Biografie über Jo Bonger.
Nienke Bakker arbeitet seit 2000 als wissenschaftliche Mitarbeiterin, seit 2010 als Ausstellungskuratorin am Van Gogh Museum; im Juni 2014 wurde sie zur Konservatorin der Van-Gogh-Gemälde ernannt. Zu ihren Publikationen und Ausstellungen zählen unter anderem Van Gogh aan het werk (2013) und De waanzin nabij. Van Gogh en zijn ziekte (2016).
Rückschläge und Beharrlichkeit (Leo Jansen, Hans Luijten und Nienke Bakker) – Ein Künstlerleben
Vincent van Gogh: Ein komplexer Charakter
Die Bindung zu Theo
Eine liebevolle, schützende Familie
Die Arbeit im Kunsthandel,1869–1876
Religiöse Obsession
Suche nach einer Berufung, 1876–1880
Erneutes Scheitern
Evangelist im Borinage
Kämpfe und Arbeitswut: Van Goghs Anfänge als Künstler, 1880–1883
Zunehmende Spannungen
Ein neuer Schritt
Familienleben
Experimente mit Technik und Farbe
Reibung der Gedanken
«Im Herzen des Volkes»: Bauernmaler in Drenthe und Nuenen, 1883–1885
Rückkehr ins Elternhaus
Farbenlehre
Kunst über Natur
Das Meisterstück
Der Beginn von van Goghs modernem Künstlertum: Antwerpen und Paris, 1886–1888
Unterricht an der Akademie
Paris: Moderne Kunst, modernes Leben
Ein schwieriger Mitbewohner
Lockerer Pinselstrich, helle Farben
Der moderne van Gogh
Das Beste seiner selbst: Van Gogh in Arles, 1888–1889
Ausstellen und verkaufen
Mal- und Zeichenkampagnen
Freunde im Süden
Gesundheit und Melancholie
Warten auf Gauguin
Gauguin in Arles: Der Kampf der Titanen
Leiden ohne zu klagen: Die Suche nach einem neuen Gleichgewicht, Arles, 1889–1890
Schwindendes Selbstvertrauen
Heilsame Abgeschiedenheit: Saint-Rémy, Mai 1889–Mai 1890
Stilisierung und Wahrheit
Sehnsucht nach familiärer Geborgenheit
Anerkennung
Trügerische Ruhe: Auvers-sur-Oise, Mai–Juli 1890
Ein vorsichtiger Blick nach vorn
Schwermut und Einsamkeit
Briefe mit einer Geschichte
Hinweise für den Leser
Den Haag, 29. September 1872 bis 17. März 1873
London, 13. Juni 1873 bis 8. Mai 1875
Paris, 6. Juli 1875 bis 28. März 1876
Ramsgate, Welwyn und Isleworth, 17. April 1876bis 25. November 1876
Dordrecht, 7. Februar 1877 bis 23. März 1877
Amsterdam, 30. Mai 1877 bis 3. April 1878
Borinage und Brüssel, ca. 13. November 1878 bis 2. April 1881
Etten, 5. August 1881 bis ca. 23. Dezember 1881
Den Haag, 29. Dezember 1881 bis 10. September 1883
Drenthe,ca. 14. September 1883 bis 1. Dezember 1883
Nuenen, ca. 7. Dezember 1883 bis ca. 14. November 1885
Antwerpen, 28. November 1885 bis ca. 11. Februar 1886
Paris, ca. 28. Februar 1886 bis Ende Oktober 1887
Arles, 21. Februar 1888 bis 3. Mai 1889
Saint-Rémy-de-Provence, 9. Mai 1889 bis 13. Mai 1890
Auvers-sur-Oise, 20. Mai 1890 bis 23. Juli 1890
Anhang
Abgebildete Zeichnungen
Namenregister
Ein Künstlerleben
Leo Jansen, Hans Luijten und Nienke Bakker
«traurig, aber allezeit fröhlich»
2. KORINTHER 6,10
In seinen Briefen und Kunstwerken rührt Vincent van Gogh (1853–1890) an Sehnsüchte und Gefühle, die jeder Mensch kennt. Mit intensiver Wissbegier nahm er die ihn umgebende Welt in sich auf, doch konnte er sich zu dieser Welt nur in ein Verhältnis setzen, indem er ihr in Worten und Bildern eine andere Welt gegenüberstellte. Van Gogh wollte Kunst schaffen, die seinen Mitmenschen Trost spenden sollte: «eine trostreiche Kunst für die bedrückten Herzen» (Brief 739), mit eindringlichen Farben und unvergleichlichen Linien. Meisterhaft legen seine Briefe Zeugnis davon ab, wie er dies erreichen wollte und was ihn im Innersten antrieb.
Van Gogh war ein Besessener; er errichtete sich selbst qualvoll hohe Hürden und kämpfte hart darum, sie zu überwinden. Sein persönliches Leben stand vollständig im Dienst der Kunst, und unablässig bis an seine Grenzen zu gehen, war für ihn eine Selbstverständlichkeit. Dass dies nicht ohne Risiken war, schien ihm bereits fünf Jahre vor seinem Tod klar zu sein: «Dass ich in Bezug auf Kunst eine bestimmte Überzeugung habe, ist auch der Grund, weshalb ich weiß, was ich in mein eigenes Werk hineinbekommen möchte, und dass ich versuchen werde, es hineinzubekommen, auch wenn ich selbst dabei zugrunde ginge» (531).
Vincent van Goghs Lebensweg bescherte ihm vielerlei Berufe und wenig Gewinn, bis er sich 1880 für das Künstlerleben entschied und immer mehr seine wahre Bestimmung erkannte. Im Nachhinein betrachtet, entwickelte er sich als Künstler mit erstaunlicher Geschwindigkeit – in nur zehn Jahren zeichnete und malte er jenes umfangreiche Werk, mit dem er weltberühmt werden sollte –, doch anfangs ließ die Anerkennung auf sich warten. Erst nach seinem Freitod 1890 fand sein Werk die Aufmerksamkeit, die es verdiente, und sein Ruf als bahnbrechender Künstler festigte sich. Seine Briefe waren hierfür von nicht zu unterschätzender Bedeutung.
Van Gogh war eine auffallende Erscheinung. Jo van Gogh-Bonger, die ihren Schwager Vincent 1890 kennenlernte, beschrieb ihn in der Einleitung zu den von ihr herausgegebenen Briefen 1914 als «einen kräftigen, breitschultrigen Mann mit einer gesunden Farbe, einem fröhlichen Ausdruck und etwas sehr Entschiedenem in seinem Aussehen». Er war klein von Statur, hatte grünliche Augen, einen roten Bart und Sommersprossen; seine Haare waren rotblond wie die seines vier Jahre jüngeren Bruders Theo. Er hatte ein nervöses Zucken im Gesicht, und seine Hände schienen in ständiger Bewegung zu sein. Van Gogh war ein wenig menschenscheu, und es war schwierig, mit ihm zusammenzuleben. Oft fürchteten sich die Menschen vor seiner wilden Ausstrahlung und seiner heftigen Art zu reden. Durch sein Verhalten und Aussehen entfremdete er sich den Menschen und machte damit auch sich selbst das Leben nicht leicht.
Van Gogh glaubte sich ziemlich oft im Recht und hatte dann etwas nervenaufreibend Unnachgiebiges. Ein leidenschaftlicher, getriebener Mann, der Züge eines egozentrischen Tyrannen besaß, weckte er bei vielen Mitmenschen Abneigung. Sie sahen in ihm einen «Verrückten – Mörder – Vagabund» (408), doch konnte van Gogh sich darüber nicht aufregen: «glaube mir, dass ich mitunter herzlich darüber lache, dass die Leute mich (der eigentlich nichts anderes ist als ein Freund der Natur, des Studiums, der Arbeit – vor allem auch des Menschen) diverser Bösartigkeiten und Absurditäten verdächtigen, die mir nicht im Traum einfallen würden» (252). Konfrontationen ging er nicht aus dem Weg und schonte dabei auch sich selbst nicht. Sein Bruder Theo beschrieb ihn im März 1887 in einem Brief an ihre Schwester Wil als «seinen eigenen Feind».
Van Gogh hatte einen ausgeprägten Hang zur Selbstreflexion. Niemals scheute er davor zurück, seinen wechselnden Stimmungen durch Schreiben auf den Grund zu gehen und seine moralische Haltung zu definieren. Er schrieb vor allem, weil er niemanden hatte, mit dem er sich austauschen konnte. Wenn er seine eigene geistige Verfassung beurteilte, sah er einen «übernervösen» Menschen. Mit 29 Jahren skizzierte er ein schonungsloses Selbstbildnis:
Glaube nicht, ich hielte mich für vollkommen – oder würde meinen, es sei nicht meine Schuld, dass mich viele für einen unangenehmen Charakter halten. Wie oft bin ich schrecklich und unangenehm melancholisch, reizbar – sehne mich mit einer Art Hunger und Durst nach Sympathie – gebe mich, wenn ich diese Sympathie nicht bekomme, gleichgültig, scharf und gieße mitunter sogar noch ein wenig Öl ins Feuer. Ich bin nicht gern in Gesellschaft, und der Umgang mit den Leuten, das Sprechen mit ihnen ist für mich oft peinlich und schwierig. Aber weißt Du, woher, wenn nicht alles, aber doch sehr vieles kommt? Schlicht von der Nervosität – ich habe mir das, weil ich körperlich wie moralisch schrecklich sensibel bin, im Grunde in den Jahren eingefangen, als es mir sehr miserabel ging (244).
Gemeint sind hier die Jahre unmittelbar vor seiner Entscheidung für das Künstlerdasein.
Obwohl van Gogh häufig impulsiv handelte, ging er meist mit großer Umsicht vor: «Das Große geschieht nicht allein durch den Impuls, sondern ist eine Aneinanderreihung von kleinen Dingen, die man zusammengebracht hat» (274). Mit Willenskraft und durch harte Arbeit gelang es ihm, seine Niedergeschlagenheit immer von neuem zu überwinden. Auf diese Weise unterdrückte er auch seine Schuldgefühle gegenüber Theo, seinem besten Freund und Vertrauten und dem einzigen Menschen, der seinen komplizierten Charakter zu nehmen wusste. Vincent hatte ein klares Bewusstsein davon, dass sein Bruder viel in ihn investierte, und das Wissen, Theo niemals das Gleiche zurückgeben zu können, ließ ihn von Zeit zu Zeit in Hoffnungslosigkeit versinken.
Vincent van Goghs Entscheidung im Jahr 1880, Künstler zu werden (er war damals bereits 27 Jahre alt), war zu einem beträchtlichen Teil den Ermutigungen seines Bruders geschuldet. Dies hatte große Auswirkungen auf ihr Verhältnis in den Jahren danach. Theo sah es als seine Pflicht, dem Bruder nicht nur moralisch, sondern auch finanziell beizustehen. In den zehn Künstlerjahren Vincents zeigte sich Theo als ein äußerst fürsorglicher Mäzen – seine Unterstützung war eine nicht zu unterschätzende, treibende Kraft im künstlerischen Schaffen seines Bruders. Anfangs betrachtete Vincent Theos finanzielle Unterstützung als einen Vorschuss, den er zurückzahlen würde, sobald er Käufer für seine Arbeiten fände. Doch als dies nicht geschah, vereinbarten sie, dass Theo mit Vincents Gemälden und Zeichnungen tun dürfe, was ihm richtig erscheine. Für Theo war die «Brüderlichkeit» sehr viel wichtiger als der Gedanke, seine Investition mit Zins und Zinseszins zurückzuerhalten, obwohl auch er nach einiger Zeit von der außergewöhnlichen Qualität und dem Wert von Vincents Werken überzeugt war.
Man könnte meinen, die Beziehung der Brüder sei vor allem eine Einbahnstraße gewesen – als habe der großzügige Theo stets nur für seinen impulsiven, dickköpfigen Bruder bereitgestanden und dafür wenig zurückbekommen. Doch auch Theo stützte sich stark auf seinen Bruder; seiner Frau Jo gegenüber beschrieb er ihn als seinen «Ratgeber und Bruder im vollen Sinn des Wortes», der ihm eine große Hilfe sei. Die im Lauf der Jahre wachsende gegenseitige Abhängigkeit der beiden Brüder führte allerdings immer wieder zu Konflikten. Vincent konnte unerträglich hart und gemein zu Theo sein und beharrte immer auf seinem Recht. Damit belastete er ihre Beziehung mehr als nur einmal, so sehr, dass Theo an einem Punkt sogar überzeugt war, es wäre besser, sie würden sich nie wiedersehen. Doch erwies sich ihre Freundschaft solchen heftigen Zusammenstößen gewachsen. Theo schleppte Vincent durch das mühsame Leben und diente als Puffer zwischen ihm und der «feindlichen Welt» (406). Der gutherzige Theo, der sich sein Leben lang für den älteren Bruder verantwortlich fühlte und ihm gegenüber immer loyal blieb, schützte ihn und verschonte ihn vor vielerlei Unbill.
Die enge Bindung der Brüder hatte ihre Wurzeln in ihrer gemeinsamen Kindheit und Jugend. Sie wuchsen in der Familie eines Landpastors in der Brabanter Provinz auf. Ihre Eltern, Theodorus van Gogh (1822–1885, Abb. 1) und Anna van Gogh-Carbentus (1819–1907, Abb. 2), erzogen die Kinder nach christlichen Werten, die zur Grundlage für ein tugend- und arbeitsames Leben werden sollten. Wie im Bürgertum des 19. Jahrhunderts üblich, war man bemüht zu verhindern, dass sich ein Mitglied von der Familie löste, und gemeinsam strebte man ein standesgemäßes, anständiges Leben an, im Einklang mit den Regeln des Standes. Grundlegend war der Gedanke, dass, wer sich Respekt verschaffen könne, im Leben viel Gutes erfahren werde. Die bescheidenen Wirkungsorte des ethisch engagierten Pastors Theodorus van Gogh waren die Bauerndörfer Zundert, Helvoirt, Etten und Nuenen, alle in der Provinz Nordbrabant im Süden der Niederlande gelegen. In seinem Wirkungsbereich erfreute van Goghs Vater sich großer Beliebtheit.
1Theodorus van Gogh
2Anna van Gogh-Carbentus
Vincent (1853–1890, Abb. 3, 4) war das älteste von sechs Kindern, jedoch nicht der Erstgeborene: Genau ein Jahr vor seiner Geburt war die Mutter von einem totgeborenen Kind entbunden worden, das ebenfalls den Namen Vincent trug. Auf Vincent folgten Anna (1855–1930), Theo (1857–1891), Elisabeth («Lies», 1859–1936), Willemien («Wil», 1862–1941) und Cor (1867–1900). Mutter van Gogh, eine gütige, einfache Frau, teilte die Sorge für die Familie mit ihrem Mann und einem Kindermädchen.
3Vincent van Gogh im Alter von dreizehn Jahren
4Vincent van Gogh im Alter von neunzehn Jahren
Aus der erhaltenen Familienkorrespondenz, die Hunderte von Briefen umfasst, spricht deutlich die Liebe zwischen den Eltern und ihren Kindern und der gegenseitige Respekt. Die Erinnerungen an seine Kindheit waren in Vincent van Gogh tief verwurzelt, und während seiner Anfälle von Geisteskrankheit, an denen er in den letzten anderthalb Jahren seines Lebens litt (man sah darin damals eine Art von mit Wahnvorstellungen einhergehender Epilepsie), kamen diese Erinnerungen immer wieder zurück. So schrieb er Ende 1888, nach seinem ersten schweren Zusammenbruch, er habe während seiner Krankheit jedes Zimmer, jeden Weg, jede Pflanze, die ganze Umgebung des Elternhauses in Zundert wieder vor sich gesehen (741).
Die Eltern wollten jedem ihrer Kinder die Chance geben, sich zu entfalten und eine gute Ausbildung zu erhalten. Finanziell war das allerdings nicht einfach. Später dann waren sie vor allem damit beschäftigt, für ihren Sohn Vincent passende Stellen zu finden. Für die Mittelschicht des 19. Jahrhunderts war der Umgang mit höheren Ständen eine Möglichkeit, in der Welt voranzukommen. Die Eltern van Gogh, die ihren Kindern zu gesellschaftlichem Erfolg verhelfen wollten, spornten sie dazu an, die soziale Leiter zu erklimmen, und führten dabei Regie. Davon zeugen ihre Ratschläge an die Kinder, wenn es um das Anknüpfen und die Pflege von Kontakten ging, um Bücher, die sie ihnen empfahlen, und um Höflichkeitsbesuche, zu denen sie sie anhielten. Aus heutiger Sicht betrachtet legten die Kinder einen extremen Gehorsam an den Tag, doch ist dies angesichts der damals allgemein verbreiteten bürgerlich-christlichen Anstandsnormen durchaus erklärlich. Die Kehrseite bestand allerdings darin, dass manch einer, der jenen hochgespannten Erwartungen nicht entsprechen konnte oder wollte, von quälenden Schuldgefühlen befallen wurde, von einem permanenten Gefühl des Versagens gegenüber denjenigen, die es doch so gut mit ihnen meinten – einem Gefühl, das Vincent van Gogh sicher ebenfalls nicht unbekannt war.
Das Bedürfnis nach familiärer Gemeinschaft war charakteristisch für die van Goghs. Indem man ein gottesfürchtiges Leben führte und sich gegenseitig unterstützte, konnte man einander weiterhelfen. Auch die weiteren Aktivitäten festigten die Familienbande: Der gemeinsame Kirchgang, das Singen erbaulicher Lieder und das Lesen und Vorlesen moralisch akzeptabler Romane und Gedichte trugen zur Stärkung des Gemüts bei.
Die familiäre Eintracht blieb lange Zeit erhalten, doch ab 1876 wuchsen die Spannungen zwischen Vincent und seinem Vater. Sie sollten bis zum Tod des Letzteren 1885 andauern. Ihre Lebensweisen entfernten sich immer mehr voneinander, und das unangepasste Verhalten des Sohnes rief beim Vater stets aufs Neue Irritationen hervor. Umgekehrt ärgerte sich Vincent über die Engstirnigkeit und die Neigung des Vaters, sich in alles einzumischen. Der Sohn beharrte auf seinen abweichenden Standpunkten, und er kümmerte sich wenig um die Umgangsformen, die seinen Eltern so wichtig waren. Die Arbeiterkleidung, die er trug, seine unvorhersehbaren Reaktionen und sein Umgang mit Menschen aus der Unterschicht waren den Eltern ein Dorn im Auge. Für Vincent stand Ende 1883 fest: «Im Charakter unterscheide ich mich ziemlich stark von den verschiedenen Mitgliedern der Familie, und ich bin eigentlich kein ‹van Gogh›» (411).
Vincent van Gogh besuchte zunächst in Zundert die Dorfschule und wurde zu Hause von einer Gouvernante unterrichtet. Später verbrachte er ein paar Jahre auf einem Knabeninternat in Zevenbergen und absolvierte anschließend die Höhere Bürgerschule Willem II. in Tilburg. Nach einem weiteren Jahr im Elternhaus bekam er Ende Juli 1869 mit sechzehn Jahren eine Stelle als Lehrling in der internationalen Kunsthandlung Goupil & Cie in Den Haag (Abb. 5).
5Die Kunsthandlung Goupil & Cie, Den Haag, um 1900
Die Einführung in die Welt der Kunst verdankte er einem Bruder des Vaters, der ebenfalls Vincent hieß («Onkel Cent»). Auf Fürsprache dieses Onkels, der jahrelang Mitgesellschafter von Goupil & Cie war, erhielt Vincent die Chance, den Kunsthandel von Grund auf zu erlernen. Das Geschäft florierte, unter anderem durch den Verkauf von zahlreichen Reproduktionen von Kunstwerken. Die Arbeit inmitten von Gemälden, Grafiken und Fotos, dazu die zahlreichen Museumsbesuche legten den Grundstein für van Goghs beeindruckende Kenntnisse auf dem Gebiet der bildenden Kunst. Von seinem Vorgesetzten Hermanus Tersteeg, der ihn in das Metier einwies, lernte er enorm viel über Kunst und Literatur. Vincent war damals bei der Familie Roos am Lange Beestenmarkt in Pension. Am 29. September 1872 schrieb er von dieser Adresse seinen frühesten überlieferten Brief an Theo.
Goupil & Cie hatte mehrere Niederlassungen, und im Mai 1873 nahm van Gogh in der Londoner Filiale den Dienst auf. Aus der Korrespondenz dieser Jahre geht hervor, dass er nach einem Ort außerhalb der beschützten kleinen Welt suchte, in der er aufgewachsen war. Neben seiner Arbeit wanderte er, so viel er konnte, und widmete sich der Gartenarbeit. Mitunter aber überfiel ihn große Sehnsucht nach Zuhause. An hohen Festtagen wie Weihnachten und Ostern versuchten alle Kinder, sich im Pfarrhaus von Helvoirt einzufinden, wo die Familie inzwischen lebte. Auch Theo arbeitete inzwischen bei Goupil – er hatte in der Brüsseler Filiale angefangen und kam Ende 1873 in die Niederlassung in Den Haag (Abb. 6). Vincent wechselte in London häufig den Wohnsitz: Im August 1873 zog er nach Brixton, ein Jahr später wohnte er in Kennington. Er begann die Stadt immer mehr zu schätzen, und sein Interesse an Kunst und Literatur nahm zu. Seine Briefe enthalten mehr als einmal Zitate aus Büchern, die ihn bewegten, und Theo schickte ihm seinerseits Gedichte. Der Geschmack und die Vorlieben der Brüder standen vollkommen im Einklang mit dem, was damals en vogue war: romantische Gedichte (Heinrich Heine, Alphonse de Lamartine) und viktorianische Romane (George Eliot). Die Literatur bot den jungen Männern Halt und erweiterte ihren Horizont. Vincent begann, sich in der Weltstadt London als wahrer Kosmopolit zu fühlen.
6Theo van Gogh, 1889
Nach einer vorübergehenden Versetzung in das Pariser Stammhaus von Goupil & Cie in der Rue Chaptal lebte Vincent Anfang 1875 wieder in London, wo er in der von Goupil & Cie übernommenen Galerie Holloway & Sons in der Bedford Street arbeitete. Mitte Mai wurde Paris erneut sein Standort. Ausführlich berichtete er von seinen Besuchen im Salon, im Louvre und im Musée du Luxembourg, und er beschrieb, welche Drucke er in seinem Zimmer aufgehängt hatte. Er bewohnte ein kleines Zimmer in Montmartre, wo er sich mit seinem Hausgenossen Harry Gladwell anfreundete. Abend für Abend las er dem Engländer aus der Bibel vor, «wir haben uns vorgenommen, sie ganz und gar durchzulesen» (55). Immer intensiver beschäftigte er sich mit dem Studium der Bibel und ging auch oft in die Kirche. In dieser Zeit sind seine Briefe voller Hinweise auf die Heilige Schrift, auf gereimte Psalmen und evangelische Kirchenlieder sowie auf Erbauungsliteratur. Diese religiöse Obsession sollte noch einige Jahre andauern und führte zu einer Vernachlässigung seiner Arbeit, die schließlich einer der Gründe für seine Kündigung bei Goupil wurde.
Im Oktober 1875 zog die Familie van Gogh in das Dorf Etten um, wohin der Vater berufen worden war. Vincent verbrachte Weihnachten und den Jahreswechsel bei den Eltern. Als er nach Paris zurückkehrte, hatten seine Arbeitgeber beschlossen, seine Anstellung zum 1. April zu beenden. Gegen den ausdrücklichen Willen seines Vorgesetzten war er ausgerechnet in der Zeit um den Jahreswechsel, wo es sehr viel zu tun gab, viel zu lange weggeblieben. Auch seine Einstellung zur Arbeit gab Anlass zu Kritik. Der Betroffene äußerte sich ziemlich lakonisch zu seiner Entlassung, doch der Vater war tief enttäuscht und schrieb für seine Verhältnisse äußerst scharfe Briefe an Theo. Denn die Folgen dieser Entlassung waren für die Familie besonders schmerzlich: «Wie viel hat er doch weggeworfen! Welch bitterer Kummer für Onkel Cent. Was für ein Schaden und eine Schande. Wir sind froh, dass wir hier ziemlich zurückgezogen leben, und würden uns manchmal am liebsten einschließen. Es ist ein unaussprechlicher Kummer.» Der Gesichtsverlust scheint Vincent weniger getroffen zu haben, obwohl er Schuldgefühle empfand. In den sechs Jahren im Kunsthandel hatte er viel gelernt, aber es hatte ihm kein Glück gebracht, geschweige denn zu einer Karriere verholfen. Seine Zukunft lag nun im Ungewissen.
Vier Jahre lang unternahm Vincent van Gogh in England, in den Niederlanden und in Belgien verschiedene Versuche, seinem Leben eine Richtung zu geben. Nach der Entlassung bei Goupil & Cie fuhr er im April 1876 nach Ramsgate, in der Nähe von London, um dort als Hilfslehrer am Jungeninternat von William Stokes zu arbeiten. Nach einem Probemonat durfte er bleiben, bekam aber kein Gehalt. Als die Schule kurz darauf nach Isleworth umzog, ging van Gogh ebenfalls mit. Er liebte seine Wanderungen und mochte den Umgang mit den Jungen, fand aber sehr bald heraus, dass er doch lieber Hilfsprediger werden wollte, etwas «zwischen Pastor und Missionar, bei arbeitenden Menschen in den Londoner Vorstädten» (84). Außerdem brauchte er dringend ein regelmäßiges Einkommen.
Im Juli wechselte er an ein anderes Internat in Isleworth, das von dem Methodistenpfarrer Thomas Slade-Jones geführt wurde. Die Briefe an Theo wurden in dieser Zeit immer länger, enthielten nun ernsthafte Erörterungen und abermals viele Bibelzitate. Mit dem wachsenden religiösen Interesse wurde auch van Goghs Lektüre moralistischer. George Eliots Scenes of Clerical Life und Felix Holt, John Bunyans The Pilgrim’s Progress und Thomas a Kempis’ De imitatione Christi gehörten zu seinen Lieblingslektüren. Im Oktober bot sich ihm zu seiner großen Freude die Gelegenheit, in der Wesleyan Methodist Church in Richmond seine erste Predigt zu halten. Diese Predigt, die er für Theo abschrieb und einem Brief an ihn beilegte, handelte vom Leben als einer Pilgerfahrt (96). Kurz danach wurde er Mitarbeiter der Congregational Church von Turnham Green und unterrichtete in der Sonntagsschule, beides jedoch auf ehrenamtlicher Basis, ohne Entgelt. Bei seinem Besuch an Weihnachten zu Hause – wie immer eine Zeit der Besinnung, in der die Familie in eine Art Klausur ging – wurde über seine beschränkten Aussichten in England gesprochen, und man beschloss, er solle nicht wieder zurückfahren.
Onkel Vincent organisierte für ihn in der Buchhandlung Blussé & Van Braam in Dordrecht eine Stelle als Hilfskraft. In dieser Zeit nahm van Goghs Religiosität fanatische Züge an. Seine Briefe strotzten von frommen Sprüchen und Träumereien über seinen sehnlichen Wunsch, Pastor zu werden; an den Wänden seines Zimmers hingen zahlreiche biblische Drucke, und er besuchte, bei verschiedenen Glaubensrichtungen, einen Gottesdienst nach dem anderen. «Stets traurig, aber allezeit fröhlich», diesen Vers aus Paulus’ 2. Brief an die Korinther, trug er stets bei sich, als eine Art Lebensmotto, als einen «Deckmantel im Sturm des Lebens» (109).
Van Goghs Kampf mit der Welt hing mit seinem inneren Kampf zusammen, welche Aufgabe er in dieser Welt übernehmen solle. Wie sein Vater suchte er seine Berufung in der Verbreitung des Glaubens als Pastor. Diesem Ideal nachzustreben, war die Kraft, die ihn antrieb, und es sollte ihn von der «Flut von Vorwürfen, die ich gehört und gespürt habe», erlösen (106). Unter dem Einfluss seiner calvinistischen Erziehung sprach er öfter vom Gewissen als einem von Gott gegebenen, unfehlbaren moralischen Kompass des Menschen. Doch wie gewissenhaft er auch im Leben stand, es gelang ihm nicht sonderlich gut, seinen eigenen Kurs zu finden. Die Tätigkeit im Buchhandel war nicht mehr als eine vorübergehende Lösung; derweil suchte die Familie weiter nach einer geeigneten Stelle für ihn. Allerdings stellte der bis dahin behilfliche Onkel Cent seine Bemühungen ein, als sich die Ambitionen seines Neffen, tatsächlich Pastor zu werden, als ernsthaft erwiesen.
Mit anderen Onkeln in Amsterdam besprach Vincent, der keinen Abschluss von einer weiterführenden Schule besaß, wie er sich auf ein Theologiestudium vorbereiten könne. Die Familie war keineswegs davon überzeugt, dass ausgerechnet hier seine wahre Bestimmung lag, und machte sich Sorgen wegen seiner instabilen geistigen Verfassung. Dennoch reiste Vincent im Mai 1877 guten Mutes nach Amsterdam. Wohnen konnte er dort bei seinem Onkel Jan van Gogh, der Direktor der Marinewerft war. Ein Onkel mütterlicherseits, Johannes Stricker, selbst Pastor, wachte über Vincents Studien.
Die Vorbereitung auf die Aufnahmeprüfung fiel van Gogh extrem schwer. Wie so oft kompensierte er sein Unvermögen mit langen Wanderungen und Berichten darüber in Briefen voller Stimmungsbeschreibungen. Wie sehr er sich auch bemühte, bei seinen Vorbereitungen durchzuhalten, er wurde immer trübsinniger und mutloser. An Theo schrieb er, sein Kopf glühe und seine Gedanken würden sich verwirren. Abermals musste er sich eingestehen, dass er bei der selbst gestellten Aufgabe versagt hatte. Jahre später seufzte er rückblickend, dieses Amsterdamer Jahr sei «die schlimmste Zeit» seines bisherigen Lebens gewesen (154). Mit der bescheidenen Hoffnung, dann eben Katechet zu werden, musste er den Gang nach Canossa antreten und ins Elternhaus nach Etten zurückkehren.
Im Juli 1878 reiste Vincent mit seinem Vater und Pfarrer Slade-Jones nach Brüssel, um wegen einer Zulassung für eine flämische Laienpredigerausbildung zu verhandeln. Man gewährte ihm eine dreimonatige Probezeit. Van Gogh ging nach Laken und zog bei der Familie eines Vorstandsmitglieds ein. Doch als er nicht zur Ausbildung zugelassen wurde, fuhr er Anfang Dezember 1878 in die wallonische Bergbauregion Borinage, um Arbeit in der Evangelisierung zu suchen. Mitte Januar 1879 wurde er in Wasmes, einem Dorf in der Nähe von Mons, für sechs Monate als Laienprediger eingestellt. Zu seinen Aufgaben gehörten Bibellesungen, das Unterrichten von Kindern sowie Krankenbesuche. Die Armut und das Elend, die er hier sah, waren groß, und van Gogh widmete sich hingebungsvoll der Pflege von Kranken und Verletzten. Er identifizierte sich so sehr mit der armen Bevölkerung, dass er all seinen Besitz verschenkte, in eine kleine Hütte zog und dort auf dem Boden schlief.
Unter anderem wegen dieser übertriebenen Demonstration von Demut war man mit van Gogh unzufrieden. Der Evangelisierungsausschuss war überdies der Meinung, ihm fehle die Gabe des Wortes und außerdem gelinge es ihm nicht, Zusammenkünfte zu organisieren, bei denen die Gemeinde die Botschaft des Evangeliums hören könne. Sein Vertrag wurde nicht verlängert, und im August wechselte er ins benachbarte Cuesmes, wo er bei einem Evangelisten wohnen konnte. Unter dem Eindruck der «eigenartigen, merkwürdigen und malerischen» Landschaft (150) verlegte er sich immer mehr aufs Zeichnen. Seit Jahren hatte er schon zu seinem Vergnügen gezeichnet und seinen Briefen ab und zu kleine Skizzen beigelegt. Nun wurde das Zeichnen neben dem Schreiben eine immer wichtigere Möglichkeit für ihn, seine Eindrücke in Bildern einzufangen: «Sitze oft bis tief in die Nacht und zeichne, um ein paar Souvenirs festzuhalten und Gedanken zu verstärken, die der Anblick der Dinge einem unwillkürlich eingibt» (153).
Bergarbeiter im Schnee, 1880, Bleistift, farbige Kreide, Aquarell, auf Velin, 44 x 55 cm (F831), Kröller-Müller Museum, Otterlo
Bei einem Besuch Theos sprachen die Brüder über Vincents Zukunft. Offensichtlich lief das Gespräch ziemlich aus dem Ruder, denn gleich nach Theos Abreise verteidigte sich Vincent in einem Brief, der die Ängste und Meinungsdifferenzen offenbart, die sein Einvernehmen mit Theo wie mit dem Rest der Familie ernstlich in Frage stellten (154). Am Ende erwies sich die Kluft zwischen den Brüdern als so groß, dass sie ihren Briefwechsel fast ein Jahr lang einstellten. Vincent brach das Schweigen mit einem Herzenserguss, in dem er sich außergewöhnlich vehement äußerte: Er fühle sich wie ein Vogel im Käfig, wie jemand, der zu nichts nütze sei, dabei wolle er sich doch nützlich machen, seine Berufung finden, und er nahm Theos Angebot, ihm zu helfen, an (155).
Auch den Eltern hatte sich Vincent entfremdet. Schon seit 1875 sprachen sie von Vincents «Anders-Sein» und machten sich Sorgen wegen seines religiösen Fanatismus. Nach der verweigerten Zulassung zur Evangelistenausbildung versuchten die Eltern mehrmals, ihn auf einen anderen Weg zu bringen, und drängten darauf, er solle einen praktischen Beruf wählen. Doch er blieb, wie sie es ausdrückten, «halsstarrig und stur» und schlug ihren guten Rat in den Wind. Obwohl Vincent in seiner Zeit im Borinage Reisen ins Elternhaus mit Schrecken entgegensah, stattete er den Eltern zwei kurze Besuche ab. Sie fanden sein (wie wir es heute nennen würden) an Autismus grenzendes Verhalten so beunruhigend, dass der Vater erwog, ihn in die Heil- und Pflegeanstalt im belgischen Geel aufnehmen zu lassen. Dies stieß jedoch auf heftigen Widerstand des Betroffenen.
Nachdem also der älteste Sohn versagt hatte, war Theo in der Pflicht, die Familienehre zu wahren. Im November 1879 hatte er bei Goupil & Cie in Paris eine feste Stelle bekommen und war nun in der Lage, zum Lebensunterhalt des älteren Bruders beizutragen. Vincent erhielt eine erste Geldsendung im März 1880. Von Theo mehr und mehr ermutigt, beschloss er zu versuchen, aus der Kunst seinen Beruf zu machen. Diese Wahl erwies sich als endgültig.
Nachdem seine Entscheidung feststand, stürzte sich Vincent van Gogh voller Leidenschaft in ein selbst zusammengestelltes Studienprogramm. Er konzentrierte sich gänzlich aufs Zeichnen, weil er hoffte, als Illustrator sein Brot verdienen zu können. Dabei wusste er, dass er von vorn anfangen musste, um möglichst viel über Materialien, Perspektive, Proportionen und Anatomie zu lernen. Er las Handbücher und zeichnete von früh bis spät Drucke und Vorlagen aus einem Zeichenkurs nach, den ihm Theo geschickt hatte. Seine kleine Kammer in Cuesmes war allerdings als Atelier alles andere als ideal, und ihm wurde immer mehr bewusst, dass er ein Umfeld mit Museen und Künstlern benötigte. Im Oktober 1880 zog er daher nach Brüssel um. Auf Anraten des Malers Willem Roelofs, den er auf Theos Empfehlung hin aufgesucht hatte, schrieb sich van Gogh an der Kunstakademie für den Kurs «Zeichnen nach antiken Statuen» ein. Nach einem Monat warf er das Handtuch. Vermutlich hatte er wegen seiner mangelhaften Technik und seiner geringen Kenntnis von Anatomie und Perspektive Kritik zu hören bekommen. Ihm sollte davon eine abgrundtiefe Abneigung gegen den akademischen Unterricht bleiben – ein Thema, das in seinen Briefen noch oft zur Sprache kam –, und die Erfahrung bestärkte ihn in seiner Überzeugung, dass der eigene künstlerische Ausdruck wichtiger sei als die technische Umsetzung. Inzwischen hatte er den niederländischen Künstler Anthon van Rappard kennengelernt, der ihm anbot, in seinem großen Atelier in Brüssel zu zeichnen (Abb. 7). Zwischen den beiden Männern entwickelte sich eine Freundschaft und später, nachdem van Gogh in die Niederlande zurückgekehrt war, ein intensiver Briefwechsel.
7Anthon van Rappard, um 1880
Ende April 1881 zog Vincent wieder bei seinen Eltern in Etten ein und blieb dort bis Weihnachten. Er arbeitete und schlief in einem Raum im Anbau neben dem Elternhaus. In diesen Monaten übte er sich im Zeichnen von Landschaften und von Figuren bei der Arbeit. Dafür ließ er Einwohner aus dem Dorf Modell stehen. Bei einem kurzen Aufenthalt in Den Haag besuchte er – nicht zum ersten Mal, nun aber als Künstler – Museen und Ausstellungen. Von seinem angeheirateten Cousin Anton Mauve, einem erfolgreichen Maler der Haager Schule, erhielt er willkommene Ratschläge. Van Gogh war in seinem Element: «Die Fabrik arbeitet mit voller Kraft», konstatierte er, indem er Mauve zitierte, vergnügt (172).
Im Sommer 1881 war Kee Vos-Stricker, die Tochter von Onkel Stricker, die kurz zuvor Witwe geworden war, im Pfarrhaus in Etten zu Besuch (Abb. 8). Van Gogh gewann sie leidenschaftlich lieb. Sie ließ keinerlei Zweifel daran, dass sie seine Gefühle niemals würde erwidern können, doch er blieb beharrlich und brachte, von Verlangen geblendet, die Familie in große Verlegenheit. Vater van Gogh warnte Vincent, er riskiere mit diesem «unkeuschen und ungelegenen» Verhalten ein Zerreißen der Familienbande (185). Vincent jedoch zeigte sich der Meinung und den Gefühlen seiner Eltern gegenüber unempfindlich, so dass sie ihn schließlich aufforderten, das Haus zu verlassen. Er beschloss, eine Zeitlang bei Mauve in Den Haag zu arbeiten. In dessen Atelier malte er seine ersten Ölstudien und erlernte die Grundlagen des Aquarellierens. Als van Gogh drei Wochen später nach Etten zurückkehrte, war er voller neuer Pläne. Unter anderem hatte er vor, in der Gegend ein größeres Atelier zu suchen. Doch wenige Tage darauf kam es zu einem heftigen Streit mit dem Vater, bei dem Vincent unter anderem erklärte, er wolle nichts mehr mit der Religion zu tun haben. Noch am selben Tag reiste er nach Den Haag ab.
8Kee Vos-Stricker und ihr Sohn Jan, um 1881
In Den Haag fand er bald eine Wohnung am Stadtrand, am Schenkweg. Noch immer litt er unter den negativen Reaktionen auf seine Liebe zu Kee, und er hasste die in seinen Augen engstirnigen Ansichten seiner Familie. Theo warf ihm vor, dass er durch sein starrköpfiges Verhalten den Eltern das Leben unnötig schwer mache, unterstützte ihn aber weiterhin. Im Februar 1881 war er zum Geschäftsführer der Goupil-Filiale am Boulevard Montmartre in Paris (später fortgeführt als Boussod, Valadon & Cie) ernannt worden und hatte seitdem alle Kosten für Vincents Lebensunterhalt übernommen. Theo verfügte in den Jahren von Vincents künstlerischem Schaffen über ein recht gutes Einkommen, und er gab etwa fünfzehn Prozent davon an seinen Bruder ab. Trotzdem steckte Vincent häufig in Geldnöten, denn er gab sein Geld in der Regel viel zu begeistert aus – eine Folge seiner nicht nachlassenden Arbeitswut: Er konnte kaum schnell genug das benötigte Zeichen- und Malmaterial heranschaffen und hatte einen großen Bedarf an Modellen, die für ihre Dienste bezahlt werden mussten. Auch wollte er sich in einer neuen Umgebung jedes Mal wieder gut ausstatten. So richtete er sich auch in seiner Wohnung am Schenkweg gleich ein Atelier ein.
Van Goghs Anfangszeit in Den Haag, damals das kulturelle Zentrum der Niederlande, verlief glücklich: Tersteeg, sein ehemaliger Vorgesetzter bei Goupil, stand ihm mit Rat und Tat zur Seite, und Mauve führte ihn in den Künstlerverein Pulchri Studio ein, einen idealen Ort, um nach Modell zeichnen und andere Künstler treffen zu können. Vincent lernte auch junge Künstler kennen, etwa George Breitner und Théophile de Bock. Er freute sich über seinen ersten bezahlten Auftrag von Onkel Cor van Gogh, dem ein zweiter folgte. Beide Male zeichnete er für den Onkel Stadtansichten von Den Haag.
Ende Januar 1882 lernte Vincent die schwangere Prostituierte Sien Hoornik kennen, die sein ständiges Modell wurde. Auch Siens Mutter und Tochter standen ihm regelmäßig Modell, anfangs bezahlt, später dann, als van Gogh und Sien ein Verhältnis hatten, kostenlos. Mit Breitner zog er los, um in Garküchen und Bahnhofswartesälen Skizzen zu machen. Sein liebstes Thema waren Arbeiter und arme, einfache Menschen: «Ich fühle, dass meine Arbeit im Herzen des Volkes liegt, dass ich mich in Bodennähe halten muss, dass ich tief ins Leben hineingreifen und mit viel Mühe und Sorge vorankommen muss» (226). Van Gogh hoffte, mit seiner Kunst das Volk auch direkt zu erreichen – er wollte Figuren «aus dem Volk für das Volk» schaffen (294). Da er noch immer mit dem Gedanken spielte, Illustrator zu werden, begann er, illustrierte Zeitschriften zu sammeln. Die darin enthaltenen Abbildungen – Holzstiche von Berufsstechern nach Zeichnungen bekannter Künstler – sprachen ihn durch ihren Realismus an, durch ihre Direktheit und ihre nicht glattgeschliffene Technik. Er besaß Hunderte davon, schnitt sie aus und ordnete sie thematisch in Mappen. Vor allem liebte er Stiche, in denen «Seele» und «Charakter» sichtbar wurden. Mit van Rappard tauschte er Drucke aus und diskutierte mit ihm in langen Briefen künstlerische und technische Fragen.
Van Rappard war es auch, der ihm Alfred Sensiers Buch über den französischen Maler Jean-François Millet schickte. Diese stark romantisierte Biografie des Barbizon-Malers, der inmitten der bäuerlichen Bevölkerung ein einfaches Leben geführt hatte, beeinflusste entscheidend van Goghs Vorstellung vom Künstlertum. Er ernannte «Vater Millet» zu seinem Ratgeber in künstlerischen Fragen, und viele von Millets Äußerungen wurden für van Gogh zu regelrechten Wahlsprüchen.
Im Juli 1882 wechselte van Gogh, der zuvor einige Wochen wegen einer Geschlechtskrankheit im Krankenhaus behandelt worden war, in ein besseres, größeres Atelier am Schenkweg, nur wenige Häuser weiter. Zwei Wochen später zogen Sien, ihre fünfjährige Tochter Maria und ihr neugeborener Sohn Willem bei ihm ein. Während seines Zusammenlebens mit den Dreien verteidigte van Gogh diese Entscheidung immer wieder, wobei er sich auf Jules Michelets ethisch-didaktische Schriften über die Frau, die Liebe und die Ehe berief. Selbstverständlich erregte seine Entscheidung für Sien in der konservativen Familie van Gogh großen Anstoß.
Doch Vincent setzte sich über die Regeln und Formen, die zu seinem Stand gehörten, hinweg. In dieser Zeit kleidete er sich zum Ärger von Theo und seinen übrigen Angehörigen, als ob er zur Arbeiterklasse gehöre. Dem einflussreichen Onkel Cent galt das Zusammenwohnen in eheähnlicher Gemeinschaft ohne Eheschließung als grobe Verletzung der gesellschaftlichen Spielregeln und als eine Schande mit Folgen für die gesamte Familie. Auch dass Sien und ihre Kinder von Theos Geldsendungen profitierten, verurteilte er aufs Schärfste.
In ihrer Missbilligung ließen die Eltern Vincent jedoch nicht völlig fallen: Im Herbst 1883 schickten sie ihm außer einem Wintermantel und einer Hose auch einen warmen Frauenmantel, ein Zeichen, dass sie trotz ihrer großen Vorbehalte Siens Anwesenheit nicht vollkommen ablehnten. Ihr Sohn lebte inzwischen zufrieden in seinem bescheidenen, kleinen Haushalt. In seinen Briefen gibt er seine Deutung dieser Wirklichkeit: Ein Mann habe die Pflicht, einer gefallenen Frau zu helfen, und deshalb sei es nicht so verwerflich, auch für so jemanden Geld zu benötigen. Vincents Vorstellungen von einem anständigen Leben deckten sich offenkundig kein bisschen mit den Maßstäben, die seine Umgebung anlegte.
In seiner Den Haager Zeit machte van Gogh große Fortschritte im Zeichnen. Er arbeitete mit den verschiedensten Materialien, von Bleistift, Holzkohle und Kreide bis zu lithografischer Tinte, und probierte neue Techniken aus. In seinen Briefen beschreibt er beispielsweise, wie er Zeichnungen fixierte, indem er sie mit Milch besprühte (ein Verfahren, von dem er in einem Handbuch gelesen hatte). Im Sommer 1882 begann er auch, in Farbe zu arbeiten: In einer Gruppe beeindruckender Aquarellzeichnungen hielt er die Landschaft in der Umgebung seines Ateliers fest, und er malte Ölstudien im Wald und am Strand. Mit seiner zurückhaltenden Farbpalette knüpfte er bei Vertretern der Haager Schule und der Schule von Barbizon an, etablierten Künstlern, deren Arbeiten im Kunsthandel gut verkauft wurden und auf zahlreichen Ausstellungen zu sehen waren. Eine kurze Zeit widmete er sich auch der Herstellung von Lithografien nach Zeichnungen von Arbeitern und armen Menschen, als Teil eines (nicht ausgeführten) Plans einer Serie von Drucken für die Unterschicht.
Theo bekam Zeichnungen von Volkstypen, von Stadtansichten und Landschaften zugeschickt. In den Briefen wimmelt es in diesen Jahren von überschwänglichen, lyrischen Farbbeschreibungen:
Dieses Licht zu erhalten und trotzdem auch die Glut, die Tiefe dieser reichen Farbe, denn man kann sich keinen so prachtvollen Teppich vorstellen wie dieses tiefe Braunrot in der Glut einer vom Holz gedämpften Herbstabendsonne.
Aus diesem Boden sprießen junge Buchen hervor, die auf der einen Seite das Licht einfangen – dort leuchtend grün sind – und auf der Schattenseite dieser Stämme ist ein warmes, starkes Schwarzgrün. Hinter diesen Stämmchen, hinter diesem braunroten Boden ist ein Himmel, ein sehr feines Blaugrau, warm – fast nicht blau – flimmernd.– Und davor ist noch ein dunstiger, grünlicher Rand und ein Netzwerk aus schlanken Stämmen und gelblichen Blättern. Ein paar Holzsammler huschen dort wie dunkle Massen mysteriöser Schatten herum. (260)
Van Gogh in seiner Experimentierfreude hatte ein großes Verlangen, sich über technisches Wissen und künstlerische Ideen auszutauschen. Plastisch bezeichnete er dies als «Reibung der Gedanken» (396). Sein Wunsch erfüllte sich in seinem Kontakt mit den Malern Herman van der Weele und Anton van Rappard. An Letzteren schrieb er feurige Briefe über sein Werk und führte mit ihm äußerst scharfe Debatten. Mithilfe kleiner Briefskizzen und beigelegter Zeichnungen informierten sie sich über ihre Arbeiten und tauschten sich darüber aus, beide bereit, einander unverblümt zu kritisieren. Es war genau, was van Gogh brauchte, vor allem nachdem sich seine Beziehung zu Mauve wegen seiner Verwicklung mit Sien Hoornik abgekühlt hatte. Die freimütige Freundschaft mit van Rappard wirkte höchst anregend für ihn.
Häufig arbeitete van Gogh wie ein Besessener, um die Schaffenskraft, die er in sich fühlte, ganz auszunutzen. Kein Wunder, dass er sich als Arbeitsesel, Kutschpferd oder Zugochsen bezeichnete und immer wieder seinen Tag verlängern wollte, indem er sich früh an die Arbeit machte (was bei ihm wirklich früh hieß) und bis tief in die Nacht weiterarbeitete. «Du weißt, dass die Natur nicht ohne einen schrecklichen Kampf, nicht ohne mehr Geduld als üblich zu überwinden oder gefügig zu machen ist» (403). Unter Lumpensammlern auf einer Müllkippe, Arbeitern in einer Sandgrube und Kartoffelrodern auf dem Feld übte er unablässig seine «Zeichnerfaust» (220), um so ein besseres Gefühl für die menschlichen Proportionen und die Perspektive der Landschaft zu bekommen.
Im September 1883 löste Vincent seine Beziehung zu Sien, weil er ihren Absichten nicht mehr traute. In dem Konflikt schrieb er ihren Verwandten eine zweifelhafte Rolle zu: Er war davon überzeugt, dass Sien durch den Umgang mit ihnen wieder in der Prostitution landen würde. Mit dem Nötigsten an Malutensilien brach er in das ländliche Drenthe auf. Die Entscheidung für diese nördliche Provinz mit ihrer unberührten Natur war vermutlich von den Erzählungen Mauves, van Rappards und Breitners motiviert.
Zwei Frauen im Moor, 1883, Öl auf Leinwand, 27,8 x 36,5 cm (F19), Van Gogh Museum, Amsterdam
Van Gogh hielt sich zunächst einige Zeit in Hoogeveen auf. Anfang Oktober reiste er mit der Treckschute nach Nieuw-Amsterdam/Veenoord und bezog im Gasthaus von Hendrik Scholte Quartier. Von hier aus erkundete er die Umgebung nach brauchbaren Motiven. Das Ergebnis war eine Reihe stimmungsvoller Landschaften mit ärmlichen Hütten, Torfstecherinnen, einem Mann beim abendlichen Unkrautverbrennen und Arbeitern bei einem Torfkahn. Sein Wirt nahm van Gogh auf dem Bauernkarren mit nach Zweeloo, worüber dieser Theo in einem Brief begeistert berichtete (402). Dass er seinem Bruder gegenüber eine solche Lobeshymne auf die Landschaft anstimmte, hatte einen besonderen Grund: Theos Verhältnis zu seinen Vorgesetzten ließ in dieser Zeit sehr zu wünschen übrig, und Vincent versuchte ihn daher zu überreden, ebenfalls Maler zu werden und den Kunsthandel sowie das Stadtleben hinter sich zu lassen. Das Bild der atemberaubenden Natur sollte diesem Vorschlag besonderes Gewicht verleihen, aber verständlicherweise ging Theo darauf nicht ein.
So beeindruckend Vincent die Landschaft auch fand, in diesen kalten, regnerischen Monaten drückte ihm die Einsamkeit schwer aufs Gemüt. Es war kaum möglich, im Freien zu arbeiten, er konnte keine Modelle finden, und er hatte zu wenig Material zum Malen mitgenommen. Die Abende wurden ihm lang, was sich auch in der Länge seiner Briefe widerspiegelt. Als sich Theo besorgt über seine eigene unsichere finanzielle Situation äußerte, beschloss Vincent, Drenthe zu verlassen und wieder bei seinen Eltern einzuziehen, die in der Zwischenzeit nach Nuenen, in der Nähe von Eindhoven, gezogen waren.
Am 5. Dezember 1883 setzte van Gogh zum ersten Mal den Fuß in das schlicht und gediegen eingerichtete Pfarrhaus, wo seine Eltern schon ein gutes Jahr lang lebten. Er sollte zwei Jahre in dem Dorf bleiben. Seine Heimkehr und sein Willkommen erfuhr er jedoch als alles andere als herzlich.
Ich fühle, wie Pa und Ma instinktmäßig (ich sage nicht vernünftig) über mich denken. Es ist ein ähnliches Widerstreben, mich ins Haus aufzunehmen, wie es wäre, einen großen, struppigen Hund im Haus zu haben. Er wird mit nassen Pfoten ins Zimmer laufen – und dann, er ist so struppig. Er wird jedem vor die Füße laufen.– Und er bellt so laut. (413)
Der Raum hinter dem Haus, wo die Wäsche gemangelt wurde, sollte ihm als Atelier dienen (Abb. 9). Seine Lage und Einrichtung waren jedoch alles andere als ideal.
9Das Pfarrhaus in Nuenen. In dem niedrigen Teil rechts befand sich van Goghs Atelier
Van Goghs neue Mission wurde das Malen von Bauern und Arbeitern bei der Arbeit. Seine ersten Motive waren Weber: Zwischen Dezember 1883 und Juli 1884 schuf er eine Reihe von Zeichnungen und Gemälden von Webern am Webstuhl. In den Monaten, in denen das Arbeiten im Freien beschwerlich war, malte er außerdem ganze Serien von Stillleben. Anfang 1884 bestimmte Vincent, dass Theo im Tausch gegen das Monatsgeld mit den an ihn geschickten Kunstwerken nach eigenem Gutdünken handeln dürfe. Dabei hoffte er, Theo könne Käufer für die Werke finden. Mit van Rappard stand er noch immer in engem Kontakt: Sie malten zusammen und diskutierten über künstlerische Techniken. Van Rappard bewunderte vor allem van Goghs Zeichentalent. Regelmäßig gab van Gogh Amateurmalern aus der Umgebung Unterricht, ein Anzeichen seines wachsenden Selbstvertrauens.
Weber, 1883/84, Bleistift, transparente und deckende Aquarellfarbe, Feder in brauner Tinte, auf Vergé-Papier, 35,5 x 44,6 cm (F1115), Van Gogh Museum, Amsterdam
Ab Mai 1884 mietete er vom Küster ein Atelier, das mit seinen zwei Zimmern en suite einigermaßen geräumig war und wo er nach Lust und Laune arbeitete. Im Sommer sorgte er erneut für Aufregung, als er ein Verhältnis mit der psychisch labilen Nachbarin Margot Begemann anfing. Beide Familien taten alles, um dieser Beziehung ein Ende zu bereiten. Der Tiefpunkt war erreicht, als Margot einen Selbstmordversuch unternahm. Kurze Zeit erwog Vincent, sie zu heiraten, überlegte es sich aber zur allgemeinen Erleichterung doch anders. In solchen Augenblicken fühlte er wieder, wie tief und unüberbrückbar der Abgrund zwischen ihm und seiner nächsten Umgebung war.
In den ersten Jahren seines Künstlerdaseins beschäftigte sich van Gogh vor allem mit technischen Fragen wie Proportionen, Perspektive oder der Anordnung von Figuren im Raum. Er zeichnete hauptsächlich, wobei es in erster Linie um die Linienführung und die Wirkung der verwendeten Materialien ging; Farbe spielte noch eine untergeordnete Rolle. Das änderte sich, als er in Nuenen beschloss, sich ganz aufs Malen zu verlegen, und sich daher gründlich mit der Farbenlehre auseinandersetzte. In dieser Zeit enthalten seine Briefe zahlreiche Zitate und Paraphrasen über Kunst, Künstler und Farbtheorien aus den Werken von Félix Bracquemond, Théophile Silvestre, Edmond de Goncourt, Alfred Sensier, Jean Gigoux, Charles Blanc und Théophile Thoré (William Bürger), die er aufmerksam studierte. Was er in den kunsttheoretischen Handbüchern von Blanc und in den Künstleranekdoten von Silvestre und Gigoux über das Kolorit des französischen Malers Eugène Delacroix las, war eine Offenbarung für ihn. Er begann, seine neuen Erkenntnisse über die Wirkung von Farben und von Farbmischungen in Serien von Stillleben umzusetzen. Allerdings führten die neuen Ideen anfangs nicht zu einem helleren Kolorit, vielmehr blieb seine Palette gedämpft, und in Ermangelung guter Vorbilder gelang es ihm nicht recht, seine Bücherweisheit in die Praxis umzusetzen.
Van Gogh fühlte sich mit Arbeitern verbunden, und er hatte große Hochachtung vor ihrem Arbeitseifer – eine Bauernfigur bei der Arbeit wiederzugeben, war für ihn «das Herz der modernen Kunst» (515). Ihm lag nicht an einer naturgetreuen Wiedergabe von Landschaften und Figuren, sondern er versuchte sie festzuhalten, wie er sie sah. Im Anschluss an den Philosophen Francis Bacon und den Romancier Emile Zola definierte er ein Kunstwerk als «ein Stück Natur, gesehen durch ein Temperament» (361). Gerade durch den Ausdruck der persönlichen Sichtweise könne die Wirklichkeit intensiver nachempfunden werden und könnten Kunstwerke «wahrer als die buchstäbliche Wahrheit» sein (515). Dabei ging es um eine starke Vergrößerung des vom Künstler Wahrgenommenen, die gerade das Wesen der Wirklichkeit zum Vorschein bringen sollte.
Nach seiner Periode des obsessiven Glaubenseifers machte van Goghs noch immer kirchentreuer Glaube einer religiösen Naturauffassung Platz, einem «Glauben an und Bewusstsein von etwas Höherem, kurz, von quelque chose là-Haut», von irgendetwas dort oben (333), das in der Natur und im Zyklus der Jahreszeiten zum Ausdruck komme. Anfangs wollte er in seinen Zeichnungen und Gemälden das «Gefühl» und die Stimmung der Landschaft festhalten, doch nachdem er sich in der Nachfolge Millets zum Bauernmaler erklärt hatte, wurde sein wichtigstes Thema der einfache Mensch, der in enger Verbundenheit mit der Natur das Land bearbeitet – ein Idealbild, an dem er von nun an festhielt. Die höchste Herausforderung lag darin, sich als Künstler über das Tagtägliche und zum «Typus, konzentriert aus vielen Individuen» zu erheben. «Das ist das Höchste in der Kunst und darin steht die Kunst mitunter über der Natur – – – wie z.B. in Millets Sämann mehr Seele ist als in einem gewöhnlichen Sämann auf dem Feld» (298). Der Sämann sollte für van Gogh zum ultimativen Symbol für den unendlichen Zyklus der Natur und für jenes «irgendetwas dort oben» werden.
Nach und nach wuchs van Goghs Überzeugung, dass seine Zeichnungen und Gemälde ein Existenzrecht hatten und dass er als «schildermenneke», «Malermännchen», wie sie ihn in Nuenen nannten, Macht über den Pinsel erlangte. «Die weiße Leinwand hat ANGST vor dem leidenschaftlichen Maler, der etwas wagt», schrieb er selbstgewiss (464). Er hatte inzwischen das Elternhaus verlassen und war in sein Atelier gezogen. Vorausgegangen war ein Streit mit seiner Schwester Anna, die nach dem plötzlichen Tod des Vaters meinte, Vincent dürfe seiner Mutter nicht länger auf der Tasche liegen. In dieser Zeit hatte er – abgesehen von seinem Briefwechsel mit Theo – wenig Kontakt zu seiner Familie.
Vase mit Gartengladiolen und chinesischen Astern, 1886, Öl auf Leinwand, 46,5 x 38,4 cm (F248a), Van Gogh Museum, Amsterdam
Viele seiner Arbeiten sah van Gogh noch als Fingerübungen an. Er malte Dutzende von Bauernköpfen, um diese gewissermaßen blind in den Fingern zu haben und sie so in ein echtes Figurenstück integrieren zu können. Das Ergebnis waren im April/Mai 1885 Die Kartoffelesser, in seinen Augen das erste vollwertige Gemälde, das er zustande brachte.
Doch die rundheraus enttäuschenden Reaktionen auf dieses Meisterstück ließen van Gogh erkennen, dass er gleich in mehrfacher Hinsicht dabei war, in eine Sackgasse zu geraten: Sein Werk bot offenkundig keine Aussicht auf Verkauf, wegen seines anstößigen Verhaltens fand er kaum noch jemanden, der für ihn Modell stehen wollte, und außerdem fehlte ihm der dringend nötige Kontakt zur Kunstszene. Theo machte ihm klar, dass seine Arbeitsweise nicht mit der «modernen Kunst» in Paris in Einklang stehe. Dort war der Impressionismus inzwischen mehr oder weniger zum Gemeingut geworden, während van Gogh noch immer zurückblickte und gewissermaßen ein Barbizon-Maler après la lettre werden wollte.
Ein Besuch im Amsterdamer Rijksmuseum im Oktober 1885 rüttelte ihn endgültig wach. Bis dahin war ihm die Technik eines Werkes als weniger wichtig erschienen, der Botschaft und dem ausgedrückten Gefühl untergeordnet. Doch die Alten Meister, die er nun zum ersten Mal mit dem Blick des Malers betrachtete, lehrten ihn, wie viel mit einem gezielten Pinselstrich und einer expressiven Farbgebung zu erreichen war. Die Art und Weise, wie ein Werk gemalt war, konnte also einen entscheidenden Unterschied ausmachen. Van Goghs Ambition blieb im Kern dieselbe – die Vermittlung seiner Vision der Wirklichkeit –, aber ihm wurde klar, dass er nach einer anderen Farbgebung suchen musste und einer Malweise, die es ihm erlauben würde, jene Vision intensiver zum Ausdruck zu bringen.
Aus einem Bedürfnis nach neuen Impulsen und weiteren Studien zog es van Gogh im November 1885 nach Antwerpen, wo er sich an der dortigen Kunstakademie einschrieb. Er hoffte zudem, dass in der Scheldestadt die Auswahl von Themen größer sein würde und er dort Arbeiten verkaufen könnte.
Am 24. November 1885 machte van Gogh die kurze Reise nach Antwerpen. Die betriebsame Hafenstadt mit ihrem historischen Charakter gefiel ihm auf Anhieb. Der von seinem Besuch im Rijksmuseum geweckte Hunger nach Kunst und nach neuen Ideen trieb ihn in der Stadt überallhin, wo er Arbeiten alter und zeitgenössischer Künstler sehen konnte: in die Museen, die Kirchen, wo religiöse Gemälde großer Meister hingen, zu den Schautagen von Kunstauktionen und zu einer Kunstverlosung. Mehr als je zuvor kommentierte er Farbgebung und Technik der Bilder, die er sah. Nun beurteilte er Rubens anders als früher: weniger aufgrund seiner Themen und der überzeugenden Wiedergabe von Gefühlen, sondern aufgrund seines effektiven Einsatzes der Farben. Van Gogh sah die Dinge jetzt mit den Augen eines Malers. Die bescheidene Zahl von gemalten Bildnissen, die aus dieser Zeit überliefert sind, beweisen, dass er seine neuen Erkenntnisse direkt in die Praxis umsetzte: Sie sind mit lockererem Pinselstrich und mit helleren Farben gemalt als die Werke aus Nuenen.
In Antwerpen hoffte van Gogh, Zugang zum Kunsthandel zu finden, merkte jedoch, dass die wenigen Werke, die er sich mit seinen Sachen hatte nachschicken lassen, wenig Chancen auf einen Verkauf boten. Wenn er eine Aussicht auf Erfolg haben wollte, das begriff er, musste er Stadtansichten und Porträts malen. Es war jedoch nicht einfach, bezahlbare Modelle zu finden. Mehrere Male hatte er die Hoffnung, eine Prostituierte oder andere volkstümliche Typen dazu überreden zu können, für ihn zu sitzen. Aber fast immer lehnten sie ab, und die hohen Kosten für Malutensilien in Verbindung mit den Kosten für Modelle ruinierten ihn, wie er es selbst ausdrückte (547).
Das kleine Zimmer, das van Gogh in der Lange Beeldekensstraat 194 mietete, bot wenig Platz zum Zeichnen oder Malen. Im Januar 1886 zeigte er einige seiner neueren Werke den Lehrern der Kunstakademie und wurde zugelassen. An der Akademie konnte er Modelle malen und abends nach Abgüssen von antiken Skulpturen zeichnen. In Zeichenklubs für Kunststudenten, die spät am Abend zusammenkamen, hatte er auch die Möglichkeit, nach Aktmodellen zu zeichnen. Er lernte andere Studenten kennen und konnte so seine Gedanken ein wenig klären, doch große Befriedigung brachte es ihm nicht. In seinen Augen waren die meisten seiner Mitstudenten vollkommen von den falschen Auffassungen der Lehrer indoktriniert, die den Schwerpunkt auf die reine Technik legten und den Schülern den persönlichen Ausdruck austrieben. Gleichzeitig war er enttäuscht, in der Künstlerschaft und im Kunsthandel so wenig Einmütigkeit und Elan vorzufinden. Das von ihm beobachtete geistlose künstlerische Klima deprimierte ihn, und es bestätigte ihn in seiner Überzeugung, dass Solidarität und Zusammenarbeit unter Künstlern für eine «Renaissance» unabdingbar seien.
Inzwischen hatte sich sein körperlicher Zustand bedenklich verschlechtert. Weil er in der Regel am Essen und an der persönlichen Pflege sparte, fühlte er sich im Lauf seines Aufenthalts in Antwerpen «buchstäblich erschöpft und überarbeitet» (558). Auf Anraten eines Arztes gönnte er sich schließlich ein wenig Ruhe. Er musste wegen einer Geschlechtskrankheit behandelt werden, und sein Gebiss bedurfte einer gründlichen Sanierung. Das alles kostete viel Geld. Es ist rührend zu sehen, wie Theo oft Widerstand leistete, wenn Vincent seine Ausgaben für Material und Modelle nicht im Griff hatte, aber sofort zusätzliches Geld schickte, wenn es um die Gesundheit seines Bruders ging. Theo hatte Verständnis für diese Dinge, da er eine schwächere Konstitution besaß als Vincent.
Ende Januar 1886 beendete van Gogh seine Kurse an der Akademie und zog Bilanz. Er war froh, nach Antwerpen übersiedelt zu sein, weil er dort der sozialen Kontrolle des Bauerndorfes entkommen war, sehr viele Kunstwerke studiert hatte und mit Modellen hatte arbeiten können. Und außerdem: «Meine Ideen haben sich gewandelt und sind frischer geworden, und das war der eigentliche Zweck, den ich mit der Übersiedlung hierher beabsichtigt hatte.» (562) Doch in Sachen künstlerischer «Reibung der Gedanken», die er unter Seinesgleichen suchte, und des erhofften Verkaufs von Gemälden war er nicht weitergekommen.
Ein schon länger erwogener Plan wurde im Februar zum ernsthaften Vorhaben: Vincent drängte bei Theo darauf, nach Paris kommen zu dürfen, und zwar nicht erst im Juni oder Juli, wenn Theos laufender Mietvertrag ausgelaufen wäre und er ein größeres Appartement für sie beide suchen könnte, sondern gleich. Vincent wollte ein Jahr lang vor allem zeichnen, um die notwendigen technischen Fortschritte zu machen. Dabei hatte er das Atelier des Malers Cormon im Blick, das als ziemlich liberal bekannt war, und außerdem wollte er im Louvre oder in der Ecole des Beaux-Arts Kopien malen. Theo versuchte, ihn dazu zu bewegen, bis zum Sommer noch nach Nuenen zurückzugehen. Doch unter Zurücklassung von Malutensilien und Schulden machte sich Vincent Ende Februar unangekündigt auf den Weg in die französische Hauptstadt – für Künstler die Hauptstadt der Welt.
Verglichen mit der Brabanter Provinz war schon Antwerpen eine große Stadt. Paris war es noch viel mehr: hektisch, chaotisch, mondän, malerisch. Van Gogh war an die zehn Jahre nicht mehr in der Metropole gewesen. Hausmann hatte Paris durch städtebauliche Erweiterungen, durch breite Boulevards und imposante Wohnblocks ein ganz neues Aussehen gegeben. Der Hügel von Montmartre, wo Theo wohnte und wo Vincent jetzt einzog, hatte jedoch seinen kleinteiligen, ländlichen Charakter bewahrt.
In Paris traf alles zusammen, was auf dem Gebiet von Kunst, Literatur, Theater und Musik fortschrittlich war, und die Künste wurden stark von den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen etwa der Physik, der Medizin, Psychiatrie, Biologie, Astronomie und Spiritualität beeinflusst. Hier hörte van Gogh zum ersten Mal die Musik Richard Wagners, und in Montmartre sah er in Cafés und auf kleinen Bühnen experimentelles Theater. Die zeitgenössischen Romane von Guy de Maupassant, Joris-Karl Huysmans, Leo Tolstoi und anderen schärften seinen Blick auf eine Gesellschaft, die sich als Folge der Industrialisierung rasch veränderte.
In Paris ging van Gogh auf die Suche nach neuen Impulsen für seine Kunst. Er suchte zunächst eher den Anschluss an die Tradition als eine radikale Erneuerung. Die Welthauptstadt der Kunst bedeutete für ihn eine Auslese bewunderter Vorgänger, die er in Museen und Kunsthandlungen studieren konnte, wodurch er sich handwerklich perfektionieren wollte. Kurz nach seiner Ankunft meldete er sich im Atelier von Fernand Piestre an, einem als undogmatisch bekannten Salonkünstler, der den Künstlernamen Cormon trug und in einem Lokal am Boulevard de Clichy Privatstunden gab. Mehrmals pro Woche kam der Meister vorbei, um Hinweise zu geben, ansonsten gingen die Schüler ihren eigenen Weg. Van Gogh konnte hier endlich nach Modell zeichnen und malen, so viel er wollte. Die von Cormon propagierten Techniken waren jedoch, wie sich zeigte, in der akademischen Tradition verhaftet. Später konstatierte van Gogh über die drei Monate bei Cormon: «ich fand es nicht so nützlich, wie ich erwartet hätte» (569).
Vase mit Gartengladiolen und chinesischen Astern, 1886, Öl auf Leinwand, 46,5 x 38,4 cm (F248a), Van Gogh Museum, Amsterdam
Schon als van Goghs Übersiedlung nach Paris erst als Möglichkeit im Raum stand, hatten Vincent und Theo einander davor gewarnt, dass ein Zusammenwohnen Enttäuschungen mit sich bringen könnte. Dies erwies sich nun als realistische Einschätzung. Das Appartement an der Rue Laval, wo Theo unerwartet dem Bruder Platz einräumen musste, konnte im Juni gegen eine größere Wohnung in der Rue Lepic in Montmartre eingetauscht werden (Abb. 10). Vincent, der seine Lehrzeit bei Cormon beendet hatte, bekam ein eigenes Zimmer als Atelier, aber seine chaotische Arbeits- und Lebensweise hinterließ Spuren in der ganzen Wohnung. Theo hatte eine verantwortungsvolle, repräsentative Position mit sozialen Verpflichtungen inne. Dabei brachte ihn Vincent mit seiner Unordentlichkeit und seinem unpassenden Benehmen in einige Verlegenheit.
10Rue Lepic, Paris
Wegen ihres Zusammenlebens fehlen in dieser Phase Briefe, die zu anderen Zeiten eine so reiche Informationsquelle über Vincents Tun und Lassen sowie über sein Verhältnis zu Theo sind. Was wir über diese Zeit wissen, stammt überwiegend von Augenzeugen, die später ihre Erinnerungen niederschrieben, oder aus Hinweisen und Beschreibungen in Vincents späteren Briefen. Künstler, die Vincent in dieser Zeit erlebten, erklärten später, er sei schnell erregt gewesen, habe bei passender und unpassender Gelegenheit seine Meinungen zum Besten gegeben und dauernd die Auseinandersetzung gesucht. Zwischen den Brüdern muss es wiederholt hoch hergegangen sein, und Theo hat tatsächlich oft geseufzt, letzten Endes wäre es doch besser, wenn sie wieder getrennte Wohnungen hätten. Doch das brüderliche Band erwies sich jedes Mal als stärker.