Die Aktentasche - Dieter Kermas - E-Book

Die Aktentasche E-Book

Dieter Kermas

4,7

Beschreibung

Frühjahr 1945. Die Kapitulation steht unmittelbar bevor. In einem Berg werden fünf SS-Männer eingeschlossen. Sie warten vergeblich auf Hilfe. Sie versuchen, sich freizugraben. Monate vergehen. Es kommt zu Todesfällen. Am Ende stehen sich zwei Männer hasserfüllt gegenüber. Wird einer die Freiheit wiedersehen?

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Glossar

Die Aktentasche

Im Haus der Familie Lamot in Weinheim steht der Sommerurlaub an. Die Kinder Margot und Lars freuen sich auf den Urlaub, denn in den Ferien geht es wieder ans Meer.

Peter Lamot erinnert sich, ihre Schwimmflossen und die Tauchmasken vor zwei Jahren auf dem Boden verstaut zu haben.

In einem ehemaligen Reisekorb, der weiß wie lange schon hier oben liegt, findet Peter die gewünschten Sachen. Nicht ganz, denn eine der Schwimmhilfen fehlt. Er wühlt sich weiter durch den Inhalt und hält unerwartet eine recht große, abgegriffene lederne Aktentasche in den Händen. Achtlos legt er sie neben den Korb, um die zweite Flosse zu finden. Als er sie entdeckt hat, und im Begriff ist, die Tasche wieder in den Korb zu legen, stutzt er.

Ist das die Aktentasche, die jahrelang in der Besenkammer in einem Regal lag, ehe seine Mutter ihren Mann darum bat, sie endlich zu entsorgen? Sein Vater Paul tat sich schwer mit dieser Aufforderung. Die mit ihr verknüpften Erinnerungen

bewogen ihn, sie nicht wegzuwerfen, sondern heimlich auf den Boden zu bringen.

Vielleicht birgt sie ein Geheimnis, überlegt Peter. Seinen Vater kann er nicht mehr fragen, ist er doch Ende der neunziger Jahre verstorben. Mit der Taucherausrüstung und der Tasche erscheint er auf der Terrasse. Die Kinder ziehen sich die Flossen und die Masken an und watscheln kurz danach, wie auf Land geworfene Frösche durch den Garten.

»Du willst doch nicht allen Ernstes die alte, schäbige Aktentasche in den Urlaub mitnehmen?«, wundert sich Lamots Frau.

»Nein, keine Sorge, ich will sie nur noch einmal gründlich durchsuchen, ehe ich sie wegwerfe«.

Seine Frau hat dem Drängeln der Kinder nachgegeben und ist mit ihnen zum nahegelegenen See aufgebrochen.

Er setzt sich in den Sessel unter den Sonnenschirm und schaut ins Innere der Tasche. Im Hauptfach fällt ihm ein kurzer, stumpfgeschriebener, Bleistiftstummel in die Finger. Nachdem die erste Vortasche leer ist, bleibt nur die Zweite übrig. Sie enthält nichts. Er will nicht glauben, dass die schäbige Tasche an sich der Grund war, sie aufzuheben. Da steckt mehr dahinter. Peter sucht weiter. Innen fühlt er eine kleine Kante über die Breite der Tasche. Mühsam gelingt es ihm, das Geheimfach aufzudrücken. Seine tastenden Finger finden ein flaches Päckchen, das so breit wie die Tasche ist.

Er zieht es heraus.

Er öffnet das Ölpapier und es fallen ihm mehrere, nebeneinanderliegende Stapel Notiz-blätter in die Hände. War das der Grund, warum Paul die Tasche nicht weggeworfen hatte? Er erkennt sofort die markante Handschrift des Vaters. Er beginnt die, besonders kleingeschriebenen Zeilen, zu entziffern. Alle Blättchen enthalten oft mehr als eine Datumsangabe. Peter holt sich die Brille, um die kleine Schrift zu lesen.

------

21. März 1945.

Seit dem 14. März 45 sind wir, nach einer Explosion, im Berg eingeschlossen. Unsere Hoffnung, bald gefunden zu werden, hat sich zerschlagen. Vermutlich werden wir uns selber den Weg in die Freiheit graben müssen. Gott sei Dank haben wir ein Lebensmitteldepot entdeckt. Die Kameraden Barski, Aumüller, Ullmann und Krawuttke sind noch optimistisch. …

30. April 1945.

Die ewige Dunkelheit, die feuchtkalte Luft und das langsame Vordringen beim Graben zerren an den Nerven. Es kommt zu Meinungs-differenzen. …

10. Mai 1945.

Wir sind uns sicher, dass die Amerikaner, die nicht weit entfernt waren, jetzt hier sind.

Daher gibt es keine Hoffnung mehr, von den eigenen Leuten befreit zu werden. Wir müssen, graben, graben und noch einmal graben. Das Pervitin hilft durchzuhalten. …

7. September 1945.

Es hat einen Todesfall gegeben. Kamerad Werner Ullmann hat sich erschossen. …

-------

Peter hatte die Blätter nicht nach dem Datum sortiert, sondern las die Seite, die ihm in die Hände fiel. Mein Gott, hier liegt Vaters tragische Lebensgeschichte als Gefangener im Berg, minutiös aufgeschrieben, vor mir. Jetzt dämmerte es ihm, warum Paul sich nicht von der Aktentasche trennen konnte.

Er nahm die nächsten Zettel und vertiefte sich wieder in das Geschriebene.

Langsam breiten sich die Ereignisse ab März 1945 vor ihm aus.

-------

~ 1 ~

Das heftige Frühlingsgewitter im März 1945 hüllte das Lager in einen nassen Dunstschleier.

Verließ man die befestigten Wege, blieben die Knobelbecher im Morast stecken. Selbst die geländegängigen Kübelwagen hatte Mühe, sich aus der zähen Umklammerung der lehmigen Erde zu befreien. Mit eingezogenen Köpfen, als ob das vor dem Regen schützen würde, hasteten die Soldaten über das Gelände.

Am Standort der Organisation Todt, einer paramilitärischen Bautruppe, spürte jeder die zunehmende Nervosität. Die Bauarbeiten an den unterirdischen Hallen im Berg wurden von einem Tag auf den anderen eingestellt. Man hatte sich im Bergmassiv eingraben müssen, um bombensichere Produktionsstätten, für die neusten Flugkörper, wie die V2, zu haben. Die oberirdischen Rüstungsfabriken waren fast alle durch die alliierten Bombenangriffe zerstört.

Seit dem frühen Morgen verließen Häftlinge und Kriegsgefangene, in langen grauen Kolonnen zu Fuß das Arbeitslager mit unbekanntem Ziel. Die Zwangsarbeiter wurden nicht mehr gebraucht.

Die Sturmmänner Paul Lamot und Werner Ullmann von der Waffen-SS standen, etwas vom Regen geschützt, leicht frierend, an eine Barackenwand gelehnt und rauchten. Sie sind bereits eine Weile zusammen und duzen sich.

»Haste schon bemerkt, dass unsere höheren Offiziere seit einigen Tagen nicht mehr zu sehen sind?«, erkundigte sich Ullmann bei dem Kameraden.

»Ist mir bereits aufgefallen. Vielleicht ist was dran, an dem Gerücht, dass die Amerikaner bald hier sein werden«, flüsterte Lamot und setzte hinzu: »Ist wohl sicherer, darüber nicht laut nachzudenken, oder?«, wobei ein Grinsen über sein Gesicht glitt.

Jakob Aumüller, der dritte Sturmmann, kam angeschlendert, schüttelte das Wasser von der Mütze und berichtete, er hätte gehört, dass das Lager in Kürze aufgelöst wird. Er lächelte dabei und ließ durchblicken, dass er dann bereits zu Hause wäre.

»Also doch. Deshalb die Hektik in den letzten Tagen. Genau wie wir es geahnt haben«, bestätigte Lamot. Er bot ihm eine Zigarette an, die Aumüller dankend annahm, sie an der von Lamot anbrannte und einen tiefen Zug nahm.

»In Anbetracht der Latrinengerüchte habe ich den Eindruck, der Endsieg rückt immer weiter in die Ferne. Vor ein paar Wochen hätte ich mich noch nicht getraut, so offen darüber zu sprechen. Man wusste ja nie, wer da zuhört«, verkündete er und sah die Kameraden an.

Lamot setzte eine todernste Miene auf, schaute Aumüller streng an und erwiderte: »So, so, und du bist dir sicher, dass wir deine defätistische Gesinnung nicht melden werden?«

»Bin ich, sonst hätte ich’s Maul gehalten«, meite der Angesprochene und nahm einen weiteren Zug.

»Ich bin gespannt, welche Aufgaben man uns bis zur Niederlage noch verpassen wird«, argwöhnte Ullmann.

Die Gedanken hierüber wurden ihnen umgehend abgenommen.

Um die Ecke der Baracke schob sich die große, hagere, vom Regen triefende Gestalt von Sturmbannführer Fritz Barski.

Die drei warfen ihre Kippen in die nächste Pfütze und nahmen Haltung an.

»Komme gerade vom Obersturmbannführer Krause«, schnarrte er.

»Wir«, und dabei richtete er seinen kalbsaugenblauen Blick auf die Männer, »haben einen Sonderauftrag erhalten, der sofort auszuführen ist. In zwanzig Minuten treffen wir uns vor Tunneleingang Berta«.

»Jawoll Sturmbannführer, in zwanzig Minuten vor Tunneleingang Berta «, ertönte es aus den Kehlen. Nur das Hackenzusammenschlagen gelang durch den Matsch nicht formvollendet.

Barski verschwand so eilig, wie er gekommen war.

»Sonderauftrag, was wird das wohl heißen?«, murrte Lamot. »Vielleicht dauert es länger. Ich hole mir schnell ein paar Zigaretten«, verkündete er und stapfte durch die Pfützen in Richtung zu den Unterkünften.

»Bring mir bitte zwei Packungen mit«, rief ihn Ullmann nach und Lamot winkte mit der Hand als Einverständnis.

Die Sonne hatte es inzwischen geschafft, einige Löcher in die Wolkendecke zu brennen und fing an mit ihren warmen Strahlen, das Wasser aus den Pfützen aufzusaugen. Nur die Schneeflächen oben auf dem Muschelkalkberg schimmerten weiß und frisch, wie mitten im Winter.

Preußisch pünktlich standen Lamot, Ullmann und Aumüller am Eingang zum Tunnel Berta. Aumüller sah mit verkniffenem Mund auf seine Stiefelspitzen und murmelte, gerade noch für die Umstehenden hörbar: »Mein Urlaub ist gestrichen worden«.

Ehe ihn die Kameraden fragen konnten, warum die Erlaubnis zurückgenommen wurde, kam Barski in diesem Moment, mit einem neuen Mann im Schlepptau, und einer dicken, braunen Aktentasche in der rechten Hand, angestiefelt.

»Achtung, der Alte kommt«, warnte Lamot die Wartenden. Obgleich Barski nur etwa zwanzig Jahre älter war, sprachen sie vom ‚Alten‘. Mag sein, dass nicht nur die respekteinflößende Größe und die stets mürrische Miene mit dazu beitrugen, sondern auch seine kompromisslose Art, Befehle zu erteilen, die keinen Widerspruch duldete. Lamot sah auf die Uniform des Vorgesetzten. Bisher hatte er nicht gewagt, zu fragen, bei welchem Feindeinsatz Barski verletzt wurde. Das schwarze Verwundetenabzeichen auf der linken Brustseite war ein Zeichen dafür.

Barski hielt es nicht für nötig, den Hinzugekommenen vorzustellen, sondern eilte wortlos voraus zum Eingang.

Lamots Blick wanderte noch einmal zurück auf das rege Treiben im Lager. Er sah die Wachmannschaften für die Zwangsarbeiter in Reih und Glied zum Abmarsch angetreten, mehrere Lastwagen, die auf die Beladung warteten und einen Schützenpanzer, der vermutlich zu ihrem Schutz am Ausgang stand. Die Sonne schien so grell durch die Wolkenlücken, dass er die Augen mit der Hand schützte. Ein Krähenschwarm, der krächzend am blassblauen Himmel Richtung Süden zog, ließ ihn hochschauen. Er sah ihnen nach, bis sich die Konturen im Licht auflösten.

Er drehte sich um und folgte den Männern. Er ahnte nicht, dass ihn diese Bilder für lange Zeit begleiten würden.

An die schlagartige Dunkelheit, die sie umgab, mussten sich ihre Augen ein paar Minuten gewöhnen. Barski hatte einen Stapel Zeichnungen, die mit dem Vermerk ‚Streng geheim‘ versehen waren, aus der Aktentasche genommen, aufgefaltet und sich das erste Blatt zurechtgelegt. Er griff erneut in die Tasche und holte Taschenlampen heraus, die er verteilte. Die trübe Stollenbeleuchtung reichte nicht aus, die Pläne zu lesen. Er befahl Ullmann:

»Leuchten!«.

Dann hatte er sich orientiert und lief, ohne ein weiteres Wort, mit großen Schritten den Stollen entlang und bog nach etwa fünfzig Metern links in einen Querstollen ab.

Auf dem Weg dorthin, stellte sich der hinzugekommene Mann bei den Kameraden vor:

»Jestatten, Oberscharführer Karl Krawuttke aus Berlin«. Sie nannten ebenfalls ihre Namen und den Dienstrang.

»Noch ein Vorgesetzter«, murmelte Ullmann, den kleinen, drahtigen Neuen von der Seite her unauffällig musternd.

In dem von Baulärm sonst beherrschten Berginneren herrschte gespenstische Stille. Nur das Klacken der benagelten Stiefel auf dem Felsboden hallte von den Wänden wider. Die feuchte Kühle ließ sie frösteln. Lamot stellte sich vor, er hätte als Zwangsarbeiter unter den unmenschlichen Bedingungen hier Tag und Nacht schuften müssen. Ein beklemmendes Gefühl stieg in ihm hoch. Fast hätte er sich umgedreht, um zurück in den sonnigen Frühlingstag zu fliehen.

Nach weiteren einhundert Metern, zwischendurch hatte sich Barski vergewissert, sich in der richtigen Tunnelanlage zu befinden, blieb er stehen.

»Gestatten Obersturmbannführer eine Frage«, meldete sich Lamot, »was ist unsere Aufgabe hier im Berg?«

Barski der sich in die Karte vertieft hatte, hob etwas den Kopf und antwortete kurz angebunden: »Der Befehl lautet, die angebrachten Sprengladungen zu kontrollieren, ob sie bereit für die Zündung sind«.

»Was für Sprengungen, Obersturmbannführer?«, setzte Lamot nach.

»Stellen Sie nicht so viele Fragen, Lamot. Mehr als dass die Sache von höchster Geheimhaltung und Dringlichkeit ist, kann ich Ihnen nicht sagen«, erwiderte Barski und am Tonfall war zu erkennen, dass er keine weitere Diskussion wünschte. Ullmann hatte tiefer in den Stollen geleuchtet und in einer Entfernung von etwa zwanzig Metern eine zweiflüglige Blechtür entdeckt.

Ehe er sich Gedanken darüber machen konnte, was dort gelagert sein könnte, hörte er Barski: »Ullmann, leuchten Sie mal hier die Wände ab. Hier müssten sich die Sprengladungen für diesen Tunnelabschnitt befinden«.

Ullmann fand die gebohrten Sprenglöcher und leuchtete auf die Ladungen, während sich Barski von dem festen Sitz der Zündkabel überzeugte. Er notierte die Ergebnisse in der Zeichnung.

Barskis Befehl, sich zum nächsten Stollen zu begeben, ging in dieser Sekunde in einem ohrenbetäubenden Explosionsgeräusch unter. Die Druckwelle presste ihnen die Luft aus den Lungen und die schwache Tunnelbeleuchtung flackerte. Den schmächtigen Ullmann hatte der Schock zu Boden sinken lassen. Er hockte mit dem Rücken an die Felswand gelehnt und hielt sich die Ohren zu und die blauen Augen standen vor Schreck weit auf. Sein rechtes Augenlid zuckte nervös, als ob er jemand zublinzelte, wie auch sonst, wenn er aufgeregt war.

In den Gesichtern spiegelte sich ungläubiges Erschrecken wider. Ehe sie in der Lage waren, etwas zu sagen, dröhnten weitere Explosionen durch die Gänge und aus den Belüftungsschächten quoll Steinstaub, der ihnen das Atmen erschwerte.

Sturmbannführer Fritz Barski mit nicht mehr so markiger Stimme: »Hoffentlich sprengen sie nicht auch hier«.

»Leuchten Sie hierher«, forderte der Vorgesetzte. Sie leuchteten mit den Taschenlampen auf die Aktentasche und Barski kramte eine Lampe für sich heraus. Er zögerte kurz und befahl laut und hörbar nervös: »Sofort die Zündkabel unterbrechen. Womöglich sprengen sie auch diesen Stollen«.

Sogleich folgten sie den Zündkabeln und rissen sie hastig aus den Sprengladungen. Um die weiter oben angebrachten Ladungen zu entschärfen, stieg Ullmann auf die Schultern des stämmigen Bayern Aumüller.

»Beeilen Sie sich! «, befahl Barski unnötigerweise.

Es gelang. Die Ladungen waren in ihrem Bereich entschärft. Keuchend und durch den Staub sich räuspernd, standen sie beieinander. Entfernt hörten sie dumpf zwei Detonationen. Jakob Aumüller fluchte: »Sind die denn verrückt geworden? Sie wissen doch, dass wir hier die Sprengvorbereitungen kontrollieren. Die können doch nicht …«

Eine weitere Explosion übertönte seine letzten Worte. Der trockene Staub drang erneut in Mund und Lunge. Das Sprechen und Atmen fiel ihnen noch schwerer. Die Verzweiflung wuchs.

Die Tunnelbeleuchtung verlosch.

Lamot nahm Haltung an, obgleich es in der Dunkelheit keiner sah, und schlug vor:

»Gestatten Obersturmbannführer, dass wir uns lieber in den Raum hinter der Blechtür am Ende Ganges begeben sollten.«

Sie standen vor der Tür und sahen im Schein der Taschenlampe die Aufschrift Depot siebzehn.

Barskis befahl heftig hustend und nach Atem ringend: »Sofort alle Mann rein ins Depot. Dort sind wir sicherer als hier draußen in den Stollengängen«. Die Tür war zu ihrer Überraschung nicht abgeschlossen.

Eilig zogen sie die Tür auf und standen in einem riesigen Warenlager. Selbst der Strahl der Taschenlampe reichte nicht bis ans Ende des Depots. Jetzt war keine Zeit, sich mit der Entdeckung zu beschäftigen.

~ 2 ~

Barskis Befehl riss sie aus ihrer Verwunderung: »Krawuttke geben Sie mal die Zeichnungen her«.

Der nahm Haltung an und antwortete: »Zu Befehl Sturmbannführer«. Er breitete die Pläne auf einer Kiste aus. Sie leuchteten mit den Lampen auf die Unterlagen.

Noch hatten sie keinen Überblick, welche Ausgänge von den Stollen und Querstollen gesprengt wurden. Anhand der ihnen mitgegebenen Zeichnungen versuchten sie, eine Stelle zu finden, wo sie nach draußen gelangen könnten.

Sie zuckten zusammen, als zwei weitere Sprengungen die Gespräche unterbrachen.

Danach trat Stille ein. Sie warteten eine Weile, dann gab Barski den Befehl, das Depot zu verlassen und nachzusehen, ob sie einen Weg ins Freie fänden.

Um sich in den unbeleuchteten Stollen nicht zu verlieren, suchten sie gemeinsam die nächsten Gänge und Hallen ab. Die Nachforschung war erfolglos, weil die Zugänge durch Sprengungen bis tief in das Berginnere verschüttet waren. Die Querstollen waren ebenfalls zu.

Sie riefen, sie schrien. Sie hofften, dass sie durch die Lüftungsschächte gehört werden.

Sie lauschten.

Keine Antwort.

»Wir werden in der Zwischenzeit in das Depot zurückkehren und dort warten«, ordnete Barski an.

Sie trösteten sich damit, dass ihr Verschwinden bald bemerkt und ein Suchtrupp losgeschickt würde.

Sturmmann Paul Lamot wandte sich an den neben ihm stehenden, gleichrangigen Werner Ullmann: »Kannst du dir vorstellen, was da draußen inzwischen passiert sein kann? Vielleicht haben die vergessen, dass wir hier die Kontrolle vornehmen«.

Barski hörte das und fuhr dazwischen: »Reden Sie nicht so einen Unsinn Lamot. Bei unserer Führung gibt es kein ‚vielleicht‘. Sie mit Ihrem französischen Namen sollten vorsichtiger sein mit solchen Vermutungen«.

Lamot daraufhin provozierend: »Immer noch besser, als fast in Polen geboren zu sein, Sturmbannführer«! Wobei er die ostpreußische Herkunft Barskis meinte.

Der brauste auf und drohte: »Wegen dieser Bemerkung werden wir uns noch sprechen, wenn wir hier raus sind«. Die schon längere Zeit schwelende gegenseitige Abneigung, trat deutlich zu Tage.

------

Aufgrund der letzten Meldungen hatte die deutsche Heeresführung die Gewissheit, dass die Amerikaner in den nächsten zwei oder drei Tagen hier einmarschieren.

Deshalb wurde die sofortige Sprengung der Zugänge, ohne Vorwarnung, von höchster Stelle angeordnet. Dem Feind durften keine Geheimnisse in die Hände fallen.

------

»Und ich hab’s nicht weit bis nach Hause«, beklagte sich der Thüringer Werner Ullmann »und weiß nicht, ob ich die Familie jemals wiedersehen sehen werde«.

Darauf tröstete ihn die rheinische Frohnatur Lamot: »Nun mal nicht den Teufel an die Wand. Wir sitzen gerademal ein paar Minuten im Dunkeln und du jammerst schon«.

Aus dem Dunkel war erneut die leise Stimme Ullmanns zu vernehmen: »Ich meinte ja nur.

Wenn sie aber nicht kommen? Vielleicht müssen wir hier länger ausharren?«

Totenstille umgab sie. Kein Laut war durch die Lüftungsschächte zu hören.

Der pragmatisch veranlagte Bayer Jakob Aumüller: »Erst mal schauen, was im Depot ist. Wir brauchen andere Lampen, denn die Taschenlampen sind bald aus«.

Sie durchsuchten das riesige Lager.

Mit großen Augen schaute Krawuttke auf die eingelagerten Warenberge.

»Und uns haben sie seit Monaten erzählt es gäbe das alles, was hier in Mengen liegt, nicht mehr«, wundert er sich.

Sie fanden Lebensmittel, Hindenburglichter und Petroleumlampen. Mehr war im Licht der Taschenlampen, im Moment nicht festzustellen.

Aumann: »Verpflegung ist ausreichend da, wie ich gesehen habe. Damit halten wir garantiert solange durch, bis sie uns gefunden haben.«

Ullmann: »Ohne Wasser nützt uns das wenig. Wo kriegen wir Wasser her?«

Aumüller: »Verdammt, daran habe ich nicht gedacht.«

Ullmann sprach sich selber Mut zu mit den Worten: »Verschüttet zu sein ist schlimm genug, aber wenn es nur ein paar Kilometer bis nach Hause sind, besonders ungerecht. Sollten sie feststellen, dass wir nicht zurück sind, werden sie sicher umgehend einen Suchtrupp zusammenstellen. Mit etwas Glück, sind wie morgen längst wieder draußen «.

Barski mit scharfer Stimme: »Darauf können wir uns nicht verlassen. Lamot und Ullmann, Sie gehen gemeinsam los und erkunden die nähere Umgebung, ob noch irgendwo eine Chance besteht hier rauszukommen. Befüllen sie eine Lampe mit Petroleum und merken Sie sich den Rückweg. Nehmen Sie die Zeichnungen mit.«

Die Angesprochenen, die Hacken zusammenschlagend: »Jawoll, Sturmbannführer.«

Barski sich an Aumüller wendend: »Aumüller, Sie traben los und suchen Wasser. `Ne kleine Quelle, oder wenigstens ein Rinnsal Wasser aus dem Fels.«

»Zu Befehl, Sturmbannführer.«

Kaum waren die Männer verschwunden, als erneute Sprengungen sie zusammenzucken ließen. Sie klangen aber entfernter.

»Hoffentlich erwischt es nicht unsere Kameraden«, murmelte Krawuttke.

»Unterlassen Sie gefälligst diese wenig hilfreichen Äußerungen Oberscharführer«, knurrte Barski ungehalten.

Stunden später erschien, vom trüben Schein der Petroleumlampe beleuchtet, als erster Aumüller.

»Was gefunden Aumüller?«, bellte Barski mit bewusst forscher Stimme. »Jawoll, Sturmbannführer. In einem Verbindungsstollen, nicht weit von hier, ist eine Grube, die mit Wasser gefüllt ist. Aus dem Fels läuft Wasser nach.«

»Gut. Das wäre geklärt. Haben Sie von draußen Geräusche gehört? «, erkundigte er sich.

»Nein.«

Barski sah, mit seinen einen Meter neunzig, auf den ein gutes Stück kleineren Kameraden hinunter, verschränkte die Arme hinter dem Rücken und auf den Zehen vor- und zurückwippend knurrte er unwillig: »Das heißt nein, Sturmbannführer«.

Aumüller, völlig fertig von der stundenlangen Sucherei, daraufhin mit einem müden Lächeln:

»Wenn Sie darauf bestehen. Nein, Sturmbannführer«. Setzte sich erschöpft auf eine Kiste und sah zu Boden. Barski verzog missbilligend das Gesicht. Sagte aber nichts.

Es war still. Keine Detonationen. Die Lautlosigkeit drückte auf die Ohren. Barski nahm die Mütze ab und wischte sich den Staub von der Stirn und den Augen. Die kurzen, fahlgelben Haare standen widerborstig nach allen Seiten. Krawuttke fand, dass sie genau wie Stroh aussahen. Grinste über seinen Vergleich. Jedoch nur innerlich.

Krawuttke nahm Haltung an und fragte: »Gestatten Sturmbannführer eine Frage?«

Barski setzte erst die Mütze wieder auf und forderte ihn dann mit den Worten auf:

»Schießen Sie los. Wo drückt der Schuh? «

»Ich habe mir Gedanken gemacht. Wenn die Amerikaner, die waren ja nicht mehr so weit weg, doch schneller gekommen sind, dann sind unsere bestimmt nicht mehr da. Das könnte der Grund sein, warum die es so eilig mit den Sprengungen hatten.«

Barski schwieg, starrte seinen Oberscharführer finster an und gab nach einigen Minuten zu:

»Dann sitzen wir hier in der Falle. Dann gäbe es niemanden, der uns suchte. Auf Deutsch gesagt, wir wären lebendig begraben«.

Krawuttke, ohne Haltung anzunehmen, nach einer Weile: »Sturmbannführer, was schlagen Sie vor? Wir müssen einen Plan machen, um aus der Situation das Beste zu machen.«

Der Angesprochene überlegte eine Zeitlang: »Warten wir ab, was die Kameraden für Neuigkeiten bringen«.

Sie saßen im Kreis auf Kisten mit dem Inhalt ‚Eiserne Portionen‘.

Die Stunden tröpfelten zäh dahin. Es kam kein Gespräch auf. Alle hingen ihren Gedanken nach. Aumüller kramte in der Uniform und holte eine Zigarettenpackung hervor. Er bot sie den Kameraden an. Krawuttke bedankte sich und nahm eine Zigarette. Barski schüttelte den Kopf. Der Rauch stand fast an einer Stelle, weil kein Luftzug ihn verwehte.

Langsam breitete sich Unruhe aus.

»Die sind vielleicht schon draußen in der Sonne«, witzelte Aumüller, legte die Mütze ab und strich mit den Fingern durch sein schwarzes, leicht gelocktes Haar.