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Eine deutsch-deutsche Liebesgeschichte, die kurz vor dem Fall der Mauer beginnt und bald danach ihr Ende findet. Eine liebevolle Groteske, in der die unwiederbringliche Atmosphäre des geteilten Berlins noch einmal lebendig wird. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)
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Seitenzahl: 327
Ursula Eisenberg
Mauerpfeffer
Roman
FISCHER E-Books
Die Frau in der Gesellschaft
Herausgegeben von Ingeborg Mues
Mauerpfeffer, scharfer: Fettblatt, das bei Genuß starken Brechreiz hervorruft. Sonst ist es genügsam. Die Blüten sind sternförmig, gelblich, männlich und weiblich zur gleichen Zeit. Der Mauerpfeffer wächst am liebsten im Nichts.
Schülereintrag im Arbeitsbogen Biologie, 7. Klasse
Berlin-Hermsdorf stößt östlicherseits direkt an die Mauer – diese berüchtigte, beinah unüberwindliche Grenze zwischen Deutschland und Deutschland. Hier wuchern die Gärten bis an den hellen Beton. Mauerstarr sind die Astern, die winzigen Blüten der Heide. Am Straßenrand kleben wie festgebacken die Autos. Auch Gehwege und Häuser sind im Mittag gebannt. Auf dem Rasen verteilt sich schon Laub, verwelkt, gefallen, verdorrend gekrümmt bereits vorgestern oder vorhin – in einer anderen Zeit. Sonst sind die Blätter noch glatt, von der Sonne durchdrungen wie farbiges Glas. Zwischen leuchtendem Grün die Fetzen grellblauen Himmels – unbeweglich auch sie.
Grünblaumetallisch torkelt ein Brummer vom Garten zur Straße und wieder zurück. Kreist dröhnend über dem Zaun, senkt sich, steigt wieder hoch und wird fündig im Grünstreifen zwischen Gehweg und Bordstein. Tastet und saugt, krabbelt, saugt wieder, reißt sich in lautlosem Eifer beinahe den Kopf ab.
Aber die Stille ist wund und wird weiter verletzt. Ein Flugzeug zerschneidet das Blau, hinterläßt zerfaserndes Weiß und verhallendes Rollen. Rhythmisches Schleifen und Klappern kommt nun sehr nah. Die Fahrerin bremst, springt ab, lehnt ihr Rad an die offene Pforte, bleibt stehen und starrt in den Baum. Zwischen leuchtendem Grün und grellblauem Himmel ist etwas, das sich bewegt. Bringt Unruhe in das Laub und die Zweige. Löst sich aus der Krone, flattert, landet im Gras. Pickt an den Halmen, dreht den Kopf hin und her. Fliegt wieder auf und hockt unerhört blau im Schneebeerenbusch.
Die Frau schiebt sich langsam heran, ihre Hände zum Greifen geöffnet. Zögert, sobald etwas knackt. Noch sechs Schritte, fünf … der Vogel sitzt still, wie für immer.
Auf einmal ein Schrei:
»Maki, hau ab!«
Ein Kienapfel fliegt Richtung Busch. Die Katze, schwarz mit weißem Gesicht, dreht ab und ist weg.
Der Sittich sitzt wieder im Baum. Hebt ab, landet kurz auf dem Zaun, fliegt ins Nachbargrundstück hinein. Die Frau läuft den Plattenweg entlang. Zögert ein bißchen am Tor mit dem Messingschild BRUDER und betritt dann den anderen Garten. Im verblühten Rhododendronbusch turnt der Vogel. Durch den Steingarten stolpert die Frau. Jetzt nimmt er Platz auf der Palme, die in einem Holzkübel wächst. Sehr nah, doch zum Greifen zu hoch.
»Komm, komm!« lockt die Frau, streckt die Hand aus. Der Vogel dreht seinen Kopf, fixiert sie mit einem Auge und öffnet die Flügel. Umkreist ein paarmal die Palme, erweitert die Flugbahn. Die Kreise werden sehr groß; jetzt ist er noch hier, dann im Osten, kommt einige Male zurück in den Westberliner Luftraum und bleibt schließlich hinter der Mauer.
Wer sich nicht auskennt, sieht nur das Bambusspalier, bewachsen mit altrosa Rosen, die aus Kästen hochklettern. Drei Meter hinter dem Spalier kommt die Mauer, danach der Osten. Nie gesehen und erst recht nicht betreten, während Kirsten Loh dort, wo sie sich jetzt gerade aufhält, schon viele tausendmal war. Sie sieht sich um und erinnert sich:
Neben dem Apfelbaum wuchs der Holunder. War nicht da drüben der Fahrradständer gewesen? Und diesen Steingarten gab es früher noch nicht. Blaue, weinrote, grellgelbe Matten zwischen winzigen Felsen. Einige der Blumen hat sie heruntergetreten. Kirsten bückt sich, besieht verwundert die tiefblauen Kelche. Enzian! Daß so was hier blüht!
Am Rande des Steingartens krümelt der märkische Sand, überwuchert von winzigem, rostbraun verdorrtem Gestrüpp. War vor wenigen Wochen noch fleischig und grün, trieb viele gelbliche Blüten. Mauerpfeffer. Der macht sich überall breit, wo sonst nichts mehr wächst.
Plötzlich spürt Kirsten ihren Herzschlag bis in die Schläfen. Was macht sie in diesem Garten! Sie tritt aus der Pforte, das Türchen schnappt hinter ihr zu, als wollte es beißen. Auf dem Plattenweg seufzt sie erleichtert. Gut, daß der Vogel nun weg ist! Was soll sie mit solch einem Tier – ohne Käfig, aber mit Katze? Womöglich hätte das Vieh gekratzt und gebissen. Sicherlich hätte sich Anne, die Tochter, gleich in den Sittich verliebt. Blöde Idee, den Vogel fangen zu wollen.
Kirsten schnallt die Tasche vom Gepäckträger ab und schiebt das Rad in das Haus.
»Mama, die eine vom Hammer!« Annelie greift an der Mutter vorbei und läßt das Stück Speck wieder los: »Iiiii!«
»Was ist mit der einen vom Hammer?«
»… will mit dir sprechen.«
Kirstens Magen wird hart, fängt dumpf an zu drücken. Sie dreht den Hahn auf und zu, wischt die fettigen Finger am Topflappen ab und tritt aus der Küche:
»Das ist aber ein seltener Besuch: Frau Bruder!«
Vor dem spätsommergleißenden Licht im Türausschnitt hebt sich die andere als Schattenriß ab: Lockengespinst über breitgepolsterten Schultern, Beine unendlich lang.
»Kommen Sie rein!« Kirsten zieht die Mundwinkel breit.
Zwei Schritte – Frau Bruder bleibt stehen. Bekommt im dämmrigen Flur Farbtöne und ein Gesicht.
»Es ist …«, sie sieht auf die Fahrräder neben den Mänteln, »weil die Katze das immer schon macht.«
»Was ›macht‹?«
«… fängt fortgesetzt Vögel.«
»Tut sie das?« Kirstens Blick folgt dem der Frau Bruder.
Soviel Dreck auf dem Flur! Haben die Blätter, die Kienäpfel und das Bonbonpapier hier vorhin schon gelegen?
»Die Katze fängt Vögel. Wir sehen das nun schon seit Jahren mit an, mein Mann und ich.«
»Ich seh sie immer mit Mäusen«, behauptet Kirsten.
»…fängt Vögel, nun schon seit Jahren«, wiederholt die Frau.
»Und heute«, sie tritt mit der Fußspitze einen Keks breit und besieht das Ergebnis.
»Was war denn heute?«
»… und daß sie einem das Grillgut aus dem Garten wegholt. Vom Feuer herunter.«
»Was war heute?« beharrt Kirsten.
»… nimmt sie sich den Sittich aus dem Zimmer heraus.«
»Ach, Ihr Vogel war das!« Zum erstenmal sehen die beiden Frauen sich an.
»Was sag ich! Sie wissen Bescheid. Aber vorher so tun …«
»Ich habe den Vogel gesehen und beinahe gefangen.«
»… beinah gefangen?« Frau Bruder steht nun sehr nah. Sie ist größer als Kirsten und oben gewaltig. Sie riecht nach Haarspray und einem Parfüm, das Kirsten nicht kennt.
»Er saß in unserer Birke. Dann ist er rüber zu Ihnen. Ich hinterher. Ich hätte ihn fast …«
»… und dann?«
»… dann ist er über die Mauer.«
Frau Bruder beugt sich vor, so daß Kirsten zurückweicht.
»Über die Mauer? Das könnte Ihnen so passen! Sie sind doch sowieso froh, daß der Osten … vielleicht haben Sie ihn – der und über die Mauer!« Sie sieht ihr nun ins Gesicht, die Augen sehr groß. »Sie wissen ja nicht, was das heißt, einen Vogel wie den. Wie der spricht! Die schwierigsten Wörter: ›Videotext.‹ Ich sage Ihnen: wie ein Professor.« Und leiser: »MEIN Professor. Manchmal ist er mein ein und alles.«
Es ist, als entwiche aus ihr die Luft. Sie sinkt ein und wirkt alt.
Sieht auf den gelben Fleck mit dem dunkleren Rand neben der Küchentür. Man müßte mal tapezieren. Oder wenigstens streichen.
»Und Ihr Mann?« fragt Kirsten.
»Mein Mann«, wiederholt Frau Bruder und senkt weiter die Schultern. Sie streichelt über den Fleck. Ganz sanft, dann beginnt sie zu stochern und schließlich zu kratzen, so daß der rotlackierte Nagel sich biegt. »Mein Mann ist viel unterwegs.« Das kommt wie tausendmal schon gesagt. Dann, wieder straff: »… ist viel unterwegs. Mein Mann und ich sind der Meinung, daß es nun langsam reicht. Weil es nicht zulässig ist, daß Katzen einfach nach draußen … Sie machen sich strafbar damit. Brauchen sich dann nicht zu wundern …« Frau Bruder wird immer größer und dreht sich plötzlich zur Tür. »… wollte ich Ihnen nur sagen. Und nun guten Abend!«
Die Absätze hallen im Flur, verklingen im Garten und hacken dann gleichmäßig trocken den Plattenweg entlang. Kirsten tritt in den Garten, sieht auf die spanische Wand, die Bruders Grillplatz sowie den Zugang zum Haus verdeckt. Dieser Sichtschutz ist wenig höher als ein stehender Mensch. Das Bauwerk dahinter ähnelt in Form und Grundriß der Laube – in der Fachsprache »Kleinhaus« genannt –, die Kirsten und Anne bewohnen. Nur doppelt so groß, mit viel Glas und in Fertigbauweise erstellt. »Papp-Beton« ist das für Kirsten. Genau an der Stelle hat früher der Schuppen gestanden. Dem Plattenweg zu Bruders Grundstück hatte das Buschwerk weichen müssen: Weißdorn, Brombeer, Holunder. Hier haben Igel gewohnt, es gab Haselmäuse und sogar ein Zaunkönignest.
Wie aus Trotz will auf Kirstens Seite nun gar nichts mehr wachsen. Sperrige Heide, einzelne Grashalme, mickriger Klee. Und der unvermeidliche Mauerpfeffer, der im Mai plötzlich da ist, im Juni wie Eigelb erblüht, fahl wird, eintrocknet, rostet, verschwindet und kahlen Sand hinterläßt. Der Mauerpfeffer breitet sich immer mehr aus, als hätte er sich entschlossen, Kirstens Pflanze zu werden. Als hätten Bruders die anderen Pflanzen zu sich herübergelockt, mit ihrem Gartengestalter, dem Kunstdünger und dem ewigen Wassergesprenge.
Von Annelie keine Spur. Kirsten fängt an zu räumen. Unruhig, ohne System bewegt sie sich in der dämmrigen Wärme, trägt Dinge hierhin und dorthin. Pflückt Annelies Röckchen aus dem Schneebeerenbusch. Findet ein lang gesuchtes Plastikpony mit grünrosa Schweif unterm Kinderplanschbecken. Zieht einen Eßlöffel aus dem klumpigen Sand, stellt den Gartenstuhl hin. Der Wäscheständer ist auf die Seite gekippt. Dürres Blättergespinst hängt am hellblauen T-Shirt, Steinchen fallen aus Annelies Schlüpfer. Handtücher, Socken und Nachthemd liegen im Dreck.
Früher hing eine Leine zwischen Schuppen und Mauer. Es war eine Mutprobe in der Wohngemeinschaft gewesen: Wer dübelt den Haken in den antifaschistischen Schutzwall? Thomas hat es getan.
Früher! Kirsten sieht wieder hinüber zur spanischen Wand. Sie ist zuerst dagewesen.
Sie könnte den Efeu gießen, auch wenn’s nicht viel nützt. Die Blätter beginnen schon, sich nach innen zu biegen. Dabei war er im feuchten Juni kräftig gewachsen. Hatte Wurzelwerk und Kaninchendraht fast überwuchert. Nur ein Rüssel ragt heraus, von dem ungebrannter Ton sich in Brocken löst. Dies war ein »Golem« gewesen. So hatte Gudrun das Monstrum genannt. Er war – wie viele andere – im Schuppen entstanden. Dieser hier ist unvollendet geblieben, weil Gudrun nach Afrika ging. Genauer gesagt, nach Zimbabwe. Nun hat sie schon lange in Dortmund ein Atelier. Dort baut sie solche Figuren aus haltbarem Material und verkauft sie als »Gartenskulpturen«. Früher hießen sie: »Gudruns Monster.« Wurden nur so geduldet, denn sie paßten in das Konzept der sich entfaltenden Klassenkämpfe nicht richtig hinein. Aber Gudrun war sonst eine vorbildliche Genossin gewesen. Sie verkaufte mehr Exemplare der »Kommunistischen Volkszeitung« als irgendwer sonst. So ließ man sie formen, sägen und modellieren und spottete bloß. Und Kirsten half ihr mitunter bei der Erstellung der Monster. Knetete feuchtkühlen, sperrigen, endlich geschmeidigen Ton. Rührte Pappmaché an, trug die schleimige, unendlich formbare Masse auf Maschendraht auf. Einige kleine Figuren hat sie auch selber gemacht. Gudrun ließ ja den ganzen Krempel im Schuppen zurück. Aber dann wurde das Grundstück geteilt …
Irgendwas knackt am Boden. Kirsten hat gerade den Jägerzaun runtergetreten, der in Fußhöhe Annelies Friedhof umgibt. Ruhestätte der Vogelbabys. Jedes gefiederte Tier, das die Katze erwischt, wird zum Baby ernannt. Kommt in einen Karton und unter den Sand. Kriegt ein hölzernes Kreuz. Annelie sammelt grüne Gummis dafür. Jeder Grabhügel ist mit einer Blume geschmückt: rote Stoffnelken von den »Erste-Mai-Feiertagen«, Schießbudenblumen aus Plastik. Alles ist gerade, symmetrisch, ausgewogen im Maß, mit fast derselben Sorgfalt gestaltet wie der Garten von Bruders. Jonas vom Haus Nr. 17 hilft oft dabei mit. Winzige Wege sind zwischen den Gräbern, sauber geharkt. Breit genug für eine Amsel im Trauergewand, die vielleicht selber später als Baby beigesetzt wird. An der Frontseite des kleinen Ackers steht statt Kapelle ein Zwerg und hebt segnend die Hand mit einer Angel darin.
»Mama!« Annes rundes Gesicht sieht über die Pforte, »Mama, darf ich bei Jonas …? Die haben Fleisch auf’m Grill.«
… und bei uns gibt es bloß die blöden Kartoffeln – ergänzt Kirsten für sich. Sie haßt es, wenn die Kinder die Küchen der Nachbarn wie Speisekarten taxieren. Aber der Jägerzaun an dem Friedhof ist noch nicht heil.
»Na gut!« sagt Kirsten und verdeckt die Zerstörung mit einer Drehung des Körpers. Sie steckt das Niedergetretene zurück in den Sand. Von hinten kommt Maki, reibt sich schnurrend an Kirsten und wälzt sich am Boden.
»Eigentlich darfst du überhaupt nicht nach draußen!« redet Kirsten sie an. Die Katze setzt sich und leckt ihren glänzenden Rücken.
Struppig und steif hat Dagobert vor ein paar Tagen in Heines Garten gelegen, Fliegen umschwirrten sein halbgeöffnetes Maul. Morgens hatte er noch auf dem Pfosten gesessen, glatt und gesund. Ob ihn womöglich Herr Bruder …?
Kirsten fühlt sich zusammengedrückt von der spanischen Wand und den beiden Daimlers vorm Zaun.
»Wir schaffen es nicht!« denkt sie. »Wir allein, Anne und ich. Wird Zeit, daß Frieder mal kommt.«
Die Sonne spiegelt sich in den Scheiben der Wagen, blendet beinah.
FRISIERSALON ELINOR BRUDER steht rot auf der hellgrauen Karosserie. Das andere Auto ist dunkel und nicht beschriftet.
Der Himmel verfärbt sich im Westen, gibt Heidekraut, Birke und Büschen rötlichen Glanz. Annelie müßte ins Bett. Vorher wird Kirsten sich gönnen, ungestört Abendbrot zu essen. Sie tritt in die dämmrige Küche und stellt eine Herdplatte an, um die Kartoffeln zu braten. Meistens liegt Maki um diese Zeit neben dem Schrank, in Erwartung des Futters. Kirsten setzt sachte die Füße, um das Tier nicht zu treten. Heute ist die Katze verschwunden und mit ihr der Speck.
»Was hatter gesagt, wanner kommt?« Annelie klatscht sich Butter und Honig aufs backwarme Brötchen, fettflüssigklebrige Tropfen verschmieren das Wachstuch. »… heute?« Sie beißt in die Schrippe und stimmt einen krümelsprühenden Freudengesang an: »Dann sind wir dreihei, dann sind wir drei, dann … um wieviel Uhr?« Sie kaut, schluckt herunter.
»Irgendwann heute.«
Annes Gesicht wird lang: »Dann muß ich ja immerzu warten!«
»Wir können ja etwas machen gegen das Warten. Vielleicht in den Zoo?«
»Au ja!« sagt Anne mit vollem Mund. »Au ja, in den Zoo!« Dann klappern sie durch das morgendlich ruhige Hermsdorf, Annelie auf dem kleinen Fahrrad, Kirsten auf ihrem großen. Fahren des Kindes wegen auf dem gepflasterten Gehweg, links die parkenden Autos. Zugezogene Vorhänge am VW-Bus von Schmöckes. Zwei Gärten weiter sitzt ein einsames Kind auf einem Klettergerüst. Ein Cockerspaniel verfällt in wüstes Gebell. Wie eine Lockenfrisur wallen die seidigen Ohren um weißblank speichelnde Wut. Lange noch japst er den Fahrrädern hinterher. Auf den Bänken am Waldsee sitzen zeitlose Menschen: Mütter und ältere Frauen, alltags wie sonntags zur gleichen Zeit aus den Betten getrieben. Eine Dame mit bläulich-weißer Perücke wirft Graubrotwürfel ins glitzernde Wasser. Noch sind die Enten nicht satt.
Hermsdorf glänzt, als hätte jemand gewischt. Vogelmiere und Wegerich sind wie gerade lackiert. Schwarzweißglatt hockt ein Dalmatiner zwischen den Kräutern, produziert einen mächtigen Haufen. Kirsten und Annelie bremsen knapp vor der rotledernen Leine, diagonal gespannt zwischen Hund und dem Hemdsärmel seines Herrn, der, den Wirtschaftsteil lesend, die Zeit bis zum Abschluß des großen Geschäfts gewinnbringend nutzt.
Der Zeitungsladen am Waldseeweg ist schon geöffnet. Der Mann mit der glatten Frisur steht wie meistens davor, ist frischfeucht gescheitelt. Er blinzelt auf seine Flasche, noch ohne zu schwanken.
Der S-Bahnsteig ist beinah leer. Am anderen Ende gibt es ein großgemustertes Hosenrockkleid mit folienverpacktem Blumenpräsent. Die S-Bahn fährt ein, und ein Teenagerpärchen rennt die Treppe herauf.
»Unser Wagen – nur wir!« Anne zerrt Kirsten zu dem Abschnitt des Zuges, in dem niemand zu sehen ist.
»Zurückbleiben!« Die Schiebetür schnappt zu. Zwischen den Polsterbänken riecht es nicht gut. Irgendwer stöhnt.
»Mama, da sind ja zwei Füße!« Anne hält ihre Mutter auf einmal ganz fest. Die Füße stecken in Stiefeln. Baumelnde Senkel, Sohlen, schon halb gelöst. Anne zerrt Kirsten zur nächstgelegenen Bank, mit Blick auf den Mann. Er liegt auf dem Polster mit angewinkelten Knien, in der Hand eine offene Büchse. Stöhnt wieder, schürzt die Lippen, kraust seine Stirn. Dann entspannt er sich leicht, öffnet den Mund, um zu schnarchen.
Anne, schräg gegenüber, ist aufmerksam wie im Kino. Atmet ein und aus im Rhythmus des Schnarchens, schüttelt Kirsten unwillig ab, die sie wegziehen will.
»Was hatter? Ist der Mann krank?«
»Der ist müde, vielleicht auch besoffen.«
Der drüben knurrt, dreht sich auf den Rücken. Seine Füße berühren nun beinah den Boden. Ein Atemzug wie ein Seufzer – nun schnarcht er schneller und flacher. Die Büchse entfällt seiner Hand, kollert vor und zurück; Bier fließt heraus. Das Schnarchen setzt aus und fängt wieder an.
»Nun komm!« Kirsten zerrt Annelie zur geöffneten Tür.
»Was ist? Sind wir da?«
»Zurückbleiben bitte!« Sie suchen sich im Nachbarwagen einen Platz.
»Wieso bleiben wir nicht da drüben?« zetert Anne. »Da war viel mehr frei!«
Ja wieso? denkt Kirsten und sagt: »Damit der Mann ausschlafen kann.«
Nach »Wittenau Nordbahn« steht das Neubaugebiet »Märkisches Viertel« wie ein Gebirge. Dann kommt die Grenze. Die Mauer macht einen Knick, verläuft neben den S-Bahn-Gleisen.
WHOW! CRASH! Die hellgraue Wand ist flächendeckend besprüht mit Sprüchen, Figuren, Symbolen. Täglich branden sie an den Beton, platzen, verlöschen, schimmern trotzdem noch durch, bekämpfen einander, verdecken sich, schrillen und übertrumpfen – die Sprechblasen des späten Kapitalismus.
Fotobände im Vierfarbendruck halten inzwischen fest, was morgen längst überholt ist. Ist der neongrüne Totenkopf eigentlich neu? Unter der Dornenkrone des Stacheldrahts und der einbetonierten Scherben steht in schwarzweißen Lettern: ICH WILL ENDLICH EINE GROSSE DICKE FREUNDLICHE DAME ZUM FICKEN. Dieser Spruch steht hier seit etwa vier Wochen. Bei jeder Fahrt wartet Kirsten auf ihn. Sie selber ist eher klein. Auf der westlichen Seite verschrottet man Autos. Die Leichenteile der Karosserien werden zerkleinert und nach Formen sortiert: Stangen, Krümel und Knäuel – zerknickt, geknüllt und silbrighell wie Stanniol.
Annelie ist auf die Ställe dressiert, die sich vor der Ödnis der Schrott- und Lagerflächen bis zu den Gleisen hinziehen – langgestreckte, fast provisorische Buden mit Tieren darin. Ein Hundezwinger ist dort, es gibt Enten, Hühner und Ziegen. Eine Schaufensterpuppe im roten Kostüm bewacht das Idyll. Im Winter trägt sie einen Mantel. Schließlich gibt es noch ein hellbraunes Pferd. Ob es heute wohl rausguckt? Schade, man sieht nur das runde Hinterteil mit dem Pferdeschwanzanfang.
Auf der linken Seite kommt der Osten ganz nah. Aber die Fenster der Pankower Häuser verweigern den Einblick: Geben sich schwarz, sind durch Store-Gardinen verhüllt oder spiegeln einfach den Westen. Die S-Bahn hält in Schönholz, durchfährt das Skelett des Bahnhofs Bornholmer Straße, ohne zu bremsen.
Die erste der toten Stationen.
Die Bänke sind nahezu leer. Ein Mann im Leinenanzug zieht die gebügelten Hosen vorsichtig hoch, bevor er sich setzt. Er nestelt an seiner breiten gestreiften Krawatte, nimmt aus der Innentasche seines Sommerjacketts etwas heraus. Ein langer Schluck, und das Fläschchen ist schon wieder weg. Der Mann hält sich steif, widersteht dem Schwanken des Zuges.
Aber der Dicke vom Bahnhof Wollankstraße taumelt gefährlich, hält sich beim Anfahren gerade noch fest. Inspiziert stolpernd, brabbelnd einige Bänke, sinkt in eine Ecke am Fenster, als sei dies für immer. Aus seinem warmen, wadentief baumelnden Mantel ragt eine Apfelsaftflasche.
Noch ein dritter ist da. Lederbekleidet, ärmellos und darunter dunkelblau tätowiert. Feuerspeiende Drachen, sich über dem Bizeps rekelnde Frauen. Der Mann sitzt breitbeinig da, eine erloschene Zigarette im Mund. Seine Bierbüchse steht auf dem lederbezogenen Knie wie auf einem Tisch. Er hat Kopfhörer in den Ohren, setzt dem Schlingern und Stoßen der S-Bahn einen locker gezuckten eigenen Rhythmus entgegen.
Annelie redet nicht mehr. Sie mustert schweigend die Männer, spiegelt sich vor dem Dunkel der Ostkatakomben in den Scheiben, starrt die toten Bahnhöfe an, welche, leblos und spärlich beleuchtet, immer gleich wieder verschwunden sind: Nordbahnhof, Oranienburger Straße.
Am Bahnhof Friedrichstraße steigen sie aus. Auch die drei Männer verlassen den Zug. Anne sieht zu, wie sie sich in die Schlange vom Intershop-Kiosk einreihen, wo es Alkohol und Schokolade steuerfrei gibt.
»Hab ganz schön Durst«, stellt sie fest. Aber sie muß mit Kirsten zum Bahnsteig B. Oben wird polnisch geredet. Prall gefüllte Reißverschlußtaschen versperren den Weg. Inderinnen in seidenglänzenden Saris sitzen auf Pappkartons und halten Babys im Schoß.
Anne zerrt Kirsten durch das Gedränge von Menschen und Reisegepäck zum nächsten Intershop-Schalter: »Kaufst du mir was?«
Aber da kommt schon der Zug. Kirsten begleitet die langsam werdende Bahn und steht beim Halt direkt vor einer der Türen. So kriegen sie einen Sitzplatz, obwohl es so voll ist. Anne, auf Kirstens Knien mit baumelnden Beinen, versucht sich in polnisch:
»Wodschi schownitzka!«
»Was heißt das?«
»Ich will nachher ein Eis.«
Rechts fällt der Blick für Sekunden auf Ostberlins Charité, dann schiebt eine Wand sich davor. Links fließt die Spree, eine Freifläche streckt sich zum vielfach beflaggten Reichstagsgebäude. Am S-Bahnhof Bellevue zerren die Polen ihr schweres Gepäck aus dem Zug. »Wessis« kommen herein, gesund, solide gekleidet und glänzend gelaunt. Bayrisch, Hessisch und Schwäbisch verschwimmt für Berliner Ohren zu »Westdeutsch«. Beinahe endlos die Reihe der Stände neben der »Straße des 17. Juni«. Wie Ameisen wimmelnd dazwischen die frühen Flohmarktbesucher. Wie wird das mittags erst sein?
Dann sind sie am Zoo. Die Rolltreppe funktioniert. Die gläserne Halle ist hell, aber nahezu leer: Ein paar Leute am Fahrkartenschalter, vor dem Fenster der Parfümerie drei struppige Männer.
»Soller kommen!« dröhnt einer, schon etwas verzögert: »Ick hab nichts dagegen.«
»Soller!« bestätigt der zweite. Der dritte nickt heftig, sucht Halt an der Scheibe, setzt mit großer Bewegung die Bierflasche an.
Jemand hockt auf den Fliesen im Durchgang zur Fernbahn, breitbeinig vornübergebeugt. Im rundgespannten Rückenteil des blauen Pullovers sind mehrere fransige Löcher. Darüber blondes, mit Gummi gebündeltes Haar. »Fast wie Andreas«, denkt Kirsten und kriegt einen Schreck. Oder Franz vom Gorleben-Kampf. Sie kennt viele mit solcher Frisur. Im Vorübergehen dreht sie sich leicht nach ihm um: nicht Andreas, nicht Franz, nicht Teddy, auch nicht Hans-Werner – ein fremdes Gesicht, rot, zerlaufen und alt.
Der Zoo ist solide vergittert. 13,– DM kostet es für Mutter und Tochter, hinter die schmiedeeisernen Stäbe zu kommen. Dahinter: Landschaft mit Tieren ohne nennenswerte Barrieren. Giraffen treten vors Haus, als nutzten sie grad ihren Garten. Steinböcke klettern in winzigem Felsenmassiv – Privatspende einer Frau Faust, wie die Tafel daneben vermerkt. Mit ihren starken Beinen könnten die Tiere den Jägerzaun leicht überspringen, der das Gelände umgibt. Ein paar Schritte weiter steigen grellrosa Flamingos ein flaches Ufer herab, meiden aber die steinige Kante des Teiches an der Publikumsseite.
Die Aushübe, Büsche, die Mäuerchen, Zäune und Gräben sind ausreichend für die Tiere. Warnschilder und Verbotstafeln sind für die Menschen vonnöten: »Füttern verboten!« – »Betreten verboten!« – »Auf die Mauer setzen verboten!« – »Achtung! Löwe spritzt Urin durch das Gitter.«
»Die Löwen haben es gut hier.« Anne steht vor dem Gehege aus Felsbrocken, Höhlen und Klippen. »Bloß – Abenteuer haben die nicht.«
»Hast du denn Abenteuer?«
»Jaa…« Anne sieht mißtrauisch hoch. »Nein. Doch, vielleicht.«
Das Tier mit der mächtigen Mähne ist friedlich und satt.
»Nächste Fütterung: 18.00.« Der Löwe weiß das genau, obwohl er die Uhr nicht beherrscht. Die Menschen jenseits des Grabens beachtet er kaum. Das Wasser ist für ihn eine natürliche Grenze und damit auch Schutz.
Einzelhaft für den Panda. Schmutzig schwarz-weiß liegt er am gleichen Fleck wie beim letzten Besuch, hingestreckt auf einer Bank, eingesperrt und vergessen in dem riesigen Raum, der größer ist als das Haus, das Kirsten und Anne bewohnen. Holt er überhaupt Luft?
Drüben die beiden Pumas sind nur unterwegs. Fünfzehn Schritte, Kopfschwenken, drehen, fünfzehn Schritte zurück, wieder und wieder. Im Nachbarkäfig das gleiche. »Jogging«, denkt Kirsten und bedauert die rastlosen Katzen.
Langsam füllt sich der Zoo. Kinder versuchen, die Wässerchen, Mäuerchen, Büsche zu überwinden – ohne Erfolg. Ihre Erwachsenen wissen genau, was verpönt und was gestattet ist. Sie wollen noch zu den Bären, den Orang-Utans und anschließend zu den Robben. Vielleicht auch erst zu den Robben, dann zu den Flußpferden und zum Schluß zu den Affen. Das ist ihre Freiheit.
Kinder wollen ein Eis. Auch das ist erlaubt. Anne will auf dem Zoospielplatz einen Riesenberg bauen. Soll sie. Kirsten setzt sich auf eine Bank und will weg – ganz allein. Irgendwohin, wo sie namenlos ist, Nicht-Mutter, ohne Beruf, frei der kleinsten Verpflichtung. Anne hat sich mit einem größeren Mädchen zusammengetan. Weggewandt sitzen sie, versunken ins Schaufeln und Reden.
Kirsten steht eben mal auf.
»Mama!« tönt es so schrill, daß viele aufmerksam werden.
»Wo willst du hin?«
»Eis holen«, antwortet Kirsten. »Du wolltest doch eins.« Annelie nickt, dreht sich weg und beginnt, den Sandberg zu untertunneln.
Von hier bis zum Eiswagen: dreihundert Schritte Alleinsein und die Chance, weiterzugehen.
»Hallo, Kollegin Kirsten!« Wilfried Kuhn vom Fachbereich Mathematik, Frau und drei Kinder. Alle lutschen ein Eis.
»Auch mal im Zoo?«
Am Wagen wählt Kirsten drei »Flutschi«, kehrt um ohne Hast. Die Sehnsucht, woanders zu sein, wird schal, wenn Kollegen auftauchen.
Annelie will auch nach einer Stunde nicht weg.
»Noch fünf Minuten – och bütte!« Viermal verlängert Kirsten um zwanzig Minuten, bevor sie drängt:
»Bestimmt ist Frieder schon da.«
»Frieder!« Anne springt auf und beugt sich zur neuen Bekanntschaft: »Wir müssen gehen, unser Mann ist nach Hause gekommen.«
»Euer WAS?« fragt das Mädchen Jasmin.
»Unser MANN!« Ungerührt vom entgeisterten Blick der anderen strebt Anne dem Zooausgang zu.
»Beim Aus- und Einsteigen bitte beeilen!«
Die S-Bahn – ein Fahrradtransport. Lenkstangen sind in Speichen verhakt, Edelstahl, Alu und Beinah-Alteisen reiben sich aneinander. Beim Bremsen des Zuges klirrt trocken Metall auf Metall, aber kein Fahrrad fällt um. Halb Westberlin strebt in die Winkel, die nicht mehr zum Stadtplan gehören. Hermsdorf, Frohnau und Lübars sind auf kleinen quadratischen Extra-Karten zu finden. Dorthin zu fahren ist fast wie: heraus aus Berlin. Sportlichkeit prägt das Bild. Braunglatte Haut unter Shorts oder strammen Radfahrerpants. Freilustsex unter Riemchentops und sehr kurzen Röcken. In ihrer schlabbrigen Blümchenhose ist Kirsten unelegant. Aber sie will ja bloß heim.
»Friedrichstraße! Dieser Zug endet hier und fährt zurück nach Wannsee.«
Welches Rad muß zuerst aus dem Wust von Rahmen und Speichen?
Welches kommt dann? Drängeln nicht möglich, aber die Bahn ist voll Freizeitstimmung und gutgelaunter Geduld.
Rechts ist der Grenzübergang – winziges Spundloch, welches den Menschenstrom nur tropfenweise hindurchläßt. Wer dort hindurch will, muß Ausweis zücken und Visapapiere sortieren. Eintritt nach Ostberlin, wo Kirsten namenlos wäre. Kirsten jedoch muß zur Nordbahn: Rolltreppe, Treppe hinab, noch mal treppab – immer den Fahrrädern nach.
Wieder S-Bahnhof Hermsdorf. Ausflugsfamilien zwängen sich aus dem Zug, Kindersitze auf Gepäckträgern und hinter den Lenkern. Unten im Bahnhofstunnel werden Pläne studiert.
»Darf ich mal durch?«
Linksherum geht es nach Tegel, rechtsherum durch das Hermsdorfer Fließ in Richtung Lübars. Scharfer Schwenk bei dem rostigen Schild:
»… verlassen Sie den
französischen Sektor.
Lebensgefahr!«
Den Sektor verlassen will keiner. Es sind Büsche davor und ein Graben mit Entengrütze und Schilf. Mit Fahrrädern kommt man da gar nicht vorbei. Außerdem ist die Fütterung diesseits des sumpfigen Streifens. Freiheit des Löwen.
Hinter der Rechtskurve werden sie absteigen müssen. Rennvelos, Mountainbikes, Hollandräder, Cross, BMX werden im Schrittempo zwischen Fußgängern, Buggys, Dreirädern auf dem »Naturlehrpfad« vorwärtsgeschoben. Holzbohlen dröhnen, und Schautafeln zeigen an, was es hier alles gibt, wenn die Menschen nicht da sind: Blindschleiche, Iltis, Nachtigall und Fasan.
Aber so weit werden die Ausflügler erst in zwanzig Minuten sein. Gerade starten sie durch, treten in die Pedale, als ob der Waldseeweg eine Rennstrecke wäre. Wissend oder auch nicht, daß sie nach dreihundert Metern wieder anhalten müssen: Freiheit der Pumas.
Kirsten und Anne schließen die Fahrräder los, fügen sich in das allgemeine Gewimmel. Von den anderen getrennt durch das Ziel, die Alltagsvertrautheit. Schön, nach Hause zu fahren, vielleicht erwartet zu werden.
Vor dem Gartenzaun steht nur der Daimler FRISIERSALON ELINOR BRUDER.
Annelie ist enttäuscht: »… und wir haben uns so beeilt! Gemein find ich den!«
»Wir hätten noch dableiben sollen«, denkt Kirsten. »Oder Birgit besuchen. Oder Brauns. Der Sonntag ist hin.«
»… und du hast gesagt, ich soll nicht mehr mit Jasmin!« mault Anne. »Du bist genauso gemein!« Sie wirft das Fahrrad ins Gras. »Geh zu Jonas. Oder zu Lisa. Mal sehen.« Die Zaunpforte klappt.
Das kleine Haus – eine ausgelaufene Eierschale, weggeworfen und leer. Wieder sinnloses Räumen. Kirsten trägt Teller ins Haus. Hört auf das Ausdieseln eines haltenden Wagens. Türen werden geöffnet und schlagen zu. Kirsten tritt an das Fenster, das heißt, schiebt zwei Stühle beiseite, drückt sich am Eßtisch vorbei, kniet sich auf die Bank und sieht auf die Straße. Ausflugswagen, Ford Kombi. Sie befestigen gerade den Kinderwagen am Untergestell und setzen sich in Bewegung: Dreirad, Kinderrad, Mutter, Vater und Baby.
Ein Sonntag, um schwimmen zu gehen. Oder zum Trampelbootfahren. Aber Anne ist weg, und es könnte ja Frieder …
Kirsten holt eine Decke und starrt in den Himmel. Leere Hülle auch sie, hingeworfen beim Schneebeerenbusch, neben sich eine Zeitung belanglosen Inhalts. Jenseits des Zauns knirschen Sohlen auf Kiesel und Sand. Zwitscherndes Quietschen ungeölter Kinderfahrzeuge. Wortfetzen: »Die hat’s ja gut!«
Ist Kirsten damit gemeint? Wird sie beneidet von denen, die etwas unternehmen?
»Die hat’s ja gut!« Worte, so störend wie Tannennadeln im Hemd.
Keinesfalls öffnen, die zugekniffenen Augen! Nichts wäre da, als ein unnützer, gleißender Tag, der nicht aufhören will. Kirsten dreht Worten und Schritten die Rückseite zu. Freiheit des Pandas.
Rot flackert vor ihren Lidern. Albern, das Warten auf Frieder! Aber wenn sie dann nachher beim Italiener Salat essen gehen – Anne, Frieder und Kirsten am Vierertisch mit blaugewürfelter Decke! Sitzen, essen, erzählen. Zwischen kompletten Sonntagsfamilien auch mal zu dritt sein, und das Warten hat sich gelohnt.
Später kommt zu den Ausflugsgeräuschen streifendes Rascheln und ein kühlender Hauch über Glieder, Gesicht. Blätter treiben im Gras, fangen sich zwischen den Halmen, sinken herab und geraten erneut in Bewegung.
Laufen und Rufen von Draußen, lärmende Hektik. Türen klappen – ein Auto springt an. Etwas weiter entfernt gleich ein zweites. Kirsten liegt ganz entspannt und wartet auf Regen. Erster Tropfen aufs Knie – ein anderer neben die Nase. Viele müssen es werden, ehe sie ins Haus geht. Am geöffneten Fenster horcht sie nun auf das langgezogene Donnern. Noch ist es fern. Hoffentlich zieht das Gewitter nicht nur vorbei – es hellt wieder auf. Noch einmal bringt ein Windstoß die Blätter zum Kreiseln. Sie sinken, wippen und zittern – dann Reglosigkeit. Dieser Tag ist sogar für das Gewitter verloren.
Kirsten stapelt Geschirr, wischt am Wachstuch herum – gedankenlos, innerlich hohl. Sommerdreck knirscht. Wenn das Wetter zu schön ist, verwahrlost das Haus von innen noch mehr als gewöhnlich. Aber heute kommt Frieder! Trägheit schlägt um in hektischen Hausfraueneifer. Teppiche werden gerollt und Stühle gerückt. Aus nachtdunklen Ecken stochert der Besen zwischen grauen Flocken und Sand längt Vergeßnes hervor: Annes rotgrünen Flummi, eine Bürste, die Haarsprange mit den zwei Bären.
Wie schön fände sie eine leere, saubere Fläche. Aber der Raum ist zu klein, zu viele Möbel sind drin, viel zuviel liegt herum auf Tisch und Regalen. Kirsten rückt, stapelt, räumt ein, stopft Schubladen voll. Halbfertige Bilder von Anne, Filzstifte ohne Deckel verschwinden im Müll. Ein Brötchen fliegt hinterher. Man muß wegwerfen können.
Graublau steht Dämmerung in dem niedrigen Haus. Kirsten steigt unter das Dach, um Frieders Zimmer zu lüften. Graublau der Bettüberwurf, Seide, gesteppt. Taubenblau ist der Teppich. Alles so sauber, als sei dies ein anderes Haus.
»… sollte ihm Blumen hinstellen«, fällt Kirsten ein. »Auf den Schreibsekretär. Hinter dem Schild ›… verlassen sie den französischen Sektor‹ wächst Goldraute, die noch nicht welkt.« Sie rennt die Treppe hinunter, knipst das Deckenlicht an. Schrickt zusammen beim Schlag des offenen Fensters. Schwappen, gewaltiges Rauschen. Draußen ist eine milchig strömende Wand, die ins Haus hineinspritzt. Auf dem Küchentisch steht eine Pfütze. Kirsten sperrt das äußere Fenster zu. Tropfen pressen sich hartnäckig weiterhin durch den Spalt, laufen den Rahmen herunter.
Plötzlich entlädt sich der Donner über dem Haus. Neonhell folgt der Blitz. Anne ist irgendwo. Kirsten wird schwindlig von schmerzhaft drückender Angst: Sinnlos, Anne zu suchen. Anne – winzige höchste Erhebung auf dem platten Asphalt der leeren Schildower Straße, bewegliches Ziel für den Blitz. Anne gerät vor ein wasserblind pflügendes Auto – oder sie wartet bei Bergers auf das Ende des Regens, trocken und satt. Möglicherweise ißt sie bei Thomaschecks Frankfurter Kranz oder guckt Video bei Huts. Kirsten greift sich das Telefon, fängt an zu wählen. Besetztzeichen nach den ersten drei Ziffern. Vier Versuche – dann legt sie den Hörer zurück. Vielleicht hockt Anne im Unterstand, drüben am See. Friert und traut sich nicht weiter. Oder … sinnlos, Anne in diesem Regen zu suchen. Aber die Angst tut so weh.
Es poltert im Flur. Annelie trieft wie ein Schwamm. Wasser läuft aus den Haaren übers Gesicht in den Kragen hinein, ergießt sich pladdernd in Rinnsalen auf den Küchenfußboden. Annelie strahlt.
»Wie warme Dusche«, sagt sie. »Ich will mich ausziehen und im Garten rumhüpfen.«
Wieder Donner und Blitz. Kirsten vertröstet auf später. Sie trocknet Annelie ab, sucht den Bademantel heraus. Auf dem Küchentisch sitzend, beobachten beide das Wetter. Die Wasserwand löst sich auf in große, dicht fallende Tropfen. Die Birke ist wieder zu sehen, vor Nässe triefendes Laub. Ab und zu drückt eine Böe den ganzen Baum auf die Seite und läßt wieder los. Herbstblätter lösen sich von den schnurdünnen hängenden Zweigen und plumpsen eher, statt zu segeln. Zwischen den Windstößen Phasen senkrechten Regens. Immer wieder Donner und gleichzeitig Blitz.
Mutter und Tochter sitzen reglos am Fenster. Zuschauerfaszination verengt sich wieder zu Angst.
»Viel zu nah, das Gewitter!« pocht es in Kirsten. »Wir sind gemeint.«
Endlos und laut rollt der Donner, die Folge der Blitze ist dicht. Jedesmal ist die sich schüttelnde Birke zu sehen, bläulich bestrahlt.
Keine falsche Bewegung! Kirsten duckt sich, erwartet die Wucht eines brechenden, splitternden Schlages. Anne kriecht immer näher.
»Die können uns gar nichts tun!« sagt sie laut.
»Meinst du?«
»Na ja, die sind doch schon drüben«, antwortet Anne.
»Wie ›drüben‹?«
»Donner und Blitz. Sind doch hinter der Mauer!«
»Weiß nicht!« Doch dann fällt auch Kirsten etwas Tröstliches ein: »Bruders Haus ist viel höher.«
»Ach, die!« Annelie steckt zwei Finger in ihren Mund und holt tief Luft.
Der Regen fällt jetzt sehr weich. Der Donner entfernt sich. Kirsten steht vorsichtig auf und stützt das schlafende Kind. Annelie blinzelt und grunzt. Kirsten legt sich den wackligen Kopf auf der Schulter zurecht und schleppt das Kind wie ein Baby hinüber zum Bett. Soll es im Bademantel schlafen. Aber das Bilderbuch muß noch unter dem schweren Körper hervorgeholt werden. Und der Stoffaffe mit dem gehäkelten Schwanz. Und das runde Geduldsspiel. Schwierige Operationen. Annelie murmelt Unverständliches, wälzt sich dann auf die Seite, liegt still.
Es ist heller geworden. Das Unwetterdunkel macht Abenddämmerung Platz. Kirsten schmiert sich ein Brot, geht in ihr Zimmer zum Schreibtisch, der dort das Bett überragt. Geniale Sitzkonstruktion, dieser Aufsatz mit Lehne, den sie nun auch noch über das Doppelbett schiebt. Thomas’ Idee. Thomas, Annelies Vater, hat diesem Haus viel Segen gebracht, bevor er verschwand. Ist dadurch immer präsent.
»Hat mein Papa gebaut!« erklärt Anne oft, wenn sie die Sitzbadewanne besteigt. »Hat Papa gebaut«: im Kinderzimmer beim Einbauregal. »… Papa gebaut«: vor dem Küchentisch, der vierfach vergrößerbar ist. »Alles von Papa!« Dabei besitzt sie von ihrem Papa noch nicht mal ein Bild.
Neunte Klasse: »Der Mensch.« Zwischentest: »Knochen.«
Dreißigmal das Skelett. Gevatter Tod, allseits von Pfeilen bedroht, diese kindlich bekrakelt in Kuli, Filzstift oder Blei.
»Rahbenschnabelvortzads«, schreibt Manne Vogt und wechselt während des Wortes zweimal den Stift.
Diaphyse und Epiphyse, Knochenmark rot und gelb: Begriffe, gelernt, überhört oder wieder vergessen, trotz häufiger Wiederholung. Kirsten hakt ab, sortiert, notiert Punkte, ohne beteiligt zu sein. Eigentlich sieht sie zu, wie das Licht vor dem Fenster die Farbe verliert. Solang das Signalrot der Fehlerstriche und Ziffern sich vom Papier noch abhebt, knipst sie die Lampe nicht an. Kirsten zählt und zensiert im Wettlauf gegen die Nacht. Endlich sitzt sie nur da und saugt die Dämmerung ein.
Etwas regt sich vor der spanischen Wand. Pflanzen bewegen sich plötzlich, mal drüben, mal dort. Maki kann das nicht sein. Ob womöglich der Vogel – schlafen Sittiche nachts? Kirsten verfolgt gespannt das Zucken der Gräser. Plötzlich kneift sie die Augen zusammen, geblendet von grellweißem Licht. Elinor Bruder steht schwarz, mit eckigen Schultern, quergestreift vor den fast waagerecht gestellten Lamellen der Schlafzimmerjalousie. Zieht das Oberteil aus, löst sich für kurze Zeit in Unschärfe auf. Aber da ist sie schon wieder: Dunkel, vom Sichtschutz gerastert, winkelt die Arme, streckt einen aus, streicht sich über die kringelig wuchernde Mähne.
Trägt sie einen BH? Wie zur Antwort streift sie sich etwas von der Schulter. Große federnde Brust, nun scharf im Profil. Kirsten berührt ihre eigenen hängenden Spitzen, knetet sie sanft und beharrlich in gehobene Richtung, scheinbar geben sie nach, aber dann sinken die Warzen wieder herab. Wärme breitet sich aus. Klebrig werden die Falten zwischen Busen und Körper, Schweißtropfen laufen über den Bauch. Kirsten starrt auf Frau Bruder, die weiterhin schwarz von der Seite die Brustspitzen zeigt. Sie hört sich laut atmen, ergibt sich dem Kribbeln, das über die Brüste, das Zentrum, die Hände, die Beine den ganzen Körper erfüllt. Störendes Quietschen der namenlosen Erfindung von Annes Papa – immerfort tönt diese Bettenaufsatzunterschreibtischsitzfläche. Der Stift rollt herab, und ein Zwischentest rutscht unters Bett. Drüben im Fenster zeigt sich ein zweiter Schattenrißkörper, dessen Profil mit dem von Frau Bruder verschmilzt. Kirstens Schweiß kühlt sich ab. Kraftlos sinken die Hände, Gänsehaut kriecht von unten die Arme herauf, und ihr Atem wird flach. Peinlichkeit zum Ersticken – was macht sie hier bloß? An ihrem Arbeitsplatz, Zwischentests vor der Nase? Dies war ihr Arbeitsplatz – immer! Nachmittags, abends, nachts, manchmal frühmorgens hat sie hier schon gesessen. Solche Schattenspiele gab es bisher noch nie. Kirsten dreht sich von der Schreibplatte weg, streckt sich übers Bett und greift nach dem Deckenlichtschalter.
Nein, der Vorhang bleibt offen! Sie hat zuerst hier gesessen. Sie kann nicht denken, wenn ihr der Blick auf den Garten fehlt. Sollen die drüben die Jalousie richtig schließen, wenn sie Sex machen wollen! Kirsten sortiert die Tests nach Fehlerpunktzahlen. Überprüft die Anzahl der Bogen. Einer zuwenig. Wo ist der Stift? Während sie abtaucht, um das Verlorene zu suchen, sieht sie, daß sich vor dem erleuchteten Zimmer der Sichtschutz bewegt.
»Gut!« denkt Kirsten. »Sie haben’s endlich gemerkt«, und findet zunächst den Stift. Der Zwischentest ist von einer Zeitung verdeckt.
Etwas angestaubt, schwindlig kommt Kirsten wieder hervor und starrt auf das andere Haus: Sie haben die Jalousie jetzt nach oben gezogen – nichts hemmt mehr den Blick. Elinor Bruder ist kein Schattenriß mehr, sondern ein plastischer Leib. Ebenso Hardo, ihr Mann. Sie treiben es mitten im Fenster, Kirsten zum Tort. Ihr wird noch heißer als vorhin, diesmal aus Scham und aus Wut.
»Ich glotz sie an, bis sie weg sind«, und sie läßt die bewegliche Plastik, die sich teilt, zusammentut, windet, nicht aus dem Blick.
»Ich geh hier nicht weg!« denkt sie laut. »Mach den Vorhang nicht zu.« Und: »Ich war zuerst hier!« Und ist doch erleichtert, als die Spiele im Nassen ertrinken, zerfließen zu dunklen Klumpen vor grellgelbem Grund.
»Zwischentest Biologie, Reni Wand, Klasse 9 c« – der Namenszug droht in einer riesigen Träne zu zerlaufen. Kirsten tupft mit einem Zellstofftuch auf dem Test herum, als wäre dort eine Wunde. Übrig bleibt blauer Schmier auf flach gebeultem Papier. Reni Wand hat das Skelett auf dem Blatt mit einer Sense versehen. Kirsten setzt, obwohl sie versteht, ein Fragezeichen dazu. Der Knochenmann, nichts als Papier. Die Muskeln, die sie als nächstes »durchnehmen« werden, wieder Papier. Blutgefäße und Nerven, Drüsen und Haut, weiter Papier. »Der Mensch« im Lehrplan der neunten Klasse ist trocken und flach, innen wie außen. Aber der Mensch ist doch hart und sehr weich, klebrig und flüssig, stabil und vergänglich, voller Gerüche, empfänglich für Schmerzen und Lust. Biologie ist ein sinnliches Fach, könnte es sein. Aber was in der Schule draus wird, ist trocken und flach, qualvoll für Kinderhirne und -zungen. »Kittsubstanz aus Mucopolysacchariden« – warum sollen Kinder das wissen?