Maran der Weise - Harry Eilenstein - E-Book

Maran der Weise E-Book

Harry Eilenstein

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Beschreibung

Maran, der zum Magier des Königs geworden ist, reist in fremde Länder, lernt eine neue Art des rituellen Tanzes, muß sich gegen Intrigen in der Hauptstadt wehren und erlangt ein tieferes neues Verständnis der Magie. Doch das ist noch nicht alles ...

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Inhaltsverzeichnis

- Kapitel 1 -

- Kapitel 2 -

- Kapitel 3 -

- Kapitel 4 -

- Kapitel 5 -

- Kapitel 6 -

- Kapitel 7 -

- Kapitel 8 -

- Kapitel 9 -

- Kapitel 10 -

- Kapitel 11 -

- Kapitel 12 -

- Kapitel 13 -

- Kapitel 14 -

- Kapitel 15 -

- Kapitel 16 -

- Kapitel 17 -

- Kapitel 18 -

- Kapitel 1 -

Branda

Ein kräftiger Wind wehte von Süden her über das Meer und blähte das große Segel des Brandaki-Schiffes. Maran stand am Heck in der Nähe des Steuermanns und sah, wie die Insel Estragos hinter ihnen langsam im Meer zu versinken schien.

„Nun bin ich auf dem Weg nach Norden, in das Schneeland … ich werde bald viel weiter fort von der Großen Ebene sein als ich jemals zuvor gewesen bin. … Zwanzig Tagesfahrten bei leidlich guten Wind, sagt Tanros, sind das bis Branda … Was ich da wohl finden werde in Branda? Hoffentlich war das eine gute Entscheidung, mit ihnen mitzufahren …“

Tanros kam vom Schiffsführer, mit dem er gerade gesprochen hatte, zu Maran herüber gegangen – breitbeinig, da das Schiff recht kräftig schwankte.

„Wie gefällt Dir die Fahrt auf dem Schiff? Das fühlt sich anders an als der kleine Sprung von Tol Agis nach Estragos, nicht wahr?“

Maran nickte.

„Ja … bei der Überfahrt nach Estragos sieht man schon sein Ziel vor Augen – da kann man sich innerlich dran festhalten … Und nun werden wir über das Meer fahren – in einem kleinen Schiff und nur Wasser ringsum … Das ist schon ein bißchen unheimlich …“

Tanros lächelte.

„Ja – unser Leben hängt von unserem Schiff ab … von unserem 'Schwertwal' … Aber wir sind schon weit mit ihm gefahren – das ist ein gutes Schiff. Und wir Brandakis verstehen was vom Schiffsbau.

Aber Du irrst Dich, wenn Du glaubst, daß wir nur das Meer sehen werden, denn wir werden solange das möglich ist, in Sichtweite der Küste fahren. Das ist sicherer: Da wissen wir genau, wo wir sind, und bei Gefahr können wir ans Ufer steuern – notfalls auch mit den Rudern. Erst gegen Ende unserer Fahrt werden wir das Meer überqueren.“

„Welche Länder sind denn da an der Küste im Norden?“

„Wir kommen erst an der Mündung des Klippenwassers vorüber, dann kommen die Bergvölker, dann das Ödland und noch weiter im Norden dann das Weiße Volk.“

„Das Weiße Volk?“

„Ja – das sind Jäger und Fischer. Sie nennen sich so, weil dort fast das ganze Jahr über Schnee liegt … oder weil sie Eisbärfelle tragen – ich weiß es nicht genau. Die leben auch noch viel weiter im Norden als wir Brandakis.“

Tanros schüttelte seinen Kopf.

„Da will ich nicht leben – mir ist selbst Branda manchmal schon zu kalt. Deshalb fahre ich auch so gerne hier nach Estragos, wo es so warm ist. Ich habe auch schon von den Südländern gehört – aber dort ist die Sonne so heiß, daß die Haut verbrennt. Da will ich nicht hin, das ist mir zu viel des Guten.“

Maran wunderte sich über das, was Tanros erzählt hatte – er hatte ja schon von dem kalten Branda und den heißen Südländern gehört, aber nie so recht darüber nachgedacht.

Er wandte sich an Tanros.

„Was glaubst Du, warum das im Norden so kalt und im Süden so heiß ist?“

„Weil Feuer und Eis gemeinsam die Welt erschaffen haben.“

„Oh … erzählt man das bei euch so?“

„Ja – bei euch nicht?“

„Nein …“

„Seltsam – ich dachte, das wäre etwas, was alle so sehen …“

„Hm … wenn das im Norden so kalt ist und im Süden so heiß, dann muß im Norden die Sonne weiter fort sein von der Erde als im Norden.“

„Weiter fort? … Klingt schlüssig … Aber dann müßte sie bei uns im Norden doch auch kleiner aussehen als bei euch und im Süden müßte sie riesengroß sein – aber das ist nicht so.“

„Ist denn sonst irgendwas anders mit der Sonne bei euch als bei uns?“

„Hm … eigentlich nicht – sie sieht bei uns genauso aus wie hier … Doch, es gibt einen Unterschied: Hier bei euch steigt die Sonne weiter am Himmel empor als bei uns. Bei uns steigt sie nie weit über den Horizont hinauf.“

„Das ist anders? … Hm … … … Ja, das leuchtet mir ein …“

„Was leuchtet Dir ein?“

„Na, ja – wenn Du ein Feuer hast und stellst Dich vor das Feuer, dann wirst Du schnell warm. Das ist so wie mit der hoch am Himmel stehenden Sonne bei uns – da fallen viele Sonnenstrahlen auf uns und es wird warm. Bei euch ist das eher so, als wenn ihr vor dem Feuer liegen würdet – dann fallen nur wenige Sonnenstrahlen auf euch und ihr werdet weniger warm.“

„Hm … ja … das stimmt: Es ist ja auch immer mittags am wärmsten, wenn die Sonne hoch am Himmel steht – dann treffen uns mehr Sonnenstrahlen als wenn sie knapp über dem Horizont steht.“

„Aber … aber … ja …“

„Was – aber?“

„Die Erde ist eine Kugel – deshalb ist das so!“

„Die Erde ist eine Kugel? Was soll denn der Unfug? Dann würden wir doch runterfallen und das Meer würde nach unten wegfließen!“

„Nein! Schau – wenn wir von Estragos wegfahren, sehen wir erst die ganze Insel, dann nur noch die obere Hälfte der Insel und schließlich nur noch den höchsten Teil der Insel. Und von Schiffen in der Ferne sehen wir nur die Masten, oder?“

„Ja …“

„Also muß die Meeresoberfläche gebogen sein, denn nur dann kann das so aussehen, oder?“

„Hm … ja … das ist wohl so … Puh! Das finde ich jetzt aber nicht einfach anzunehmen … Aber, ja – das kann man nicht anders erklären. … Und wenn diese Biegung überall ist, ist die Erde letztlich eine Kugel, ja …“

„Stell Dir vor, Tanros, Dein Kopf wäre die Sonne.“

„Dann wär mir aber ziemlich heiß! … Aber gut – mein Kopf ist die Sonne. Und weiter?“

„Und mein Kopf ist die Erde – also die Erd-Kugel.“

„Hm … ja …“

„Dann ist meine Nase das Südland – von meiner Nase aus gesehen steht die Sonne oben und dort fällt ganz viel Sonnenlicht hin.“

„Von Deiner Nase aus gesehen steht die Sonne oben? … Ach, so – wenn da ein kleines Männchen auf Deiner Nase stände … dann wäre Dein Erde-Kopf das 'Unten' für dieses Männchen und mein Sonne-Kopf wäre dann für dieses Männchen 'oben' … Ja, gut … verstanden.“

„Und wenn ein anderes Männchen oben auf meinem Scheitel stehen würde, dann wäre dort Branda und das Land des Weißen Volkes – von da aus steht die Sonne, also Dein Kopf, immer nur kurz über dem Horizont. Da ist es deshalb immer kalt.“

„Hm … ja …“

„Und in der Mitte zwischen beiden – also oben an meiner Stirn oder so – da ist die Mittlere Ebene, in der es weder kalt noch heiß, sondern warm ist.“

Tanros schüttelte seinen Kopf.

„Was Du da erzählst, Maran … Das ist ziemlich ungewohnt, auch wenn es sehr schlüssig ist … Ich kann nichts dagegen einwenden. … Aber mir wären noch ein Paar Beweise für die Kugel-Gestalt der Erde ganz lieb. Weißt Du da noch mehr?“

„Ja – zwei Dinge.“

„Erzähl!“

„Wenn Du Dir anschaust, wie der Mond aussieht, dann ist der doch die meiste Zeit eine Sichel.“

„Ja.“

„Die hat zwei Bögen – einen innen und einen außen.“

„Ja.“

„Die können in dieser Form nur zustande kommen, wenn der Mond eine Kugel ist.“

„Wieso?“

Maran zog einen Apfel aus seiner Tasche, den er noch aus Estragos bei sich hatte, und hielt ihn vor sich.

„Schau – das ist der Mond. Da oben am Himmel steht die Sonne und beleuchtet ihn – der helle Teil des Mondes ist immer Dir – das heißt der Sonne – zugewandt, nicht wahr?“

„Hm … ja … Darüber habe ich noch nie genauer nachgedacht.“

„Wenn ich die Erde bin und und ich den Mond – also auf den Apfel – hinter mich halte und auf ihn schaue, dann sehe ich den Vollmond, nicht wahr? Der ganze Apfel ist hell beleuchtet.“

„Ja.“

„Nun drehe ich den Apfel-Mond mal langsam um mich herum und Du schaust, wie der Apfel dann beleuchtet ist. Die rote Hälfte dieses Apfel weist immer zu Dir und ist die helle Seite des Mondes – die grüne Hälfte des Apfels weist immer von Dir weg und ist die dunkle Seite des Mondes.“

„Ja – das sehe ich … Das verstehe ich.“

„Und wie sieht der Mond dann von der Erde aus gesehen aus?“

Tanros betrachtete den Apfel-Mond mit seiner roten und seiner grüner Seite, während Maran den Apfel an seinem ausgestreckten Arm langsam um sich herum kreisen ließ.

„Ja – das sieht wirklich wie der Mond am Himmel aus – Vollmond, Dreiviertelmond, Halbmond – wenn er neben Dir steht … Sichel, Neumond – wenn er vor Dir, also zwischen der Maran-Erde und der Tanros-Sonne steht … Sichel, Halbmond – wenn er wieder neben Dir steht … Dreiviertelmond – Vollmond, wenn er hinter Dir steht … Man kann tatsächlich die Form der Mondsichel erklären, wenn der Mond eine Kugel ist … Das ist ja erstaunlich …

Aber wenn Erde und Mond Kugeln sind, muß dann nicht auch die Sonne eine Kugel sein? Und auch die Wandelsterne? … Und überhaupt alle Sterne? … Aber warum fallen die dann nicht alle runter?“

„Weil 'unten' nicht eine allgemeine Richtung ist, sondern die Richtung zur Mitte der Erde-Kugel hin … also zum Erdmittelpunkt hin.“

„Hm … ja … Du krempelst ja mein ganzes Weltbild um, Maran!“

„Kennst Du das Neumond-Licht? Also diese ganz feine Mondsichel, bei der man ganz schwach den ganzen Mond leuchten sieht?“

„Ja – das habe ich schon mal gesehen und mich gewundert, wie das zustande kommt.“

„Stell Dir wieder vor, ich bin die Erde und Du die Sonne und der Apfel in meiner Hand ist der Mond – also genauso wie eben.

Bei Neumond steht der Apfel-Mond zwischen Erde-Maran und Sonne-Tanros. Dann sehe ich nur die dunkle Seite des Mondes und Du nur die helle Seite des Mondes.

Wenn der Mond dann ein kleines Stückchen weiter zur Seite gerückt ist, scheint die Sonne auf die Erde und die Erde strahlt einen Teil des Sonnenlichtes wie ein Spiegel zurück und trifft den Mond, sodaß der Mond ganz schwach erleuchtet wird – so wie ein Zimmer schwach erleuchtet wird, wenn die Tür offen steht, aber die Sonne nicht zur Türe hereinscheint.

Das kann nur so sein, wenn Erde und Mond beide eine Kugel sind.“

„Hm … ja … Hast Du noch mehr Hinweise darauf, daß die Erde und der Mond Kugeln sind?“

„Nein – das war schon alles, was ich bisher gefunden habe.“

„Erstaunlich … wirklich erstaunlich … Aber das bedeutet doch dann, daß es gar keinen Rand der Erde gibt, den man irgendwann, wenn man immer weiter segelt, erreichen kann …

Und man kann um die Erde in einem riesigen Kreis herumsegeln! Wenn man immer weiter geradeaus segelt, kommt man irgendwann von hinten her wieder an die Stelle, von der man losgesegelt ist! … Verrückt! … Es gibt also überhaupt gar nicht die Gefahr, am Rand der Erde irgendwann hinunterzufallen …“

„Nein – die Gefahr gibt es nicht.“

„Aber wie lang müßte man denn segeln, um einmal um die Erde herumzusegeln? Wie lange dauert das? Wie weit ist das? … Wie lang ist diese Strecke … dieser … dieser Umfang der Erde?“

„Hm … kann man das irgendwie abschätzen? … Woran kann man das denn festmachen? … Hm … Tanros – wie hoch über dem Horizont steht bei euch in Branda die Sonne an Mittsommer?“

„Wie hoch die Sonne da steht? … Ungefähr ein Zwölftelkreis?“

„Hm … und in Sannaran ist das ungefähr zweimal so hoch. … Wie weit ist es von Estragos nach Branda?“

„Zwanzig Tage.“

„Und wieviel ist das in Meilen?“

„In Meilen … 100 Meilen am Tag, das werden dann 2000 Meilen sein …“

„Wenn der Unterschied der Höhe der Sonne über dem Horizont zwischen Branda und Sannaran ein Zwölftelkreis ist, dann sollten diese 2000 Meilen auch ungefähr ein Zwölftel des Umfangs der Erde sein … Einmal um die Erde wären dann ungefähr 24.000 Meilen … Da jetzt alle Zahlen nur geschätzt und nicht genau gemessen sind, ist das sicherlich noch sehr ungenau, aber es wir nicht nur ein Zehntel davon sein und auch nicht das Zehnfache davon, sondern der wirkliche Umfang der Erde wird wahrscheinlich irgendwo zwischen der Hälfte der 24.000 Meilen und dem Doppelten der 24.000 Meilen liegen – vielleicht nur 12.000 Meilen oder sogar 48.000 Meilen, aber grob gesagt 24.000 Meilen.“

Tanros schüttelte wieder seinen Kopf.

„Wie Du da mit Zahlen spielen kannst … Wie ein Gaukler mit seinen Bällen … Wenn wir guten achterlichen Wind hätten und immer geradeaus segeln würden, würden wir für diese Fahrt rund um die Erde also zwölfmal so lange brauchen wie von Branda nach Estragos … also 240 Tage … da der Wind nicht immer gut wehen wird, also eher 300 Tage oder so …

Ich kann's immer noch nicht glauben, daß die Erde eine Kugel sein soll … Aber ich kann das, was Du sagst, auch nicht widerlegen … Verrückt!“

Tanros schaute nach Süden hin, wo Estragos inzwischen nicht mehr zu sehen war.

„Ja … wenn die Erde wirklich glatt und gerade wäre, müßte man Estragos noch immer sehen können – nur eben winzig klein … Aber das ist nicht so … Wenn wir von Estragos fortsegeln, scheint Estragos im Meer zu versinken … also ist die Meeresoberfläche gebogen … Das kann einfach nicht anders sein … Also ist die Erde eine Kugel.

Du bist schon seltsam, Maran … Wir Brandakis segeln in die Ferne, um Neues zu entdecken – und Du schaust einfach nur genau hin auf das, was vor Dir liegt, und entdeckst dann etwas Neues …

Aber das muß ich jetzt erst mal verdauen … Ich geh mal nach vorne zum Bug … Bis später, Maran!“

„Bis später!“

Gegen Mittag sah Maran die Mündung des Klippenwassers – eine große Kerbe in der Steilküste, vor der sich ein kleines, flaches Delta gebildet hatte. Er dachte daran, wie er einst das Klippenwasser hinunter gewandert war und dort an die Mündung des Flusses gekommen war – das war schon lange her … Wenn sie nicht gerade heute morgen in Estragos ihre Wasserfässer frisch gefüllt hätten, würden sie jetzt wohl dort drüben anlegen und ihre Wasserfässer auffüllen …

Später am Nachmittag sah Maran dann weiter oben über den Klippen, die dort nicht sehr hoch waren, ein Dorf. Das mußte der Ort sein, zu dem der Händler wollte, den er damals auf der Küstenstraße getroffen hatte, die von der Mündung des Klippenwassers südwärts zur großen Ebene und nordwärts zu diesem Dorf führt.

„So weit im Norden wie hier bin ich noch nie gewesen … Die Welt ist einfach viel größer als ich immer gedacht habe … Die Welt ist nicht nur das Seetal, sondern auch die Bauchberge und die anderen Dörfer … und die Welt war auch nicht nur die Sieben Alten Dörfer, sondern auch die Große Ebene … und sie ist nicht nur die Große Ebene, sondern noch viel mehr …

Und nun entdecke ich einen ganz kleinen Teil von dem, was die Welt auch noch ist …“

Tag um Tag verging, während sie an der Küste entlang segelten und manchmal auch ruderten, wenn der Wind ungünstig stand. Maran wunderte sich, wie weit das Land nach Norden hin reichte – die Mittlere Ebene war ja wirklich nur ein winziger Teil der ganzen Erde … ein wirklich sehr kleiner Teil … Und es gab weitere große Flüsse – nicht nur den Rhiannon … und Berge …

Maran zeichnete sich den Verlauf der Küste in seine Hütte der Erinnerungen, wobei er natürlich nur den Teil zeichnen konnte, an dem sie tagsüber entlang fuhren, denn Nachts war nicht viel zu sehen und außerdem schlief er dann. Er frug jedoch Tanros nach den Bergen, Flüssen und Ebenen, an denen sie des Nachts vorüber gekommen waren – Tanros kannte diese Küsten von seinen vielen Fahrten her.

Ein Drittel der Männer schlief, während die beiden anderen Drittel wachten und das Schiff lenkten, das Segel passend zum Wind richteten und zeitweise auch ruderten. Es waren ungefähr fünfzehn Männer an Bord.

Sie schliefen unter einem Zelt in der Mitte des Schiffes. Maran brauchte eine Weile, bis er sich daran gewöhnt hatte, während des Schaukelns des Schiffes zu schlafen, aber ab dem dritten Tag ging es recht gut.

Es gab Räucherfisch und Schiffszwieback und ein paar verschrumpelte Äpfel zu essen. Alle zwei Tage steuerten sie da das Ufer an, wo ein Fluß oder Bach in das Meer mündete. Dort füllten sie ihre Wasserfässer mit frischen Wasser und entzündeten ein Feuer, um auch einmal aus dem getrockneten Gemüse, das sie dabei hatten, eine heiße Suppe kochen zu können. Es war wirklich eine Wohltat, zwischendurch mal wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, der nicht hin und her und vor und zurück schwankte.

Maran fiel auf, daß die Stimmung an Land meistens besser wurde – die Brandakis waren schon recht mürrisch an Bord.

„Nun, ja – das ist ja auch kein Wunder … Die ganze Zeit nur das Deck unter den Füßen und ringsum nur Wasser und nichts zu tun außer hin und wieder zu rudern … Manchmal erzählen sie auch Geschichten, aber in den zwanzig Tagen von Branda nach Estragos und dann in den zwanzig Tagen zurück nach Branda – da gehen einem schon mal die Geschichten aus …“

Manchmal saß Tanros lange Zeit an der Bordwand und schaute vor sich hin oder ging ruhelos an Deck auf und ab. Niemand störte Tanros dabei, denn alle wußten, daß er ein neues Lied dichtete, das er dann später, wenn es fertig war, vortragen würde. Das war eines der wenigen Dinge, auf die sich die Brandakis während der eintönigen Seefahrt freuen konnten. Oft waren diese Lieder ziemlich derb und zweideutig, aber die Brandakis lachten lauthals über alle Scherze in Tanros' Liedern – auch noch beim drittenmal Hören …

Das war eine Seite der Dichtkunst, die Maran noch gar nicht kannte – die Männer auf See zu unterhalten und zum Lachen zu bringen und sie dadurch davon abzuhalten, allzu mürrisch zu werden und Streit miteinander zu beginnen.

Es gab ein altes Lied, daß sie immer wieder hören wollten. Es erzählte von dem abendlichen Tod und der morgendlichen Wiedergeburt des Sonnengottes Asan – aber nicht gerade auf eine besonders ehrfürchtige Weise …

Asan ritt aus von Branda,

alle Länder lagen unter ihm;

Der goldene Gott der Sonne,

ergriff die schönsten Schätze.

Lodin der Lügner war geflohen

der Listige war voller Feigheit;

er fürchtete Asans Feuer –

er floh, der kleine Klippenfluß-Mann.

Asan plünderte alle Orte,

an der Küste und im Inland;

Frauen und Männer flohen,

vor dem siegreichen Segler.

Doch am dunklen Abend

da lauerte Lodin ihm auf;

erstach Asan mit dem Dorn-Stab

stampfend im kühnen Kampf.

Da wurde es windige Nacht,

im Westen versank die scheinende Sonne;

der Tag endet – Asan ist tot,

trüb ist das Gemüt der Menschen …

Die Herrschaft des Heuchlers beginnt,

hoch oben schimmern die Sterne;

der garstige Gott herrscht nun,

der Gebieter des Windes und des Winters.

Asan wandert den alten Weg

in den Abgrund der faulenden Finsternis;

er wird zur sich windenden Schlange,

verwandelt sich zu dem dunklen Dannosur.

Doch das Feuer lebt in Asan-Dannosur,

dicht wabern die furchtbaren Flammen,

erfüllen das finstere Hügelgrab,

vollständig mit flackerndem Sonnenfeuer.

Kernust der kräftige Ziegenbock

kommt zu Asan im gräßlichen Grab;

zum brünstigen Bock wird da Asan,

bebend erhebt sich der taumelnde Tote.

Die holde Ziege Heidnu erscheint,

hurtig bietet sie sich Asan an;

Der Sonne Lendenstab steigt auf,

erstrahlt in golden gleißendem Licht.

Der Bock bespringt die Ziege,

brünstig dringt er drängend in sie ein;

der Goldene zeugt sich mit der Göttin selber,

seinen Samen gibt er der Gabenreichen.

Geraubt hat er die milchreiche Göttin

mitgenommen aus Tol Agis am Tage zuvor;

Nun hat Asan neue, große Hörner,

Hochragende – und zottige Beine und Ziegenfüße.

Lodin lauert, doch machtlos ist er,

Leid und Kummer kommen über ihn;

denn Asan wird zu Jazan Dunkel-Haar,

dem Gott des Schmiedens und des Schmuckes.

Er formt die Spitze des Speeres in der Esse,

ellenlang ist der geschliffene Schaft;

Lodin ahnt Leid und zittert –

dieser lasche Estragos-Mann des hohen Hügelgrabes!

Der Gott der Sonne naht grollend,

golden schimmernd scheint sein Haar;

schwankend scheißt sich Lodin in die Hose –

dieser Sannaran-Mann der steilen Steinhügel!

Fesseln binden den Flüchtenden

fest an den finsteren Felsen;

den Bangenden bannt Asan in Ketten –

diese bebende Südland-Memme des Nachtmeeres!

Nun liegt der Listen-Gott ratlos im Dunkel,

lauscht dem ängstlichen Hämmern seines Herzens;

im kalten Kerker des Hügelgrabes –

der zähneklappernde Zinninsel-Feigling der Finsternis-Welt!

Der Sonnenhügel öffnet sich golden schimmernd,

schon wird Asan als Adler wiedergeboren;

als Wambatu fliegt er hoch hinauf in die Weite,

die Wolken vertreibt er, das helle verheißene Licht bringt er!

Der Sonnenadler ist Aran von Branda,

allmorgendlich steigt er steil empor;

er reitet auf dem Riesen-Hengst Sharan,

reist in die Ferne, um fremde Völker zu plündern!“

Maran betrachtete dieses Lied mit gemischten Gefühlen – er hatte ganz aus dem Blick verloren, daß die Brandakis nicht nur Händler, sondern auch Seeräuber waren … Doch durch seine Freundschaft mit Tanros gehörte er zu ihnen und war sicher bei ihnen …

Dieser Lodin, die Gott der Listen, der Nacht, des Winter und der Unterwelt, der allmorgendlich von dem Sonnengott Asan besiegt wurde, wurde hier den von den Brandakis geplünderten Völker gleichgesetzt – den Leuten aus Estragos, Tol Agis, Sannaran, den Zinninseln, dem Südland … Zum Glück lag das meiste davon schon lange zurück oder war nur erdichtet und nicht Wirklichkeit – zumindestens Estragos war vor den Brandakis sicher.

„Aber wenn man mal diese Seeräuberei wegläßt, ist das doch dieselbe Geschichte wie bei uns im Seetal: Die Sonne stirbt am Abend, verwandelt sich in den Ziegenbockgott, zeugt sich selber mit der Erdgöttin und wird am Morgen von ihr wiedergeboren … Das ist wirklich dieselbe Geschichte … Nur daß der Stil ziemlich anders ist … reichlich derb … Na, ja – die Brandakis sind halt auch Seeräuber …“

Die meisten der Seemänner sahen auch ziemlich wild aus: lange Bärte, die oft zu Zöpfen geflochten waren, lange Haare, die zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren, viele hatten kleine oder größere Narben im Gesicht und auf den Händen – und vermutlich auch noch sonst an anderen Stellen unter ihrer Kleidung … Sie trugen warme Kleidung – Hosen, Fellwesten, Fellstiefel und Ledergürtel. Wenn sie nicht gerade ruderten, trugen die meisten auch lange Umhänge in der Art wie Maran einst einen von ihnen für sein Harfenspiel geschenkt bekommen hatte und den er auch jetzt auf dieser Fahrt trug. Die meisten hatten Schwerter an ihrem Gürtel hängen – andere zogen Axt oder Speer vor und selten auch Pfeil und Bogen.

Die Fahrt zog sich in die Länge und die Tage unterschieden sich kaum voneinander – links die Küste, rechts das Meer und fast immer Wind und manchmal Regen …

Maran hatte sehr viel Zeit, sein bisheriges Leben zu betrachten. Ihm fiel vor allem auf, daß er seit seiner Lungenentzündung im Eulenturm, bei der ihn Barite gerettet hatte und bei der er seine Geburt noch einmal erlebt hatte, wie zwei Alter hatte: Zum einen war er 36 Jahre alt und zum anderen schaute er die Welt wie ein Neugeborenes an … Nun, ja – inzwischen war er wohl schon zwei oder drei Jahre alt … Die Geborgenheit, die er nach dieser 'zweiten Geburt' gespürt hatte, war noch immer da und erfüllte ihn.

„Die letzte Zeit ist so viel los gewesen, daß ich das ganz aus den Augen verloren habe … aber ich habe wirklich zwei Alter … Und dieser neugeborene Maran in mir, der wird schneller alt als die Zeit in Wirklichkeit vergeht … Erst war da nur diese Geborgenheit und danach ist eine Klarheit in mir entstanden … eine Gelassenheit … Das müssen wohl die Fülle und die Kraft sein – die beiden ersten Gabe, die ein heiler Mensch in sich trägt.

Ob das da jetzt wirklich fest in mir verankert ist? Das wäre schön! Aber ich weiß es noch nicht … Auch wenn es sehr danach aussieht …

Muß ich da irgendetwas tun? … Nein – eigentlich nicht … ich brauche es nur wachsen zu lassen … das weiß selber, was es tun will und wie es am besten wächst und gedeiht … ja …“

Nach sechzehn Tagen Fahrt an der Küste entlang nach Norden erreichten sie die Mündung eines breiten Flusses, an dem sie vor Anker gingen und noch einmal alle Wasserfässer füllten.

Als sie wieder den Anker gelichtet hatten, kam Tanros zu Maran, stellte sich neben ihn und blickte über das Meer.

„Nun werden wir nach Osten segeln – über das Meer. Wir werden nach zwei Tagen noch einmal zu einer kleinen Insel kommen, wo wir noch einmal Wasser aufnehmen können, doch ansonsten haben wir jetzt vier Tage lang nur die weite See vor uns … Jetzt betreten wir wirklich das Reich des Nulas, den ihr 'Agis' nennt … Möge er uns wohlgesonnen sein …“

Sie segelten meist mit guten Wind und mußten nur ab und zu kreuzen oder gar rudern. Nach zwei Tagen erreichten sie die Insel und Maran frug sich, wie die Brandakis bloß diese Insel in dem weiten Meer finden konnten … Sie blieben über Nacht auf der Insel und entzündeten ein großes Feuer, an dem sie sich wärmten und eine Suppe mit Trockengemüse und frischem Fisch kochten, die gut wärmte.

Am Morgen segelten sie weiter und sahen zwei Tage später endlich wieder Land. Die Brandakis jubelten und dankten dem Meeresgott Nulas für die sichere Überfahrt.

Maran betrachtete das Land. Es war eine sehr große Insel – man konnte das Ende der Küste in beide Richtungen hin nicht sehen.

„Wie groß ist Branda eigentlich, Tanros?“

„Wenn man einmal ringsum segeln will, braucht man bei gutem Wind vier Tage. Branda ist ungefähr kreisförmig.“

„Also 100 Meilen in der Länge und in der Breite.“

„Ja – so ungefähr.“

Maran sah, daß zwei der Brandakis an dem hohen Bug des Schiffes emporkletterten und den aus Holz geschnitzten Tierkopf abnehmen, der dort oben befestigt war.

Maran wandte sich an Tanros.

„Warum machen die das?“

„Diese Köpfe sind Drachen, die alle Geister vertreiben, die uns im Weg stehen – sie schützen uns im Meer. Doch wenn wir nach Branda kommen, müssen wir sie abnehmen, da sie sonst die Landgeister erschrecken könnten – und ohne die Landgeister gedeiht nichts in Branda und wir würden nur Unglück haben.“

Maran nickte.

„Das versteh ich … Sind dann die Schiffe selber auch Drachen?“

„Ja – das Schiff ist der Leib des Drachen und das Segel ist seine Flügel, die Ruder seine Beine und das Heck sein Schwanz.“

Maran schmunzelte.

„Und das Feuer im Herd vor dem Mast ist das Feuer im Bauch des Drachen …“

„Sei vorsichtig mit dem, was Du sagst, Maran! Es ist nicht weise, die Drachen zu verärgern. Und die Brandakis werden so was auch nicht gerne hören …“

„Ja, gut … ich bin vorsichtig …“

„Das Drachenschiff ist auch der Sonnengott Asan, der durch die nächtliche Unterwelt reist. So sicher wie Asan am Morgen aus der Wasserunterwelt zurückkehrt, so sicher wird auch das Drachenschiff von seiner Meerfahrt zurückkehren.“

„Das ist ja wie mit den Wünschen an Mittwinter, die die Kraft der im Frühjahr stärker werdenden Sonne haben …“

„Ja – wir leben unter dem Schutz des Asan und durch seine Hilfe. … Das sollten wir niemals vergessen.“

Maran nickte und blickte auf die Küste, der sie immer näher kamen.

„Schau, Maran – da drüben links ist die Mündung des Yaronn. Das ist der größte Fluß in Branda. Den werden wir noch ein Stück flußauf segeln und rudern bis wir heimkommen.“

Eine Weile später setzten sich die Männer an die Ruder – Maran nahm auch eines der Ruder – und segelten und ruderten gegen die Strömung. Der Yaronn war bei weitem nicht so breit wie der Rhiannon – erhj war nur knapp so breit wie der Bergfluß – aber er hatte eine kräftige Strömung.

Das Land sah karg und felsig aus. Maran sah fast keine Bäume, sondern nur Gras, Kräuter und ein paar Sträucher. In der Ferne waren Berge zu sehen, die eine ungewöhnliche Form hatten.

„Tanros? Sind diese Berge da hinten Vulkane?“

Tanros nickte.

„Ja, das sind Feuerberge. Die gibt es auf Branda fast überall – daher stammt auch der Name 'Branda': Brand-Insel, Feuer-Insel, Vulkan-Insel … Da gibt es auch heiße Quellen und Springquellen.“

„Was ist eine Springquelle?“

„Ein Loch in der Erde, aus dem in meist regelmäßigen Abständen ein Strahl heißes Wasser emporschießt – oft mehrfach so hoch wie ein Mann groß ist.“

„Ah – so eine Quelle habe ich mal am Rhiannon gefunden, aber die war kalt und das Wasser hat gesprudelt.“

„Gesprudelt?“

„Ja, da waren lauter kleiner Bläschen drin, die prickeln, wenn man das trinkt.“

„So was kenne ich noch gar nicht.“

„Gibt es noch mehr sonderbare Dinge in Branda?“

„Ja – Erdbeben … die gibt es hier des öfteren mal, aber nie heftig – da wackelt alles mal ein bißchen und dann ist es auch wieder gut …“

„Das ist ja schon eine sehr besondere Insel … Ist die eigentlich überall so kahl wie hier an den beiden Ufern?“

„In den meisten Gegenden schon – und da, wo die Vulkane sind, wächst fast gar nichts – oder verbrennt immer wieder. Aber es gibt auch überall mal größere Weiden mit gutem Gras – da halten wir vor allem Schafe und ein paar Ziegen. Alte Wälder gibt es fast gar keine – und die werden auch nicht abgeholzt, denn es sind Heilige Haine. Einige haben versucht, neue Wälder anzupflanzen, aber das ist noch nicht weit gediehen …“

„Aber woher habt ihr denn dann euer Holz?“

„Treibholz … und wir holen manchmal auch mit den Schiffen Bauholz für Häuser und Schiffe vom Festland. … Es wäre wirklich gut, wenn die Wälder, die wir angelegt haben, schneller wachsen würden. Haselwälder gibt es viele – aber das ist ja kein Bauholz …“

„Das klingt ja schon alles ziemlich karg …“

„Ja – ist es auch … Aber dafür ist hier jeder sein eigener Herr.“

„Habt ihr keinen König hier?“

„Nein! Bloß nicht! Hier ist jeder sein eigener Herr.“

„Wie bei uns im Seetal, wo ich aufgewachsen bin … Aber hier ist doch nicht nur ein einziges Dorf auf ganz Branda, oder?“

„Nein, keine Dörfer – einzelne Sippenhäuser, die weit verstreut sind. Und jede Sippe regelt ihre eigenen Dinge. Und wenn's mal Streit gibt, gibt es die Treffen. Die sind immer dann, wenn sie gebraucht werden. Und einmal im Jahr, wenn im Herbst Tag und Nacht gleich lang sind, trifft sich die ganze Insel, um alles Wichtige zu besprechen.“

„Zu Herbstanfang? Das ist ja geschickt gewählt …“

„Was? Warum?“

„Weil da die Sonne in die Waage kommt. Und die Waage ist das Sternzeichen des Ausgleichs, der Verbindung, des Friedens, der Schönheit, der Richtigkeit … Das ist das Sternzeichen, das für solch ein großes Treffen am besten geeignet ist.“

„Hm … ich weiß nicht, ob das Treffen mal aus diesem Grund auf den Herbstanfang gelegt worden ist … Denkbar wär's – manche von unseren Priestern wissen mehr als sie ständig allen erzählen …“

„Ihr habt Priester? Auch Tempel?“

Tanros nickte.

„Ja – nicht an jedem Sippen-Langhaus, aber in den meisten Gegenden gibt es einen Gemeinschafts-Tempel.

Doch schau – gleich sind wir da! Siehst Du das flache Ufer da hinten auf der linken Seite? Da legen wir an.“

„Gehören alle Männer auf dem 'Schwertwal' zu Deiner Sippe?“

Tanros lachte.

„Nein, nein – einige schon, aber das sind Männer aus drei verschiedenen Sippen, die alle hier in Meernähe in diesem Yaronn-Tal wohnen.“

Das Schiff legte an einem langen, einfachen Holz-Steg an und wurde mit Tauen an Pfosten festgemacht, die in das Flußbett gerammt worden waren. Die Seemänner legten eine breite Planke zum Steg hinüber und verließen das Schiff. Von dem Langhaus, das ein Stück entfernt am Fuß eines flachen Hangs lag, kamen ihnen einige Frauen und Kinder entgegengelaufen, die ihnen laut zuriefen. Maran lächelte, als er sah, wie freudig sich die Männer und ihre Frauen und Kinder begrüßten. Zwei Gruppen der Seefahrer machten sich auf den Weg zu den Langhäusern ihrer Sippe, die ein Stück weiter entfernt lagen.

Tanros schien keine Familie zu haben – er stand nur dabei und lächelte wie Maran über die Wiedersehensfreude der anderen.

„Sag, Tanros – Was ist das für ein seltsames Tor da vor dem Langhaus?“

„Das? Das ist der Unterkiefer eines Wals … und nicht einmal des größten Wals …“

„Was? Es gibt Tiere, die so groß sind? Die … die müssen ja so groß sein wie euer Schiff!“

„Manche Wale sind noch größer als der 'Schwertwal' – und auf jeden Fall sehr viel schwerer.“

Maran betrachtete staunend das Walfisch-Tor.

Tanros schmunzelte und klopfte Maran auf die Schulter.

„Komm – laß uns zu unserer Halle hinübergehen. Dort drüben wohne ich – und das wird für diesen Winter auch Dein Heim sein.“

Sie gingen zu der Halle hinüber, während die meisten anderen noch in der Nähe des Bootssteges standen und sich umarmten und aufgeregt erzählten. Als sie dem Unterkiefer des Wals näherkamen, der ein Stück vor dem Langhaus als Tor in der Erde steckte, sah Maran, daß diese beiden Knochen mehr als doppelt so hoch aufragten wie er selber groß war – in dem Maul eines solchen Wals könnte er gemütlich liegen und hätte dabei noch jede Menge Platz …

Maran blieb stehen und schaute zu der Spitze der Unterkiefer-Knochen hinauf.

„Ist schon mal jemand von solch einem Wal verschluckt worden?“

„Nicht daß ich wüßte … Die Wale sind zwar riesig, aber friedlich und fressen nur kleine Fische und Krabben. … Komm, ich zeig Dir, wo Du das nächste halbe Jahr wohnen wirst.“

Maran folgte Tanros zu dem Langhaus. Es schien Maran, daß das Haus teilweise in die Erde gegraben worden war und daß die Erde auch vor den Mauern aufgehäuft worden war.

Tanros sah Marans Blick.

„Ja – unsere Langhäuser sind Erdhäuser, damit es in ihnen im Winter nicht so kalt wird. Das Dach ist aus Stroh und Brettern, auf denen flache Steine liegen, damit nichts weggeweht wird.“

Der Eingang des Langhauses war auf einer der Längsseiten – ungefähr ein Drittel von dem linken Ende entfernt. Als sie eintraten, zeigte Tanros nach links.

„Dort sind die Ställe für die Schafe, Ziegen, Pferde und Rinder. Über den Ställen sind die Heu-Vorräte für den Winter. Komm mit – hier rechts ist der Wohnraum.“

Maran sah in eine lange, dunkle Halle, in die nur durch die Rauchöffnung in dem Dach in der Mitte des Halle Licht fiel und die zusätzlich noch durch ein Feuer in der Mitte der Halle erleuchtet wurde. An den beiden Längsseiten sah Maran viele Alkoven und kleine Kammern.

„Ja – das ist unser Heim … Nichts ist so geborgen wie solch ein Langhaus.“

„Aber dunkel ist es.“

„Daran gewöhnst Du Dich schnell … In den Kammern links und rechts bewahren wir unser Hab und Gut auf und da sind auch die Schlafplätze. An den beiden Tafeln vor und hinter der Feuerstelle sitzen wir viel und dort wird auch gegessen und getrunken.“

„Was ist dieser hohe Stuhl dort hinten?“

„Das ist der Hochsitz. Komm, schau Ihn Dir ruhig genauer an.“

Sie gingen durch die Halle zum Ende der beiden langen Tische. Der Sitz war mehr wie ein Thron als ein Stuhl – er war reich beschnitzt. Maran konnte die Sonne, Krieger, Drachen und viele Tiere erkennen.

„Was sind diese beiden Säulen da hinter dem Stuhl … hinter dem Thron?“

„Das sind die beiden Seelenweg-Säulen. Zusammen mit dem gebogenen Balken über ihm sind sie das Tor zu unseren Ahnen und zu unseren Göttern. Sie beschützen den, der auf dem Thron sitzt – und natürlich auch alle anderen in dem Langhaus. Schau – da hinten am Ende der Halle auf dem Podest stehen die Götter – Omos, der Urahn unserer Sippe, Mana die Muttergöttin, Asan der Sonnengott, Balan der Gott der Richtigkeit und Gibu die Große Weiße Kuh. Sie sind die Beschützer unserer Sippe.“

Maran trat näher zu ihnen und betrachtete die Statuen.

„Warum hat diese Göttin denn so einen seltsamen dreifachen Knoten vor ihrem Bauch?“

Tanros schmunzelte.

„Ich dachte, Du würdest das verstehen … Was wird das wohl bedeuten?“

„Hm … ein Knoten macht etwas fest … hm … ein Dreier-Knoten … Die '3' ist die Vielzahl, die Wiederholung, die endlose Folge und daher auch die Zahl der Sonne … Hat das mit der Sonne zu tun?“

„Ja – der Sonnengott ist der dreibeinige Wanderer.“

„Hm … ist die Göttin Mana mit dem Sonnengott schwanger?“

„Ja – genau.“

„Es ist erstaunlich, wie sehr sich diese Bilder und Geschichten überall gleichen …“

„Warum? Sie beschreiben doch überall die Welt – und die ist überall weitgehend gleich …“

„Ja … schon … Aber ich habe das Gefühl, daß diese Geschichten eine sehr lange Geschichte hinter sich haben und daß ihre Anfänge irgendwo in der Schneezeit liegen …“

„In der Schneezeit? Du meinst hier in Branda?“

„Nein – in einer schon lange vergangenen Zeit, in der überall auf der Erde viel Schnee lag.“

Maran erzählte Tanros von den Bildern in der Höhle in der Nähe des Seetals. Tanros wollte alle Einzelheiten hören, an die sich Maran noch erinnern konnte.

„Hm – das ist ja spannend, was Du da erzählst, Maran … Dann gab es also mal eine Zeit, in der die Menschen nur von der Jagd gelebt haben – wie die Waldmenschen, von denen alle erzählen, aber die noch nie jemand gesehen zu haben scheint …“

Maran sagte nichts zu seiner Begegnung mit den Waldmenschen – er wollte nicht derjenige sein, der das Leben der Waldmenschen störte.

„Wenn das wirklich so ist, wie Du das erzählst, dann müssen ja all die Geschichten über das Bestellen der Felder und über das Halten von Vieh erst später erfunden worden sein … sind denn dann alle Geschichten über die Götter von den Menschen erfunden worden?“

„Wahrscheinlich, Tanros … schließlich erzählen Menschen diese Geschichten … Sind das nicht Beschreibungen der Welt?“

„Schon … aber sind denn dann die Götter wirklich?“

„Kannst Du von einer Beschreibung von etwas darauf schließen, ob es das Beschriebene wirklich gibt oder nicht?“

„Nein – natürlich nicht. Ich bin bloß bisher immer davon ausgegangen, daß unsere Ahnen früher den Göttern wirklich begegnet sind und diese Geschichten dann ihren Kindern und Enkeln erzählt haben …“

„Aber so war es doch auch! Nur daß die Götter nicht in dieser Halle gestanden haben, sondern Deinen Urahnen in ihren Traumreisen und beim Mitten erscheinen sind. Und ob es sie wirklich gibt, kannst Du doch nur dadurch herausfinden, daß Du sie um etwas bittest und dann schaust, ob sie Dir Deinen Wunsch erfüllen. Nun, ja – ganz sicher ist es auch dann noch nicht, denn es könnte ja auch Deine eigene Magie sein, die Dir Deinen Wunsch erfüllt hat. Aber zumindestens weißt Du dann, daß Bitten an die Götter etwas sind, was Deine Wünsche erfüllt. Und nach meiner Erfahrung sind solche Wünsche deutlich wirksamer, wenn man sie an die Götter richtet und man nicht nur alleine ihre Erfüllung herbeiruft.“

Tanros schwieg eine Weile und schaute dann Maran an.

„Du hast schon viel über diese Dinge nachgedacht, nicht wahr? So klar, wie Du darüber sprechen kannst …“

„Ja … so hin und wieder …“

„Wohl eher recht oft … Du denkst so, wie wir in Estragos in dem Agis-Saal über die Wiedergeburt gesprochen haben … wie ein Entdecker, ein Forscher, der sehr genau hinschaut … Ich mag diese Art, auf das Leben zu schauen …“

Sie hörten Stimmen am Eingang – es waren mindestens zwei Dutzend Männer, Frauen und Kinder hereingekommen.

„Komm, Maran – ich will Dich den anderen vorstellen.“

Maran folgte Tanros an den beiden langen Tischen entlang zu der freien Fläche zwischen den Tischen und dem Eingang.

Ein alter, aber kräftiger Mann mit langem grauen Bart wandte sich an Tanros.

„Asans Licht möge Deinen Weg bescheinen, Tanros! Aber wen hast Du denn da uns mitgebracht?“

„Und auch über Deinem Weg möge Asan scheinen, Brankon! Das ist Maran, ein Freund aus Sannaran, den ich in Estragos bei dem Rat des Schiffsführers der Insel getroffen habe. Ich habe ihn eingeladen, den Winter mit uns zu verbringen.“

Brankon musterte Maran.

„Was kannst Du denn? Wer so lange hier bei uns bleibt und unser Brot und unseren Fisch ißt, muß auch etwas für uns tun.“

„Ehm … daß wußte ich nicht … Ich kann ein wenig schmieden und sticken, Schafe hüten, auf der Harfe und der Flöte spielen …“

Tanros schmunzelte und wandte sich an Brankon.

„Maran hat noch nicht unsere Gabe entdeckt, daß eigene Licht möglichst hell strahlen zu lassen. Er macht sich immer kleiner als er ist … Er ist auch ein Magier und kennt und kann viele Dinge, die nur wenige kennen und können.“

Brankon nickte.

„Dann wirst Du nützlich für uns sein können – wobei ich hoffe, daß bis zum Frühjahr nichts geschehen wird, wogegen wir Deine Magie brauchen werden.“

Tanros nickte.

„Möge Mana geben, des es so sein wird.“

Die anderen, die mit Brankon in das Langhaus gekommen waren, nickten und murmelten Zustimmung.

Tanros zeigte auf eine rundliche Frau mit zwei dicken blonden Zöpfen.

„Das ist Mellun.“

Dann zeigte er auf den jungen Mann neben ihr.

„Das ist Lörvan … das ist Kleos … ihre Schwester Kleas … Sonfart … Murkan … Sanvorat … Tin … Alfangon … Sorat … Wanka … Sifolus …“

Maran schaute Tanros an und mußte lachen, als er Tanros grinsen sah.

„Hör auf, hör auf! Wie soll ich mir das alles auf einmal merken können?“

Auch die anderen lachten. Lörvan, der junge Mann, den Tanros ziemlich am Anfang vorgestellt hatte, schaute Maran neugierig an.

„Kommst Du wirklich aus Sannaran? Ist es wahr, daß es dort über hundert Häuser an einem Platz gibt? Und daß dort die Winter nur drei Monde lang dauern? Und daß es dort einen König gibt?“

Brankon wandte sich an Lörvan.

„Du bist schlimmer als eine Katze – neugierig ohne Ende! Warte bis unser Gast mit uns gegessen hat – dann kannst Du ihm Fragen stellen. Und er kann antworten, wenn er will, und schweigen, wenn er nicht antworten will. Die Alten sagen, daß ein voller Bauch lieber erzählt als ein leerer Bauch.“

Maran lächelte Lörvan zu.

„Ich bin genauso neugierig wie Du und ich werde Dir gerne alles erzählen, was ich erzählen kann.“

Tanros schmunzelte.

„Das gefällt mir … Diesmal muß nicht ich alles erzählen, was ich erlebt habe … das übernimmst diesmal Du, Maran …“

Als zwei Frauen einen großen Kessel zu einem der beiden langen Tische trugen und ihn in seine Mitte stellten, setzen sich alle auf die Bänke auf den beiden Seiten des Tisches. Maran blieb bei Tanros, da er sich hier noch recht unsicher fühlte. Welche Regeln und Gebräuche mochte es hier wohl geben, von denen er nichts ahnte?

Jeder schob seine Eßschale in Richtung Topf und die beiden Frauen füllten einen Schöpflöffel voll von dem Brei in die Schalen. Tanros hatte Maran eine seiner Schalen gegeben. Als Maran seine Schale zurückerhalten hatte, schaute er sich an, was die Frauen gekocht hatten. Es schien hauptsächlich Gerste, Möhren und Kräuter zu sein – nicht viel anders als das, was es im Seetal meistens zu essen gegeben hatte … Wahrscheinlich gab es hier nicht allzuviel verschiedenes Gemüse, da es hier den größten Teil des Jahres ziemlich kalt war.

Während Maran kaute, schaute er die Tafel entlang. Es waren ohne Tanros und ihn selber fünf Männer und sechs Frauen in mittlerem Alten, acht Alte und ansonsten viele Jünglinge und Kinder – insgesamt wohl gut drei Dutzend Männer, Frauen und Kinder.

Tanros hatte offenbar bemerkt, wonach Maran geschaut hatte.

„Ja – wir sind eine der kleineren Sippe. Andere Hallen sind größer und manchmal stehen auch mehrere Langhäuser beieinander, wenn eine nicht ausreicht.“

„Ist es weit bis zu den nächsten Langhäusern?“

„Nein – das nächste Langhaus ist nur zwei Meilen weit entfernt und das übernächste drei Meilen in die andere Richtung. Insgesamt sind hier im unteren Tal des Yaronn gut ein Dutzend Langhäuser. So haben alle ihre Ruhe, aber sind auch nicht zu weit von den anderen entfernt.“

Maran nickte. Das war hier doch etwas anders als im Seetal – kein Dorf, sondern eher Großfamilien.

Von überall an dem langen Tisch waren Gespräche und Lachen zu hören, aber Maran hatte noch ein bißchen Mühe, alles zu verstehen. Es war dieselbe Sprache wie im Seetal und in der Großen Ebene und im Westgau, aber sie klang anders … rauer, härter, entschiedener … Maran hatte zwar schon die Seemänner im 'Schwertwal' miteinander reden hören, aber sie hatten, wenn sie mit Maran gesprochen hatten, doch fast wie die Menschen in der Großen Ebene und in Estragos geredet.

Maran lauschte dem Klang der Worte und frug sich, ob die Landschaft, in der die Menschen leben, wohl den Klang der Sprache prägt … Zumindest schien es ihm, daß das Brandakische ähnlich karg, fest und weit klang wie diese Insel aussah.

Als der Kessel und die Schalen schließlich alle leer waren, wandte sich der Jüngling Lörvan, der auf der anderen Seite von Tanros saß und der gleich alles von Maran hatte wissen wollen, wieder an Maran und stellte ihm alle möglichen Fragen.

Offensichtlich hatte er schon viel von den Seemännern über die fernen Länder gehört, aber hatte noch nie jemanden aus diesen fernen Ländern gesehen. Er wollte wissen, wie Sannaran aussieht, wie groß Estragos ist, wie die Häuser dort gebaut sind, was genau eigentlich ein König macht, wieviele Schiffe es dort gibt, was die Menschen dort essen, wie ein Buch aussieht, welche Waffen man in Sannaran benutzt, ob es dort Ratstreffen gab, wie lang dort die Dunkelheit im Winter andauert und noch vieles mehr.

Maran geriet immer mehr ins Erzählen und fast alle hörten ihm aufmerksam zu. Er merkte gar nicht, wie seine Unsicherheit nach und nach verflog und er sich allmählich wohler fühlte.

Als er Lörvan danach frug, was eigentlich diese Winter-Dunkelheit ist, nach der er gefragt hatte, mußte Tanros den beiden helfen, da sowohl Maran als auch Lörvan nicht verstanden, was der andere nicht verstand.

Tanros blickte zwischen den beiden hin und her.

„In Estragos und in der Großen Ebene scheint auch im Winter die Sonne – dort sind die Tage zwar kürzer und die Sonne steigt nicht so hoch am Himmel empor, aber sie bleibt niemals ganz unter dem Horizont. Hier in Branda ist das anders – hier ist es gut drei Wochen lang ganz dunkel.

In der Großen Ebene gibt es im Sommer auch keine Mitternachtssonne – dort gibt es selbst an Mittsommer eine Nacht, auch wenn sie recht kurz ist. Hier bei uns gibt es an Mittsommer auch gut drei Wochen lang keine Nacht.

Wenn man noch weiter nach Norden geht, dauert die Winter-Nacht noch länger – und der Sommer-Tag ist immer genauso lang wie die Winter-Nacht.

Ich habe von den Südleuten gehört, die ich mal in Estragos gesprochen habe, daß es dort zwar auch einen Unterschied in der Länge der Tage im Sommer und im Winter gibt, aber daß das nur ein sehr kleiner Unterschied ist. Wenn man noch weiter nach Süden segeln würde, kommt man daher wohl irgendwann an einen Ort, an dem die Tage und Nächte immer genau gleich lang sind.“

Lörvan schüttelte den Kopf.

„Ich vertraue dem, was Du sagst, Tanros, aber trotzdem – das ist schwer zu glauben, was Du da erzählst.“

Maran blickte zu Lörvan hinüber.

„Mir geht es genauso … mehrere Tage, an denen die Sonne nicht aufgeht oder an denen sie nicht untergeht … Ich wußte bisher nicht, daß es so etwas gibt …“

Danach begannen auch die anderen wieder zu erzählen und einige standen auf und schauten nach den Schafen und Pferden im Stall oder kümmerten sich um andere Dinge.

Tanros wandte sich an Maran.

„Komm – ich zeig Dir Deinen Schlafplatz.“

Er ging ein Stück in die Richtung des Altars mit den Götterstatuen und öffnete dann auf der rechten Seite des Langhauses einen Wollvorhang vor einer kleinen Kammer, die an den beiden Seiten der Halle eine neben der anderen gebaut worden waren. Maran folgte ihm in die Kammer. Er sah zwei Schlafplätze, drei Truhen, ein paar Regale, einiges an Werkzeugen und allerlei Dinge, die er nicht sofort erkannte.

„Du kannst hier links schlafen – das Lager ist schon lange nicht mehr benutzt worden … seit Loran gestorben ist … Das war meine Frau …“

Maran spürte den Schmerz, der in Tanros Worten leise mitklang.

„Das tut mir leid …“

„Ja – das war schlimm für mich … Es ist schon fünf Jahre her … sie wurde auf einmal krank und starb nach wenigen Tagen. … Aber man muß weiterleben – egal, was auch geschieht.“

Maran schwieg – was sollte er auch dazu sagen?

Sie gingen wieder zu den anderen und Maran holte seinen Rucksack und seinen Harfenkasten und stellte sie in die Kammer.

Brankon, der noch an der langen Tafel saß und mit Mellun, der rundlichen Frau mit den dicken, blonden Zöpfen sprach, blickte Maran an, als er wieder zu dem Tisch zurückkam und sich neben Tanros setzte.

„Die Kiste – war da Deine Harfe drin, von der Du vorhin gesprochen hast?“

Maran nickte.

„Ich würde die Harfe gerne mal hören.“

„Jetzt?“

„Ja.“

Maran stand wieder auf und holte seine Harfe. Alle wollten sie genau betrachten und anfassen.

„Bitte nur anschauen – mit so einer Harfe muß man vorsichtig umgehen.“

Brankon nickte.

„Es gibt einige Harfen auf Branda, aber keine hier im unteren Tal des Yaronn. Spiel mal etwas für uns.“

Maran setzte sich im Drachensitz auf den Boden und hielt die Harfe mit seinen Oberschenkeln fest. Die Brandakis auf der anderen Seite des Tisches standen auf und kamen auf Marans Seite herüber, damit sie ihn besser sehen konnten.

Dann wurde es ganz still.

Maran spürte in das Land hinein … Welche Klänge und Melodien lebten in diesem Land?

Er begann drei tiefe Töne gleichzeitig zu zupfen – ein kräftiger, regelmäßiger Klang … ein wenig wie Stampfen … Dann wurden diese Töne auf einmal lauter und doppelt so schnell, dann wieder langsamer und leiser … Es lag etwas Unberechenbares in der Kraft dieser Töne … Dann kam ein gleichmäßiger Ton auf einer der mittleren Saiten hinzu, der sich langsam zu einer schlichten Melodie entfaltete, die anschwoll und wieder verebbte und wieder anschwoll und verebbte. Da wurden die drei gemeinsam gezupften tiefen Töne auf einmal ganz laut und schnell und zu ihnen fügten sich andere, höhere Töne hinzu, die schrill klangen. Dieses Klang-Toben dauerte jedoch nur kurze Zeit … Dann beruhigte sich das Saitenspiel wieder und allmählich kehrte der regelmäßige Ton auf der mittleren Saite zurück und suchte sich eine neue Melodie. So ging es mehrmals zwischen Klang-Toben und Melodie hin und her, bis das Lied schließlich in einer Melodie verklang, die an das gleichmäßige Rudern auf einem Brandaki-Schiff erinnerte.

Als Maran geendet hatte, schwiegen alle noch eine ganze Weile.

Schließlich nickte Brankon ganz bedächtig.

„Danke, Maran … Es war gut, daß Tanros Dich mitgebracht hat – so etwas habe ich hier noch nie gehört. Du hast Salan-Wurzeln in die Erde hinabgesenkt, nicht wahr? Und hast dann das Lied unserer wilden Insel gespielt … das Toben der Vulkane und der heißen Springquellen und der Erdbeben war ja deutlich zu hören … und manchmal toben ja auch wir Brandakis selber ziemlich laut … Das Land prägt nun mal die Leute – wie die Alten sagen …

Du scheinst aus einem sanften Tal zu kommen, wenn ich Dich so anschaue und sehe, wie Du die Dinge tust … Ist es so?“

Maran nickte.

„Ja – ich komme tatsächlich aus einem sanften Tal …“

„Und Du willst nicht darüber reden, warum Du nicht mehr dort bist, oder?“

„Ja … jedenfalls nicht jetzt …“

„Gut. Du bist willkommen bei uns, Maran aus dem sanften Tal!“

Wenig später gingen die meisten in ihre Kammern und auch Tanros und Maran legten sich auf ihre Lager.

Nach einer Weile schaute Tanros durch das Dämmerlicht zu Maran hinüber.

„Du kannst nicht schlafen?“

„Nein … ich denke über die lange Winternacht und den langen Sommertag nach. Wie kommt das nur zustande? Die Sonne und die Erde sind Kugeln und die Sonne dreht sich offensichtlich um die Erde. Aber eigentlich sollten dann doch die Tage und Nächte immer überall gleich lang sein …“

„Ja – eigentlich schon …“

„Aber die Sonne steigt ja mal höher über den Horizont und mal niedriger über den Horizont empor … Warum eigentlich?“

„Du hast doch bestimmt schon einen Einfall dazu, oder?“

„Noch nicht so ganz … Wenn wir das Bild von Deinem Kopf als Sonne, meinem Kopf als Erde und dem Apfel als Mond nehmen – so wie wir das auf dem Schiff mal gemacht haben – dann müßte es doch eine Art geben, wie wir uns bewegen, die dann zu langen Winternächten an einem Ort auf der Erde führt und zu stets gleichlangen Tagen an einem anderen Ort. …

Es gibt ja zwei Bewegungen: die Tages-Bewegung und die Jahres-Bewegung. Da wir ja sehen können, daß die Sonne sich nur langsam durch den Tierkreis fortbewegt und dafür ein ganzes Jahr braucht, kann der Tag nicht durch eine Bewegung der Sonne entstehen. Siehst Du das auch so, Tanros?“

„Hm … ja … Das muß wohl so sein.“

„Also muß die Erde sich drehen – einmal am Tag um sich selber. … Aber wenn die Sonne nicht überall an jedem Tag gleichlang scheint … wie kann das entstehen? …“

„Du, Maran – wenn die Erde bei ihrem Drehen sozusagen schräg steht, dann gibt es Orte, die manchmal ganz im Dunklen liegen und Orte, die manchmal ganz im Hellen liegen und dazwischen Orte, die abwechselnd im Hellen und im Dunklen liegen.“

„Augenblick – ich muß mir das mal vorstellen, Tanros … Also eine Erdkugel, die sich dreht … die Hälfte von ihr liegt immer im Sonnenlicht und die andere Hälfte im Dunklen. Wenn die Achse der Erde, um die sich die Erde dreht, genau aufrecht stehen würde, dann wären überall die Tage und Nächte gleich lang … und wenn ich diese Achse kippe, dann gibt es an dem einen Achsen-Ende einen Bereich, der ganz dunkel ist, und an dem anderen Achsen-Ende einen Bereich, der immer ganz hell ist. … Ja … das klingt schlüssig.“

„Die Erde ist wohl wirklich eine Kugel … Das ist einfach verrückt, Maran! Ich kann das noch immer nicht so ganz glauben, auch wenn ich anfange, mich an diese Vorstellung zu gewöhnen.“

„Wie kommen denn dann die Jahreszeiten zustande? … Da muß sich wohl entweder die Sonne in einem großen Kreis um die Erde drehen oder die Erde in einem großen Kreis um die Sonne – eins von beiden …“

„Du meinst, die drehen sich umeinander?“

„Ja … so wie sich doch auch der Mond um die Erde dreht … Das ist doch dasselbe …“

„Hm … ja … wenn die Erdachse schräg steht und sich die Sonne um die Erde dreht, dann scheint sie mal auf das eine Achsen-Ende der Erde und mal auf das andere … Aber … Du, Maran! Dann muß ja, wenn wir immer weiter nach Süden segeln, irgendwann wieder so ein Bereich kommen, in dem es wie hier bei uns in Branda im Winter lange Zeit dunkel und im Sommer lange Zeit hell ist! Dann wird es gar nicht nach Süden hin immer heißer und nach Norden hin immer kälter.“

„Nein … dann ist es wohl eher in der Mitte der Erde heiß und an den beiden Bereichen an den Achsen-Enden kalt …

Aber wir wissen noch nicht, ob sich die Sonne um die Erde dreht oder ob sich die Erde um die Sonne dreht …“

„Ja … aber das werden wir wohl kaum herausfinden können …“

„Hm … da gibt es etwas, was ich immer seltsam fand … hm …“

„Was denn?“

„Die Wandelsterne – die drehen sich ja auch um die Erde … falls sich die Sonne um die Erde drehen sollte. Oder sie drehen sich auch um die Sonne, falls sich die Erde um die Sonne drehen sollte.“

„Ja – wahrscheinlich …“

„Und die Wandelsterne machen etwas Seltsames: Sie ziehen nicht gleichmäßig am Himmel ihre Bahn so wie der Mond, der sich um die Erde dreht, sondern sie gehen einmal im Jahr ein Stück zurück und dann wieder weiter. Wenn sich die Wandelsterne um die Erde drehen, sollten sie sich doch eigentlich gleichmäßig drehen – jeden Tag ein gleich großes Stückchen in dieselbe Richtung, oder?“

„Ja – das sollte man eigentlich denken …“

„Aber stell Dir mal vor, daß die Sonne die Mitte von all dem ist – sie ist ja auch bei weitem die hellste von allen. Dann würde die Erde sich ja in einem Kreis um die Sonne bewegen und ständig den Ort verändern, von dem aus sie auf die Wandelsterne blickt. Dann bewegen sich die Wandelsterne also doch regelmäßig – und es sieht nur so aus, als ob sie zwischendurch auch mal rückwärts laufen würden, weil die Erde gerade ihren Ort verändert.“

„Das verstehe ich nicht.“

„Stell Dir vor, wir stehen draußen vor der Halle. Du stehst da in der Mitte als Sonne, ich gehe immer im Kreis um Dich herum und zwischen Dir und der Halle geht noch jemand langsam in einem großen Kreis um Dich herum. Hast Du das?“

„Ja – ich stehe als Sonne in der Mitte, Du gehst als Erde in einem kleinen Kreis um mich herum und Brankon geht in einem großen Kreis um mich herum. Was ist der?“

„Ach – sagen wir mal, Brankon ist der Wächter-Wandelstern. Brankon geht in Sonnenlauf-Richtung und ich auch. Wenn ich dann stillstehen würde, würde ich sehen, wie Brankon gleichmäßig einen Kreis geht. Wenn ich jedoch auch im Kreis laufe, sieht das mal so aus, als ob Brankon schneller gehen würde und mal, als ob er langsamer oder sogar rückwärts gehen würde, wenn ich zu ihm hin schaue.“

„So allmählich verstehe ich das … Ich müßte das mal wirklich mit Dir und Brankon draußen machen, um das wirklich ganz zu verstehen.

Aber daß diese seltsamen Schlenker der Wandelsterne nicht da sein könnten, wenn sich die Sonne um die Erde dreht, habe ich schon verstanden. Also muß sich die Erde um die Sonne drehen.“

Tanros schwieg eine Weile, bevor er wieder sprach.

„Es ist erstaunlich, daß man so denken kann, Maran … Und ich habe noch etwas gefunden, was zeigt, daß das Kugel-Bild, daß Du da von der Erde, dem Mond, der Sonne und den anderen Wandelsternen entworfen hast, richtig sein muß.“

„Was denn?“

„Kennst Du den 'Treuen Stern'?“

„Nein – zumindestens nicht unter diesem Namen …“

„Er wird auch 'Pranas' oder 'Eisenstern' genannt. Das ist der Stern, der oben im Norden am Himmel steht und der sich nie von der Stelle bewegt.“

„Ach, den meist Du – den haben wir im Seetal 'Beständiger' genannt und in der Großen Ebenen nennen sie ihn den 'Nordstern'. Was ist denn mit dem?“

„Wenn die Erde eine Kugel ist und eine Achse hat, um die sie sich dreht, dann müßten wir doch auch sehen, wie sich alle festen Sterne drehen außer den Sternen, die genau über dieser Achse stehen – und das ist der Treue Stern!“

„Hm … wenn wir dann immer weiter nach Norden segeln würde …“

„Ganz oben im Norden ist das Meer zugefroren – da müßten wir dann laufen.“

„Ja, gut – also wenn wir immer weiter nach Norden segeln oder laufen würden, kämen wir irgendwann an eine Stelle, an der der Treue Stern genau über uns steht und sich niemals von der Stelle bewegt. Und dasselbe müßten wir auch ganz im Süden finden – da, wo das andere Ende der Erd-Achse ist.“

„Ja … ich weiß nicht, ob jemals jemand so weit nach Norden gesegelt und gelaufen ist … Zumindestens habe ich noch nie davon gehört.“