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Waldröschen oder Die Rächerjagd rund um die Erde (später auch: Das Waldröschen oder die Verfolgung rund um die Erde) ist der erste von fünf Kolportageromanen von Karl May, erschienen zwischen zwischen 1882 und 1884 in 109 Fortsetzungen. Dies ist Band 3, Teil 1.
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Seitenzahl: 569
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Metavase, der Fürst des Felsens, Band 1
Karl May
Inhalt:
Matavese, der Fürst des Felsens, Teil 1
1. Kapitel.
2. Kapitel.
3. Kapitel.
4. Kapitel.
5. Kapitel.
6. Kapitel.
7. Kapitel.
8. Kapitel.
9. Kapitel.
10. Kapitel.
11. Kapitel.
12. Kapitel.
13. Kapitel.
14. Kapitel.
15. Kapitel.
16. Kapitel.
17. Kapitel.
18. Kapitel.
19. Kapitel.
20. Kapitel.
21. Kapitel.
22. Kapitel.
23. Kapitel.
24. Kapitel.
25. Kapitel.
26. Kapitel.
27. Kapitel.
28. Kapitel.
29. Kapitel.
30. Kapitel.
31. Kapitel.
32. Kapitel.
33. Kapitel.
34. Kapitel.
35. Kapitel.
36. Kapitel.
Matavase, Band 1, Karl May
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
Loschberg 9
86450 Altenmünster
ISBN: 9783849609528
www.jazzybee-verlag.de
Am 25. Februar 1842 wird Karl May wird als fünftes Kind des Webers Heinrich May und dessen Ehefrau Wilhelmine (geb. Weise) in Ernstthal (Sachsen) geboren. Obwohl er kurz nach seiner Geburt erblindet wird er im Alter von 5 Jahren von der Krankheit geheilt. Bereits mit 14 Jahren beginnt er eine Ausbildung zum Volksschullehrer, die er 1861 besteht. Noch im gleichen Jahr verliert May seinen Arbeitsplatz als Lehrer wegen wiederholten Diebstahls. Ab 1863 wird es ihm verboten zu unterrichten.
Von 1865 bis 1869 wird May immer wieder straffällig und muss von 1870 bis 1874 ins Gefängnis. Danach beginnt May zu schreiben und in "Der Deutsche Hausschatz" erscheinen erste Erzählungen: "Reiseabenteuer in Kurdistan", "Die Todeskaravane" oder "Stambul". Seine Romane erfahren immer mehr Zuspruch und 1893 erscheint die Winnetou-Reihe. Bis 1898 veröffentlicht May über 30 Bände mit immer steigender Auflage.
Erst 1899 unternimmt May erstmals eine Reise in den Orient, 1908 sieht er zum ersten Mal die Vereinigten Staaten. Alles was er geschrieben hatte war pure Fiktion! Er stirbt am 30. März 1912 an einem Herzschlag.
Zu seinen wichtigsten Werken zählen Durch die Wüste und Harem (1892) ,Durchs wilde Kurdistan (1892), Von Bagdad nach Stambul (1892), In den Schluchten des Balkan (1892), Durch das Land der Skipetaren (1892), Der Schut (1892), Winnetou I (1893), Winnetou II (1893), Winnetou III (1893), Orangen und Datteln (1893), Am Stillen Ozean (1894), Am Rio de la Plata (1894), In den Cordilleren (1894), Old Surehand I (1894), Old Surehand II (1895), Im Lande des Mahdi I (1896), Im Lande des Mahdi II (1896), Im Lande des Mahdi III (1896), Old Surehand III (1897), Satan und Ischariot I (1896) ,Satan und Ischariot II (1897), Satan und Ischariot III (1897), Auf fremden Pfaden (1897), „Weihnacht!“ (1897), Im Reiche des silbernen Löwen I (1898), Im Reiche des silbernen Löwen II (1898), Am Jenseits (1899), Der Sohn des Bärenjägers (1887), Der Geist des Llano estakato (1888), Der blaurote Methusalem (1888), Die Sklavenkarawane (1889/90), Der Schatz im Silbersee (1890/91), Das Vermächtnis des Inka (1891/92), Der Ölprinz (1893/94) und Der schwarze Mustang (1896/97).
Geht man in Paris am rechten Ufer der Seine vom Bassin du Canal St. Martin nach dem Boulevard Morland hinab, so kommt man nach den Quais des Célestins, des Ormes, de la Grève, Pelletier, de Gesvres und de la Mégisserie. Hinter dem letzteren zieht sich von Place des Louvres nach der Place du Châtelet als Fortsetzung der Rue des Prêtes die Straße St. Germain l'Auxerrois, an der sich die Mairie des vierten Arrondissements befindet. Gegenüber dieser Mairie, in der Rue de Lavande, Nummer 4, bewohnte Professor Letourbier die erste Etage.
Es war dies derselbe Professor, bei dem Doktor Karl Sternau assistiert hatte, ehe er nach Rodriganda ging. Er gehörte zu den berühmtesten medizinischen Größen der Metropole und hatte in Sternau ein Talent erkannt, in dem er einen würdigen Nachfolger finden konnte. Darum hatte er den Deutschen nicht gern nach Spanien gelassen und freute sich herzlich, als er ihn wiedersah.
Wir haben bereits gesehen, daß Sternau seinen Verfolgern in Spanien glücklich entkommen war; wir haben ihn sogar bereits in Rheinswalden bei dem Oberförster Rodenstein getroffen, wir wissen aber auch, daß er vorher in Paris bei Professor Letourbier war, um diesem seine geisteskranke Geliebte zu zeigen.
Zur Zeit dieses Aufenthalts in Paris war es, daß Sternau eines Abends ziemlich spät sich von dem Professor verabschiedete, um nach seinem Hotel zurückzukehren. Dieses lag in der Rue de la Barillerie, und er mußte daher durch die Saunerie über den Pont au Change gehen.
Die Brücke war infolge eines starken Nebels kaum notdürftig erleuchtet, so daß man Gesicht und Gehör anstrengen mußte, um Kollisionen zu vermeiden, und da sie jetzt nur von wenigen Passanten belebt wurde, erregte der einzelne mehr Aufmerksamkeit als zu einer bewegteren Tageszeit. Sternau hatte die Brücke fast überschritten, als er plötzlich vor sich eine halblaute Stimme hörte:
»Jesus, vergib mir!«
Von einer schnellen Ahnung getrieben, sprang er rasch vorwärts, aber er kam bereits zu spät. Eben als er den Mittelpunkt zwischen zwei Pfeilern erreichte, warf sich eine weibliche Gestalt von dem Geländer, das sie erstiegen hatte, hinab in die von dichten Nebeln überwallte Flut.
»Hilfe!« rief Sternau, so laut er vermochte.
Mehrere Stimmen antworteten vom Ufer und von der Brücke her.
»Es ist jemand von der Brücke gestürzt!« rief er ihnen zu.
Dann hatte er aber auch bereits Hut und Rock von sich geworfen und schwang sich nun seinerseits ebenfalls über das Geländer hinab.
Er war ein ausgezeichneter Schwimmer. Die Gewalt des Sprungs tauchte ihn tief unter die Oberfläche des Wassers, aber einige Augenblicke später schwamm er bereits oben, und da er sich denken konnte, daß die Unglückliche abwärts getrieben werde, gab er sich einige Stöße in dieser Richtung hin und hatte es gerade ganz außerordentlich gut getroffen, denn bald erschien vor ihm ein Frauenrock auf den Wogen. Er griff nach ihm und hielt ihn fest, warf ihn sich auf den Rücken, ließ sich treiben und zog den leblos scheinenden Körper an sich, um ihn dann quer über sich herüberzulegen.
»Holla, hier ist ein Kahn!« rief eine Stimme. »Gibt es noch Leben?« – »Hierher!« gebot er.
Am Ufer hatten sich bereits viele Neugierige versammelt. Der Kahn kam näher; es saß nur ein Mann darin.
»Ah«, sagte dieser, als er den Schwimmenden bemerkte, »das nenne ich Mut und Glück!« – »Bitte, nehmen Sie zunächst die Dame hinein«, bat Sternau. – »Natürlich, her damit!«
Die Frau wurde in den Kahn gehoben, und während der Ruderer sich auf der anderen Seite bestrebte, das Gleichgewicht zu halten, schwang sich auch Sternau hinein.
»Das ist gelungen!« meinte der Fremde. »Nun schnell an das Ufer!« – »Nein«, entgegnete Sternau. »Dort sind zu viele Leute!« – »Aber, das ist ja gut, mein Herr!« – »Unter diesen Umständen kaum, weil es eine Dame ist.« – »Sie sprang absichtlich in das Wasser?« – »Ja.« – »Dann haben Sie vielleicht recht. Man muß ihr die Beschämung ersparen. Aber die nächste Pflicht wäre es doch, für ihr Leben zu sorgen.« – »Ich bin Arzt!« – »Ach so, dann ist ja alles in Ordnung. Befehlen Sie also, daß ich abwärts fahre?« – »Ich bitte darum.«
Der Mann war ein Seinematrose. Während die Leute am Ufer auf die Befriedigung ihrer Neugierde warteten, lenkte er das Boot nach der Mitte des Stromarms und ließ es dort abwärts treiben. Unterdessen beschäftigte sich Sternau mit der Untersuchung der Geretteten. »Ist sie tot?« fragte der Matrose. – »Nein. Sie lebt; sie ist nur ohnmächtig.« – »Gott sei Dank! Das arme Kind hätte mir leid getan.« – »Wissen Sie nicht abwärts ein Haus, wohin wir es tragen könnten?« – »Ich weiß eins, mein Herr«, erwiderte der Matrose. »Da links am Quai Conti, gleich am Anfang der Straße Guénégaud wohnt unsere Mutter Merveille, die sicher ein kleines Stübchen zur Verfügung hat.« – »Wer ist diese Mutter Merveille?« – »Sie hat einen Kaffeeschank für ärmere Leute und ist eine sehr gute und anständige Frau.« – »So führen Sie uns zu ihr.«
Der Matrose lenkte nun nach dem linken Ufer des Flusses, wo er sein Boot befestigte. Sternau nahm das Mädchen auf den Arm und ließ sich von dem Mann führen.
Sie traten in ein Haus in der angegebenen Straße. Eine Parterrehälfte desselben wurde von dem Kaffeelokal eingenommen. Der Matrose bat den Arzt, einen Augenblick zu warten, und ging in die Küche. Bald trat die Wirtin heraus, einen Schlüssel und ein Licht in den Händen.
»Mein Gott!« sagte sie. »Ist es möglich! Eine Ertrunkene!« – »Nein, sie lebt noch, Madame«, erwiderte Sternau. »Haben Sie nicht ein Bett übrig?« – »Gern, sehr gern, mein Herr!« versetzte sie mit der eifrigsten Bereitwilligkeit »Kommen Sie nach hinten; dort ist das Schlafzimmer meiner Tochter.«
Der Matrose wollte sich anschließen, wurde aber von Mutter Merveille abgewiesen.
»Bleib, Gardon«, sagte sie. »Wir sind genug, der Herr Doktor und ich; deine Gesellschaft ist bei einer kranken Dame ganz überflüssig.«
Sternau hatte seine Gerettete noch gar nicht genauer betrachtet. Jetzt, als er sie in dem kleinen Zimmer zunächst auf das Sofa legte, damit sie von der Wirtin entkleidet werde, konnte er ihre Züge deutlich erkennen.
»Wie schön!« sagte Mutter Merveille. »Gebe Gott, daß sie wirklich lebt.« – »Sie lebt; sie wird genesen«, versicherte er, ergriffen von dem Ausdruck der sanften, bleichen Züge. »Legen Sie sie in das Bett.« – »Was mag sie veranlaßt haben, in das Wasser zu springen?«
Diese Frage wurde im Ton innigster Teilnahme, aber nicht in dem der Neugierde ausgesprochen.
»Ich vermute es«, sagte Sternau. »Vielleicht ist sie vom Vater ihres Kindes verlassen worden.« – »Ah«, sagte die Wirtin mit einem verständnisvollen Nicken. »Sie vermuten –? Hm, Sie sind Arzt; Sie werden das wissen. Armes Kind! Was ist jetzt zu tun?«
– »Sorgen Sie für eine Tasse Fliedertee. Ich werde bei ihr bleiben.« – »Aber, Monsieur, Sie sind ja durch und durch naß. Wo haben Sie Ihren Rock?« – »Ah, daran denke ich jetzt erst! Wie heißt der Matrose, der mich zu Ihnen brachte?« – »Gardon.« – »Senden Sie ihn nach dem Pont au Change, von welchem ich in den Fluß sprang. Dort warf ich Rock und Hut ab. Die Uhr und das Portemonnaie steckte ich in eine Tasche des Rocks. Ich vermute, daß man diese Sachen respektiert hat.« – »Sicher. Er soll eilen.«
Die Frau ging, und noch war sie kaum eine Minute fort, so begann das Gesicht der Geretteten sich zu röten. Ihre Hände bewegten sich, sie öffnete auch bald die Augen und blickte zunächst verwundert um sich.
»Was ist's?« fragte sie leise. »Wo bin ich?« – »Sie sind bei guten Leuten, Mademoiselle«, antwortete Sternau. »Wie befinden Sie sich?« – »Ich? Mich?« fragte sie langsam und sinnend.
Dann erschien ihr das Geschehene einzufallen. Sie verbarg das Gesicht in den Händen und weinte. Er ließ sie gewähren und saß bei ihr, ohne ein Wort zu sagen.
»Oh, warum bin ich nicht tot!« sagte sie endlich. – »Ist es Ihnen so leicht geworden, in den Tod zu gehen?« fragte er in mildem Ton.
Sie sah ihn mit großen, erschrockenen Augen an. »Leicht? Oh, schwer, so schwer!« – »Und dennoch taten Sie es!« Wieder legte sie ihr Gesicht in die Hände, um in ein erschütterndes Schluchzen auszubrechen.
»Oh, Monsieur, hätten Sie mich doch sterben lassen!« sagte sie. – »Der Mensch soll erst sterben, wenn Gott ihn ruft. Und Sie, wissen Sie nicht, daß Sie im Begriff standen, nicht nur sich selbst, sondern auch noch ein zweites Leben zu töten?« – »Oh, woher wissen Sie das? Sie kennen mich!« – »Nein. Ich bin Arzt. Ich habe Sie im Wasser gehalten und hierher getragen.«
Sie erglühte.
»Mein Herr, ich weiß, daß ich im Begriff gestanden habe, eine große Sünde zu begehen«, sagte sie, »aber mein Mut ist dahin.« – »Fassen Sie Vertrauen! Gott ist gut; er läßt keinen Menschen verlorengehen.« – »Ja, Gott ist gut; aber die Menschen, die Menschen ...!« – »Haben Sie bereits so schlimme Erfahrungen gemacht?« – »So schlimme, daß es nur noch den Tod gab.« – »Gab es keine Hilfe, keine Rettung?« – »Keine«, erwiderte sie dumpf. – »Mein Kind, das ist ja eine wirkliche Verzweiflung, zu der Sie jedenfalls das Recht nicht haben.« – »Nicht? Oh, wenn Sie wüßten!« – »So teilen Sie mir Ihren Kummer mit. Ich zweifle nicht daß ich imstande sein werde, Ihnen, wenn nicht Hilfe, so doch Rat zu bringen.« – »Unmöglich, mein Herr!« – »Warum unmöglich? Sie dürfen an meiner Bereitwilligkeit, Ihnen zu nützen, nicht zweifeln.« – »Ich zweifle nicht; ich sehe es Ihnen an, daß es Ihr Ernst ist, daß Sie ein Herz besitzen, das mild von einer Unglücklichen denkt; aber ich vermag Ihnen nicht zu erzählen.« – »Warum nicht?«
Sie errötete abermals tief und schwieg.
»Stehen Sie allein?« fragte er, um ihr die Mitteilung zu erleichtern. »Sie haben doch noch Eltern und Geschwister?« – »Nur den Vater und einen Bruder. Jener ist eigentlich Fischer, aber, ach, es ist lange her, seit er seinen Beruf nicht mehr betreibt« – »So hat er einen anderen Beruf erwählt?«
Sie schüttelte den Kopf und erwiderte nach einer Pause.
»Einen anderen? O nein, leider nein! Ach, mein Herr, wie bin ich doch so unglücklich!«
Sie hüllte ihr Gesicht in die Decke des Bettes und weinte wiederum. Er bat sie, aufrichtig zu sein, und seinem freundlichen Zureden gelang es endlich, sie zu beruhigen und zur Mitteilung zu bewegen.
»Mein Vater war ein so guter und nüchterner Mann«, sagte sie. »Ja, das war er – bis meine Mutter starb. Er hatte sie liebgehabt; er grämte sich und suchte Trost im Branntwein. Ich war ein Mädchen von neun Jahren, und mein Bruder war nur drei Jahre älter als ich. Der Vater gewann den bösen Trunk immer lieber, denn er kam in schlimme Gesellschaft. Er verkehrte bald mit Männern, die er früher verachtet hatte. Er verlernte die Arbeit, er verkaufte nach und nach alles, was er hatte, und wir begannen zu hungern.«
Sie hielt inne. Es wurde ihr sichtlich schwer, diese Geständnisse zu machen. Endlich fuhr sie fort:
»Mein Bruder war ein starker Knabe; er wurde Schmied. Die Schmiede sind sehr oft rohe und gewalttätige Leute; er wurde es auch, aber er hat mich immer liebbehalten, obgleich er bald in die Fußtapfen des Vaters trat, seine lohnende Arbeit aufgab und des Abends mit dem Vater ausging. Wenn sie dann des Nachts nach Hause kamen, so waren sie oft reich, oft auch arm, und ich durfte niemals fragen, woher sie die Dinge brachten, von deren heimlichem Verkauf sie lebten.« – »Armes Kind!« sagte Sternau.
Sie nickte traurig und fuhr fort:
»Einst kehrten sie nicht zurück, und ich wurde des anderen Tages zur Mairie zitiert. Dort erfuhr ich, daß beide gefangen seien: Man hatte sie bei einem Einbruch ertappt. Oh, das war ein trauriger Tag! Ich habe damals viel geweint, aber ich ließ den Mut nicht sinken. Während beide viele Monate lang im Gefängnis saßen, arbeitete ich bei einer Näherin; ich hatte keine Not und legte mir etwas Geld zurück, damit die Meinen nicht hungern sollten, wenn sie wieder frei würden. Sie kamen; sie nahmen mein Erspartes und vertranken es. Ich mußte zu ihnen ziehen, das alte Leben begann von neuem, und obwohl sie wiederholt bestraft wurden, besserten sie sich nicht. Nun war ich groß geworden, und der Vater sagte, daß ich hübsch sei, und meinte, jetzt sei die Zeit gekommen, in der er sich nicht mehr zu plagen und zu sorgen brauche. Darauf brachte er junge Männer zu mir, Männer, vor denen mir graute. Ich widerstand lange, aber ich erhielt Schläge. Ich wollte gehen, fliehen, aber ich wurde eingeschlossen. Endlich zwang man mich eines Abends, starken Wein zu trinken; ich wurde sehr betrunken, alles andere können Sie sich denken.«
Sie hielt abermals inne. Die Erinnerung an jene Zeit entlockte ihr ein Meer von Tränen.
Sie hatte in kurzen Worten eine Biographie gegeben, wie sie in Paris auf Tausende junger Mädchen paßte, denen die Ehrlosigkeit und Pflichtvergessenheit der Eltern zum Fluch wird.
»Haben Sie nie einen Schritt getan, um sich von der Behörde Hilfe zu verschaffen?« fragte Sternau. – »Nein«, antwortete sie. »Es waren ja mein Vater und mein Bruder.« – »Und nun? Was gedenken Sie nun zu tun, mein Kind?« – »Oh«, klagte sie, »ich weiß, daß ich dennoch in die Seine gehen muß.« – »Nein, das sollen Sie nicht. Ich werde dafür sorgen, daß Sie es nicht nötig haben.«
Ihr trauriges Angesicht klärte sich auf, und mit einem hoffnungsvollen Leuchten ihrer Augen fragte sie:
»Mein Gott, ist dies Wahrheit? Sie wollen mir wirklich helfen, ohne daß es dem Vater und dem Bruder Schaden bringt?« – »Ja, ich werde helfen, und, wenn es zu umgehen ist, jeden Schaden vermeiden.« – »Oh, Monsieur, wie dankbar wollte ich Ihnen sein«, rief sie entzückt »Man hat mich zu den Verachteten gezählt, aber ich bin nicht schuld daran. Ich will ja gern arbeiten; ich will gern alles tun, um Ihre Zufriedenheit zu erlangen. Glauben Sie es mir?«
– »Ich glaube es Ihnen«, erwiderte er. »Wo wohnen Sie?« – »Wir wohnen in einem Hinterhaus der Rue St. Cloy.« – »Das ist allerdings ein schlimmes Quartier. Zu einer in dieser Winkelstraße liegenden Hinterwohnung kann man kein Vertrauen haben.«
Da öffnete sich die Tür, und die Wirtin trat ein.
»Hier ist der Fliedertee«, sagte sie. »Ah, Sie sind wieder zu sich gekommen, mein Kind?« – »Ja«, antwortete das Mädchen. »Oh, Madame, wie dankbar bin ich Ihnen, daß Sie sich meiner so freundlich angenommen haben!« – »Ich tat es gern. Sie haben nur diesem Herrn zu danken. Trinken Sie schnell den Tee, damit die Schmerzen aufhören. Ah, da kommt ja unser braver Gardon wieder.«
Wirklich trat der Matrose wieder ein. Hinter ihm befanden sich zwei Männer, die mit hereinwollten, von ihm aber bedeutet wurden, zurückzubleiben.
»Hier, mein Herr, sind Ihre Sachen«, sagte er. – »Ah, sie sind nicht verlorengegangen?« fragte Sternau. – »Nein, ein Polizist hatte sie an sich genommen.« – »Und er gab sie Ihnen ohne Weigerung?« – »Wie Sie sehen. Er kannte mich. Ja, Monsieur, der Matrose Gardon ist hier als ein ehrlicher Mann bekannt, man darf ihm schon etwas anvertrauen.« – »Wie fanden Sie es an der Brücke?« – »Es standen viele Menschen da, die auf die Rückkehr unseres Bootes warteten. Zwei von ihnen sind mitgekommen.« – »Was wollen sie?« – »Sie wollen diese Demoiselle sehen, sie vermuten, daß es eine Anverwandte von ihnen sei.« – »Wie heißen sie?« fragte das Mädchen. – »Sie nannten sich Mason, Vater und Sohn.« – »Sie sind es«, sagte sie. »Mein Name ist Annette Mason.« – »Wünschen Sie, sie zu sehen?« fragte Sternau. – »Darf ich, mein Herr?« – »Ja. Wir werden uns einstweilen entfernen.« – »Die anderen mögen gehen, Sie aber bitte ich zu bleiben, Monsieur. Ich fürchte mich vor dem Vater!« – »Gut«, sagte Sternau zur Mutter Merveille. »Lassen Sie die beiden eintreten.«
Dieselbe entfernte sich mit dem Matrosen, und die beiden Masons traten ein.
Der Vater hatte ein wüstes, versoffenes Aussehen; es war gar nicht zu verkennen, daß er der Sünde und dem Verbrechen ohne Rettung verfallen sei. Der Sohn war eine kräftige, robuste Gestalt und ganz sicher ein ungeschlachter, gewalttätiger und gewissenloser Mensch, aber in seinem Auge glänzte doch so etwas wie ein Freudenschimmer, als er seine Schwester erblickte. Der Vater eilte sofort auf sie zu.
»Endlich habe ich dich!« rief er. »Heraus aus dem Bett und folge mir!« – »Ich bin krank, Vater«, entgegnete sie bittend. – »Krank?« fragte er. »Du bist ja wach, du kannst ja sprechen. Heraus und fort mit dir!«
Da trat ihr Bruder zu ihr heran und fragte:
»Du bist wirklich in die Seine gesprungen, wie du uns drohtest, Annette?« – »Ja«, gestand sie leise. – »Welch eine Dummheit!« – »Dummheit?« rief der Vater. »Nein, eine Schlechtigkeit war es! Sie wollte uns blamieren, sie wollte uns um das Geld bringen, was sie zu verdienen hat. Sie mag uns jetzt folgen, und daheim soll sie sehen, was ihrer wartet.« – »Du wirst ihr nichts tun«, versetzte der Sohn. – »Nichts? O nein, nichts, gar nichts!« antwortete der Vater höhnisch. – »Nein, ich verbiete es dir!« – »Was hättest du mir zu befehlen! Sie soll gehorchen lernen!« – »Das wird sie, aber ohne daß du sie schlägst. Sie hat eine Dummheit begangen und wird sie bereuen. Komm, Annette!«
Das Mädchen blickte Sternau hilfesuchend an. Die beiden Männer hatten sich bisher gar nicht um ihn gekümmert. Er sagte nun mit ruhiger, aber fester Stimme:
»Die Demoiselle wird hierbleiben.« – »Ah«, entgegnete der Vater. »Wer sind Sie?« – »Ich habe Ihre Tochter aus der Seine geholt und hierhergebracht und glaube mir dadurch das Recht erworben zu haben, an Ihrer Unterhaltung teilnehmen zu können.«
Der Alte blickte ihn giftig an und erwiderte:
»Meinetwegen. Aber unsere Unterhaltung ist leider bereits vorüber.« – »Wohl schwerlich«, meinte Sternau. »Sie verlangen, daß Ihnen Ihre Tochter folgt, und ich verbiete es ihr.« – »Ah! Wirklich?« fragte Mason höhnisch. »Mit welchem Recht?« – »Zunächst mit dem Recht des Arztes.« – »Oh, Sie sind Arzt? Sie holen sich Ihre Patienten selbst aus dem Wasser? Das ist außerordentlich praktisch. Leider aber steht es hier nur allein mir zu, zu bestimmen, von welchem Arzt meine Tochter behandelt werden soll.« – »Schweig, Alter!« gebot der Sohn. »Dieser Herr hat Annette gerettet, er ist ihr nachgesprungen und hat sein Leben gewagt, seine Kleider triefen noch jetzt vom Wasser des Flusses. Du bist ihm Dank schuldig und wirst höflich mit ihm sein. Wenn er Arzt ist, werden wir seine Meinung anhören.« – »Den Teufel werde ich anhören!« entgegnete der Alte. »Das Mädchen will ich haben, weiter nichts! Vorwärts!«
Damit faßte er Annette bei der Hand, um sie aus dem Bett zu ziehen, da aber schob ihn Sternau zur Seite.
»Halt«, sagte er. »Sie haben diese Patientin nicht zu berühren. Ich als Arzt muß wissen, ob sie bereits jetzt das Bett verlassen darf. Sie wird bleiben, sie wird Ihnen nicht folgen, jetzt nicht und vielleicht auch nicht später.« – »Ah, wirklich?« fragte der Alte ganz erstaunt. – »Ja, wirklich!« – »Und das sagen Sie mir, mir, dem Vater?« – »Wie Sie hören. Zunächst ist Ihre Tochter krank, sie bleibt heute hier liegen. Und sodann weiß ich ganz genau, was für ein Schicksal ihrer daheim wartet, sie wird nicht nach Hause zurückkehren.« – »Nicht? Gewiß nicht?« fragte der Alte zwischen maßlosem Erstaunen und aufkeimendem Zorn. – »Nein, gewiß nicht Sie haben nicht als Vater an ihr gehandelt. Sie haben Ihre Vaterrechte verloren, es wird anderweit für sie gesorgt werden.« – »Nicht als Vater an ihr gehandelt? Nicht, nicht? Wer hat dies gesagt? Sie selbst, keine andere als sie selbst. Und das soll sie mir büßen.«
Er erhob den Arm, um nach seiner Tochter zu schlagen, Sternau aber gab ihm einen Stoß, daß er zurückfuhr und an die Wand taumelte. Da trat der Sohn, der sich bisher nur beobachtend verhalten haue, vor und sagte:
»Mein Herr, Sie haben meine Schwester gerettet, aber das gibt Ihnen noch kein Recht, meinen Vater zu schlagen!«
Sternau erhob sich von dem Stuhl, auf dem er saß, und stellte sich mit seiner Herkulesgestalt dem Schmied gegenüber, der nun erst merkte, welch einen Mann er vor sich hatte.
»Monsieur Mason«, sagte er, »es ist gar nicht meine Absicht Ihren Vater zu schlagen, ich beabsichtige nur, mich dieses Mädchens anzunehmen. Ich sage Ihnen aufrichtig, daß sie Ihnen nicht folgen wird, sondern daß ich sie in die Familie braver, rechtlicher Leute bringen werde, wo sie sich glücklich fühlen wird. Das werde ich tun, und wer mich daran zu hindern versucht, der hat es sich selbst zuzuschreiben, wenn ich Gewalt anwende.« – »Wie schön das klingt«, höhnte der Alte. »Er will sie für sich selbst behalten.« – »Pah«, antwortete Sternau, »ich bin fremd, ich verlasse sehr bald diese Stadt, meine Absicht ist eine reine und ehrliche.« – »Ich glaube es Ihnen«, sagte der Sohn. »Sie sehen wie ein ehrlicher Mann aus. Aber was wollen Sie tun, wenn wir Ihnen die Schwester nicht lassen?«
Sternau lächelte überlegen und antwortete:
»Glauben Sie, daß Sie mir dieselbe vorenthalten können?« – »Gewiß!« – »Sie irren sich. Ich brauche nur zu beweisen, daß Sie ohne Existenzmittel sind und daß Sie es Ihrer Tochter und Schwester zumuten, Sie auf eine Weise zu ernähren, die gegen alle sittlichen Gesetze verstößt, so wird sich die Polizei sofort Ihrer Schwester annehmen und auch auf Sie ein wachsameres Auge haben als bisher.« – »Donnerwetter, Sie drohen uns?« – »Allerdings!« – »Und Sie glauben, daß wir uns fürchten?« – »Ich vermute es!« – »Ah, das hat mir noch keiner gesagt.« – »Das ist möglich, also sage ich es. Ich rate Ihnen sehr, sich den gegenwärtigen Umständen gutwillig zu fügen. Ihr Widerstand würde nicht nur nutzlos, sondern Ihnen sogar schädlich sein.« – »Das wollen wir sehen«, meinte der Vater. »Fasse an, Junge, sie muß mit!«
Aber der Sohn folgte diesem Ruf nicht. Er sah den hohen stolzen Deutschen vor sich stehen, er blickte in dessen mildes und doch so ernstes Auge und fühlte sich durch den Blick desselben besiegt und entwaffnet. Es war der Eindruck einer reinen, festen Männlichkeit auf einen moralisch haltlosen Charakter.
»Schweige!« gebot er seinem Vater. Und dann fragte er den Arzt: »Sie meinen es mit meiner Schwester wirklich ehrlich und werden dafür sorgen, daß sie einen guten Weg durch das Leben findet, dadurch, daß Sie ihr eine Stellung in einer hiesigen Familie geben?« – »Ja, gewiß werde ich dies tun.« – »Und sie nicht veranlassen, ihren Vater und Bruder zu verleugnen und zu verachten?« – »Es wird das auf sie selbst ankommen, ich werde sie in dieser Beziehung nicht im mindesten beeinflussen. Ich bahne ihr den Lebensweg; ob und wie sie ihn wandeln wird, das ist ganz allein nur ihre eigene Sache.« – »Werden wir erfahren, wo sie sich befindet?« – »Sie wird es Ihnen mitteilen.« – »Gut, mein Herr, so sind wir einig. Ich überlasse Ihnen meine Schwester gern.« – »Aber ich überlasse ihm meine Tochter nicht!« rief der Vater. »Ich brauche sie, ich bin alt und schwach, ich kann nicht mehr arbeiten.« – »Sie haben einen Sohn«, sagte Sternau, »einen starken, kräftigen Sohn, der gewiß gern für Sie sorgen wird.« – »Ja«, sagte der Sohn. »Komm, Vater, wir gehen unseren Weg weiter, aber wir wollen uns dabei von dem Vorwurf freihalten, daß wir Annette mit uns gerissen haben.« – »Nein, ich gehe nicht, ich bleibe, bis das Mädchen gehorcht«, behauptete der Alte. – »Pah! Ich will es, und so wirst du es auch wollen«, meinte der Sohn. »Ich will morgen wieder nachfragen, jetzt aber gehen wir. Vorwärts!«
Der Vater wollte sich sträuben, der Sohn aber faßte ihn und schob ihn zur Tür hinaus.
Annette hatte während des Verlaufs des Gesprächs wortlos im Bett gelegen, jetzt aber streckte sie dem Arzt ihre Hand entgegen.
»Mein Herr, oh, wie danke ich Ihnen«, sagte sie. »Sie sind mein doppelter Retter. Sie haben mich zweimal gerettet, erst aus dem Wasser der Seine und nun aus dem Schlamm des Elendes, in das man mich zurückziehen wollte.«
Sternau bemerkte, daß ihr große Schweißtropfen auf der Stirn standen.
»Was ist Ihnen?« fragte er. »Sie schwitzen infolge des Tees?« – »Ich weiß es nicht Ich habe so große Schmerzen.« – »Plötzlich?« – »Ja, ich kann sie kaum ertragen!« – »Ach, ich ahnte es. Ich werde Ihnen jemand schicken. Haben Sie nur kurze Zeit Geduld.«
Damit zog Sternau seinen Rock an und setzte seinen Hut auf, um zu gehen. Draußen trat ihm bereits die Wirtin entgegen.
»Ich hörte die beiden Menschen gehen. Mein Gott waren dies rohe Leute!« – »Sie sind bereit Madame, das Mädchen bis zu ihrer Genesung bei sich zu behalten?« – »Von Herzen gern, mein Herr.« – »Aber Sie werden viel Störung von ihr haben.« – »Davor scheue ich mich nicht. Das Mädchen ist nicht schuld an seinem Elend.« – »Gewiß nicht. Was Sie an ihr tun, wird Gott Ihnen lohnen. Übrigens versteht es sich von selbst, daß ich die auflaufende Rechnung auf mich nehme.« – »Das ist sehr edel von Ihnen, mein Herr, obgleich ich nicht danach fragen würde, trotzdem ich selbst arm bin.« – »Nun, dann nehmen Sie hier diese Börse, Madame. Ich werde jetzt gehen, morgen früh aber wieder hier sein. Gute Nacht!«
Als Sternau sein Hotel in der Rue de la Barillerie erreichte, war es bereits Mitternacht. Er besuchte zunächst seine kranke Braut die sich in abgeschiedenen Räumen unter der Aufsicht der guten Elvira und einer barmherzigen Schwester befand, und ging dann schlafen.
Am anderen Morgen besuchte er seine Gerettete bei Mutter Merveille wieder. Es ergab sich, daß er gestern abend ganz richtig vermutet hatte, Annette befand sich aber trotz der Schwäche außer Gefahr.
Sternau begab sich hierauf zu Professor Letourbier, bei dem er zum Frühstück eingeladen war. Im Lauf des letzteren erzählte er sein gestriges Abenteuer und erregte dadurch die Teilnahme der Frau Professorin in einer solchen Weise, daß sie sich erbot, das Mädchen zu sich zu nehmen. Das hatte er beabsichtigt.
Besonders erfreut war er, als die Professorin bei seinem Fortgang bat, ihn zu seiner Patientin begleiten zu dürfen.
Sie fanden dieselbe jetzt einigermaßen gekräftigt. Das Mädchen weinte Tränen der Freude, als es hörte, daß es eine solche Beschützerin erhalten solle, und wurde von Sternau auch sofort der Professorin definitiv übergeben.
Zwei Tage später reiste er mit Rosa, Alimpo und Elvira ab, um seine Mutter und Schwester in Rheinswalden aufzusuchen. Der geehrte Leser weiß bereits, daß es ihm dort gelang, die Geliebte von ihrem Irrsinn zu heilen.
Es war nur einen Tag nach Sternaus Abreise von Paris, als auf dem Perron der Bahn nach Orleans ein junger Herr aus einem Wagen erster Klasse stieg. Ein schwarzgekleideter Diener, der in einem Wagen zweiter Klasse gesessen hatte, eilte herbei, um ihm behilflich zu sein.
»Das Gepäck bleibt hier. Einen Wagen nach irgendeinem Hotel!«
Der Diener gehorchte, und bald rollten beide einem auf dem nahen Platz Walhubert liegenden Hotel zu. Dort verlangte der Fremde neben einer Flasche Wein das Adreßbuch der Stadt Paris und schlug da die Abteilung »L« auf. Hier glitt er mit dem Finger von Zeile zu Zeile, bis er auf den Namen »Letourbier, Charles François, Professeur de medecin« stieß.
»Dort ist seine Adresse ganz sicher zu erfahren«, murmelte er. »Bei diesem Professor war er, ehe er nach Rodriganda kam, und bei ihm wird er jedenfalls auch wieder vorgesprochen haben. Also Rue de Lavande 4.«
Darauf gab er seinem Diener einen Wink und sagte zu ihm mit gedämpfter Stimme:
»Du erwähntest, als ich dich in Orleans engagierte, daß du Paris kennst.« – »Allerdings, gnädiger Herr.« – »Weißt du, wo die Rue de Lavande liegt?« – »Ganz genau. Sie verbindet die große Rue de Rivoli mit dem Quai de la Mégisserie.« – »Gut. Du nimmst jetzt eine Droschke und suchst Nummer 4 dieser Straße. Dort wohnt ein Professor Letourbier, bei dem erfahren werden kann, wo ein gewisser Doktor Karl Sternau zu finden ist, der vor kurzer Zeit aus Spanien zurückkehrte.« – »Darf ich direkt beim Professor nachfragen?« – »Es würde mir das nicht angenehm sein, ist es aber nicht zu umgehen, so mußt du es tun.« – »Darf man wissen, wer die Adresse dieses Arztes haben will?« – »Nein, auf keinen Fall.« – »Ich werde bald wieder zurück sein.«
Der Diener ging und setzte sich in eine Droschke. Da, wo die Rue de Lavande an die Straße St Germain l'Auxerrois stößt, stieg er aus und trat in das Portal der Mairie, der die Nummer 4 gegenüberlag. Er sah da drüben zahlreiche Leute ein und aus gehen und bemerkte endlich ein Mädchen, das begann, mit einem Besen den Flur zu reinigen. Er begab sich hinüber zu ihr und grüßte höflich:
»Guten Morgen, Mademoiselle. Verzeihen Sie! Dienen Sie in diesem Haus?« – »Ja«, antwortete sie, sichtlich geschmeichelt von dem höflichen Ton seiner Anrede. – »In welcher Abteilung desselben?« – »Im Parterre.« – »Ah, wie schade, ich hätte nämlich gern in der ersten Etage eine kleine Erkundigung eingezogen.« – »Darf ich es Marion sagen?« – »Wer ist Marion?« – »Das Stubenmädchen des Professors, der da oben wohnt.« – »Ja, bitte, Mademoiselle. Aber es wird doch nicht auffallen?« – »Nein, mein Herr.«
Sie hüpfte davon und die Treppe empor. In kurzer Zeit kehrte sie mit einem Mädchen zurück, das die eigentümliche Tracht der Bretagne trug.
»Das ist der Herr, Marion«, sagte sie. – »Was wünschen Sie zu wissen, Monsieur?« fragte Marion in dem harten Dialekt der Bretagne. – »Eine kleine Auskunft, mein Fräulein.«
Dabei griff der Diener in die Tasche und offerierte einem jedem der beiden Mädchen ein blankes Frankstück.
»Sie soll Ihnen werden, mein Herr«, entgegnete Marion. »Ich sehe, daß Sie in einem gebildeten Haus dienen.« – »Das ist allerdings wahr«, versetzte er. »Mein Herr ist der Vicomte de Rallineux, der leider bereits längere Zeit krank darniederliegt.« – »Ah, ich bedaure«, sagte das Mädchen des Parterres höflich. – »Ich ebenso«, fügte Marion hinzu. – »Danke, meine Damen. Der Herr Vicomte bediente sich früher eines Doktors Sternau, dessen Geschicklichkeit er fast seine Heilung zu verdanken hatte, als dieser Arzt plötzlich nach Spanien verreiste.« – »Ich weiß das«, beeilte Marion sich zu bemerken. »Monsieur Sternau erhielt einen Ruf zu dem berühmten Grafen de Rodriganda.« – »Das war schlimm für den Herrn Vicomte, denn sein Übel wurde sofort größer, und kein Arzt brachte Hilfe. Jetzt erfährt mein Herr zufällig, daß Monsieur Sternau von Spanien zurückgekehrt sei ...« – »Allerdings, mein Herr!« – »So erteilte er mir den Auftrag, mich hier zu erkundigen, natürlich aber, ohne den Herrn Professor selbst zu inkommodieren.« – »So wollen Sie also wissen, wo Monsieur Sternau wohnt? Das kann ich Ihnen ganz genau sagen. Kennen Sie die Straße de la Barillerie?« – »Ich kenne sie«, nickte er. »Auf der rechten Seite dieser Straße liegt der Justizpalast und die kleine Straße St. Chapelle, und an der Ecke dieser Straße steht das Hotel d'Aigle. In demselben bewohnt Monsieur Sternau einige Zimmer der ersten Etage.«
Das Mädchen hatte das in sehr umständlicher Weise gesagt, dennoch aber machte der höfliche Diener eine tiefe Verbeugung und erwiderte:
»Ich danke Ihnen, Mademoiselle. Wird Monsieur Sternau um diese Zeit zu sprechen sein?« – »Ich weiß es nicht. Ah, da fällt mir ein, gehört zu haben, daß vorgestern von seiner Abreise die Rede war.« – »Sie meinen also, daß ich mich beeilen muß?« – »Gewiß, mein Herr. Ich hörte zwar nur im Vorübergehen eine Silbe fallen, aber es ist doch besser, Sie gehen sicher.« – »Dann darf ich Ihnen nicht länger mißfällig sein. Adieu, meine Damen!«
Er verabschiedete sich mit einem Kompliment, als wenn er zwei Herzoginnen vor sich habe. Sie blickten ihm nach, und dann meinte Marion:
»Ein sehr feiner Herr!« – »Sehr fein«, nickte die andere. – »Ich wollte, er fände den Doktor nicht. Dann käme er vielleicht wieder.« – »Hm, ja! Ich werde den Flur ein wenig langsam kehren, damit ich noch da bin, wenn er etwa zurückkommt.« – »Aber du wirst mich sofort rufen?« – »Gewiß. Dieser Vicomte de Rallineux muß ein sehr feiner Herr sein!« – »Sicherlich, denn einen Herrn erkennt man an seinem Diener. Ein Diener ist nicht immer in der Lage, Douceurs von zwei Franken zu geben.«
Die Erwartung der beiden Mädchen erfüllte sich nicht. Der Diener kehrte zu seinem Herrn zurück und teilte ihm mit, was er erfahren hatte.
»Hotel d'Aigle sagst du?« fragte dieser. – »Ja, Rue de la Barillerie.« – »So werden wir dort wohnen.« – »Soll ich einen Wagen besorgen, gnädiger Herr?« – »Nein.«
Der Herr starrte eine Weile ins Leere und drehte sich, wie in einiger Verlegenheit, die Spitzen seines Schnurrbarts; dann sagte er:
»Du bist wirklich in Paris gut orientiert?« – »Sehr genau.« – »Hm, es gilt nämlich einen Scherz.«
Der Diener verbeugte sich.
»Dieser Doktor Sternau ist ein Freund von mir, soll mich aber nicht erkennen.« – »Ah, ich verstehe, gnädiger Herr! Sie wünschen, sich zu verkleiden und bedürfen eines falschen Bartes und so weiter!« – »Ja, aber alles sehr fein gearbeitet. Kennst du einen Ort, wohin man sich in dieser Angelegenheit mit Vertrauen wenden könnte?« – »Hm, es ist bedenklich, der gnädige Herr verzeihen; aber das Verlangen nach einer solchen Veränderung des Äußeren ist leicht verdächtig.« – »Ich weiß das!« – »Darum gestatte ich mir einen Vorschlag, der allerdings kühn ist. Es gibt hier Leute, die sehr oft ihr Äußeres verändern, doch nicht eines Scherzes halber...« – »Ah, die Ritter des Verborgenen!« – »Ja. Ihnen stehen Künstler zu Diensten, denen selbst der gewandteste Theaterfriseur das Wasser nicht zu reichen vermag. Diese Künstler wohnen freilich nur im Dunklen, im Schmutz, und ich weiß nicht...« – »Pah! Kennst du einen solchen Menschen?« – »Ja, es ist der alte Papa Terbillon; er wohnt im Keller eines Hauses der Rue de l'Odéon.« – »Du meinst, daß er imstande sein wird, mich so zu verändern, daß mich selbst mein bester Freund nicht erkennt?« – »Ganz gewiß.« – »Ist man bei ihm vor Verrat sicher?« – »Er ist stumm in solchen Dingen.« – »Schlingel! Hätte doch nicht gedacht, einen Diener zu bekommen, der in diesen Dingen solche Erfahrung besitzt.« – »Verzeihung, gnädiger Herr! Die Herren, denen ich diente, zwangen mich, mir Kenntnisse solcher Art anzueignen.« – »So führe mich! Ist es weit?« – »Ziemlich! Es ist am Ende der Rue de Vaugirard in der Nähe von St. Sulpice.«
Sie verließen das Hotel und bestiegen eine Droschke, mit der sie sich bis zur Straße Monsieur le Prince fahren ließen. Dort stiegen sie aus und begaben sich zu Fuß nach der Odéonstraße.
»Kennt der Alte dich?« fragte der Herr. – »Ja.« – »So magst du mit eintreten.«
Als sie das Haus erreichten, schritten sie durch den weiten Torweg desselben nach dem Hof und gelangten dort an eine Art Kellertür, neben der ein hölzerner Klingelgriff befestigt war. Der Diener klingelte, und es dauerte eine geraume Zeit, bis geöffnet wurde. Ein altes Weib erschien.
»Was wollt ihr?« fragte sie. – »Ist Papa Terbillon daheim?« erkundigte sich der Diener. – »Ja.« – »So laßt uns ein! Wir sind Freunde. Sagt es ihm!« – »Wartet!«
Sie verschwand und schloß die Tür hinter sich zu, und die beiden mußten sich abermals eine längere Weile gedulden.
Dies hatte seinen guten Grund. Papa Terbillon nämlich war nicht allein, sondern hatte Besuch. Es befand sich bei ihm ein junger, ungewöhnlich stark gebauter Mensch, in dem wir den Schmied Gerard Mason, den Bruder Annettes, wiedererkennen.
Der alte Terbillon war ein vorn und hinten ausgewachsenes Männchen mit einem vollständig kahlen Kopf. Er trug eine große Hornbrille auf der langen Nase und steckte in einem Schlafrock, der aus Flicken und Flecken zusammengesetzt war.
Das Zimmer, in dem die beiden saßen, war nur ein Loch zu nennen. Es enthielt einen alten Tisch, drei Stühle, ein Bänkchen, einen kleinen Windofen, einen alten Spiegel und eine Petroleumlampe, die immer brennen mußte, da der Raum kein Fenster besaß.
Aus diesem Meublement hätte man sicher nicht auf den Stand und die Beschäftigung des Alten zu schließen vermocht, der auf dem Schemel hockte, die Arme um die emporgezogenen Knie gelegt hatte und dem zuhörte, was ihm der Schmied mitteilte.
»Und sie rannte wirklich fort?« fragte er. – »Ja.« – »Und ins Wasser?« – »Geradewegs.« – »Welch eine Dummheit! Sie ist natürlich ertrunken?« – »Nein.« – »Nicht?« Bei Gott, was denn?« – »Sie wurde von einem Herrn gesehen; der sprang ihr nach und zog sie wieder heraus.« – »Wieder heraus? Welch eine Albernheit! Einen Menschen, der sich ersäufen will, den läßt man im Wasser; das versteht sich ja ganz von selbst. Wer war der Kerl?« – »Ich weiß es nicht.« – »Hast du ihn nicht gesehen?« – »Allerdings, sogar gesprochen habe ich ihn.« – »Und weißt nicht, wer er war! Welch eine Dummheit!« – »Ja, ich habe ihn gesehen, ich habe ihn gesprochen, aber ich habe ihn nicht gefragt, wer er ist. Er hatte etwas an sich, was mir den Mut zur Frage nahm.« – »Dummheit!« – »Und zudem glaubte ich, daß Annette ihn fragen würde.« – »Und sie hat es wohl auch nicht getan? Welch eine Albernheit!«
Der alte Terbillon schien die Worte Dummheit und Albernheit vorzugsweise gern zu gebrauchen. Sein Gesicht hatte Affenzüge, und seine ganze Gestalt zeigte etwas Meerkatzenähnliches.
»Sie hat geglaubt, ihn öfters zu sehen, aber er ist nicht wiedergekommen«, entschuldigte sich der Schmied. »Er ist abgereist« – »So war er ein Fremder?« – »Jedenfalls. Er ging über die Brücke, als Annette ins Wasser sprang; er stürzte sich ihr nach und rettete sie, er trug sie zur Mutter Merveille, wo sie verpflegt wurde, und nun soll sie in die Familie des großen Letourbier kommen.« – »Des Professors! Wie kommt sie zu diesem?« – »Ihr Retter hat sie empfohlen.« – »Und das laßt ihr euch gefallen? Welch eine Dummheit wieder! Wißt ihr, daß sie euch eine sehr gute Revenue einbrachte? Daß ihr also gar nicht zu arbeiten brauchtet?« – »Richtig! Das ist wahr.« – »Und daß ihr nun arbeiten müßt?« – »Das wollen wir; deshalb komme ich zu dir, Papa Terbillon. Du wirst mir Arbeit geben.« – »Ich? Hm! Du hast bisher für den alten Gambreully gearbeitet?« – Ja, an der Garotte.«
An der Garotte arbeiten heißt nämlich, einsame Spaziergänger überfallen, ihnen die Kehle zudrücken oder zuschnüren, um ihnen die Barschaft abzunehmen. Hierzu gehören sehr kräftige Leute, und gewöhnlich arbeiten zwei miteinander. Diese Arbeit wird förmlich geschäftsmäßig betrieben. Es gibt wirkliche Entrepreneurs – Unternehmer –, die fünfzig und mehr Arbeiter in verschiedenen Fächern beschäftigen.
»Was hast du dir verdient?« – »Verdammt wenig. Sechs Franken pro Tag.« – »Hm, ich würde dir acht Franken geben, denn du bist ein kräftiger Bursche. Wie oft bist du bereits gefangen gewesen?« – »Erst fünfmal.« – »Und dein Vater?« – »Zwölfmal.« – »Welche Dummheit! Zwölfmal! Du scheinst klüger zu sein als dein Alter. Willst du für acht Franken arbeiten, so schlage ein.« – »Ich möchte doch nicht bei der Garotte stehenbleiben, vielmehr avancieren. Was gibst du einem guten Einbrecher?« – »Das ist verschieden. Bis hundert Franken pro Tag, nämlich pro Arbeitstag!« – »Ach so, hast du schon genug Kräfte?« – »So ziemlich, obgleich ein tüchtiger Kerl allezeit zu gebrauchen ist. Laß dir also etwas sagen. Ich werde dich einmal auf Probe nehmen, zunächst für zehn Franken an die Garotte. Ist's dir recht?« – »Gut, ich tue mit, habe aber kein Geld.« – »So beginnen wir gleich heute. Ich werde dir den heutigen Tag bezahlen.«
Terbillon griff in die Seitentasche seines alten Schlafrocks und zog einen ledernen Beutel heraus; diesem entnahm er ein goldenes Zwanzigfrankenstück und gab es dem Schmied.
»Hier hast du deinen ersten Tagelohn. Bin ich mit dir zufrieden, so gehst du bald zu den Einbrechern über. Aber, du kennst unsere Gesetze und weißt, daß für den Lohn, den ich dir zahle, alles mir gehört, was du erbeutest.« – »Ja, dies ist mir vollständig bekannt.« – »Denke daran, daß man seine Arbeiter zu kontrollieren versteht! Es hat mich schon mancher betrügen wollen, für kurze Zeit ist ihm dies gelungen, dann aber ...« – »Nun, dann?« – »Dann sind sie zur Strafe stets in das Zuchthaus gewandert. Ich bezahle meine Leute gut, sind sie aber unehrlich gegen mich, so weiß ich ihnen stets die Polizei auf den Hals zu schicken. Aber da fällt mir ein, du hast einen Spitznamen?« – »Ja.« – »Man nennt dich Gerard l'Allemand, ›den Deutschen‹. Warum?« – »Weil ich deutsch spreche und verstehe.« – »Wo hast du es gelernt?« – »Von meiner Mutter, sie war eine Deutsche. Und vor drei Jahren habe ich das ganze Elsaß und Baden durchwandert.« – »Das ist mir lieb; du wirst gut zu gebrauchen sein.«
In diesem Augenblick ertönte eine Klingel, und einige Zeit später trat die Alte ein.
»Was gibt es?« fragte Papa Terbillon. – »Es sind zwei Männer draußen. Sie seien Freunde, sagte der eine; ich kenne sie aber nicht.« – »Ich werde sie mir ansehen.«
Terbillon erhob sich und verließ den Raum. Draußen gab es vor der Kellertür einige finstere Stufen, die er emporstieg. In der Tür waren einige feine Löcher eingebohrt, durch die man blicken konnte, und so sah sich der Alte die beiden Kommenden an, kehrte dann in seine Wohnung zurück und sagte zu dem Schmied:
»Vielleicht gibt es sogleich Arbeit für dich.« – »Ah, das sollte mich freuen!« – »Ja. Den einen kenne ich; er ist ein Diener, der mir bereits manchen Herrn gebracht hat. Der andere scheint sein gegenwärtiger Herr zu sein, ein feiner Mann mit Ringen unter dem Handschuh und einer Fünfhundertfrankenkette an der Uhr.« – »Donnerwetter!«
Der Alte zeigte auf eine niedrige Tür, die neben dem Ofen angebracht war.
»Gehe hier hinaus. Du kannst dir ihn durch das Glasfenster betrachten. Das übrige wird sich dann später finden.«
Gerard verschwand hinter der Tür. Er befand sich jetzt in einer Art von Kammer, die allerlei Raub zu enthalten schien. Es war vollständig dunkel in ihr, aber er fühlte verschiedene Gegenstände, darunter auch einen Sack, der mit weichen Stoffen gefüllt war und gerade hinter der Tür lag, so daß er sich auf ihn setzen und dabei ganz bequem durch das Fensterchen in die Stube blicken konnte.
Eben jetzt traten die beiden Fremden ein.
»Guten Tag, Papa Terbillon!« grüßte der Diener den Alten. – »Guten Tag«, dankte dieser mürrisch, ohne sich von seinem Sitz, auf dem er wieder Platz genommen hatte, zu erheben. – »Nun, stehe auf, Papa Terbillon, wenn feine Leute zu dir kommen!« mahnte der Diener. – »Das tue ich, wie ich will. Es sagt mancher hier, er sei fein, und wenn man ihm gefällig ist, erfährt man das Gegenteil.« – »Aber hier wirst du es nicht erfahren. Dieser Herr ist ein Edelmann.«
Der Alte machte ein sehr verwundertes Gesicht und fragte:
»Woher?« – »Das ist Nebensache.« – »Für mich aber Hauptsache! Ich muß die Leute kennen, die zu mir kommen. Was wollt ihr?« – »Dieser Herr hat einen kleinen Maskenscherz vor ...« – »Es ist nicht Fastnacht!« – »Du bist bei schlechter Laune. Es handelt sich um einen Masken-, aber nicht um einen Fastnachtsscherz.« – »Ich bin kein Maskenverleiher.« – »Das weiß ich. Aber dieser Herr wünscht, unkenntlich gemacht zu werden. Willst du dies übernehmen? Es wird gut bezahlt!« – »Ich tue es dennoch nicht, da es verboten ist. Es kommen oft Spitzbuben nach falschen Haaren, wenn ich ihnen den Willen täte, käme ich nicht aus dem Gefängnis heraus.« – »Aber hier handelt es sich doch nicht um einen Spitzbuben!« – »Weiß ich es?«
Da nahm auch der Herr das Wort:
»Papa Terbillon, wollt Ihr oder wollt Ihr nicht? Ich bin nicht gewohnt so lange Zeit gute Worte zu geben!«
Erst jetzt erhob sich der Alte und machte eine Art Verbeugung.
»Ah, das klingt wirklich, als ob Sie ein echter Edelmann seien. Werden Sie gut zahlen, wenn ich Ihnen diene?« – »Was verlangst du?« – »Das richtet sich ganz nach der Arbeit. Was wünschen Sie also?« – »Ich wünsche, vollständig unkenntlich gemacht zu werden. Wie du das anfängst und wie du es fertigbringst das ist deine Sache.« – »Unkenntlich für welche Zeit?« – »Hm«, sagte der Fremde nachdenklich. »Wenn ich es für längere Zeit sein will, und ich hätte Veranlassung, mein echtes Gesicht wieder zu zeigen, ehe diese Zeit verflossen ist, kann man dann die Imitation entfernen?« – »Sofort.« – »Und welches ist die längste Zeit?« – »Fünf bis sechs Wochen. Später wird der Bart zum Verräter.« – »So wollen wir es für diese Zeit versuchen. Was verlangst du?« – »Zweihundert Franken.« – »Alle Teufel, das ist viel«, meinte der Fremde. – »So gehen Sie zu einem anderen.« – »Pah, ich bleibe! Ich werde sie zahlen, aber nach beendigter Arbeit.« – »Und ich beginne die Arbeit nicht vorher. Es kommt mancher zu mir, der mich betrügt.«
Der Fremde machte eine verächtliche Handbewegung und entgegnete:
»Es handelt sich nur darum, ob deine Arbeit zweihundert Franken wert ist.« – »Tausend Franken ist sie wert«, beteuerte der Alte. – »Nun gut, so zahle ich dir jetzt die Hälfte und die andere Hälfte dann, wenn ich mit dir zufrieden bin.« – »Ich will es gelten lassen, Monsieur.« – »So nimm, hier.«
Der Fremde zog ein Portefeuille hervor, öffnete es und nahm eine der darin liegenden Hundertfrankennoten hervor, die er dem Alten gab.
Dieser tat gar nicht, als ob er das Portefeuille beachte, aber es war doch ein blitzschneller, scharfer Blick gewesen, den er darauf geworfen hatte.
»Ich danke«, sagte er, indem er die Note in die Tasche seines Schlafrocks schob. »Setzen Sie sich gefälligst auf diesen Stuhl.«
Während der Fremde Platz nahm, verschwand der Alte hinter einer dritten Tür und kehrte bald mit einem großen Kasten zurück, der Messer, Scheren, Kämme, Haare, Bartwolle, Farben und Beizen und verschiedene Flaschen, Schachteln und Büchsen enthielt.
»Sie sind dunkelblond«, sagte er. »Soll ich Sie brünett oder schwarz machen?« – »So, daß man mich nicht erkennt, weiter verlange ich nichts.« – »Also schwarz.« – »Aber daß keine nachträglichen Spuren bleiben.« – »Keine Sorge, Monsieur.«
Papa Terbillon begann sein Werk. Es ging höchst langsam vorwärts, aber es gelang ihm ausgezeichnet, er mußte eine ganz besondere Übung besitzen. Endlich trat er auf einen Augenblick in den Raum, in dem der Schmied saß.
»Hast du dir ihn genau angesehen?« flüsterte er ihm zu. – »Ja«, antwortete Gerard ebenso leise. – »Er hat Geld, viel Geld.« – »Ich habe es gesehen.« – »Ich muß es haben, und zwar durch die Garotte. Wenn du es mir bringst, erhältst du zweihundert Franken Gratifikation.« – »Ich werde es versuchen und ehrlich sein.« – »Du hast deinen Tagelohn, du hast den Mann bei mir kennengelernt, folglich gehört sein Geld nun nur mir allein.« – »Mache dir keine Sorge, Papa Terbillon.« – »Gut, so verlasse jetzt das Haus und warte draußen auf ihn. Dann folgst du ihm und läßt ihn heute nicht wieder aus den Augen.« – »Wie kann ich das Haus verlassen, ohne daß er mich sieht?« – »Komm!«
Terbillon zog Gerard weiter in das Dunkel hinein, bis an eine Treppe, die nach oben ging. Diese stieß an eine Tür, und als der Alte diese öffnete, stand Gerard auf dem Flur des Hinterhauses.
»So, nun gehe! Ich werde heute warten, bis du kommst«, sagte Terbillon. – »Und wenn er mir nun erst spät in die Hände gerät?« – »So kommst du morgen früh.« – »Und wenn er heute vorsichtig ist?« – »So wird er morgen unvorsichtig sein. Adieu.«
Terbillon schloß hinter dem jungen Mann wieder zu und kehrte dann nach seinem Atelier zurück. Hier tat er, als habe er noch einiges hinzuzufügen, und endlich sagte er:
»Fertig! Das war eine tüchtige Geduldprobe.« – »Allerdings«, entgegnete der Fremde. »Ich hoffe, daß dein Werk desto besser geraten ist« – »Ich bin zufrieden«, sagte der alte Terbillon wohlgefällig. – »Wie steht es?« fragte der Fremde seinen Diener. – »Ausgezeichnet«, meinte dieser. »Der gnädige Herr sind unmöglich zu erkennen.« – »So wollen wir sehen!«
Er trat an den Spiegel und fuhr um einen Schritt zurück.
»Verdammt«, rief er. »Es ist wahr. Ich kenne mich selbst nicht.« – »Und welch noble Maske«, rief der Diener. – »Alter, du bist ein Virtous!« sagte der Fremde zu Terbillon. »Hier hast du die zweiten hundert Franken. Wie lange wird das Zeug halten?« – »Sechs Wochen.« – »Und wie habe ich mich zu verhalten?«
Terbillon belehrte ihn, und die beiden Fremden gingen fort. Draußen auf der Straße blieb der Herr stehen und sagte zu seinem Diener:
»Jetzt gehst du nach dem Bahnhof und holst die Effekten nach dem Hotel d'Aigle. Ich komme nach.« – »Als was soll ich Sie ankündigen, gnädiger Herr?« – »Als das, was ich bin, als den Marchese Acrozza.«
Der Diener eilte die Rue Racine hinab, um zum Bahnhof von Orleans zu gelangen, während der Herr langsam die Rue Mazarin hinaufschlenderte und sein Bild in den großen Ladenfenstern spiegelte.
An einem derselben blieb er stehen. Er sah sich in Lebensgröße und erkannte erst jetzt, welch ein Meisterwerk Papa Terbillon geliefert hatte.
Bei Gott, es kann mich kein Mensch erkennen, dachte er. Nicht einmal dieser scharfsinnige Vater, dieser Gasparino Cortejo, würde in mir seinen unehelichen Sohn, den Grafen Alfonzo de Rodriganda vermuten.
Er ging weiter und setzte dabei seinen Gedankengang folgendermaßen fort: Wie gut ist es, daß auch dieser französische Diener meinen eigentlichen Namen nicht weiß! Er hält mich für den Marchese Acrozza. Man kann nicht vorsichtig genug sein.
Damit trat er in ein Café und blieb darin, bis er glaubte, daß sein Diener sich bereits eingerichtet habe. Dann bestieg er eine Droschke und fuhr ebenfalls nach der Rue de la Barillerie.
Vor dem Hotel d'Aigle angekommen, wurde er mit Auszeichnung empfangen und von dem Wirt selbst auf seine Zimmer begleitet. Dort fragte der letztere nach den Wünschen des Gastes.
»Diese Wünsche wird Ihnen mein Diener melden«, erwiderte Alfonzo de Rodriganda. »Für jetzt habe ich nur eine Frage: Wohnt hier vielleicht in der Nähe ein tüchtiger Arzt?« – »Mein Hausarzt, der der tüchtigste des ganzen Arrondissements ist, wohnt nicht weit von hier, in der Rue de la Calaudel.« – »Weiter gibt es keinen? Auch in Ihrem Haus zufällig nicht?« – »Nein.« – »So bin ich falsch berichtet. Ich hörte, daß ein Doktor Sternau bei Ihnen wohne.« – »Ah, das war bis gestern richtig.« – »So ist er gestern ausgezogen?« fragte Alfonzo enttäuscht. – »Ausgezogen nicht, sondern abgereist nach Deutschland.« – »Wo ist er abgefahren?« – »Vom Nordbahnhof. Er ließ sich sein Gepäck nach dem Bahnhof an der Barre St. Denis schaffen.« – »Welche Stadt war das Ziel seiner Reise?« – »Ich glaube, daß er von Mainz gesprochen hat, er stammte ja wohl aus jener Gegend. Er erzählte beiläufig, daß er dort Mutter und Schwester hat, und zwar auf einem Dorf oder Schloß der Umgegend.« – »Haben Sie den Namen desselben nicht gehört?« – »Ich glaube er nannte Rheinswalden.« – »Ich danke Ihnen. Wohnte er allein hier?« – »Nein. Er hatte einen Herrn und zwei Damen bei sich, die Spanier waren.« – »In welchem Verhältnis standen sie zu ihm?« – »Die jüngere Dame war krank. Er behandelte sie mit außerordentlicher Aufmerksamkeit, so daß man vermuten konnte, daß sie seine Gemahlin sei. Die beiden anderen Personen waren Diener.« – »Wurden sie nicht eingetragen?« – »Nein.« – »Ich denke, Sie haben jeden Gast einzutragen!« – »Monsieur Sternau war nicht mein Gast Er wohnte bei mir bereits, ehe er nach Spanien reiste. Er hatte seine Zimmer von mir gemietet, und ich nahm mir also nicht das Recht, diejenigen Personen zu kontrollieren, die er bei sich hatte.« – »So wissen Sie wohl auch keine Namen?« – »Nein.« – »Beschreiben Sie mir den Diener!« – »Er war klein und trug ein sehr eigentümliches Bärtchen. Die Dienerin war auch klein, aber sehr dick. Beide schienen recht gute Menschen zu sein.« – »Und die jüngere Dame?« – »Sie war von einer außerordentlichen Schönheit und – ah, ich hörte einst, daß sie von Monsieur Sternau ›Rosa‹ genannt wurde.« – »Sie sagten, daß sie leidend gewesen sei. Welcher Art war ihr Leiden?« – »Sie war geisteskrank. Ich sah sie nur dreimal, dann aber auch stets betend. Es war das wohl eine Monomanie.« – »Ich danke Ihnen, Monsieur. Diese Auskunft genügt. Ich werde leider morgen Paris wieder verlassen, um nach Lyon zu gehen.«
Der Wirt entfernte sich, und als Alfonzo sich allein sah, schritt er erzürnt im Zimmer auf und ab. Er war Sternau gefolgt, um ihn zu erreichen und zu verderben, und sah ihn nun doch nach Deutschland entkommen.
»Aber er ist noch nicht gerettet! Nein, nein! Von uns beiden kann nur einer bestehen, denn er weiß bereits zu viel. Er muß fallen. Ich reise ihm nach Deutschland nach!«
Er grübelte eine Zeitlang und murmelte:
»Ja, ich reise ihm nach. Ich kann ihm getrost begegnen, ich kann mich von ihm sehen lassen, er wird mich nicht erkennen. Und diesen Diener, der von meiner Maske weiß? Ah pah, den werde ich bald loswerden, den führe ich an der Nase bis nach – ja, bis wohin denn? Bis nach Rouen. Von ihm darf ich mir nicht in die Karten sehen lassen.«
Er klingelte, und der Diener erschien.
»Warst du bereits einmal in Rouen?« fragte er ihn. – »Einmal«, antwortete derselbe. – »Welches ist dort das beste Hotel?« – »Das Hotel zu den ›Drei Kronen‹.« – »Wo liegt es?« – »Ganz in der Nähe der Kirche St. Quentin.« – »Es erwartet mich ein kleines Abenteuer dort. Ich muß morgen dort sein, muß aber sofort bei meiner Ankunft wissen, ob eine Gräfin Rossey sich in einem der dortigen Hotels befindet.« – »Soll ich voranreisen und mich erkundigen?« – »Allerdings muß ich dir diesen Auftrag erteilen. Du magst mit dem ersten Mittagszug reisen und mich im Hotel zu den ›Drei Kronen‹ erwarten.« – »Soll ich dort Zimmer bestellen?« – »Nein, denn ich weiß nicht vorher, ob ich wirklich dort bleibe.«
Das war nur eine Finte, den Diener loszuwerden. Er gab ihm darauf das nötige Reisegeld und ließ ihn ohne Gewissensbisse per Bahn nach Rouen reisen.
Nun erst hielt er sich in seiner Verkleidung für sicher. Als er des Nachmittags spazierenging, bemerkte er nicht, daß eine Person ihm stets von weitem folgte. Es war Gerard Mason, der Schmied, der es sich wirklich zur Aufgabe gemacht hatte, ihm seine Barschaft abzunehmen.
Alfonzo begab sich später in das Theater, nicht der Vorstellung wegen, sondern um zu sehen ob die an ihm vorgenommenen kosmetischen Manipulationen vielleicht auffällig seien. Doch es bekümmerte sich niemand um sein Äußeres, und das beruhigte ihn. Nach dem Theater besuchte er ein sehr frequentiertes Weinhaus in der Straße Montorgueil, und dann kehrte er nach seinem Hotel zurück.
Es war ziemlich spät geworden, wohl eine Stunde nach Mitternacht. Er bog daher in die Rue de la Tonnellerie ein und dann in die enge Straße de la Poterie, weil er glaubte, hier näher nach Hause zu kommen, hätte aber besser getan, durch die Rue de Gonte nach dem Quai de l'Ecole zu gehen.
Die enge Gasse war kaum notdürftig erleuchtet und fast ganz menschenleer. Indem er langsam dahinschritt, bemerkte er wohl, daß jemand mit schnellen Schritten hinter ihm herkam, aber es dünkte ihm das nicht weiter auffällig. Der Betreffende war kein anderer als Gerard, der Schmied. Er erreichte den Grafen. Dieser wollte sich zur Seite halten, um den schnellen Passanten vorüber zu lassen, fühlte sich aber in demselben Augenblick von hinten an der Kehle gepackt, die ihm gleich darauf so fest zusammengeschnürt wurde, daß er keinen Atem holen konnte, die Besinnung verlor und zur Erde stürzte.
Der Schmied garottierte dieses Mal ohne Gehilfen; er war allein. Jetzt bückte er sich über den Ohnmächtigen, nahm ihm Uhr und Kette, Börse und Brieftasche und zog ihm sogar, nachdem er die Handschuhe herabgerissen hatte, die Ringe vom Finger. »Das ging leicht!« murmelte er vergnügt. »Nun schnell fort.«
Gerard eilte durch die Rue de la Poterie und wandte sich dann rechts in die kurzen Gassen Lenoir, Bourdonnais und Bertin Poiree, bis er zum Quai de la Mégisserie kam. Da dies aber der Weg war, den auch der Beraubte einzuschlagen hatte, um zum Hotel d'Aigle zu kommen, so drehte sich der Schmied abermals nach rechts, ging den Quai de l'Ecole und den Quai du Louvre hinab, an Port St. Nicolas vorüber bis an die große Galerie du Musee, schritt links über die Nationalbrücke hinüber und befand sich nun bei den Bateaux à vapeur – Dampfbooten.
An dieser Stelle legten die Dampfschiffe von St. Cloud an. Es gab auch leere Kähne genug hier. Gerard suchte sich einen derselben aus, der hell von einer der Quailaternen beschienen wurde, stieg hinein und setzte sich. Es sah aus, als ob er der Eigentümer sei. Nun hatte er auch Muße und Beleuchtung genug, um seinen Raub zu betrachten. Die Uhr war kostbar, und was die Kette betraf, so hatte Terbillon deren Wert heute sicherlich nicht unterschätzt Die Ringe, deren er fünf hatte, waren sämtlich mit Brillanten besetzt; die Börse enthielt mehrere hundert Franken in Gold und wenig Silber, und in dem Portefeuille staken achtzehnhundert Franken in Staatsscheinen.
»Donnerwetter«, brummte der Schmied, »ist das ein Fang! Wie heißt der Kerl?«
Damit schlug er das Notizbuch auf, das in das Portefeuille eingebunden war, und las auf der ersten Seite desselben:
»Alfonzo Graf de Rodriganda y Sevilla.«
Er blätterte weiter und schüttelte den Kopf. Die Notizen waren alle in spanischer Sprache abgefaßt.
»Das verstehe ich nicht; das ist eine fremde Sprache. Soll ich das Portefeuille fortwerfen?«
Er sann einen Augenblick nach.
»Nein. Wer weiß, wozu es nützen kann! Ich werde sehen, ob es Italienisch oder Spanisch ist; dann kaufe ich mir ein Wörterbuch und schlage so lange nach, bis ich mir den Inhalt übersetzt habe. Ich brauche mir ja nur eine Zeile abzuschreiben und einen Buchhändler zu fragen, welche Sprache es ist.«
Er steckte alles zu sich.
»Was nun?« fragte er sich dabei. »Gebe ich das alles wirklich an Papa Terbillon ab? Ah, daß ich ein Tor wäre! Ich habe über zweitausend Franken bar; davon kann ich längere Zeit leben, ohne daß ich diesen alten Terbillon brauche. Und die Uhr und die Ringe? Pah, die behalte ich keine Viertelstunde bei mir. Etienne Lecouvert kauft sie mir sofort ab. Also fort, zu ihm!«
Er verließ den Kahn, schritt die Quais Voltaire, Malaquais, Conti, des Augustins und St. Michel hinauf und wandte sich dann durch die hier liegenden kleinen Gassen rechts bis zur Rue de Carmes hinüber.
In dieser Straße wohnte zu jener Zeit einer der berüchtigsten Hehler von Paris. Er nannte sich Etienne Lecouvert und war der Besitzer einer viel besuchten Bier- und Branntweinkneipe. Sein Lokal zerfiel in zwei Teile; der eine war öffentlich und der andere geheim. Zu dem letzteren hatten nur seine vertrauten Kunden Zutritt, zu denen auch der Schmied gehörte.
Dieser trat in den Flur des Hauses, schritt an der eigentlichen Gaststubentür vorüber und blieb im Hintergrund des dunklen Hausgangs vor einem alten Schrank stehen, an den er auf eigentümliche Weise klopfte. Es wurde wieder geklopft, und als er eine ähnliche Antwort gab, bewegte sich der Schrank auf unsichtbaren Rollen von seiner Stelle, und es kam nun eine offenstehende Tür zum Vorschein.
Der Schmied trat ein, und sofort rückte der Schrank an seine vorherige Stelle zurück.
Der Gast befand sich in einem nicht sehr großen Zimmer, in dem mehrere Tische mit Stühlen standen. Es gab da kein einziges Fenster, sondern nur ein Loch in der Decke, durch das die ungesunde Luft abziehen sollte.
Ein Gast war noch nicht anwesend; nur der Wirt saß vor dem Schenktisch, und am Eingang stand ein gnomenartiges Geschöpf, welches das Öffnen und Schließen des Eingangs zu besorgen hatte.
»Guten Abend, Etienne Lecouvert!« grüßte Gerard. – »Ah, Gerard l'Allemand!« erwiderte der Wirt. »Willkommen!«
Er erhob sich von seinem Sitz und reichte dem Eingetretenen die Hand.
»Noch niemand hier?« fragte dieser. – »Kein Mensch.« – »Ist mir lieb, da ich ein Geschäft habe.«
Der Wirt hatte das Aussehen eines Biedermanns, niemand hätte in ihm so leicht einen berüchtigten Hehler vermutet Aber bei den letzten Worten des Schmieds warf er einen Blick auf denselben, der gar nicht habgieriger sein konnte.