Maran der Krieger - Harry Eilenstein - E-Book

Maran der Krieger E-Book

Harry Eilenstein

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Beschreibung

Maran lebt abwechselnd in der Hauptstadt Sannaran und in dem einsamen Eulenturm. Er lernt neue Formen der Magie kennen und entdeckt, wozu man sie alles nutzen kann - auch für den Kampf. Die Unruhen am Königshof bedrohen auch sein eigenes stilles Leben und zwingen ihn, über das Königtum und sein Verhältnis zu ihm nachzudenken und auch entsprechend zu handen. Er lernt die verschiedensten anderen Magier kennen - und er entdeckt, was man in der Magie alles falsch machen kann. Doch das ist noch nicht alles ...

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Inhaltsverzeichnis

- Kapitel 1 -

- Kapitel 2 -

- Kapitel 3 -

- Kapitel 4

- Kapitel 5 -

- Kapitel 6 -

- Kapitel 7 -

- Kapitel 8 -

- Kapitel 9 -

- Kapitel 10 -

- Kapitel 11 -

- Kapitel 12 -

- Kapitel 13 -

- Kapitel 14 -

- Kapitel 15 -

- Kapitel 16 -

- Kapitel 17 -

- Kapitel 18 -

- Kapitel 19 -

- Kapitel 1 -

Salmar

„Pferdeäpfel … immer diese Pferdeäpfel … Sollte ich Santi mal einen Stall neben dem Turm bauen? … Ich habe jetzt schon oben und unten an der Wendeltreppe eine Tür gebaut, aber es riecht noch immer im ganzen Turm nach Pferd …“

Maran trug auf einer Schaufel Pferdeäpfel aus dem untersten Turmzimmer nach draußen an den Hang, wo er sie hinabwarf. An dieser Stelle am Hang wuchsen inzwischen viel mehr verschiedene Pflanzen als sonst an dem Hang rings um die Eulenturm-Wiese.

Maran stapfte durch den Schnee zurück zu dem untersten Turmzimmer.

„Ja – das sollte ich wirklich mal machen … so viel Arbeit ist das ja nicht … und Santi hat ein dichtes Fell – den stört die Kälte nicht. … Aber das mache ich im Frühjahr und nicht jetzt im Winter. Also erst mal weiterhin ein Zauberer-Turmzimmer mit Pferdeapfel-Duft in der Luft … wirklich stilvoll …“

Maran ging zu Santi in das untere Turmzimmer und hob Santis linkes Hinterbein hoch. Santi schaute sich zu Maran um.

„Du kennst das doch schon, Santi – ich will Dir nur die Hufe auskratzen, damit sie gesund bleiben. Das dauert nicht lange, Du kannst ja gleich wieder auf allen Vieren stehen.“

Als Maran fertig war, strich er Santi über den Hals.

„So, mein Lieber, ich geh' wieder nach oben … Heu hast Du ja noch genug … Und mit Wanderungen – da wirst Du Dich noch ein wenig gedulden müssen … Naja – und ich selber muß mich auch noch ein wenig gedulden …“

Maran öffnete die untere Tür, stieg die Wendeltreppe hinauf und schloß auch die obere Tür wieder hinter sich, legte etwas Holz in den Kamin nach und stieg dann weiter in das obere Zimmer, das er manchmal 'mein Zaubererzimmer' nannte.

„Heute ist Mittwinter – eine gute Zeit, um mein Ritual auszuprobieren … Wie soll ich das eigentlich nennen? … Sonnenritual? … Seelenspiegel-Ritual? … Seelenritual?

Hm – muß das eigentlich einen Namen haben? Na ja – das ist schon einfacher, wenn's einen Namen hat. … Der soll klar und anschaulich sein … Sonnenblüten-Ritual? … Entfaltungs-Ritual?

Wie nennt man eigentlich solche Bilder, die darstellen, wie sich etwas aus einem Samen heraus entfaltet? … Haben die schon einen Namen? … Na, ja – 'Entfaltungsbilder' …

Wie heißt denn Same auf Aurisch? … Sal … Und 'wachsen' heißt 'Mar' – also ist da ein 'Salmar-Bild' oder kurz ein 'Salmar'. Gut – dann heißt dies Ritual jetzt 'Salmar-Ritual'. … Hm – es könnte ja noch mehr solche Rituale geben … Dann nenne ich es lieber Seelen-Salmar-Ritual.

Das Wort wird zwar niemand verstehen, aber es hat immerhin mal einen Namen.“

Maran setzte sich auf die Kante seines Alkoven-Bettes und schwieg eine ganze Weile. Schließlich stand er auf.

„Gut – es wird allmählich dunkel … ich sollte mal anfangen.“

Maran zeichnete mit einem Stück Kreide einen Kreis in die Mitte des runden Turmzimmers, der gerade groß genug war, daß er in ihm stehen konnte. Dann malte er einen Kreisring rund um diesen Kreis, der ebenfalls gerade breit genug war, daß er in ihm stehen konnte – und dann noch einen dritten Kreisring. Nun teilte er den inneren und den äußeren Kreisring in zwei Hälften und anschließend den äußeren Kreisring mit zwei weiteren Strichen in vier Viertel. Als letztes zeichnete er noch vor jedes Kreisviertel ganz außen ein Dreieck.

Maran betrachtete sein Werk und rief sich die Bedeutungen der einzelnen Flächen in Erinnerung.

„Nicht wirklich ganz ordentlich gezeichnet, aber es wird reichen. … Bei mir sind die beiden linken Kreisring-Viertel das, was ich gut finde – die beiden rechten Kreisring-Viertel sind das, was ich fürchte … die sind mein Schatten. Man könnte das meine helle und meine dunkle Seite nennen …

Tja – das Ritual, das ich mir ausgedacht habe, müßte eigentlich die Wirkung haben, die ich mir erhofft habe … Die Bilder, die ich da verwende, stammen zum größten Teil aus dem Buch des Vaters des Schmiedes Traschu aus Sannaran, das ich ihm damals vorgelesen habe. … Und ein paar Dinge habe ich mir selber ausgedacht …“

Maran stand wie wartend da. Das ging ihm oft so vor größeren Ritualen. Das war, als ob er von einem Felsen ins Wasser springen wollte – er zögerte, obwohl er wußte, daß er gleich beginnen würde.

Schließlich entschloß sich Maran, anzufangen.

Er führte das Drachenritual durch, um den Raum zu schützen und machte anschließend die Mittlere Säule, um einen guten Halt in sich selber zu haben.

„Gut – nun der erste Schritt … den habe ich die letzten Tage vorbereitet … Die Menschen in die vier Dreiecke rufen, die diese Rollen für mich innehaben … oder am heftigsten innehatten …

Der leise Mann – das bin ich.“

Maran stellte sich selber mit einer Geste, als ob er etwas mit beiden Händen nehmen, tragen und abstellen würde, in das Dreieck.

„Die leise Frau – das ist Lin. Du stehst in diesem Dreieck.“

Maran stellte Lin mit derselben Geste wie zuvor in das Dreieck.

„Der laute Mann – das ist Krad – wer auch sonst? Du stehst in diesem Dreieck.“

Maran stellte in seiner Vorstellung und mit der Geste Krad in das Dreieck des 'lauten Mannes'.

„Und die laute Frau – das ist meine Schwester Urat. Du stehst in dem vierten Dreieck.“

Maran stellte seine Schwester mit der Geste in das vierte Dreieck.

Maran stand außerhalb dieses Salmar-Bildes, wie er es genannt hatte, und betrachtete es.

Er sah innerlich Lin, Krad, Urat und sich selber in den vier Dreiecken stehen. Er spürte die Spannung in dem Salmar-Bild. Als er sich in sein eigenes Dreieck stellte, stieg die Spannung noch einmal sehr deutlich an.

„Da stehe ich nun … zusammen mit dem schrecklichen Krad, mit meiner Schwester, gegenüber der ich als Kind meinen Willen aufgegeben habe, und mit Lin, die meine Freundin ist … oder war …

Oh Mann! Ich hätte nicht gedacht, daß ich mich jemals freiwillig mit Urat und Krad in einen Kreis stellen würde – die sind die Verkörperung meines Schattens – mein weiblicher Schatten und mein männlicher Schatten … Urat und Krad sind vor allem Süchtige, aber auch Täter und Angeber … Ich und Lin sind vor allem Verzichtende, aber auch Opfer und Schüchterne …

Aber jetzt sollte ich mal anfangen … ja …“

Maran trat in das Kreisring-Viertel des 'leisen Mannes' und schaute zu dem Dreieck, das sein eigener Platz in seinem Schauspiel war. Er ergriff das imaginierte Bild von sich selber, nahm es aus dem Dreieck heraus und stellte es in das Kreisring-Viertel, in dem er stand.

„Ich nehme die Rolle, die ich selber in meinem Lebens-Schauspiel spiele, und stelle sie in meinen äußeren Kreisring. Diese Rolle ist ein Teil von mir. Sie hat ihren Ursprung in mir. Ich bin dafür verantwortlich, daß es diese Rolle in meinem Leben gibt.“

Maran wartete einen Augenblick, bis sein eigenes Bild ganz in dem Kreisring-Viertel angekommen war. Dann ging er nach rechts hin weiter in das nächste Kreisring-Viertel des 'lauten Mannes' und schaute zu dem Dreieck, in dem der imaginierte Krad stand – und er stand dort ziemlich lebendig und bedrohlich … Maran ergriff das imaginierte Bild von Krad, nahm es aus dem Dreieck heraus und stellte es in das Kreisring-Viertel, in dem er stand. Das war heftig, das Bild seines lebenslangen Feindes in den Kreis seines eigenen Gemüts zu holen!

„Ich nehme die Rolle, die Krad in meinem Lebens-Schauspiel spielt, und stelle ihn in meinen äußeren Kreisring. Diese Rolle ist ein Teil von mir. Sie hat ihren Ursprung in mir. Ich bin dafür verantwortlich, daß es diese Rolle in meinem Leben gibt.“

Maran wartete einen Augenblick, bis das Bild des Krad ganz in dem Kreisring-Viertel angekommen war – dafür mußte er nicht lange warten … und Krad grinste ihn an … Dann ging er nach rechts hin weiter in das nächste Kreisring-Viertel der 'lauten Frau' und schaute zu dem Dreieck, in dem seine imaginierte Schwester Urat stand – und auch sie stand dort ziemlich lebendig – Maran wäre am liebsten fortgelaufen … Doch er ergriff das imaginierte Bild von Urat, nahm es aus dem Dreieck heraus und stellte es in das Kreisring-Viertel, in dem er stand. Es kostete Maran noch mehr Überwindung, das Bild seiner ältesten Schwester in den Kreis seines eigenen Gemüts zu holen als vorher bei dem Bild von Krad.

„Ich nehme die Rolle, die Urat in meinem Lebens-Schauspiel spielt, und stelle sie in meinen äußeren Kreisring. Diese Rolle ist ein Teil von mir. Sie hat ihren Ursprung in mir. Ich bin dafür verantwortlich, daß es diese Rolle in meinem Leben gibt.“

Maran wartete wieder einen Augenblick, bis Urats Bild ganz in dem Kreisring-Viertel angekommen war. Dann ging er nach rechts hin weiter in das nächste Kreisring-Viertel der 'leisen Frau' und schaute zu dem Dreieck, in dem die imaginierte Lin stand – sie sah freundlich, aber nicht glücklich aus … Er ergriff das Bild von Lin, nahm sie aus dem Dreieck heraus und stellte sie in das Kreisring-Viertel, in dem er stand. Er wunderte sich, daß er Mitleid mit ihr empfand …

„Ich nehme die Rolle, die Lin und noch andere in meinem Lebens-Schauspiel spielen, und stelle sie in meinen äußeren Kreisring. Diese Rolle ist ein Teil von mir. Sie hat ihren Ursprung in mir. Ich bin dafür verantwortlich, daß es diese Rolle in meinem Leben gibt.“

Maran atmete tief durch. Es waren nur vier Gesten gewesen, aber diese vier Bilder als Teil seines eigenen Lebens-Schauspiels zu bezeichnen und sie in sich zurückzunehmen, war wirklich nicht einfach gewesen.

„Krad und Urat sind ein Teil von mir … Solange ich nur darüber nachgedacht habe, war das halt nur schlüssig – aber sie wirklich in mich hinein zu holen, ist schon heftig. … Im Grunde sage ich da, daß das, was ich immer gefürchtet habe, ein Teil von mir selber ist …

Es sagt sich immer so leicht, daß man vor seinem eigenen Schatten nicht davonlaufen kann, aber wenn man stehen bleibt und ihm die Hand reicht und sagt, daß er zu einem gehört, ist das was ganz anderes … Oh Mann! …

Aber weiter jetzt …“

Maran trat in den inneren Kreisring, ging zu der Männer-Seite und stellte sich vor die Linie, die das Kreisviertel des leisen Mannes und das Kreisviertel des lauten Mannes trennte – also zwischen sein 'eigenes Reich' und das 'Reich des Krad'. Er spürte die Spannung und den Kampf und die Angst zwischen diesen beiden Bildern und wurde dadurch immer wieder von dem, was er eigentlich tun wollte, abgelenkt.

Maran machte noch einmal die Mittlere Säule, um sich wieder in seiner Mitte zu verankern und um Halt zu finden.

Dann stellte er in seiner Vorstellung und mit einer passenden Geste einen würfelförmigen Ofen auf die Linie zwischen den beiden Kreisring-Vierteln des leisen und des lauten Mannes. Auf diesen Ofen stellte er eine imaginierte Holzkiste, die mit Sand gefüllt war, und schließlich stellte er in diesen Sand ein großes gläsernes Ei.

Er imaginierte, daß er das gläserne Ei öffnete – so als ob er der obere Teil des Glas-Eies ein Deckel wäre, den man abschrauben kann. Dann steckte er mit zwei Gesten sein eigenes Bild, das in dem linken Kreisring-Viertel vor ihm stand, und das Bild von Krad, das in dem rechten Kreisring-Viertel vor ihm stand, in das Glas-Ei und schraubte den Glas-Deckel wieder zu.

Maran wunderte sich ein wenig, wie deutlich diese Bilder vor ihm waren – aber es waren ja auch zwei der wichtigsten Bilder in ihm: die beiden Hälften seines auseinandergebrochenen und zu zwei Extremen verzerrten inneren heilen Männerbildes.

Die beiden Bilder, die in dem Glas-Ei kaum Platz hatten, belauerten sich gegenseitig.

Das war das, was in dem Buch, das der Vater des Schmiedes Traschu geschrieben hatte, die 'Erste Substanz' genannt wurde – die beiden Dinge, die verwandelt werden sollen.

Maran kniete sich hin und legte seine Handflächen auf den Fußboden.

„Erdfeuerschlange – steige in dieses Ei empor und erfülle es mit Deiner Lebenskraft, damit sich alle alten erstarrten Formen auflösen können. … Danke.“

Maran spürte, wie aus der Erde eine sanfte Hitze aufstieg und das Ei erfüllte. Das Maran-Bild und das Krad-Bild begannen miteinander zu kämpfen … der Kampf wurde immer heftiger und die beiden Bilder zerstückelten sich gegenseitig … sie zerhackten sich gegenseitig in kleine Teile …

Nach und nach bildete sich in dem gläsernen Ei eine schwarze Masse – das mußte der 'Rabenkopf' sein, der in dem Buch von Traschus Vater als die zweite Stufe der Verwandlung genannt wurde.

„Das scheint ja wirklich genau so zu verlaufen, wie es in diesem Buch beschrieben worden ist … erstaunlich! Aber andererseits auch schlüssig, denn was sollten Maran und Krad auch tun, wenn sie auf einem so engem Raum zusammengesperrt sind und zudem noch von dem Erdschlangenfeuer ausgebrütet werden …“

Als nichts Neues mehr geschah, erhob Maran seine beiden Arme seitlich in die Höhe und schaute nach oben.

„Himmelslicht – fließe in dieses Ei herab und erfülle es mit Deiner Lebenskraft, damit sich diese schwarze Masse wieder an ihre ursprüngliche heile Form erinnern kann … Danke.“

Maran spürte, wie von oben vom Himmel ein fast farbloses, weißliches Lichte herabströmte und das Ei erfüllte. Nach einer Weile sah er, daß sich in der schwarzen Masse an manchen Stellen etwas zu bewegen begann … Fäden, die sich durch die Masse zogen … kleine Wirbel … verschiedene einfache Muster, die ganz allmählich vielfältiger wurden …

Nach und nach verwandelte sich die schwarze Masse in eine Substanz, die in vielen Farben schimmerte – was mochte da nur geschehen? … Das war offensichtlich der 'Regenbogen', der in dem Buch von Traschus Vater als der dritte Schritt der Verwandlung beschrieben wurde.

Maran stand vor dem Glas-Ei und frug sich, was er nun tun sollte … Er hatte keine Vorstellung, was nun notwendig sein könnte … Daher stand er einfach nur da und schaute auf die vielen Farben und die Muster, die immer dichter wurden …

Auf einmal begann sich das Glas-Ei und auch der würfelförmige Ofen und die Kiste mit Sand, in das Glas-Ei stand, aufzulösen ohne das Maran das imaginiert hätte … Der vielfarbige Nebel in dem Ei begann sich in weißes Licht zu verwandeln – das mußte der 'Reine Schnee' aus dem Buch von Traschus Vater sein.

Als sich der weiße Nebel, der aus dem Ei geströmt war, verzogen hatte, sah Maran einen Mann vor sich stehen … Maran schaute ihn nur an und war ganz ergriffen von der Gestalt und der Ausstrahlung dieses jungen Mannes …

Maran streckte ihm seine Arme entgegen und der Mann lächelte und kam zu ihm und umarmte ihn …

Maran lächelte ebenfalls … Er hätte sich niemals vorstellen können, daß sein innerer Mann, sein männliches Seelen-Spiegelbild, derart heil und strahlend und lebendig und glücklich und selbstsicher aussehen würde …

Maran genoß es einfach, endlich seinem heilen inneren Mann begegnet zu sein.

Er stand lange Zeit einfach nur da bis ihm schließlich einfiel, daß da ja auch noch die beiden Frauen-Bilder waren.

„Mein innerer Mann ist also das, was Traschus Vater den 'fünften Schritt' genannt hat – den 'Roten Löwen' … Das war ein rätselhafter Name für mich … Aber wie soll sich auch jemand, der das noch nicht erlebt hat, vorstellen können, wie sich das anfühlt, wie ergriffen man davon ist! …

Ja, gut – nun die andere Seite dieses Salmars …“

Maran ging in dem Kreisring nach rechts hin weiter bis er vor der Linie zwischen den beiden Kreisring-Vierteln der lauten Frau und der leisen Frau stand. Links stand Urat, rechts stand Lin.

Maran imaginierte wieder den Ofen, die Kiste mit Sand auf ihm und das Glas-Ei in dem Sand. Dann steckte er das Urat-Bild und das Lin-Bild in das Glas-Ei und verschloß es wieder. Als er die Erdfeuerschlange rief, löste sich das Bild der beiden Frauen wieder in eine schwarze Masse, in den 'Rabenkopf' auf. Als er dann anschließend das Himmelslicht rief, erwachte die schwarze Masse zu dem 'Regenbogen'.

Schließlich wurde der 'Regenbogen' zu dem 'Reinen Schnee' und der Ofen, die Kiste mit dem Sand und das Glas-Ei lösten sich wieder auf und vor Maran stand eine junge Frau … und wieder schwieg er ganz ergriffen von ihrem Anblick. Schließlich reichte er ihr seine Hände. Sie lächelte und ergriff Marans Hände.

Das waren derartig lebendige Bilder, daß Maran fast vergessen hatte, daß dies ein Ritual und kein leibliches Erlebnis war.

Nach langer Zeit trat Maran in den mittleren Kreis des Salmars und stellte sich so vor eine der beiden Linien zwischen den beiden Hälften des inneren Kreisringes, daß sein heiler innerer Mann rechts von ihm und seine heile innere Frau links von ihm stand.

Er frug sich, ob er nun irgendetwas tun mußte, doch seine beiden Seelenspiegel-Bilder reichten einander die Hände, gingen aufeinander zu, umarmten sich und verschmolzen zu einer einzigen Gestalt – zu dem goldhaarigen Jüngling, als der seine Seele so oft erschien. Der Goldene lächelte und Maran lächelte zurück und seine Seele vereinte sich mit ihm und Maran hatte das Gefühl, von innen her von seinem Herz-Rad her zu leuchten.

Maran stand lange Zeit nur da und lächelte und genoß das Gefühl in ihm.

Schließlich legte er seine Hände vor sich zu einer Schale zusammen und imaginierte, daß sie sich mit dem Licht seiner Seele füllte. Dann ging er nach Osten hin bis zu dem Rand des Salmar-Bildes, das er auf den Boden gezeichnet hatte, streckte seine Arme mit den Handflächen nach vorne hin aus und ließ das Licht seiner Seele nach Osten hin strahlen. Dann kehrte er zu der Mitte des Salmars zurück und wiederholte diese Geste im Süden, Westen und Norden.

Maran lächelte.

„Danke!“

Er stand eine ganze Weile nur da und schaute innerlich auf seine Seele und ihre beiden Spiegelbilder, seinen inneren heilen Mann und seine innere heile Frau.

Schließlich wischte er das Salmar auf dem Fußboden aus, setzte sich auf einen Stuhl und schaute vor sich hin und lächelte immer noch.

„Das ist solch eine Wohltat, die Seele und ihre beiden Spiegelbilder zu erleben! Das sollte eigentlich jeder erleben können … Das ist noch einmal mehr als nur die eigene Seele zu sehen oder nur das Sonnenkind … Ich kenne jetzt die Wurzeln meines Gemütes – meinen inneren Mann, der mein Selbstbild ist, und meine innere Frau, die mein Suchbild ist.

„Frau – hilfst Du mir, eine Frau zu finden?“

Marans innere Frau lächelte.

„Das tue ich schon die ganze Zeit.“

„Hm … dann lasse ich das noch nicht so ganz zu?“

„Ja …“

„Wahrscheinlich sollte ich mir Zeit lassen?“

„Ja – schaue, was Du wirklich willst, aber renne dann nicht, sondern laß es wachsen.“

„Ich liebe Dich.“

„Ja … ich Dich auch.“

„Du bist die Quelle meiner Liebe, nicht wahr?“

„Deine Seele ist die Quelle Deiner Liebe. Dein innerer Mann und ich bringen Deine Liebe von innen nach außen.“

„Ja … das verstehe ich …“

„Bewahre, wenn Du liebst, Deine Eigenständigkeit.“

„Hm … so wie meine Seele eigenständig ist und nichts braucht, sondern nur etwas will?“

„Ja.“

„Und so, wie es sinnvoll ist, etwas erreichen zu wollen, aber niemals davon abhängig zu werden, daß man es erreicht?“

„Ja.“

„Das wird bei der Liebe nicht einfach werden …“

„Aber es wird reiche Früchte tragen.“

„Hm … dann bin ich jetzt also noch immer nicht wirklich heil?“

„Nein – aber Du weißt immer besser, wie es ist, heil zu sein. Du kennst Deine Seele, Du kennst mich, Du kennst Deinen inneren Mann – und Du kennst Dein Sonnenkind, das diese drei zusammenfaßt und als Bild in Dein Gemüt bringt.“

„Ja – das Heile zu kennen, macht noch nicht heil … aber es macht, daß man weiß, in welche Richtung man gehen muß … und daß man mit dem nicht-Heilsein niemals mehr zufrieden sein kann …“

„Ja, so ist es.“

„Das ist wie Hefe im Brotteig – wenn man mal gesehen hat, wie sich das Heile anfühlt, hat man keine Ruhe mehr, bevor man es nicht auch erreicht hat … Dann können einen selbst die Schattenbilder, die man in sich trägt, nicht mehr davon abhalten … … … Danke!“

Die Frau lächelte.

„Komm so oft Du willst. Du bist immer willkommen.“

„Danke, vielen Dank!“

*

Gegen Ende des Winters kam eines frühen Morgens ein Bote aus Sannaran, der Maran zu dem König befahl. Maran hatte sich schon gefragt, ob Wun das falsch eingeschätzt hatte, daß König Gordan Gabelbart die 'Goldenen Worte', die Maran unter dem Thron in Aurin gefunden hatte, erklärt haben wollte. Aber vielleicht wollte der König ja auch etwas ganz anderes von Maran.

Der Bote hatte ein zweites Pferd bei sich, sodaß Maran alles, was er brauchte, in seine Satteltaschen packte und sie dem Pferd aufschnallte und dann Santi zu Barite in Eulenaue brachte und ihn in Barites Stall zu ihrem Pferd stellte. Er hatte auch seine Harfe mitgenommen und sie auf die Packtaschen hinter dem Sattel geschnallt – sie hier im Eulenturm zu lassen, fühlte sich nicht richtig an.

Danach ritten der Bote und Maran am Bergfluß entlang flußabwärts. Sie ritten zügig und kamen schnell voran. Der Bote war wortkarg, was Maran ganz recht war. Er dachte über das nach, was er bisher schon alles erlebt hatte … das Seetal, die Schwitzhütten, die Rituale auf dem Bauchberg, seine Freundinnen und Freunde aus dem Seetal, seine Großmutter, Arrel, die Dämonenbeschwörung mit Arrel, Wirkan Wellenreiter und sein Schiff 'Seemöwe', den Sturm auf dem Meer, den Tempel des San-Togan, die Königin, seine Gefangenschaft im Sklavenjäger-Reich und seine Flucht von dort, das Finden seiner Seele, den Eulenturm, Lar, Santor, seine Zeit bei Easdan auf Burg Hohenberg, die Entzifferung der Schrift aus der vergessenen Stadt Aurin, das Erlebnis der Abgrenzungslosigkeit … und noch so vieles mehr …

Maran frug sich, wo es nun weiterging … wohin er weitergehen wollte …

„So richtig klar seh ich meinen Weg ja wirklich noch nicht … Aber ich will so leben, daß mein Leben von dem Licht meiner Seele erfüllt ist – doch was heißt das dann für das, was ich tun werde? … Das weiß ich noch nicht … Nun ja, als nächstes werde ich nun König Gordan Gabelbart treffen – das bestimme ich zwar nicht selber, aber vielleicht geschieht dabei ja etwas, was mir meinen Weg klarer macht. … mal sehen …“

Am späten Abend erreichten sie Sannaran und brachten die beiden Pferde in die königlichen Stallungen. Als sie die Stallungen wieder verließen, wandte sich der Bote, der die meiste Zeit geschwiegen hatte, an Maran.

„Morgen früh, kurz nach Sonnenaufgang bei Wun.“

„Ja, Danke.“

Dann ging der Bote fort und Maran ging mit der Satteltasche auf der Schulter und dem Harfenkasten unter dem Arm zum Lar-Haus. Er war froh, wieder im Warmen zu sein und legte sich schon bald schlafen – es war besser, Wun und dem König ausgeschlafen zu begegnen …

Am nächsten Morgen ging Maran in die Königsstadt zu dem großen Gebäude und wartete vor dem Zimmer des Wun, bis er hereingerufen wurde. Als er das Zimmer des Ober-Ratgebers betrat, saß auch schon König Gordan Gabelbart auf einem Stuhl an dem Tisch des Wun und Maran sah, daß ein Bogen Pergament mit den zwölf Doppelversen der 'Goldenen Worte' auf dem Tisch lag.

Maran verbeugte sich vor dem König, doch der winkte nur barsch ab.

„Laß das. Nicht hier.“

Maran setzte sich auf den dritten Stuhl an dem Tisch.

„Ich habe Deine drei Bücher gelesen, Maran. Es sieht ja wirklich so aus, als ob das Sannaran-Reich erst der zweite Ast an dem Baum wäre, dessen ältester und größter Ast das Aurin-Reich ist. Wie groß schätzt Du die Lücke zwischen diesen beiden Reichen ein?“

„Ich weiß es nicht wirklich. Die Sprache hat sich in dieser Zeit um einiges weiterentwickelt – es gibt ja deutliche Unterschiede zwischen der Aurin-Sprache und der Sannaran-Sprache. Das können unmöglich weniger als hundert Jahre sein – ich würde eher an mindestens dreihundert Jahre denken. Doch der Unterschied zwischen der Aurin-Sprache und der Sannaran-Sprache ist deutlich größer als der Unterschied zwischen der Sprache des Tangaron und unserer Sprache heute – was ja auch eine Zeitspanne von dreihundert Jahren ist. Aber vielleicht sind auch andere Völker mit einer anderen Sprache in der zeitlichen Lücke zwischen Aurin und Sannaran in die Ebene gekommen – das könnte die Aurin-Sprache dann deutlich schneller verändert haben.

Ich weiß zu wenig über das, was damals geschehen ist, um die Länge der Zeit zwischen dem Ende von Aurin und dem Anfang von Sannaran sagen zu können. Ich müßte noch mehr finden, was aus dieser Zeit stammt – vielleicht würde das dann deutlicher werden, was damals geschehen ist.“

„Und das Ende von Aurin?“

„Das ist mir noch immer ein Rätsel, für dessen Lösung ich noch keine Anhaltspunkte entdeckt habe.“

„Gut – halte die Augen offen, ob Du etwas finden kannst.

Und nun die 'Goldenen Worte'. Sie scheinen ja das Fundament des Königtums von Aurin zu sein, wenn sie auf dem Platz graviert worden sind, an dem der Thron stand. Ich will, daß Du mir sagst, was Du zu ihnen denkst. Und ich will, daß Du vollkommen offen und klar sprichst – so als wenn Du Dich mit Deinem Freund Jergun unterhalten würdest. Ist das klar?“

Maran war ein wenig verwirrt, daß der König auch etwas über seine Freundschaft zu Jergun wußte.

„Ja, das ist klar.“

„Also auch Dinge, die unfreundlich sind, klar? Sonst ist das Ganze wertlos für mich und unser Gespräch wäre nur Zeitverschwendung.“

„Ja, gut.“

Der König blickte zu Wun hinüber, der es nicht mochte, wenn man etwas sagte, was seiner Meinung nach dem Stand des Königs unangemessen war.

„Gut – der Text liegt hier vor uns. Fang an, Maran.“

Maran las den die zwölf Doppelverse noch einmal durch.

Die goldenen Worte

Die Seele im Mea-Herzen ist der Ursprung, die Mitte und das Ziel. Der König auf dem Thron von Aurin ist der Schöpfer, der Ernährer und der Heiler.

Der Leib ist das Reich der Seele – sie lenkt ihn.

Das Reich ist der Leib des Königs – er läßt es gedeihen.

Der feste Leib ist das Gefäß der Seele im Osten des Schwarzen Tores.

Die Sonnenaufgangs-Seite von Aurin ist der Garten der Lebenden.

Der Mea-Leib ist das Gefäß der Seele im Westen des Schwarzen Tores.

Die Sonnenuntergangs-Seite von Aurin ist der Garten der Toten.

Die Seele wandert ihren Weg durch ihre Leben auf dem Pfad des Mea-Flusses entlang.

Der Sonnengott wandert seinen Weg auf dem Sonnenweg am Ufer des Großen Flusses entlang.

Wo Du auch bist, o Wanderer : Ohne Deine Seele gelingt Dir nichts, mit Deiner Seele gelingt Dir alles.

Wo Du auch bist, o König : Mit Deiner Seele gedeiht das Reich, ohne sie verdirbt es.

Wandere nur, o Mensch, aus Deiner Seele heraus. Handle nur, o König, aus dem Landesgott heraus.

Rufe die vier Freunde, Mensch – sie werden Deinen Weg ebnen. Rufe die vier Drachen, König – sie werden Deinen Pfad klären.

Der Leib ist wie die Tiere in den Wäldern: Ohne Nahrung leben sie nicht. Das Reich ist wie die Pflanzen auf den Felder: Ohne die Erde wachsen sie nicht.

Achte daher, Mensch, den Gott Deiner Seele. Achte daher, König, die Göttin der Erde.

Achte daher, Mensch, die Seele im Herz-Rad in Deiner Brust. Achte daher, König, Sano in Aurin in der Mitte des Reiches.

Und achte, Mensch, darauf, daß das Leben kein Fels, sondern ein Fluß ist. Und achte König, darauf, daß Deine Herrschaft ein Tropfen und kein Meer ist.

„Gut – ich fange dann jetzt meine Deutung mit dem erste Doppelvers an:

Die Seele im Mea-Herzen ist der Ursprung, die Mitte und das Ziel. Der König auf dem Thron von Aurin ist der Schöpfer, der Ernährer und der Heiler.

Der König ist das Herz des Reiches, das heißt, er ist ein fester Bestandteil des Reiches und das Wohlergehen seines Volkes ist auch sein Wohlergehen. König und Volk sind wie ein einziger Leib und der König sorgt für das Land wie für seinen eigenen Leib.

Der König sitzt auf seinem Thron, aber blickt stets nach unten auf sein Volk – der König ist der Diener seines Volkes.“

Maran sah, daß Wun unruhig auf seinem Stuhl hin und her rutschte und daß es ihm Mühe machte, Maran nicht zu unterbrechen.

Maran schaute kurz zu König Gordan Gabelbart – er hörte nur aufmerksam zu. Da fuhr Maran mit seinen Gedanken fort.

„Bei Easdan ist es anders. Easdan schaut nur nach oben auf den Einen Gott, den er Eas nennt und dessen Willen sich alle Menschen unterwerfen müssen. Der König von Aurin schaut hingegen auf den Willen der Menschen in seinem Reich und strebt danach, sie in dem Erreichen ihres Willens zu unterstützen. In Aurin ist der König der Diener des Volkes – bei Easdan ist der König der Diener des Eas – und hier in Sannaran … nun, das könnt Ihr selber am besten sagen, König Gordan Gabelbart.“

„Aber was sagst Du dazu? Wie sollte es sein?“

Maran wurde es ziemlich ungemütlich bei dieser Frage und auch auch Wun sah angespannt aus. Maran zögerte einen Augenblick mit seiner Antwort, doch dann beschloß er, aufrichtig zu sein.

„Der König sorgt für das Wohlergehen des Ganzen. Der Einzelne sorgt für sein eigenes Wohlergehen. Wahrscheinlich unterstützt sich beides manchmal, aber manchmal wird es auch im Widerspruch stehen. Vermutlich wäre es förderlich, wenn der König das sieht … und … ehm … da ein wenig Fingerspitzengefühl hat …“

Doch der König nickte nur.

„Ja – das ist beinahe ein Seiltanz für jeden König, wenn er sein Reich gedeihen lassen will.

Siehst Du noch mehr in diesem ersten Doppelvers?“

„Hm … ja … Das Reich ist wie ein Lebewesen und der König ist ein Teil davon – das Herz.

Das ist wohl wichtig – der König freut sich, wenn das Volk glücklich ist … und der König leidet, wenn das Volk leidet.“

Der König nickte wieder. Maran erzählte weiter.

„Der König wird 'Schöpfer', 'Ernährer' und 'Heiler' genannt. Als Ernährer sollte er dafür sorgen, daß alle genügend zu essen haben und daß sie auch ein Dach über dem Kopf haben. Als Heiler sollte er sich um die Leid-verursachenden Dinge kümmern, die die Einzelnen nicht selber beseitigen können. Als Schöpfer ist er vermutlich der, der das ganze Reich gestaltet … aber bei der Übersetzung des Wortes aus diesem Text als 'Schöpfer' bin ich mir nicht so ganz sicher. Es könnte auch 'Gestalter', 'Schützer', 'Erhalter' oder ähnliches bedeuten – vielleicht hat das aurische Wort auch mehrere dieser Bedeutungen gleichzeitig. Aus dem Zusammenhang in diesen 'Goldenen Worten' ergibt sich zumindestens sicher, daß das Wort nicht so etwas wie 'Machthaber' oder ähnliches bedeutet.“

„Und wie glaubst Du, hat der Aurin-König den Gegensatz des Sorgens für das Ganze durch den König und dem Willen der Einzelnen gelöst?“

„Das wüßte ich selber gerne … Mir scheint, daß der König sehr zurückhaltend in der Einschränkung der Einzelnen gewesen ist und stattdessen nur das Ganze gefördert hat. … Gut, das ist jetzt nicht sehr genau gesagt … wie das im Einzelnen ausgesehen haben mag, weiß ich nicht so recht … Vielleicht stand die Richtigkeit im Vordergrund, auf die sich alle einigen konnten …

Auf jeden Fall wurde die Erkenntnis der eigenen Seele als wichtig angesehen – das Symbol des Sechssterns mit der Sonne in der Mitte auf der Brust des Thron-Drachens und auch einige Verse dieser 'Goldenen Worte' zeigen das.

Hm – ich würde dann das zweite Vers-Paar nehmen?“

Der König nickte.

Der Leib ist das Reich der Seele – sie lenkt ihn. Das Reich ist der Leib des Königs – er läßt es gedeihen.

„Hier wird eigentlich noch einmal dasselbe gesagt wie zuvor. Das Reich ist solch ein Lebewesen wie ein einzelner Mensch. Der König ist im Reich dasselbe wie eine Seele in einem Leib – oder er sollte es zumindestens sein. Da der Leib von der Seele bei der Zeugung erschaffen und gestaltet wird, kann die Seele den Leib lenken und ebenso der König das Reich. Doch so wie die Seele ihren Leib am Leben erhält, muß auch der König für das Reich sorgen. Der Leib ist kein Diener der Seele, sondern ihr Geschöpf, also eher wie ein Kind der Seele. Daher sollte der König so etwas wie ein guter Vater der Menschen in seinem Reich sein.“

Als weder der König noch Wun etwas sagten, ging Maran zu dem dritten Vers-Paar weiter.

Der feste Leib ist das Gefäß der Seele im Osten des Schwarzen Tores. Die Sonnenaufgangs-Seite von Aurin ist der Garten der Lebenden.

„In diesem Doppelvers und in dem nächsten Doppelvers werden eigentlich nur das Diesseits und das Jenseits beschrieben: Osten und Westen, Sonnenaufgang und Sonnenuntergang, Seele und Leib …

Aus der Wichtigkeit dieses Bildes, das in zwei Doppelversen beschrieben wird und auch den Aufbau aller Aurin-Städte prägt, ergibt sich unter anderem, daß der Sonnengott – der bei ihnen 'Sano' genannt wurde – sehr wichtig gewesen sein muß. Das zeigt ja auch die Sano-Hymne.

Dann bestehen die 'Goldenen Worte' aus zwölf Doppelversen und die Sano-Hymne aus zwei mal zwölf Doppelversen. Sie haben daher damals in Aurin vermutlich auch schon den Tierkreis gekannt, in dessen Mitte das Ich eines Menschen und auch seine Seele stehen. Das läßt vermuten, daß die Sonne auch mit der Seele verbunden worden ist. Das Sonnensymbol ist ja auch die Mitte des Sechsstern-Seelenreise-Symbols. Und sehr viele Menschen sehen ihre eigene Seele als eine Sonne, eine goldene Kugel, ein goldenes Licht oder ähnliches.

Man kann also vermuten, daß der Aurin-König auch dafür zuständig gewesen ist, daß jeder die Möglichkeit hatte, seine Seele kennenzulernen. Vielleicht wurde der König sogar als der 'Herr der Brücke' oder als der 'Herr des Schwarzen Tores' angesehen, die ja die Diesseitshälfte der Stadt und ihre Jenseitsseite miteinander verbunden haben. Ich habe diese beiden Titel allerdings bisher nirgendwo gefunden – aber diese Aufgabe, das Jenseits und das Diesseits zusammenzuhalten, könnte der Aurin-König schon gehabt haben.

Wenn das stimmen sollte, müßte der Aurin-König auch so etwas wie eine Nabelschnur der Menschen in dem Aurin-Reich zu den Göttern gewesen sein, also so etwas wie ein Oberpriester … Die Sonnensäule über der Grabkammer des Königs Galedon des Starken in der Mitte von Sannaran hat ja auch eine solche Sonnengott-Nabelschnur-Symbolik.

Der Aurin-König ist also im Wesentlichen eigentlich ein Priester oder ein Schamane …“

König Gordan Gabelbart sah recht nachdenklich aus.

„Der König ist im Wesentlichen ein Priester-Schamane … hm …

Gut – dann deute jetzt den nächsten Doppelvers.“

Der Mea-Leib ist das Gefäß der Seele im Westen des Schwarzen Tores.

Die Sonnenuntergangs-Seite von Aurin ist der Garten der Toten.

„Dieser vierte Doppelvers gehört noch zu dem vorigen. Es läßt sich zusätzlich zu dem vorigen Doppelvers dazu noch sagen, daß beide Seiten von Aurin, also die Lebenden-Stadt und die Toten-Stadt als 'Garten' bezeichnet werden. Ein Garten ist ein beschützter Ort des Gedeihens, der Nahrung und des Wohlstandes, der gepflegt wird und um den man sich täglich kümmert.

Der Aurin-König könnte daher als der 'Große Gärtner' angesehen worden sein.“

„Der 'Große Gärtner' … ja, das ist schon passend … aber ein Gärtner hat auch eine kriegerische Seite – er kämpft auch gegen Wühlmäuse und Unkraut … Aber der Aurin-König scheint nicht kriegerisch gewesen zu sein – oder hast Du da irgendeinen Hinweis auf Waffen und Kämpfe gefunden?“

„Nein, nichts … nur ein paar Speerspitzen und Pfeilspitzen. Doch ob das Jagdwaffen oder Kampfwaffen waren, läßt sich natürlich nicht sagen. Aber da in den Texten und Bildern nirgendwo Waffen, Kämpfe oder Gefangene dargestellt werden, kann man wohl davon ausgehen, daß es damals keine Kriege gegeben hat.“

König Gordan schwieg eine Weile und blickte auf das Pergament mit den 'Goldenen Worten' auf dem Tisch des Wun. Dann wandte er sich wieder an Maran.

„Was glaubst Du, warum es damals keine Kriege gegeben hat?“

„Ich habe schon darüber nach gedacht … Der einzige Grund, der mir eingefallen ist, ist, daß es damals nur dieses eine Königreich gegeben hat und daß es deshalb niemanden gegeben hat, der Aurin hätte angreifen können. Vielleicht hat es irgendwo anders jenseits der Berge noch ein Königreich gegeben, aber zumindestens nicht in der Nähe von Aurin.“

„Ja – das klingt schlüssig, was Du sagst … Aurin war ein Einzelkind.“

„Ehm … ja, so könnte man das sagen …“

Nachdem der König nichts mehr dazu sagte, ging Maran zu dem fünften Doppelvers weiter.

Die Seele wandert ihren Weg durch ihre Leben auf dem Pfad des Mea-Flusses entlang.

Der Sonnengott wandert seinen Weg auf dem Sonnenweg am Ufer des Großen Flusses entlang.

„Hier wird gesagt, daß eine Seele mehrmals lebt – daß heißt vermutlich, daß sie nacheinander in mehreren verschiedenen Leibern ist.

Dann wird hier das Leben der Seele in einem Leib oder eigentlich in mehreren Leibern nacheinander als 'Fluß der Mea' umschrieben. Das läßt vermuten, daß die Leben der Seele in einem Leib als Teil von etwas Größerem angesehen worden sind – eben dieses 'Mea-Flusses'.

Der zweite Vers bezieht sich auf den 'Alten Weg' am Sannaran, an dem diese sechseckigen Steine mit dem Sonnensymbol auf ihrer oberen Fläche stehen. Er reicht von dem Tempel des San-Agis auf Estragos bis nach Sannaran und vermutlich noch weiter nach Westen. Da der Mea-Fluß und der Sonnenweg hier verglichen werden, also ein Gleichnis zueinander bilden, muß der Sonnenweg der Mea-Fluß der Sonne sein. Auch hier sind wieder Sonne und Seele eng miteinander verknüpft.“

„Dieses 'mehrmals leben' – was hältst Du davon?“

„Ich weiß es nicht wirklich … Aber woher kommen die Seelen? Und wohin gehen sie? Entstehen sie dauernd neu? Und drängeln sie sich nach dem Tod im Jenseits, in dem die Seelen aller Menschen, die jemals gelebt haben, versammelt sein müssen? Oder kommen die Seelen aus dem Jenseits wieder in einen neuen Leib zurück, weil es ihnen im Jenseits zu langweilig wird?“

Wun fing an zu lachen und unterdrückte es schnell wieder. Doch auch der König grinste.

„Ein guter Grund für diese … diese Seelenwanderung … Tausende von Jahren nach einem Leben von nicht mehr als hundert Jahren im Jenseits herumsitzen und nichts tun … das klingt nicht sehr erfreulich … Da kann man verstehen, daß manche Tote es vorziehen, zu einem Geist zu werden.“

„Mein Erfahrung ist es bisher, daß die meisten Geister, die in Häusern spuken, froh sind, wenn sie ins Jenseits gehen können …“

„Das ist eine Angelegenheit, die wir vielleicht ein anderes Mal genauer besprechen werden. Was sagen die anderen Verse?“

Wo Du auch bist, o Wanderer : Ohne Deine Seele gelingt Dir nichts, mit Deiner Seele gelingt Dir alles.

Wo Du auch bist, o König : Mit Deiner Seele gedeiht das Reich, ohne sie verdirbt es.

„Der sechste Doppelvers ist so klar, daß man eigentlich nichts weiteres dazu sagen kann … “

„Versuch's trotzdem mal.“

„Ja, gut … Wenn die Seele den Leib erschafft, kann der Leib nur dann wirklich erfolgreich und mühelos wirksam sein, wenn das Licht der Seele ungehindert durch das Gemüt in jede Haltung, Handlung und Form des Leibes strahlen kann. Dieses ungehinderte Strahlen ist das, was die … nun, wie soll ich das nennen? … ja, diese natürliche Magie entstehen läßt, diesen mühelosen Erfolg der eigenen Taten.“

„Das ist ein sehr wichtiger Punkt – Selbsttreue führt zu Erfolg. … Und was sagst Du zu dem zweiten dieser beiden Verse?“

„Dasselbe wie für einen einfachen Bauern oder Schmied oder eine Mutter oder Wäscherin gilt auch für den König: Auch der König wird nur Erfolg haben, wenn er sich selber treu ist und wenn in ihm keine alten Gefühle, Gedanken und Bilder das Strahlen seiner Seele hemmen.“

Maran schaute zu Wun hinüber, dem diese Worte viel zu offen zu sein schienen – fast so, als ob Maran irgendetwas an dem Wesen des Königs in Zweifel ziehen würde.

„Diese Selbsttreue oder Seelen-Treue scheint mir aber im Fall eines Königs noch etwas schwieriger zu sein als im Fall eines einfachen Bauern. Der König muß ja die Seele des ganzen Reiches sein … gibt es solch eine 'Seele des Reiches'? Und wenn es sie gibt, wer oder was ist das? Und wenn man das als König weiß – wie wird man dann zu dieser Seele des Reiches?

Ich habe den Eindruck, daß ich darüber zu wenig weiß, um etwas gut Begründetes sagen zu können … Ist das vielleicht der Sonnenvogel, der bei dem Tod den König verläßt und bei der Krönung in ihm Platz nimmt? … Ich kann es nicht sagen.“

Der König nickte, aber sagte nichts.

„Ehm … dann jetzt der siebte Doppelvers?“

Als sowohl der König als auch Wun schwiegen, fuhr Maran mit seinen Betrachtungen der

'Goldenen Worte' fort.

Wandere nur, o Mensch, aus Deiner Seele heraus.

Handle nur, o König, aus dem Landesgott heraus.

„Hier wird die Seele des Einzelnen mit dem Landesgott, der zu dem König gehört, in ein Gleichnis gesetzt. Es scheint also, als ob der Landesgott diese 'Seele des Reiches' wäre, die ich eben vermutet habe. Ist das Sano, also unser Sonnengott San? In der Mitte von Aurin steht die Sonnensäule – das sieht so aus, als wenn König Galedon der Starke und Tangaron der Große den Sonnengott San als das Herz des Reiches angesehen hätten … was ja wahrscheinlich so gut wie dasselbe ist, als wenn man San als den Landesgott ansehen würde …

So wie die Seele das innere Licht des Einzelnen ist, ist der Landesgott das innere Licht des Königs.

Die Seele nimmt mithilfe des Leibes Gestalt an und will sich durch ihn in jedem Augenblick ausdrücken … Heißt das, daß sich der Landesgott in jedem Augenblick durch den König ausdrücken will? … Es klingt so, aber das könnt eigentlich nur Ihr, mein König, erfassen und beurteilen …“

König Gordan Gabelbart sah recht nachdenklich aus, aber sagte nichts.

„Ehm, dann jetzt das achte Vers-Paar?“

Keiner der beiden Männer sagte etwas.

Rufe die vier Freunde, Mensch – sie werden Deinen Weg ebnen. Rufe die vier Drachen, König – sie werden Deinen Pfad klären.

„Ja, gut … dann weiter … Die vier Freunde eines Menschen können am ehesten seine vier Verbündeten sein.“

„Wer soll das sein?“

„Wenn man zu seiner eigenen Seele reist, kann man ihnen begegnen. Das ist ein Tier, das sich so bewegt, wie man sich selber bewegt; eine Pflanze, die dieselbe Haltung hat wie man selber; ein Stein, der dieselben Formen hat wie man selber; und vermutlich noch ein Pilz, der dieselbe Art von Gemeinschaft hat, wie man selber. Ich habe jetzt immer 'wie man selber' gesagt, aber eigentlich drücken diese vier Verbündeten aus, für welche Bewegungsweise, Haltung, Form und Gemeinschaft sich die eigene Seele entschieden hat.“

„Und diese Verbündeten kann man auf dieser Reise zu der eigenen Seele finden?“

„Ja – nicht alle finden alle, aber die meisten treffen sie schon.“

„Das ist wirklich hörenswert.“

„Der König soll – auch wenn er als Mensch auch diese vier Verbündeten hat – in seiner Stellung als König hingegen die vier Drachen rufen. Daß das nicht nur in Aurin so gewesen ist, sondern auch in Sannaran noch so ist, habe ich bei Eurer Krönung beobachtet – eurer Ritt durch die vier Hauptstraßen in die vier Richtungen.“

„Daß der König ein Priester-Schamane sein sollte, bekommt immer mehr Sinn und Tiefe und Gehalt. Diese 'Goldenen Worte' scheinen ja wirklich weise zu sein.

Gut – weiter. Der neunte Doppelvers.“

Der Leib ist wie die Tiere in den Wäldern: Ohne Nahrung leben sie nicht.

Das Reich ist wie die Pflanzen auf den Felder: Ohne die Erde wachsen sie nicht.

„Mit scheint, daß das ein Hinweis darauf ist, daß nicht nur der Sonnengott, sondern auch die Erdgöttin für das Gedeihen des Reiches wichtig ist.

… … …

Ich wüßte nicht, was ich sonst noch zu diesem Doppelvers sagen könnte … … …

Gut, dann der zehnte Doppelvers.“

Achte daher, Mensch, den Gott Deiner Seele. Achte daher, König, die Göttin der Erde.

„Hier wird das nochmal gesagt – die Erdgöttin ist wichtig für das Gedeihen des Reiches.

Den Ausdruck 'Gott Deiner Seele' in dem ersten Vers finde ich bemerkenswert. Das klingt so, als ob die Seelen so etwas wie die Kinder verschiedener Gottheiten wären. Wenn das so sein sollte, wäre jeder Mensch mit einer bestimmten Gottheit besonders eng verbunden. Auf den Reisen zur eigenen Mitte, die ich schon mit vielen Menschen gemacht habe, ist auch des öfteren eine Gottheit aufgetreten, die der Seele des Betreffenden recht ähnlich war.

Da könnte man sich natürlich fragen, ob es vielleicht so ist, daß der Ursprung der Seelen eine Gottheit ist und ob die Seelen nach dem Tod des Menschen wieder in diese Gottheit zurückkehren … Aber wie soll man das herausfinden können, ob das wirklich so ist? Über das, was nach dem Tod und vor der Zeugung ist, wissen wir ziemlich wenig … Doch das gehört jetzt wohl nicht mehr zu der Betrachtung des Aurin-Königtums.“

Maran wartete einen Augenblick, ob der König etwas sagen wollte, doch er schwieg.

„Gut – dann der elfte Doppelvers.“

Achte daher, Mensch, die Seele im Herz-Rad in Deiner Brust.

Achte daher, König, Sano in Aurin in der Mitte des Reiches.

„Ich weiß nicht, ob dieser Doppelvers einen tieferen Sinn hat … ich meine, ob er noch etwas Neues enthält, das über den Inhalt der vorigen Verse hinausgeht. Sie wußten auch schon in Aurin, daß das Herz-Rad der Tempel der Seele ist … Und die Hauptstadt eines Reiches – hier also Aurin – als das Herz-Rad des Reiches und den Sonnengott als die Seele in diesem Herz-Rad aufzufassen, ist ja eigentlich sehr naheliegend …

Das ist jetzt nichts Neues, aber es beschreibt noch einmal sehr klar die Rolle der Seele für den Menschen und die Rolle des Sonnengottes für das Reich.“

Der König hörte aufmerksam zu, aber stellte keine Frage.

Und achte, Mensch, darauf, daß das Leben kein Fels, sondern ein Fluß ist. Und achte König, darauf, daß Deine Herrschaft ein Tropfen und kein Meer ist.

„Nun der letzte Doppelvers. Das Leben ist ein Fluß und kein Fels … das bedeutet wohl, daß man stets bereit für Veränderungen sein sollte. Vielleicht bedeutet es auch, daß man sich dem Fluß der Mea anvertrauen soll, der im fünften Doppelvers genannt worden ist.

Und der letzte Vers? Heißt das, daß die Herrschaft des Königs auf eine bestimmte Zeit begrenzt ist? Oder auf einen bestimmten Bereich? Er scheint den König auf jeden Fall zur Bescheidenheit anzuregen … oder zumindestens zu einer möglichst wirklichkeitsnahen Selbsteinschätzung …

Möglicherweise kann man daraus auch schließen, daß der König sich als Tropfen im Meer des Sonnengottes ansehen sollte … und daß er sich nicht selber für einen Gott hält. Für dieses bescheidene Selbstbild sprechen auch die Gräber der Könige in Aurin, die sich kaum von den Gräbern der anderen Menschen unterscheiden.“

Maran schwieg einen Augenblick.

„Hm … möchtet Ihr noch etwas dazu fragen? Ich habe, glaube ich, jetzt alles gesagt, was ich dazu sagen kann – oder zumindestens das, was mir bisher dazu eingefallen ist.“

„Du hast gesagt, daß das Aurin-Reich kein Heer gebraucht hat, weil es keine Feinde hatte. Glaubst Du, daß Aurin durch Feinde zerstört worden ist?“

„Ich kann keine Hinweise darauf sehen, mein König. Es ist keine Zerstörung durch Waffengewalt oder durch Feuer erkennbar und es liegen auch keine Skelette in der Stadt.

Es wäre vielleicht denkbar, daß Aurin von einem Angriff so überrascht worden ist, daß sich die Menschen gar nicht wehren konnten – aber warum ist Aurin dann verlassen worden? Warum sind die Eroberer – wenn es denn welche gegeben hat – nicht in Aurin geblieben?

Über das Ende von Aurin und über die Zeit zwischen dem Aurin-Reich und dem Sannaran-Reich weiß ich kaum etwas – nur, daß unsere Sprache von der Aurin-Sprache abstammt, unsere Religion von der Aurin-Religion abstammt, und daß wohl auch unsere Kultur zu großen Teilen von der Aurin-Kultur abstammt.“

Der König wandte sich an Wun.

„Hast Du noch Fragen zu dem, was Maran gesagt hat?“

„Nein, keine Fragen.“

„Gut. Maran – wirst Du noch einmal nach Aurin gehen?“

„Bisher habe ich das nicht vorgehabt.“

„Gut – wenn Du noch einmal nach Aurin oder in eine der anderen vergessenen Städte gehen solltest und dort etwas Neues findest, dann laß es mich sofort wissen. Sag Wun Bescheid – er wird mich dann benachrichtigen.“

Der König nickte Maran und Wun zu und verließ das Zimmer durch die Seitentür.

Wun schaute ihm nach und wandte sich dann an Maran.

„Was glaubst Du, wann diese 'Goldenen Worte' geschrieben worden sind?“

„Hm … wahrscheinlich nicht erst im letzten Jahr, in dem das Aurin-Reich bestand … Und auch nicht bevor es den Thron gab – aber der könnte ja auch schon zugleich mit dem Palast erbaut worden sein. … Die Schrift – die ist sehr sorgfältig und sie ist auch mehr Bilder als Buchstaben.“

„Wie meinst Du das?“

„Diese Aurin-Silbenzeichen stellen ja alle etwas Bestimmtes dar – ein Haus, eine Kuh, ein Beil, einen Apfel und ähnliches … Doch als Buchstaben sind diese Zeichen ein wenig vereinfacht worden – man erkennt, was es ist, aber es wurden so wenige Striche wie möglich verwendet, damit das Schreiben schneller geht. Bei diesem Text sehen die Buchstaben jedoch aus wie Bilder mit vielen Einzelheiten: Federn an der Eule, Blätter an dem Baum, Fenster an dem Haus und solche Dinge … Das ist sonst nicht üblich gewesen – auch nicht bei wichtigen Tempelinschriften … Daher vermute ich, daß diese Inschrift noch aus der Frühzeit von Aurin stammt, als die Schrift erst vor Kurzem erfunden worden ist.

Ob die Sprache altertümlich ist, weiß ich nicht – man kann ja die Aussprache der Worte nicht erkennen …

Aber wenn ich eine Vermutung anstellen soll, dann würde ich sagen, daß man die 300 Jahre des Sannaran-Reiches, die vermutlich mindestens 300 Jahre zwischen dem Aurin-Reich und dem Sannaran-Reich sowie die mindestens 1000 Jahre des Aurin-Reiches zusammenzählen muß – also mindestens 1600 Jahre … und auch eher mehr als weniger Jahre …“

„1600 Jahre … das ist wirklich viel … Das ist mehr als fünfmal so alt wie die Texte des Tangaron und achtmal so alt wie die Schriften des Sravan Taralonias …“

Maran und Wun schwiegen eine Weile und hingen ihren eigenen Gedanken nach.

Dann blickte Wun Maran an und nickte.

„Das reicht für heute. Bleibst Du erst mal in Sannaran?“

„Für eine Weile, ja. … Möge San-Rado mit Euch sein!“

„Und auch auf Deinem Weg!“

*

Maran saß im Bücherzimmer im Lar-Haus und dachte über das Drachen-Ritual nach.

„Das Ritual ist sehr wirksam, aber man braucht auch ziemlich lange, um alle sieben Drachen anzurufen – und wenn man dann noch das Insel-Bild erschaffen will … Geht das nicht irgendwie auch kürzer und schneller? Das könnte ich manchmal ganz gut brauchen …

Hm – wenn ich das Bild in mir durch das ausführliche Ritual erschaffen habe, müßte ich das Bild doch auch wachrufen können, wenn ich einfach nur die Namen der sieben Drachen in den sieben Richtungen spreche, oder? … Na ja – vielleicht sollte ich noch die Schutzkugel mit den sechs Kreisen auf ihr hinzunehmen … ja, das wäre sinnvoll …

Gut – ausprobieren!“

Maran ging in die Mitte des Zimmers und imaginierte eine Mea-Hohlkugel, in der er stand. Diese Kugel war ein Stückchen weit in die Erde versenkt und bildete dadurch einen Kreis, in dessen Mitte Maran stand. Ein gleichgroßer Kreis war auch über ihm, vor und hinter ihm und ebenso links und rechts von ihm. In all diese Kreise imaginierte er ein Kreuz. Alle diese Kreise berührten vier andere Kreise – die Enden der Kreuze berührten jeweils das Ende des Kreuzes eines anderen Kreises.

Maran genoß dieses Bild – anfangs war es ihm schwergefallen diese sechs Kreise auf der Kugel zu imaginieren, aber inzwischen fiel es ihm leicht und er freute sich jedesmal über diese Symmetrie.

Dann rief er den Himmelsdrachen Sonarvan oben, den Erdmutterdrachen Mannalani unten, den Luftdrachen Ssamalan im Osten, den Feuerdrachen Sharfan im Süden, den Wasserdrachen Wannawenas im Westen, den Erddrachen Gudrubel im Norden und den Lichtdrachen Gorvan in der Mitte.

Maran spürte in das Bild hinein. Es war kein genauso starker Schutz wie der, der durch das ausführliche Ritual entstand, aber es war ein Schutz, den man rufen konnte, wenn es schnell gehen mußte.

„Vielleicht muß ich das auch einfach mal öfters machen – vielleicht wird dann auch dieses Kurz-Ritual wirksamer … mal sehen … Auf jeden Fall hat auch dieses stark vereinfachte Drachenritual eine Wirkung – und das ist ja das, was ich gesucht habe.

Man kann also auch bei den Ritualen Neues ausprobieren und Altes verändern – obwohl einiges von dem Alten ja durchaus gut ist.“

Maran stand noch eine Weile in der Mitte des Zimmers und spürte die Mea-Schutzkugel und lächelte vor sich hin – das war immer wieder ein sehr angenehmes Gefühl, in der Mitte der sechs Drachen zu stehen und in ihrer Mitte und dadurch auch in sich selber den Lichtdrachen Gorvan zu spüren …

Schließlich beschloß Maran Jergun besuchen zu gehen – Jergun hatte ihm gesagt, wo er in der südlichen Außenstadt wohnte. Als er zur Türe ging, klopfte es – und Jergun stand vor der Tür.

„Jergun! Ich wollte gerade zu Dir gehen und schauen, ob Du da bist.“

„Da war ich ein paar Schritte schneller …“

„Komm rein, Jergun.“

„Wolltest Du etwas Bestimmtes von mir?“

„Nein – ich wollte Dich einfach wiedersehen.“

„Ich hatte das Gefühl, daß Du etwas Neues entdeckt hast, Maran … das fühlt sich seltsamerweise wie eine Zeichnung auf dem Fußboden an … Sagt Dir das irgendwas? Mir nicht …“

„Da weiß ich ganz genau, was Du meinst.“

„Was denn?“

„Das Salmar-Ritual.“

„Was ist denn das?“

„Das habe ich mir ausgedacht. Das Wort 'Salmar' ist aurisch und bedeutet 'Same-wachsen' – ich habe das Ritual so genannt. Für das Ritual zeichnet man ein Salmar auf den Fußboden. Ein Salmar ist ein Bild mit einer Mitte, um das herum sich die verschiedene Schichten und Teile lagern, die aus dieser Mitte heraus wachsen und die alle eine bestimmte Bedeutung haben.“

„Eine innere Landkarte mit Mitte?“

„Ja – so könnte man das nennen.“

„Erzähl mal genauer.“

Maran begann ihm das Ritual zu beschreiben und zeichnete das Bild auf einen Bogen Pergament. Jergun hörte gespannt zu. Als Maran fertig war, schaute Jergun wie gebannt auf das Salmar, das Maran gezeichnet hatte.

„Das will ich auch mal machen! Das fühlt sich gut an!“

„Ja, gerne – jetzt gleich?“

„Jetzt sofort? … Ja – warum nicht? … Da habe ich ja wirklich ein Gefühl gehabt, das genau gestimmt hat – das Gefühl, daß Du etwas mit einer Zeichnung auf dem Fußboden hast, das wichtig für mich ist … Ich kenne solche Fernesehen-Sachen ja schon, aber trotzdem – ich staune immer wieder … Vielleicht gewöhnt man sich auch niemals so ganz daran …“

„Hm … für mich hat das schon angefangen, normal zu sein … Gut – das Ritual … da müssen wir zuerst mal suchen, was Deine vier Rollen sind und wer sie für Dich spielt.“

„Wie können wir das denn herausfinden?“

„Auf mehrere Weisen: Was ist Dein Stil? Wer ist wichtig in Deinem Leben? Wer macht Dir den größten Druck?

Zuerst Du selber: Was ist Dein Stil? Beschreib den mal.“ „Meinen Stil? Also meine Lebensweise?“

„Ja.“

„Ich bin recht klug … ich lebe gerne frisch drauflos … … … Helf mir mal mit Fragen, Maran – ich bin mir noch nicht so ganz klar darüber, wonach ich eigentlich schauen soll.“

„Gut – was berührt Dich am meisten: Mangel, Angst oder Selbstzweifel?“ …

„Wenn ich genauer hinschaue, eigentlich alle drei … aber am meisten? Ich kann es nicht so recht sagen …“

„Soll ich Dir helfen?“

„Ja, gerne.“

„Du willst ein Heiler werden, nicht wahr?“

„Ja.“

„Und ein Heiler gibt anderen das, was sie brauchen. Die Heiler gehören also oft zu den Verzichtenden, die den Mangel der anderen beheben.“

„Wenn Du das so beschreibst … ja …“

„Hast Du nicht mal gesagt, daß Du Dich gefragt hast, was die Menschen allgemein am meisten brauchen?“

„Ja – und das sind die Heiler.“

„Du orientierst Dich also sehr gründlich am Mangel und löst ihn durch Geben und möglicherweise auch durch Verzicht. Du gehörst also zu der leisen Seite – also zu denen, die dem Mangel durch Verzicht begegnen, die der Angst durch Flucht ausweichen, und die bei Selbstzweifeln zu Scham neigen.“

„Das ist ziemlich hart beschrieben – aber ja … das stimmt wohl.“

„Dann hätten wir also ein Mangel-Schauspiel, in dem Du selber den verzichtenden Mann spielst – vielleicht mit einigen Beimischungen des sich anpassenden Opfers und des sich Schämenden, der sich zu verstecken versucht.“

„Es ist wirklich hart und scharf, wenn Du das so beschreibst … aber es stimmt … Ja, das kenne ich von mir … auch wenn ich auf die meisten Menschen sehr eigenständig wirke.“

„Gut – dann die zweite Frage: Wer macht Dir in Deinem Leben den größten Druck?“

„Den größten Druck? … Da fällt mir nicht so recht jemand ein …“

„Ich frag mal anders: Gibt es jemanden, der Dir oft etwas wegnimmt? Oder für den Du oft etwas tun mußt? Oder der immer recht hat? Das Rechthaben ist auch ein Aspekt des Täters, also Deines Gegenpols. Oder gibt es jemanden, der mitleidig auf Dich herabschaut, weil Du aus seiner Sicht auf dem vollkommen falschen Weg bist?“

„Oje … ja, so jemanden gibt es … meinen Vater … Der ist Lehrer und der hält die ganze Magie für Unfug und daher auch meine Art des Heilens und die Mea-Heilmittel … Der meint es gut mit mir, aber der sieht nicht einmal, daß er nicht der einzige auf der Welt ist, der recht haben könnte. Der hat nicht den leisesten Hauch eines Zweifels, daß die Welt so ist, wie er sie sieht – da ist kein Platz für mich in seinem Weltbild … Er ist ein Lehrer …“

„Ja das klingt nach dem lauten Mann in Deinem Schauspiel. … Gibt es Freunde, Gleichgesinnte?“

„Ja – Santor und Du und einige andere aus Santors Heiler-Kreis …“

„Also auch alles Helfer wie Du … und daher zumindestens teilweise auch Verzichtende. Die stehen alle in demselben Feld in der Salmar-Zeichnung wie Du – die spielen alle dieselbe Rolle wie Du.

Kennst Du auch eine oder mehrere Frauen, die Helfer sind und die möglicherweise Freundinnen von Dir sind? Ich meine hier 'Freundschaft' im Sinne von Gleichgesinnte, von Kumpels, von Verbündeten … unabhängig von gelegentlichen Bettgeschichten.“

„Ja, doch, die kenne ich …“

„Wer ist das zur Zeit? Oder wer war das bisher am deutlichsten?“

„Eine frühere Freundin – sie heißt Peta. Aber ich habe nicht mehr viel mit ihr zu tun. Auch in Santors Heiler-Kreis sind ein paar Frauen, zu denen ich so ein Verhältnis wie zu Peta habe.“

„Ja, das wechselt manchmal, wer eine von diesen Rollen einnimmt. Ist Peta auch eine Heilerin, tendenziell eine Verzichtende, ein Opfer, eine Frau, die sich manchmal für sich selber schämt?“

„Ja … ja, das kann man so sagen … Erstaunlich, daß diese Rollen wirklich in meinem Leben da sind … Aber wenn man das so betrachtet, wie Du das erklärt hast – also mit den drei Leiden Mangel, Angst und Scham und der Bildung von Gegensatz-Paaren – dann kann das ja auch gar nicht anders sein.“

„Dann fehlt da noch eine Frau, die immer alles haben will, die bestimmend ist und die sich immer in den Vordergrund schiebt. Kennst Du so eine Frau?“

„Ja – leider! Meine erste Freundin war so … das war fürchterlich! Ich hatte kaum noch Luft zum atmen.“

„Wie hieß sie?“

„Ginda.“

„Dann ist sie die weibliche Hälfte Deines Schattens und Dein Vater der männliche Teil Deines Schattens. Genau genommen sind diese beiden zusammen natürlich nicht Dein Schatten, sondern nur die beiden, die für Dich in Deinem Lebens-Schauspiel Deine beiden Schattenrollen spielen.“

„Und mit diesen vier beginnt das Salmar-Ritual? Mit Peta, Ginda, meinem Vater und mir? Da wird mir ja jetzt schon ganz mulmig nur bei dem Gedanken daran!“

„Ja – diese vier Rollen sind die vier Wurzeln Deines Schauspiels, das zur Zeit oft noch eher leidvoll als lustvoll ist.“

„Puh! … Ja, dann laß uns mal anfangen.“

„Ja, gut.“

Maran zeichnete das Salmar mit Kreide auf den Fußboden und Jergun schaute ihm dabei zu.