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2017 wird der 500. Jahrestag der Reformation begangen. Eröffnet wird das Gedenken bereits am 31. Oktober 2016 durch eine ökumenische Veranstaltung im schwedischen Lund, an der Papst Franziskus gemeinsam mit Spitzenvertretern des Lutherischen Weltbundes teilnehmen wird. "Viele Christen erwarten zu Recht, dass das Gedenken von 500 Jahren Reformation uns ökumenisch einen Schritt dem Ziel der Einheit näher bringen werde. Wir dürfen diese Erwartung nicht enttäuschen." So schreibt Walter Kasper zu Beginn seines Essays über Martin Luther, ein deutliches Signal aus dem Mund des früheren Präsidenten des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen. Jede Zeit projiziert die eigenen Wünsche und Anliegen auf Martin Luther – deshalb gilt es nach Kasper, Luther aus den interessegeleiteten Vereinnahmungen und Übermalungen früherer und heutiger Luther-Jubiläen zu befreien. Luthers Welt und seine Botschaft stehen in der Zeit des Umbruchs zwischen Mittelalter und Neuzeit und sind modernen Menschen von heute zunächst fremd. Hört man diesem "fremden Luther" aber erst einmal zu, entdeckt man, wie aktuell seine Botschaft für Christen aller Konfessionen ist – und was ihn mit Papst Franziskus und dessen Einsatz für Barmherzigkeit verbindet. Noch einmal Kasper: "Die Botschaft von der Barmherzigkeit Gottes war Luthers Antwort auf seine persönliche Frage und Not wie auf die Fragen seiner Zeit; sie ist auch heute die Antwort auf die Zeichen der Zeit und die drängenden Fragen vieler Menschen." Das Buch geht zurück auf einen viel beachteten Vortrag, den der Autor 2016 an der Humboldt-Universität zu Berlin gehalten hat.
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Seitenzahl: 49
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Buch lesen
Cover
Haupttitel
Inhalt
Über den Autor
Über das Buch
Impressum
Hinweise des Verlags
Walter Kardinal Kasper
Martin Luther
Eine ökumenische Perspektive
Patmos Verlag
Die vielen Lutherbilder und der fremde Luther
I Eine Übergangszeit des Niedergangs und des Aufbruchs
II Luthers Anliegen: Evangelische Erneuerung der Christenheit
III Entstehung und Ende des konfessionellen Zeitalters
IV Luther und der Geist der Neuzeit
V Ökumenisches Zeitalter als Neuentdeckung der Katholizität
VI Martin Luthers ökumenische Aktualität
VII Ökumene der Barmherzigkeit – Ausblick
Anmerkungen
Es gibt nur wenige historische Persönlichkeiten, die in der Erinnerung auch noch nach 500 Jahren Freund wie Feind geradezu magnetisch anziehen wie Martin Luther. Dabei hat sich das Bild, das man sich im Laufe von 500 Jahren von Martin Luther machte, vielfach gewandelt: Luther als Reformator, Luther als Kirchenvater des Protestantismus, Luther als Vorkämpfer für Vernunft und Freiheit, Luther als tapferer deutscher Nationalheld und viele andere. Man hat schon gesagt: Es gibt so viele Lutherbilder wie es Lutherbücher gibt.1
Für Katholiken war Luther lange Zeit der Häretiker schlechthin, der die Schuld an der Spaltung der abendländischen Kirche trägt, mit allen ihren schlimmen Folgen bis heute. Diese Zeiten sind insgesamt vorbei. Die katholische Lutherforschung des 20. Jahrhunderts brachte eine bedeutsame Wende im Verständnis Luthers; sie führte zur Anerkennung des genuin religiösen Anliegens Luthers, zu einem gerechteren Urteil über die Schuld an der Kirchenspaltung und im Zeichen der Ökumene zur Rezeption mancher seiner Einsichten und nicht zuletzt seiner Kirchenlieder.2 Die letzten Päpste haben sich dieser Sicht angeschlossen, zuletzt Papst Benedikt am 23. September 2011 bei seinem Besuch im Kapitelsaal des Augustinerklosters in Erfurt, wo Luther seine Ordensgelübde ablegte. Für manche ist Luther schon fast zu einem gemeinsamen Kirchenvater geworden.
Die zahlreichen Stellungnahmen, die zum Jahr »2017 – 500 Jahre Reformation« erschienen sind, gehen nicht so weit. Sie tragen alle dem Wandel in der ökumenischen Wahrnehmung Luthers Rechnung, aber sie sagen auch, dass zwischen den Kirchen nach wie vor kontroverse Fragen im Raum stehen.3 So erwarten viele Christen zu Recht, dass das Gedenken von 500 Jahren Reformation im Jahr 2017 uns ökumenisch einen Schritt dem Ziel der Einheit näherbringen werde. Wir dürfen diese Erwartung nicht enttäuschen.
Luther selbst war kein Ökumeniker. Gegen Ende seines Lebens hat er eine Einigung mit Rom nicht mehr für möglich gehalten. Dass heute katholische Christen in ihren Gottesdiensten seine Kirchenlieder singen, konnte er sich wohl kaum vorstellen, ebenso wenig unseren Dialog mit den Juden, über die er sich in einer für uns hochpeinlichen Weise abfällig äußerte, nicht unseren Dialog mit Muslimen, denen er sich in den Schriften gegen die Türken auch nicht gerade günstig gesinnt zeigte, und nicht unseren Dialog mit den Täufern, heute mit den Baptisten und Mennoniten, die damals von Evangelischen wie von Katholischen verfolgt wurden.
Die Fremdheit geht noch tiefer. Heute sind vielen, auch vielen praktizierenden Christen beider Kirchen, die von Luther aufgeworfenen Fragen gar nicht mehr verständlich. Das gilt für viele Katholiken bezüglich des Ablasses, für viele evangelische Christen bezüglich der Rechtfertigung des Sünders. Beides ist in einer Welt, in der Gott oft ein Fremder geworden ist, vielen Zeitgenossen zum Fremdwort geworden. Vollends ist das Wort Kirche, noch mehr als schon für Luther damals, für viele ein blindes und undeutliches Wort.4
Bevor wir über die Aktualität Luthers heute sprechen, müssen wir uns mit seiner Person und seinem Werk beschäftigen, um ihn dann in die veränderte Situation beider Kirchen und der Ökumene einzuordnen. Dabei müssen wir uns die Fremdheit der Welt, in der Luther lebte, wie die Fremdheit seiner Botschaft bewusst machen. Ich möchte die These aufstellen und im Folgenden begründen: Gerade die Fremdheit Luthers und seiner Botschaft ist seine ökumenische Aktualität heute.
Die Welt, in die hinein Martin Luther am 10. November 1483 geboren wurde, ist uns heute fremd. Es war der Ausgang des Mittelalters, der »Herbst des Mittelalters« (Johan Huizinga) mit unbestreitbar vielen Missständen in der Kirche, vor allem einer Veräußerlichung der Frömmigkeit. Die Forderung nach einer Reform der Kirche an Haupt und Gliedern war allgegenwärtig und wurde auch auf Reichstagen immer wieder erhoben. Es war eine herbstliche Zeit des Niedergangs. Das Ansehen des Papsttums hatte durch das Abendländische Schisma (1378–1417), in dem sich zeitweise drei Päpste rivalisierend und sich gegenseitig exkommunizierend gegenüberstanden, schwer gelitten. In der Theologie herrschte viel Unklarheit, vor allem dann in der Gnadenlehre der neuen Richtung (via nova) des von Wilhelm Ockham begründeten Nominalismus, den Luther vor allem durch Gabriel Biel kennenlernte, der in der Rechtfertigungslehre sozusagen sein Intimfeind wurde.5
Auf der anderen Seite wurde das ausgehende 15. Jahrhundert von vielen als eine Zeit des Aufbruchs in eine neue Epoche erfahren: die Entdeckung der neuen Welt Amerikas durch Vasco da Gama und Kolumbus, der Untergang des über tausendjährigen Byzantinischen Reiches durch die Eroberung von Konstantinopel (1453), das Ende der Reconquista, die endgültige Vertreibung des Islams aus Spanien durch die Rückeroberung von Granada (1492), die Entdeckung der Buchdruckerkunst durch Johannes Gutenberg (1400–1468), die naturwissenschaftliche Revolution des Kopernikus (1473–1543), wonach sich nicht die Sonne um die Erde, sondern die Erde um die Sonne dreht. Das alles führte dazu, dass sich viele am Anfang einer neuen Zeit fühlten. Insgesamt also eine Zeit des Übergangs, eine »Sattelzeit« (Reinhart Koselleck), in der sich Altes und Neues begegneten, überlagerten und im Widerstreit miteinander lagen.
Nur aus dieser Spannung zwischen Mittelalter und Neuzeit kann man Luther verstehen. Er war ein Mensch seiner Zeit, nicht unserer Zeit. Dieser Übergangscharakter zeigt sich auch in der Kirche seiner Zeit. Es gab Niedergang und Verfall; aber es gab auch eine katholische Reform schon vor der Reformation. In Spanien beseitigte ein Nationalkonzil in Sevilla (1478) Missstände, die später zur Reformation führten, etwa den Ablasshandel. Es erschien dort die berühmte polyglotte, das heißt mehrsprachige Bibel von Alcalá. In Italien gab es Reformgruppen und Reformorden. Man spricht von einem italienischen evangelismo