Mauer - Mord - Medaillen - Dieter Kermas - E-Book

Mauer - Mord - Medaillen E-Book

Dieter Kermas

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Beschreibung

Berlin-Krimi. Berlin 1983. Doping im DDR Sport. Berliner Journalist will Beweise hierfür recherchieren. Durch die Staatssicherheit gerät er in Lebensgefahr.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

-1-

Montagmorgen. Erwin Berg riss den Fensterflügel im Besprechungsraum des Verlagshauses auf. Der Geruch von kaltem Zigarettenrauch hing im Raum. Kühle Oktoberluft wehte ihm entgegen. Er lehnte sich aus dem Fenster und schaute auf den Checkpoint Charlie und die Berliner Mauer mit dem Grenzübergang. Heute warteten nur drei Fahrzeuge darauf, sich der Kontrollstelle nähern zu dürfen. Zur Urlaubszeit stand die Schlange bis weit in die Friedrichstraße hinein.

Es wurde Zeit, die schlafende Kaffeemaschine zum Leben zu erwecken. Wo waren die Filtertüten? Sein Blick traf auf das leere Schrankfach. Hatte er nicht erst am Wochenende ein Päckchen besorgt? Ah ja, es lag in seinem Büro. Erwin spurtete eine Treppe tiefer und kam etwas außer Atem zurück. Die Kollegen waren es gewohnt, dass er sich um den morgendlichen Muntermacher kümmerte. Irgendwann hatte er es für eine Woche auf sich genommen, sie zu bedienen. Sie waren so dankbar, morgens frischen Kaffeeduft zu schnuppern, dass sie ihn zu ihrem Kaffeebeauftragten gekürt hatten. Hatte er Urlaub, entschied ein Los, wer ihn zu ersetzen hatte. Nur Minuten später zeigte die Kaffeemaschine gurgelnd und zischend ihre Bereitschaft zur Kaffeeausgabe an.

In der Tür erschien Harry Bentheim.

»Guten Morgen Erwin«, klang es mühsam.

Wer ihn sah, glaubte nicht, dass er für die Sportseite zuständig war. Früher war er ein junger durchtrainierter Boxer im Mittelgewicht. Inzwischen hatte er sich in einen Mann von dreiundvierzig Jahren mit leichtem Bauchansatz verwandelt. Er schaute eher aus, als schriebe er über das Thema Essen und Trinken.

In seiner Jugend kam er durch einen Freund zum Boxsport. Sein Trainer Benno Kalisch entdeckte früh sein Talent und förderte den Jungen. Er schaffte es bis zum Bezirksmeister. Sein Journalismus-Studium ließ ihm immer weniger Zeit zum Training zu, sodass er eines Tages die Boxhandschuhe an den Nagel hängte. Seine fundierten Artikel über Sportevents waren beliebt und manches Mal gehasst. Er hatte sich nie gescheut, unsportliche Absprachen, Bestechungen und Skandale offen anzuprangern.

Schnaufend ließ sich Bentheim auf den nächsten Stuhl fallen. Er spürte Erwins mitfühlenden Blick.

»Schau mich nicht so bemitleidenswert an. Ich wollte heute mal sportlich sein und habe für die vier Etagen die Treppe genommen.«

»Guten Morgen Harry. Das sehe und höre ich. Du siehst aus, als könntest du einen Muntermacher gebrauchen.«

»Kann ich, danke.«

Erwin eilte zum Kaffeeautomaten und setzte sich dann mit zwei Tassen Kaffee schwarz an den großen ovalen Tisch. Die zweite Tasse stellte er wortlos vor Harry hin.

Die grau melierten Haare ließen Bentheim älter erscheinen. Aus seinem schmalen, markanten Gesicht schauten blaue Augen Erwin dankend an.

Nach dem ersten Schluck richtete Harry den Blick aus leicht verquollenen Augen auf sein Gegenüber.

»Grins nicht so unverschämt. Ich habe mich für unsere Redaktion mit Kollegen von früher getroffen. Der Abend war mehr feucht als fröhlich, versichere ich dir.«

Ehe er berichten konnte, was am Vorabend als Thema bei der Kollegenrunde besprochen wurde, kam Ressortleiter Hausmann mit einem besonders lautem: »Guten Morgen Männer« in den Raum gepoltert, als ob er seine Kollegen erst wecken müsste.

»Guten Morgen Helmut«, antworteten sie unisono.

Er hatte den Kaffee ebenso nötig wie die beiden anderen und steuerte geradewegs auf den Kaffeespender zu, um sich zu bedienen. Vorher legte er einen Stapel Unterlagen auf den Tisch. Er setzte sich an seinen Platz ans Kopfende des Konferenztisches, schob den Papierstapel mit der linken Hand zur Seite und schlürfte vorsichtig den ersten heißen Schluck.

»Erwin«, erkundigte er sich, »wie schaut es mit dem Kaffeevorrat aus? Nichts wäre fataler, als einen Tag ohne deinen Kaffee zu beginnen.«

»Es ist noch ein Päckchen im Schrank. Danke der Nachfrage.«

In kurzen Abständen betraten weitere Kollegen den Konferenzraum. Am Kaffeeausschank bildete sich eine nach dem Getränk lechzende Schlange.

Begrüßungsgemurmel, Fragen nach dem Wochenende und leise Lacher über den neuesten Witz schwirrten durch den Raum. Erste Zigarettenqualm-Wölkchen schwebten zum Fenster hinaus.

Nachdem der Ressortleiter aufmerksamkeitsheischend auf den Tisch geklopft hatte, wandten sich ihm alle Blicke zu.

Mit: »Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos«, eröffnete er die Runde, wobei ein leichtes Lächeln dafür sorgte, die Ernsthaftigkeit etwas zu mildern.

»Wie ihr wisst, sind die Verkaufszahlen unserer Zeitung ‚Die Tageszeit‘, rückläufig und das seit Längerem. Wir brauchen eine zündende Story, um mit dem entsprechenden Aufmacher die Leser dazu zu bewegen, sich um sie zu reißen. Ich bitte um Vorschläge.«

Der für Kultur zuständige Kollege schlug vor, er könnte noch einmal den großen Brand im Globe-Theater in London bearbeiten und einen Artikel mit Aussagen von Augenzeugen schreiben.

»Das ist zu lange her, nach zwei Wochen interessiert das keinen mehr«, winkte Hausmann ab.

Selbst nachdem sie alle erdenklichen Themen durchgehechelt hatten, fehlte immer noch eine zündende Idee.

Harry hob die Hand, um sich Gehör zu verschaffen. Die Blicke richteten sich erwartungsvoll auf Bentheim.

»Harry, schieß los und mach dem Elend ein Ende«, forderte ihn Hausmann auf.

»Bei meinem gestrigen Treffen drehte es sich wieder einmal um das Thema Doping.«

»Das ist ein alter Hut und kaum für eine reißerische Überschrift geeignet«, stoppte ihn sein Chef.

Harry reagierte gereizt: »Warte einen Moment und lass mich zu Ende erzählen.«

»Entschuldige bitte«, antwortete Hausmann, »wir hören jetzt gespannt zu.«

»Ich denke da nicht an die üblichen Verdächtigungen und unbewiesenen Geschichten. Wenn es gelänge, Proben von dem geheimen Dopingmittel in die Hand zu bekommen und es von unabhängigen Instituten untersuchen zu lassen, dann wäre das eine fette Schlagzeile in unserer Zeitung wert.«

Hausmann darauf: »Wir haben uns schon oft gefragt, wie es sein kann, dass ein kleines Land wie die Deutsche Demokratische Republik bei den Olympischen Spielen von 1980 nach der Sowjetunion den zweiten Platz bei den Medaillen belegen kann. Dass allein nur die modernsten und effektivsten Trainingsmethoden zum Erfolg geführt haben sollen, bezweifeln wir allesamt. Das Schlagwort Doping machte weltweit die Runde. Wir sind überzeugt, dass im DDR-Sport mit unsauberen Mitteln die Siege errungen werden. Wie aber beweisen?

Die Worte des Kollegen Bentheim haben mich soeben dazu bewogen, nicht mit der ursprünglichen Tagesordnung fortzufahren, sondern das Stichwort Doping aufzunehmen. Vielleicht hat jemand eine Idee, auf welchem Weg wir an das Mittel gelangen könnten. Ohne eine Überprüfung des Dopingmittels durch renommierte Institute wäre die Veröffentlichung des Ergebnisses juristisch nicht haltbar. In Hinblick auf die Olympischen Spiele 1984, also im nächsten Jahr in den Vereinigten Staaten, dürfte eine Hintergrundstory zu diesem Thema für unsere Zeitung einen Aufmerksamkeitsgewinn mit entsprechender Auflagensteigerung erbringen.«

Hausmann blickte bei diesen Worten dem ihm gegenübersitzenden Harry Bentheim auffordernd in die Augen. Dieser fühlte sich angesprochen, nahm den ihm anscheinend zugespielten Ball auf und hob die Hand, um zu antworten.

»Nach meinen gestrigen Erkundigungen sind andere Zeitungen dabei, sich dieses Themas anzunehmen. Ich denke, wir müssen umgehend einen Weg finden, die Wahrheit über das Doping in der DDR herauszufinden. Entscheidend wird sein, dass wir die Beweise vor unserer Konkurrenz in die Hände bekommen.«

»Was heißt da wir? Ich bin der Meinung, einen Sachkundigeren als dich haben wir nicht. Ich schlage vor, dass du dich der Sache annimmst«, regte Hausmann an. Ein zustimmendes auf den Tisch Klopfen brachte Harry in Zugzwang.

Bentheim nahm einen Schluck Kaffee, lehnte sich zurück, schaute in die Runde und erwiderte:

»Was ihr mit mir hier macht, ist glatte Erpressung. Andererseits habe ich mich schon früher mit diesem Thema beschäftigt. Gestern traf ich mit Kollegen zusammen, die überlegen, wie sie sich Fakten über das DDR-Doping verschaffen könnten. Es ist höchste Zeit, dass wir Näheres über die Wundermittel herausbekommen. Ich bin einverstanden, der Angelegenheit auf den Grund zu gehen und bin mir bewusst, dass ich damit ein hohes Risiko eingehe.

Gestern habe ich herausgehört, dass es einige investigativ tätige Journalisten versucht hatten, näher an die Dopingquelle vorzudringen. Sie wurden vom DDR-Geheimdienst enttarnt und zwei von ihnen sitzen im Gefängnis. Man weiß nicht einmal genau wo, in Hohenschönhausen, Cottbus oder Bautzen. Die ersten Wochen sollen sie, so hat man herausgefunden, im Zuchthaus Rummelsburg gewesen sein.

Das Thema DDR-Doping öffentlich anzuprangern erfordert absolut wasserdichte Beweise. Man muss mit einem heftigen Dementi vonseiten der DDR rechnen. Politische Konsequenzen, deren Schatten bis nach Bonn reichen könnten, wären nicht auszuschließen. Wenn wir sie zu sehr verärgern, kämen sie vielleicht auf die Idee, sich zum Beispiel mit neuen Schikanen auf den Transitstrecken zu rächen.«

Nach einem Moment des schweigenden Nachdenkens, folgte erneutes Tische-Klopfen.

Hausmann nickte sichtlich zufrieden und fasste zusammen:

»Ich halte für das Protokoll fest, dass Kollege Bentheim sich um das Thema Doping kümmern wird. Sollte sich herausstellen, dass nur mit finanziellen Mitteln ein Erfolg zu erzielen ist, und hier rede ich nicht von Peanuts, so werde ich für die Bereitstellung der Beträge sorgen.«

Die verschobenen Themen der Tagesordnung wurden rasch und ohne Unterbrechung durchgearbeitet. Jeder wusste, was zu tun war.

»Harry, komm bitte nach der Sitzung in mein Büro«, bat Hausmann. »Wir müssen über die Details der Aktion sprechen.«

Die beiden hockten bis in die späten Abendstunden zusammen. Die Aufgabe war so brisant, dass jedes Detail der Aktion sorgfältig bedacht werden musste.

Erste Überlegungen, sich an die Trainer und die Sportärzte heranzumachen, wurden verworfen. Die DDR rechnete stets damit, dass der Westen versuchen würde, sich auf diesem Weg Beweise fürs Doping zu beschaffen. Daher unterlag die Verabreichung der ‚UM‘, also der ‚Unterstützenden Mittel‘, wie sie im DDR-Sport hießen, besonders scharfen Kontrollen. Bentheims Idee, sich direkt an das Pharmazeutische Herstellerinstitut zu wenden, klang mehr als verrückt. Doch er meinte, dass hier die Chancen besser stünden. Die Aufsichtsorgane hielten es kaum für denkbar, dass der Klassenfeind gerade diesen, schier aussichtslosen Weg wählen würde. Sie hatten sich Stunde um Stunde in eine erfolgversprechende Aufbruchsstimmung hineingesteigert. Ein Wermutstropfen fiel dennoch in die euphorische Stimmung, denn Hausmann wies darauf hin, dass im Falle von Bentheims Enttarnung kaum Hilfe vom Verlag zu erwarten sei.

»Also genauso wie in den Agententhrillern«, griente dieser.

-2-

Ein halbes Jahr vorher in Österreich.

Für einen Mann, der sich noch nie auf der Sonnenseite des Lebens befand, stellte das Schicksal endlich auch für ihn die Ampel von Rot auf Grün.

Sein Name war Lorenz Steiner.

An einem Wochenende weilte Dr. Maximilian Pichler, ein Wiener, der den leiblichen Genüssen überaus zugetan war, mit seiner Frau in einem Nobelrestaurant zum Abendessen. Das Essen mundete dem Ehepaar so vorzüglich, dass Dr. Pichler dem Küchenmeister seinen Dank persönlich auszudrücken gedachte. Er ließ sich den Koch kommen. Steiner trat an den Tisch und freute sich über das Lob der beiden. Pichlers Frau hatte mit Wohlwollen den stattlichen jungen Mann betrachtet und fragte nun:

»Haben Sie die Absicht, hier weiterhin zu arbeiten, oder haben Sie schon einmal daran gedacht, Ihr Wissen in anderen Teilen der Welt zu erweitern?« Verblüfft über die so persönliche Frage antwortete Steiner:

»Das kommt darauf an, was mich erwartet. Sicher würde ich gerne meine Kenntnisse erweitern, aber zurzeit erlaubt es mir das Budget nicht, dieser Idee nachzugehen.« Der kleine, dickliche Dr. Pichler hatte aufmerksam zugehört und mischte sich spontan ein:

»Könnten Sie sich vorstellen, die Kochjacke hier an den Nagel zu hängen und für ein besseres Gehalt im Ausland zu arbeiten?«

Steiner daraufhin:

»Wie bitte darf ich das verstehen?« Pichler lächelte und erklärte:

»Na, wenn Sie möchten, könnten Sie für mich als Koch beruflich tätig sein. Außerdem suche ich einen Chauffeur. Für den Fall, dass Sie einen Führerschein haben, wäre das dann Ihre zweite Beschäftigung. Voraussetzung ist, dass Ihr Führungszeugnis einwandfrei ist. Ich trete in der nächsten Zeit meine neue Stelle im Ausland an.« Steiner stotterte:

»Das kommt etwas plötzlich. Außerdem spreche ich keine Fremdsprachen.« Da lachte Pichler laut auf, beugte sich über den Tisch und flüsterte ihm zu:

»Ist nicht nötig, denn ich bin als Botschafter in der Deutschen Demokratischen Republik akkreditiert und da wird, soweit ich weiß, immer noch deutsch gesprochen«, wobei er über seine Wortwahl am meisten lachte. Frau Pichler, etwas überrascht vom Vorschlag ihres Mannes, schaute sich Steiner daraufhin noch einmal genauer an und ihre Beurteilung fiel ausgesprochen zu seinen Gunsten aus. Sie war mit der Entscheidung mehr als einverstanden. Ehe Steiner sich von dem Ehepaar verabschiedete, bat er darum, sich das Angebot bis zum nächsten Tag überlegen zu dürfen.

Dr. Pichler schmunzelte und konnte nachvollziehen, dass Steiner um Bedenkzeit bat.

»Ich verstehe Sie gut, wenn Sie eine Nacht darüber schlafen wollen«, erwiderte er, »aber ich hoffe auf ein Ja von Ihnen.«

Auf der Rückfahrt beugte er sich zu seiner Frau und flüsterte:

»Er macht einen erstklassigen Eindruck auf mich und wenn nichts dazwischenkommt, haben wir zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen«, wobei er sich kaum das Lachen verkneifen konnte. »Zwei Fliegen mit einer Klappe, was meinst du damit?«, erkundigte sich seine Frau.

»Na, wer hat schon einen Chauffeur und einen Spitzenkoch in einer Person und dazu für das Gehalt von nur einer Person.« Sie schaute bewundernd zu ihrem Gatten und musste zugeben, dass die Entscheidung für Steiner eine seiner besten war.

Nach dem Dienst saß Steiner in seinem bescheidenen Zimmer in der Mansarde des Restaurants. Er sah sich um, stellte erst jetzt fest, wie klein und ungemütlich seine Bleibe war. Das durchgesessene Sofa und der stets wacklige Tisch standen im krassen Gegensatz zum Renommee der Restauration und zu seinem Können als Koch. War das heute ein Wink des Schicksals? Die Gedanken liefen ungeordnet durcheinander. Er hätte nie gedacht, in seinem Leben so eine Chance geboten zu bekommen. Ein wenig zögerte er, weil er dachte, für die vor ihm liegenden Aufgaben nicht ausreichend ausgebildet zu sein. Andererseits, was sollte schon passieren? Ginge es schief, stände er wieder als Koch am Herd.

Zwei Wochen später, Steiners Papiere und sein Lebenslauf waren staatlicherseits überprüft und abgesegnet worden, trat er den Dienst in Pichlers Villa an. Ausschlaggebend war die ungewöhnlich hohe Bezahlung, die Stelle anzunehmen. In zehn Tagen, so hatte es ihm Dr. Pichler mitgeteilt, flögen sie nach Ostberlin. Steiner war neugierig auf den ostdeutschen Staat, von dem er bereits so viel durch die Medien erfahren hatte.

Er konnte die Chance, die ihm geboten wurde, immer noch nicht ganz fassen, und während er seine Sachen für die Reise packte, flogen seine Gedanken zurück zu seinem Heimatort in der Steiermark. Er bedauerte es fast, dass weder seine Mutter noch die Menschen, die ihm sein Leben schwer gemacht hatten, sehen konnten, wie er endlich Glück hatte.

Lorenz Steiner stammte aus dem kleinen Ort Sankt Margarethen.

Seine Mutter trieb sich mit vielen Männern herum und sein leiblicher Vater war unbekannt. In dem Ort wurde seine Mutter gemieden und von ihm sprachen sie nur vom ‚Bankert‘, also von einem unehelichen Kind. Schon früh wurde diese Tatsache für den Jungen zur Belastung. In der Schule wollte keiner neben ihm sitzen und wenn die anderen spielten, wurde er rücksichtslos, wie Kinder sein können, davon ausgeschlossen. Die Klassenlehrerin Ruth Katz ließ ihn spüren, dass er minderwertig war, und schikanierte den Jungen. Er wurde einsilbig, aufsässig, schlug sich aus dem kleinsten Anlass mit Mitschülern. Älter geworden, bemühte er sich, ein Mädchen kennenzulernen. Obwohl er gut aussah mit seinen braunen Locken und von stattlicher Figur war, machten sie einen weiten Bogen um ihn. Sie fürchteten sich vor ihm, wenn er sie mit seinen granitgrauen ausdruckslosen Augen anstarrte. Allmählich verstärkte sich seine Wut gegen sie. Die ihm offen gezeigte Verachtung und die häuslichen Probleme ließen seine Abneigung gegen alles Weibliche immer stärker werden. Die Bekanntschaft eines Mädchens aus einem weiter entfernten Ort weckte leise Hoffnung in ihm, doch noch akzeptiert zu werden. Wohlweislich vermied er, dass sie in sein Dorf kam und Näheres über ihn erfuhr. Sie gingen einige Monate miteinander bis zu dem Tag, als sie ihn mit den Worten empfing:

»Warum hast du nicht gesagt, wie es um deine Familie und dich bestellt ist? Mich hat gestern der Pfarrer zur Seite genommen und gefragt, ob ich wüsste, mit wem ich da zusammen bin. Das hat mir die Augen geöffnet. Zu Hause sind wir streng katholisch und er hat meiner Mutter ebenfalls alles berichtet. Den Krach mit den Eltern kannst du dir vorstellen und deshalb werden wir uns nie wiedersehen.« Dann drehte sie sich um und ließ ihn tief enttäuscht auf der Straße stehen.

Die negativen Erlebnisse ließen eine latente Verbitterung gegen Frauen in ihm wachsen.

In der Schule hatte er trotz der Anfeindungen gute bis ausgezeichnete Noten. Er begann eine Lehre als Koch in einem kleinen bekannten Restaurant in Graz. Seine Leistungen waren außergewöhnlich gut und er schloss die Gesellenprüfung mit Auszeichnung ab. Er machte den Führerschein und suchte sich eine neue Stelle in Wien in einer renommierten Restauration. Neben seiner Arbeit betrieb er Kampfsport und absolvierte eine Ausbildung zum Bodyguard.

-3-

Harry Bentheim machte sich umgehend an die Arbeit.

Abends, wenn er zur Ruhe gekommen war, schüttelte er den Kopf über seine voreilige Zustimmung zu dieser Aufgabe und schimpfte sich einen unverbesserlichen Idioten.

Er ahnte, dass die Herausforderung gefährlich werden könnte und rief seine langjährige Bekannte Eva-Maria Landergott an, um sie nach ihrer Meinung zu fragen.

Anfangs hatte sie gehofft, er würde ihr eines Tages einen Antrag machen, aber dazu kam es leider nie. Beide hatten Jobs, die es verhinderten, über längere Zeit zusammen zu sein. Meist trieb sie sich in Afrika als Reiseführerin eines renommierten Tourismusunternehmens herum, während er in den USA für einen Bericht über die National Basketball Association recherchierte.

Dessen ungeachtet gab es Zeiten, in denen sie ein paar Tage gemeinsam verbrachten. Vielleicht lag es gerade daran, weil sie sich nicht jeden Tag sahen, dass sie diese Zeit besonders genossen.

Eva-Maria hatte ihm vor zwei Monaten von einer Safari geschrieben, auf der sie gemeinsam mit Wildhütern einer Gruppe gut betuchter Amerikaner die ‚Big Five‘, Elefant, Nashorn, Büffel, Löwe und Leopard, zeigen sollte. Dabei war es zu einem Zwischenfall gekommen, als ein schlecht gelauntes Nashorn sich den Jeep der Touristen vornahm und einen Ranger schwer verwundete. Sie selber wurde aus dem Wagen geschleudert und nur leicht verletzt. Zum Glück hatte sich das Tier kurz danach ausgetobt und den Rückzug angetreten, sodass es nicht erschossen werden musste.

Sein Anruf erreichte sie an einem freien Tag im Hotel. Wenn er gehofft hatte, ihren Segen für den riskanten Auftrag zu erhalten, hatte er sich geirrt.

»Du bist von allen guten Geistern verlassen«, rief sie erregt in den Hörer.

»Auch wenn die großen Tiere hier gefährlich werden können, so ist das kein Vergleich zu der Rücksichtslosigkeit von Menschen, mit der du es dann zu tun haben wirst.

Meinen Segen kann ich dir für diese lebensgefährliche Aktion nicht geben. Glaube nicht, dass ich dich, wenn es schiefgeht, in einem der DDR-Gefängnisse besuchen werde.«

Sie hatte sich so in Rage geredet, dass er kaum zu Wort kam. Nachdem sich die erste Erregung gelegt hatte, meinte sie, nun viel ruhiger:

»Ich kenne dich zu genau, als dass ich dir die Sache ausreden könnte. So wünsche ich dir alles Gute und du kannst dich darauf verlassen, dass ich Tag und Nacht die Daumen drücke, dass dir dein Vorhaben gelingen möge.«

»Danke Liebes, dann kann ja nichts mehr schiefgehen«, freute sich Bentheim erleichtert und beendete das Gespräch mit einem in den Hörer gehauchten Kuss.

In Boulevardblättern wurde zwar immer wieder vom Dopingverdacht bei den DDR-Sportlern geschrieben, aber es fehlten stets stichhaltige Beweise für die Behauptungen. Er musste einen anderen Weg einschlagen. Er besorgte sich Fachzeitschriften, holte sich Unterlagen aus der Staatsbibliothek und versuchte, über seine alten Kontakte an Wissenschaftler heranzukommen, die ihm weiterhelfen könnten. Nächtelang durchforstete Bentheim alle möglichen Quellen. Nichts brachte bisher Ergebnisse. Dann, sein Wohnzimmer glich einer verqualmten Eckkneipe, fand er einen kleinen Aufsatz in einem amerikanischen pharmazeutischen Fachmagazin.

Der Name des Pharmazeuten und Leiters des Institutes war in dem Artikel nur mit Dr. M. angegeben. In dem Bericht stand mit wenig konkreten Worten, dass es einem Dr. M. aus der Deutschen Demokratischen Republik gelungen sei, Arzneimittel zur Steigerung der Leistungsfähigkeit herzustellen. Waren damit die Dopingmittel gemeint? Dass diese Mittel für Sportler vorgesehen waren, konnte man daraus nicht entnehmen. Er fand keinen Hinweis, wo sich das Institut des Mannes befand. In einem anderen Aufsatz, der Name wurde ebenfalls nur mit Doktor M. angegeben, schien er sich dem Standort zu nähern. Auf einem der Fotos im Bericht, der eine Industrieanlage von Weitem abbildete, war klein und kaum leserlich ein Ortsschild zu sehen. Bentheim entzifferte mit der Lupe ‚Bitterfeld‘. Deshalb vermutete er das Institut in Sachsen-Anhalt. Das Interview zeigte einen Mann im besten Alter. Das war der Grund für Bentheim, noch einmal genauer nachzusehen, von wann der Bericht stammte. Er war über zwanzig Jahre alt.

‚Bitterfeld‘, ging es ihm durch den Kopf. Er wusste als Autofahrer auf der Transitstrecke Richtung Hof, wo der Ort lag. Man sah die Stadt nicht, aber der Chemiegeruch stieg jedem Vorbeifahrenden unangenehm in die Nase.

Nach dieser Erkenntnis schwand sein Optimismus ein wenig, dem Doping auf die Spur zu kommen. Wie sollte er dort, ohne aufzufallen, Kontakte zum Institut aufnehmen? Weit unwahrscheinlicher erschien es ihm, dann auch noch eine Gelegenheit zu erhalten, um das Präparat zu entwenden.

Am nächsten Morgen war er geneigt, den Hörer in die Hand zu nehmen, um Hausmann zu beichten, dass er von der Recherche Abstand nähme.

Dann riss er sich zusammen und fuhr in die Staatsbibliothek, um nach weiteren Berichten zu suchen. So saß er im Lesesaal und vertiefte sich in den Papierstapel.

»Jawoll«, rief er plötzlich und laut, dass von den anderen Lesenden ein rügendes Hüsteln zu hören war. In einem erst vor Kurzem erschienenen Artikel