Tochter eines Richters - Ursula Eisenberg - E-Book

Tochter eines Richters E-Book

Ursula Eisenberg

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Beschreibung

Eine Vater-Tochter-Geschichte und zugleich ein Psychogramm von Menschen, die in die Hoffnungen und Enttäuschungen, Erkenntnisse und Irrtümer der Aufbruchszeit in den 60er und 70er Jahren hierzulande verstrickt waren. Ein Zeitbild, das auch komische und groteske Aspekte nicht ausspart. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Ursula Eisenberg

Tochter eines Richters

Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel

1. Kapitel

Das Schild »Betreten der Gleise verboten« ist immer ein Zeichen: Hier wäre es möglich. An dieser Stelle hatte er die Bahn überquert, hatte vorher sein Fahrrad tief in das Strauchwerk der Böschung geschoben. So tief, daß es in der Dämmerung nicht wiederzufinden war. Auch bei Tageslicht nicht. Kaum jemand, der Zeit hatte, sich darüber zu ärgern …

 

Ute sah ihn das erste Mal, als sie acht war: Stimmengewirr auf dem Flur, sie lag schon im Bett, und er kam ins Schlafzimmer, ein mittelgroßer Mann mit Brille, Scheitel, rotem Gesicht, gefolgt von Oma, Tante und Onkel. Es war das erste Mal, daß sie einen fremden Mann küssen sollte, die Erwachsenen im Zimmer erwarteten das von ihr, eigentlich sogar sie selbst, also: Augen zu und durch! Es kratzte ziemlich, aber dann war es überstanden, es hieß: »Das Kind muß schlafen«, und man zog sich ins Wohnzimmer zurück, um anzustoßen.

Jetzt hatte sie einen Vater. Vorher war da ein Phantom: ein Photo auf dem Klavier, eine Feldpostkarte mit Hammer und Sichel, jemand, für den ein Zipfel ihrer strohblonden Zöpfe abgeschnitten und auf Briefpapier geklebt wurde. Fast so unwirklich wie der liebe Gott, fast so allgegenwärtig. »Wenn der Vater wieder da ist …« war eine Floskel, die sie durch ihre frühste Kindheit begleitet hatte, sich allerdings selbst manchmal Lügen strafte. Zum Beispiel wurde sie doch schon vor seiner Rückkehr getauft – als Dreijährige: Peinliche Erinnerung, zwischen den vielen Babys – »Lasset die Kindlein zu mir kommen« – im weißen Kleid eigenfüßig durch die Kirche nach vorne zu stolpern, naßgespritzt zu werden und sich ein Bild mit Schafen schenken zu lassen …

»Wenn der Vater wieder da ist …« – darauf reagierte sie in der Folge genauso gläubig-zweiflerisch wie auf: »Der liebe Gott sieht alles.«

Aber nun war er da, aus russischer Gefangenschaft entlassener »Spätheimkehrer«, und mit ihm kamen einschneidende Veränderungen: Jetzt hatte Ute eine eigene Familie, zwei große Brüder, die sie kaum, eine Schwester, die sie schon besser kannte, und eine Mutter, die nicht nur in den Ferien da war.

Nur hatte sie es vorher wärmer gefunden: bei den Verwandten und deren fast gleichaltrigen Kindern, mit denen sie alles gemeinsam machte: den Schulweg, das Händewaschen vorm Essen, das Zähneputzen am Abend, das Einschlafen, Aufwachen und die Doktorspiele hinter dem Rücken der Erwachsenen. All das mit Michi, Elke, mit Marlene von nebenan, denn das waren ihre Kinder gewesen, so wie Ute ihnen gehörte.

Eine glückliche Kindheit, die Jahre von 1945 bis 1953, trotz fehlenden Vaters und einer Mutter, die ganz schnell Lehrerin werden mußte – wieso »trotz«? Gerade deswegen war Oma ja Utes Oma geworden, las morgens um fünf mit bleiern klappenden Augenlidern »Hänschen im Blaubeerwald« vor, beschaffte auf Utes Bestellung hin jederzeit wertvolle Dinge wie Zopfspangen mit Schmetterlingen drauf oder Puppenmöbel – ein Kunststück in schlechten Zeiten. Ute war Omas Kind. Und als man in den Westen gegangen war und auch räumlich getrennt von der Mutter lebte – die mußte in Jugenheim ihre Lehrerausbildung ergänzen –, da war es noch besser geworden durch Michi, Elke, Marlene von nebenan, die Ute und ihre Oma so gut gebrauchen konnten. So hätte es weitergehen sollen, aber dann kam der Vater zurück, Oma blieb bei Michi und Elke wohnen, und Ute »durfte endlich zu ihrer Familie«.

Hier gehörte ihr keiner, bis auf die, zu denen sie nicht mehr zu stehen wagte, denn sie war ja schon acht: ihre Puppen. Minna mit geklebtem porzellanenen Schädelbasisbruch, Berta und Petra, Igelitpuppen von Schildkröt – Petra am Po etwas eingedrückt –, Frosine mit »echtem Haar«, das aber schon reichlich rosa Kopf sehen ließ. Jungen hatte sie auch! Brumm, den rothaarig-zerschlissenen Bären, der ein Dirndlkleid trug und Theodor mit dem Steingutkopf. Gott sei Dank waren’s nur zwei: »Jungens, da macht man sich die Arbeit und zieht sie groß, und dann werden sie totgeschossen im Krieg« – mit dieser Erkenntnis hatte schon die vierjährige Ute die Erwachsenen verblüfft. Aber Theo und Brumm waren unversehrt, nur etwas abgegriffen, sie saßen mit Minna, Berta, Petra, Frosine in einer Reihe auf Utes Bett und warteten auf Stille im Haus. Denn nur, wenn sie Eltern und Geschwister fort wußte, erweckte Ute die Puppen zum Leben. Dann spielte sie »früher« und gleichzeitig »später«: »früher«, weil Ute da noch nichts dabei fand, mit ihren Puppen zu streiten, zu weinen, zu lachen, ihnen Liebe und Schläge zu geben; »später«, weil sie es »im Leben« mal wieder so wollte: ganz viele Kinder haben, mindestens zehn, und mit ihnen leben, streiten, weinen, lachen, essen, schlafen, sie lieben und schlagen, wenn’s sein muß. Mädchen vor allem, des Totschießens wegen. Vater? Muß ja wohl sein, aber weit weg, in Gefangenschaft oder woanders. Tot wäre zu traurig …

Minna, Berta, Petra, Frosine standen dann etwa an Fußbänkchen, jede ein Blatt Klopapier vor sich, Buntstifte in den starren Händchen. Sie machten Schularbeiten, schweigend und konzentriert, seit drei Minuten schon, während Theodor, den Ute zum Abstrafen in eine Ecke gestellt hatte, unter sich pinkelte – einfach nur so. Was tun mit Brumm, dem rothaarigen Bruder im Dirndlkleid, der ihn nun verpetzte? Bevor Ute das alles bewältigen konnte, knackte es nebenan. Stimmen und Schritte, Klirren von Besteck und Geschirr. Der Abendbrottisch wurde gedeckt. Ute ergriff die leblos gewordenen Puppen und drückte sie auf ihr Bett: Minna, Berta, Petra, Frosine, Brumm und Theodor, wie sie gesessen hatten, immer saßen. Gerade noch rechtzeitig, bevor ihre Schwester Beate hereinkam, um aus dem Wäscheschrank Servietten zu holen. Sechs frische, denn es war Freitag. Und zwei dazu – es gab noch Besuch. Das Haus war voll und Ute wieder allein.

So allein wie fast immer – die großen Geschwister kümmerten sich kaum um sie; die schliefen gemeinsam in einem Raum. Ute lag ungewohnt einsam quer hinter dem Fußende des Ehebetts, wartete darauf, daß auch die Eltern schlafen gingen, und mußte oft genug feststellen, daß es dann erst richtig unheimlich wurde: Eine Art Ringkampf fand drüben statt, der Vater gab Töne von sich wie ein wildes, gieriges Tier, die Mutter stöhnte, schien sich zu wehren …

Morgens war Ute sich nie sicher, ob sie das nur geträumt hatte; die Eltern taten, als wäre alles normal, und wenn das runde Gesicht ihrer Tochter über der Eichenwand des Fußendes auftauchte, sagte der Vater gutgelaunt: »Der Vollmond geht auf!« Manchmal traute sie sich dann zu ihnen ins Bett …

 

Der Vater und der Vollmond: Bald schoben Wolken sich zwischen sie, die nur selten aufrissen. Als sie umgezogen waren, durfte Ute einmal im Garten helfen. Stiefmütterchen einpflanzen, rechts und links vom Plattenweg, der von der Gartenpforte zum Haus führte. Natürlich erklärte der Vater ihr, wie man so etwas macht. Sie wühlte derweil in den Taschen ihrer Trainingshose und hatte plötzlich fünf Pfennig in der Hand. Als er mit seinen Erklärungen fertig war, hatte Ute auch ihre Überlegungen in bezug auf dieses Geldstück abgeschlossen. Sie würde ganz schnell machen mit den Stiefmütterchen und sich anschließend im Büdchen drüben einen Brausewürfel kaufen und diesen ganz langsam auflecken. Süßliche Bläschen, die im Mund aufschäumen, prickelnd zerspringen und die Zunge grün werden lassen …

Vorerst bohrte sie mit dem Zeigefinger Löcher in die Erde, stopfte die Wurzeln hinein, balancierte die Pflanzen so, daß sie geradesaßen, achtete darauf, daß sich die roten, blauen und gelben Blüten abwechselten und die Abstände schön gleichmäßig waren. Nach zehn Minuten war sie fertig, holte stolz-erregt den Vater, der zunächst verblüfft auf diese blitzschnell hingezauberte Blumenpracht starrte. Dann untersuchte er die Stiefmütterchen genauer. Beim ersten sagte er nichts, beim dritten wurde sein Gesicht länger, und nach dem sechsten erklärte er mit rauher Stimme: »Eigentlich müßtest du für jedes Stiefmütterchen eine Ohrfeige kriegen.« Aber da war Ute schon ein ganzes Stück weg.

Vorläufig der letzte Versuch von Vater und Tochter, einander näherzukommen. Zu vieles drängte sich nun dazwischen. Der runder werdende Bauch der Mutter – plötzlich war das Schlafzimmer voller Handtücher, Windeln und Jäckchen. Anstelle von Utes Bett stand da ein leinenbezogener Waschkorb – ihr blieb, allabendlich ein Stück Zucker ins Fenster zu legen, »für den Storch«.

So lange, bis ein rotgesichtiges, weißgeschnürtes Bündel im Körbchen herumfuchtelte, von dem es hieß, das sei Frank, den dürfe man nur mit gewaschenen Händen anfassen. Zweimal sollte sich das in den folgenden Jahren wiederholen. Keine Chance für ein verschlossenes Kind mit dünnen Beinen, das sich staksig bewegte und nicht einmal versprach, hübsch zu werden. Das auch niemandem Anlaß zu schlechtem Gewissen gab, denn Spuren von Leiden waren an ihm kaum zu entdecken – hat man je einen Besen leiden sehen? Höchstens das eine Mal, als der Vater sie nach den Ferien vom Bahnhof abholte und sie ihm hartnäckig den Rücken zuwandte – einen kläglichen runden Rücken mit vor Schluchzen zuckenden Schultern. »Was ist – sind die Ferien nicht schön gewesen?« Sie waren zu schön gewesen. So schön wie damals, als der Vater in Rußland war und die Mutter ein seltener, kostbarer Besuch. Während sie Koffer und Tasche ins Auto einluden, ließ das Schluchzen schon nach. Zu Hause war Ute wie immer.

Am nächsten Tag, auf dem langen einsamen Weg von der Schule zurück, sammelte sie die Taschen voller Knallerbsen. Die dicksten von ihnen warf sie einzeln aufs Kopfsteinpflaster und versuchte mit geschlossenen Augen draufzutreten. »Dreimal getroffen«, sagte sie sich, »und der Vater fährt mit dem Lloyd-Bus gegen einen Baum. Alle tot – ohne zu leiden. Bedauerlich. Aber ich – ich bin übrig, komm’ wieder zu Oma, erzähle mir vor dem Einschlafen was mit den anderen Kindern und krieg’ jeden Tag eine große Tüte Milch. Mit Strohhalm.« Sie trat daneben.

 

Also weiterhin allein einschlafen. Zwar hatte man seit Franks Geburt ihr Bett aus dem Elternschlafzimmer entfernt – nun teilte sie einen Raum mit Beate. Aber die war groß, mußte erst um neun ins Bett, während Ute gegen halb acht die Decke unters Kinn zog, den Kopf zur Wand drehte und wieder zum Fenster, die wachen Augen zusammenkniff vor dem Licht, das sich gleißend durch die Lücken des dunkelblauen Vorhangs zwängte und ausbreitete. Der Klapptisch »zum Arbeiten«, auf den Ute ihren halboffenen Schulranzen hatte fallen lassen, so daß er Bücher, Hefte, einen Bleistift mit Verkehrszeichen drauf auf die weißlackierte Fläche spuckte, Beas Tischchen mit der rotblau geblümten Decke und den geöffneten Büchern, Minna, Berta, Petra, Frosine, Brumm und Theo dicht an dicht wie Perlen am Fußende des eigenen Bettes – Ute besah sich im Halblicht das Zimmer einer ihr Fremden. Ute Fiedler: Das war sie vielleicht heute gewesen, morgen würde sie jemand anderes sein, so wie gestern und übermorgen. Vielleicht Bärbel aus ihrer Klasse: Deren Vater war Zahnarzt, hatte ganz weiche Hände, kam mittags lange nach Hause, und seine Töchter krochen ihm auf den Schoß. Ein anderes Mal Albert Schweitzer, der in den Strohhütten von Lambarene den Negerbabys Gutes tat, zwischendurch den Tropenhelm abnahm, sich den Schweiß von der Stirn wischte und nach getaner Arbeit in die Kapelle eilte, um ein Orgelkonzert zu geben. Dann wieder …

Nur heute, am 14. Mai 1955 war sie Ute Fiedler, ausnahmsweise, allerdings mit allen Konsequenzen: mit dem Vorleben in der »Ostzone«, mit Erinnerungen an den Kopf hochreckende, zischende Gänse auf schlammiger Dorfstraße, an die allsonntäglich mit beiden Händen entgegengenommene Bonbonration im Flüchtlingslager Berlin-Schlachtensee. Dazu gehörten auch die hartnäckigen, leider ohne Erfolg betriebenen Versuche der Ute Fiedler, fliegen zu lernen: nackt nach dem Waschen mit Michi und Elke in Tante Lenis Küche: rauf auf den Tisch und »flügelschlagend« wieder herunter, quietschend und lachend mit winzigen Teilerfolgen: »Eben hab’ ich schon in der Luft gestanden – habt ihr gesehen?« Immer den Augenblick greifbar nahe, wo sie, »Ah’s« und »Oh’s« hinter sich lassend, sich aus dem Küchenfenster schwingen würde. Am 14. Mai 1955 Ute Fiedler zu sein, hieß auch, leider die Oma in Rinteln gelassen haben zu müssen, hier in Kassel oft einsam zu sein, mit Vorliebe und klopfenden Herzens das Gebohrte aus der Nase zu verzehren und die Rechenaufgaben für morgen nicht zu haben. Es war sozusagen ein Paket, das mitgeliefert wurde und aus Umgebung, Vergangenheit, Zukunft – täglich wechselnd – bestand. Ute, auf der etwas durchgelegenen Roßhaarmatratze, war froh, morgen wieder jemand anderes zu sein. Sonst hätte sie womöglich nicht einschlafen können …

 

Manchmal war Bea müde oder wollte noch lesen. Dann gingen sie gleichzeitig ins Bett, Ute, froh, und leicht zu enttäuschen: Was hatte sie von der Schwester, wenn die doch nur ins Buch starrte? So an dem Abend, als Beate, auf dem Bauch liegend, die »deutschen Heldensagen« las. Ute – gutgelaunt und deshalb aufsässig – sah das nicht ein. Sie grub unter der Decke Beates Füße hervor, spielte auf ihren Zehen Klavier, rückte, als Bea in wortlosem Widerstand die Beine wegzog, höher und hatte plötzlich das Buch in der Hand. Ohne zu überlegen, lief sie ans Fenster, ließ los, der Band rutschte über die Ziegel, blieb in der Dachrinne hängen mit offenem Mund, das gedruckte Gesicht nach unten. Während Ute den bunten Einband betrachtete, Hagen von Tronje überglänzt von der späten Sonne, kam Bea von hinten. Kurzer, harter Schlag auf die Nase, ein Schreck eher, aber dann lief es warm, dunkel, klebrig aufs Nachthemd. »Ich blute«, sah Ute und fing unwillkürlich zu schreien an. Vater und Mutter drängten sich gleichzeitig durch die Tür, und während die Mutter mitschrie, wandte der Vater sich zu Beate. »Die hat …« – mit schwerer Hand ließ der Vater Gerechtigkeit walten, auch auf die Nase. Das Blut der Schwester lief über das Kopfkissen, Beate, heulend und schnaubend, begriff nichts und wischte nichts ab. Ute wimmerte nur noch leise, der Form halber. Eigentlich war sie glücklich. Sie und Bea, Bea und sie: beide hatten sie Nasenbluten! Und den Vater, der nun in der Ecke hockte, stumm die Finger bewegte, plagte das schlechte Gewissen. Die Mutter jammerte, zog Ute das Nachthemd vom Leib und trieb beide Töchter in ein Bett, da saßen sie nun, eben noch frierend und verletzt, hatten’s zusammen warm. Auf dem Fußboden lag, zusammengeknüllt, die blutige Wäsche. Ute – nackt neben Beate, fing an zu lachen. Vorsichtig erst, wie auf Widerruf, ein tastendes, stimmloses Schnauben, bereit, wieder im Nichts zu versinken. Ein Nichts, das es nicht gab, denn Beate nahm wie ein Echo das Kichern der Schwester auf, verstärkte und gab es als Glucksen zurück. Dann explodierten sie beide mit lautstarkem Kreischen. Sie sahen sich an, ließen sich fallen, aufs Bett, quietschten, strampelten mit den Beinen wie Kleinkinder, die ihr Vergnügen aus allen Poren herauspressen, kitzelten sich bis zur Atemnot, hielten ein, sahen auf den besudelten Haufen Textilien und begannen von neuem. Kümmerten sich nicht um den immer noch schweigend dasitzenden Vater, aber als er dann aufstand, achselzuckend das Zimmer verließ, war es ihr Sieg. Sie kuschelten sich aneinander, malten sich aus, wie es wäre, das blutrote Kopfkissen als Zeichen seiner Schuld wie eine Flagge im Schlafzimmerfenster zu hissen, und nahmen sich vor, künftige Wutausbrüche des Vaters durch eine leichte Bewegung des Kopfes im Keim zu ersticken: einfach die Nase hinhalten …

Nach diesem Abend war Bea ihr etwas mehr Schwester geworden, und auch die Brüder rückten ihr zeitweise näher. Denn er schlug alle, ins Gesicht, auf die Nase, auf den Rücken, ins Auge konnte es gehen, selten und heftig, ohne angemessenen Grund. Etwas schien zu zerspringen in ihm, als Claus um fünf vor acht mit den Socken in der Hand zum Frühstückstisch kam – »ich laß’ Sport heute aus …« –, als Hans nach einer Zeile geholperten Beethoven-Scherzos aufgab und behauptete, er habe geübt, als Torsten den Lebertran ins Klo spuckte. Schlimmeres konnte er durchaus ertragen.

Er kam über Große wie Kleine, fast ohne Warnung. Sein räumefüllendes Schweigen, der schwere Atem, das dunkelrote Gesicht, sekundenschnelle Veränderungen bis in die Hände hinein, entluden sich nicht zwangsläufig in Prügel. Alle vier Wochen vielleicht, dann wieder Monate nicht oder ein halbes Jahr. Manchmal wünschte Ute sie sich herbei, denn die Gerechtigkeit dieser Willkür, die jeden mal traf, zerstörte die Wand zwischen ihr und ihren Geschwistern, machte es kurzzeitig warm. Trieb sie zusammen wie ein Hagelschauer, ein plötzlicher Einbruch von Kälte im Freien, der sich durch dichtes Zusammenrücken der Leiber besser ertragen läßt. Wenn es vorbei war, drehte er ab, ging aus dem Raum, ließ seine Kinder zurück, die sich wohl fühlten miteinander und gegen ihn. Sie waren im Recht, im Unrecht der »Alte«, sie berauschten sich an der Moral derjenigen, deren Schuld weniger wiegt. Sie steinigten ihn mit Worten, warfen sich gegenseitig die Brocken zu, um sie gegen die Tür zu schleudern, die er hinter sich hatte zuschlagen müssen.

Irgendwann war das zu Ende, und jeder ging seinen Weg – Ute den ihren.

 

Wirklich schlimm war es, wenn die schlagenden Wetter des Vaters nur Ute trafen, allein, ohne Zeugen. Dann gab es niemanden, der sie auffing, der ihr half bei der Frage nach einer möglichen Schuld.

Etwa an diesem Sommersonntag, wie er üppiger nicht sein konnte: Die herben Gerüche von Kapuzinerkresse und weißroten Geranienwolken mischten sich auf dem Balkon mit dem Geruch von Schweinerollbraten. Ute konnte die im »Dreiecksschrank« geklauten Salzstangen gerade noch unter die »Tolldreisten Geschichten« schieben, in denen sie gerade las, als ihr das rote, verzerrte Gesicht des Vaters erschien. Was das denn wäre? Sie wolle nächstes Jahr konfirmiert werden und lümmele sich, statt in der Kirche zu sitzen, auf dem Balkon herum – was ihr denn einfalle? Den Rest seiner Fragen prügelte er ihr ins Gesicht, während sie heulend nach dem Gesangbuch suchte. Das Vaterunser-Glöckchen bimmelte bereits, als Ute auf den geschmolzenen Teer des Bürgersteigs hinaustrat. Sie kam ins schattenkühle Kirchenschiff, pünktlich genug, um mit vom Schluchzen brüchiger Stimme den Schlußchoral mitzusingen.

Viele Ausbrüche des Vaters vergaß sie schnell wieder – diesen nicht, denn er hatte etwas in ihr getroffen, worauf sie sich selbst gern schlug.

Ute nahm Fragen der Frömmigkeit ernst, hatte sie schätzen gelernt als Hilfe gegen das Alleinsein in der großen Familie. Lange, intime Gespräche mit Gott vor dem Einschlafen. Sie tauschten sich übers Tagesgeschehen aus; sie schlief besser danach. Es tat wohl, mit dem immer wieder in Gedanken geschmetterten Gesangbuchvers »Jesus wird siegen …« die pochende Angst zu übertönen, die eine beim Abendessen erzählte Gruselgeschichte in ihr ausgelöst hatte. Oder ein mögliches Gerippe unter dem Bett damit in Nichts aufzulösen. Sie hatte ein enges persönliches Verhältnis zu Jesus Christus und Gott, lebendig wie zu Theo und Brumm, Petra, Frosine, umgekehrt proportional in der Abhängigkeit. Und mit weit über die Minuten der Begegnung hinausreichenden Verpflichtungen für sich selbst.

Sie konnte sich vorstellen, heilig zu sein – obwohl evangelisch. Der Rummel, mit dem die katholische Kirche Armut, Demut, Selbstlosigkeit zu belohnen versprach, erschien ihr verfehlt. Für sie, Ute, gehörten Glanzlosigkeit, Unscheinbarkeit bis zur Unkenntlichkeit direkt dazu. Und so waren auch ihre Taten, an denen sie übte: glanzlos, unscheinbar, etwas verschroben, als gute Taten oft nicht erkennbar. Es gehörte dazu, daß andere lachten, wenn sie sieben Gesangbücher mit in die Schule trug und an Klassenkameradinnen verteilte, die ihre zu Hause vergessen hatten. Sie hörte kaum hin, wenn die Mutter schimpfte, daß sie ein Nachbarskind einen Nachmittag lang spazierengefahren hatte, während der kleine Bruder vergeblich auf sie gewartet hatte.

Es war verlockend, sich einzunisten in der eigenen Sperrigkeit, zwischen den rotglänzenden Pickeln, die seit dem zwölften Geburtstag zu ihr gehörten, über den endlos staksigen Beinen, mit ihrer Scheu vor fremden Blicken, die sie ungeschickt machten, manchmal fast bis hin zur Lähmung. All das bestimmte sie beinahe zur Heiligkeit, denn die Anfechtungen durch andere Menschen blieben begrenzt.

Wenn nur das Unvermögen nicht gewesen wäre, die eigene Naschsucht zum Beispiel, die Ute immer wieder zum »Dreiecksschrank« trieb, nicht ohne sich selber Schmiere zu stehen! Oder die Faulheit. Noch nicht mal den Tisch wischte sie ab, obwohl das ihre tägliche Aufgabe war. Erst recht tat sie nichts »von allein«. Oder die Neigung, sich abends im Bett zwischen die Beine zu fassen, manchmal sogar beim Gebet. Warm war es da unten, feucht, duftete fast parfümiert … Schließlich die Neugier, die Ute in Winkel trieb, die sie nichts angingen. Auch an das Bücherbord der Brüder mit den »Tolldreisten Geschichten«…

So fühlte sie sich ertappt und mißverstanden zugleich an diesem Sonntag. Gut, sie war nicht in der Kirche, saß hier und las – aber trotzdem war sie doch fromm, frommer als alle, und der Vater müßte das wissen. Oder er wußte es besser als sie – dann hätte sie die Schläge verdient.

Verdient oder nicht – Prügel blieben im allgemeinen bedrohliche Ausnahmen, Unfälle, die mit Erziehung wenig zu tun hatten. Ob als Kind oder als Heranwachsende – Ute fühlte sich kaum »erzogen« durch diese schlagenden Beweise von Schwäche – im Gegenteil waren es für sie häufig Anlässe, ihren Willen gegen den des Vaters durchzusetzen.

Trotzdem war er für sie Erziehungsinstanz. »Nachhilfestunden gibt es bei uns nicht« – »Wer sitzenbleibt, geht ab und macht eine Lehre«, das war für Ute genauso Gesetz wie für alle anderen Geschwister, auch wenn sie sich nur notdürftig und ohne große Überzeugung daran hielt.

So kam es zweimal im Jahr zwischen ihrem Vater und ihr zu einem Zusammentreffen besonderer Art: Nach jedem Zeugnis folgte die »Abrechnung« – eine »Eins« wurde mit einer Mark, die »Zwei« mit fünfzig Pfennig dotiert, für »Drei« gab es nichts, und ab »Vier« war draufzuzahlen. Wenn die Geschwister ihre vier, fünf, sechs Mark eingeheimst hatten, kam Ute dran – fast immer mit einem Minus zwischen einer und vier Mark. Dann seufzte der Vater, schwieg – und erließ ihr schließlich das Geld.

Dieser halbjährig wiederkehrende »Gnadenakt« prägte Utes Gefühle gegenüber ihrem Vater tiefer als die Ohrfeigen, auch mehr als die indirekten Maßregelungen, die er ihr über die Mutter zuteil werden ließ: Sie habe schon wieder das Bett nicht gemacht, sie könne sich ruhig wieder mal kämmen, sie habe … Das alles war nicht so schlimm wie das Seufzen und Schweigen bei der Zeugnisabrechnung. »Mir machst du nichts vor«, hörte sie heraus. »Mathematik vier, Latein vier, Ordnung fünf – Zufall, daß du nicht sitzengeblieben bist. Freundliches Entgegenkommen der Lehrer, die deine Schwester schätzen. Mit diesem Zeugnis hätte mein Vater mich nicht auf der Schule gelassen. Zu Hause gibt es genug zu tun für Mädchen wie dich, bei denen es sich nicht lohnt. Nur – wenn du den Tisch abwischst, kleben wir hinterher immer noch fest, und wenn du Tommis Banane zerdrückst, ist danach nur noch die Hälfte davon übrig. Nicht einmal beherrschen kannst du dich! Wenn du wenigstens hübsch wärst oder charmant … Geh weiter zur Schule – was sollen wir sonst mit dir machen? Behalte dein Geld, du hast es ohnehin verschnuckert in Mohrenköpfen, Mambas, Langnese-Erdbeereis-am-Stiel. Und verschwinde mir aus den Augen!«

Nein, er sagte ja nichts. Er kannte »Langnese« wohl kaum und würde »Mamba« für einen modernen Tanz halten. Aber er dachte sich seinen Teil, so laut, daß die Wände ihn zurückwarfen, und der Spiegel klirrte davon, wenn die Geschwister mit ihrem Geld schon auf und davon waren und Ute »noch übrig«. Seine auf die Sofalehne trommelnden Finger erzählten das, die tiefe Falte zwischen den struppig gekrausten Brauen über Augen, die Ute gleichzeitig an- und durch sie hindurchsahen, als sei sie nur eine überflüssige, unansehnliche Sache, bei der zu verweilen sich nicht lohne. So unerträglich solche Situationen für sie waren, so wenig wagte sie, aufzustehen und den Raum zu verlassen. Eine falsche Bewegung, und er würde doch noch schlagen, außerdem …

Über dem Sofa, auf dem der Vater zur Zeugnisabrechnung zu sitzen pflegte, hing ein großes gerahmtes Bild. Auf dem lieblich-kargen Gras-Blumenteppich einer Bergwiese lag jemand, das eine Bein angewinkelt, das andere gestreckt, barfuß, nackte Jungenbeine, die aus kurzen Lederhosen kamen. Das Gesicht war verdeckt, von der Hand abgeschirmt, blinzelte er darunter hervor in den tiefblauen Himmel. Ob er den weißen Schmetterling sah? Ute blickte am Vater vorbei auf das Bild. Blinzelte wie der Junge, wartete. Hatte es aufgegeben, sich zu schämen. Wartete resigniert, aber nicht ohne Hoffnung. Hoffte auf irgend etwas, hoffte so lange, bis der Vater mit einem kurzen Knurrlaut aufstand und das Zimmer verließ.

 

Keiner sprach es je aus, aber sie ließen es spüren. Claus, der Stille, sonst eher Freundliche, schlug ihr den Cellobogen auf den Kopf, wenn Ute beim Üben in seine Nähe kam – ziehender, kurzer Schmerz bis in die Schultern hinunter. Hans legte sie auf den Rücken, setzte sich mit den Knien auf ihre Oberarme – »Mucki-Reiten«.

Ute weinte nur leise – wen hätte sie schon herbeibrüllen können? Und dann – sie hatten ja recht! Das waren nicht nur die Zeugnisse – das war sie – wie sie aussah, wie sie sich bewegte, daß immer gleich wieder ein Fleck auf dem Nicki-Pullover war und daß sie stank. Ja, sie stank! Da rumorte es in ihrem Bauch, stach oben, blähte sich unten, ziepte links. Gerade beim Essen und nur, wenn sie wagte, das Ventil aufzumachen, wurde es wieder gut. Manchmal kam es dann laut, das war am schlimmsten. Dann sahen alle sie an, Ute, die ja nicht gewohnt war, gesehen zu werden. Grauenvolle Beachtung, die kein Versteck mehr erlaubte, nur noch den Wunsch, nicht vorhanden zu sein. »Du Schwein!« – »Ute!« – »Schon wieder!« – »Ist das eine Sau!« – »Immer beim Essen!« – »Fenster auf, ich halte es nicht mehr aus!« …ein anderes Mal kam es leise, ein sanfter Schwall warmer Luft setzte ihren Schmerzen ein Ende, Ute, erleichtert, hoffte, davongekommen zu sein, aber dann schnupperte jemand, und es folgte wie oben. Bis zu diesem Familienbeschluß: Sie solle doch rausgehen, wenn es nun sein müsse, aber sich abmelden! »Fürzich«, sollte sie sagen – das Wort war eine Schöpfung von Hans. »Fürzich…«, flüsterte Ute und ging auf den Flur durch das Gelächter wie durch stachliges Gebüsch, das ihr die Kleider herunterriß. Sie grub das Gesicht in die Mäntel, die an der Garderobenstange hingen und den Spiegel verdeckten. Fand dahinter eine, die Ute hieß und heulte wie sie.

Übrigens lernte sie es. Sie kniff die Backen zusammen, ertrug den Schmerz, und die Gewitter in ihrem Bauch rollten sich endlich zu Tode. Sie stank nicht mehr. Auch sonst versuchte sie immer wieder aufs neue, »sich Mühe zu geben«, und ließ es nach kurzer Zeit wieder. Zu groß der Aufwand, zu anstrengend die Verstellung, zu strahlend der Glanz der großen Geschwister, zu raumgreifend die Vitalität der kleineren Brüder, als daß sie eine Chance gehabt hätte. Schließlich wurde auch ihr zeitweiser Eifer beim Geigespielen nur mit Achselzucken quittiert.

 

Immerhin gab es Beate. Zwar war sie schön, klug, fleißig, gut in der Schule und eine unentbehrliche Hilfe im großen Haushalt, besaß eine selbstverständliche, gewachsene Sorgfalt, die Ute gleichzeitig schützte und in Unmündigkeit hielt. Bea machte nicht Mucki-Reiten, lachte nur leise, wenn Ute pupste, tröstete, wenn es zu bunt kam, oder nahm sie in Schutz vor Eltern und Brüdern, oft genug mit unrechten Argumenten. Ute wußte es besser, war auf der Seite ihrer Verächter. Konnte Beschimpfungen eher ertragen als Lob, das in den meisten Fällen auf Irrtum beruhte. Wie dieses »Ordnungssternchen«, das sie in der zweiten Hälfte der vierten Klasse bekam. Ein Orden an rotglänzender Päckchenschleife, gefaltet aus Goldpapier. Auszeichnung für die wenigen, die in den letzten sechs Monaten auch nicht einmal etwas vergessen hatten. Ute ließ ihr »Ordnungssternchen« in ihrem Ranzen verschwinden und fand es nicht wieder; suchte auch gar nicht danach. Erzählte niemandem davon, denn sie wußte genau, daß sie diesen Ordnungsrekord nur ihrer Faulheit verdankte. Sie packte den Ranzen einfach nicht aus. Zwischen Fibel und Schreibheft, Bibel und Griffelkasten schlängelte sich das Läppchen mit den Kreuzstichproben, wurden die Turnschuhe plattgedrückt und die schwarze Hose für den Sport. Butterbrote unterschiedlichen Alters und Verfallstadiums hatten sich ihrer Pergamentpapierhülle entledigt und preßten Krümel in die Seiten der Hefte hinein, die Ute bei Gelegenheit ausschüttelte. Kleine, talgige Höfe blieben zurück und nahmen die Tinte nicht an. Tatsächlich – sie hatte nie etwas vergessen in dieser Zeit, aber alles, was sie in der Schule benutzte, roch nach ranzigem Fett. Ihr Glück, daß Frau Herd, die sofort überblickte, was jedem fehlte, nie darauf kam, an den Sachen zu schnuppern …

Auch sonst konnte sie Lob schlecht ertragen, fühlte sich elend dabei, klebrig, wie eine Fliege in Honig gefallen, aussichtslos zappelnd und unfrei. Sie wußte sich schnell zu entziehen, wenn jemand Gutes über sie sagte, sparte nicht mit Verachtung, vermutete Lüge, Verstellung, einen Trick, um sie zu vereinnahmen, oder einfach nur Dummheit. »Och…«, wehrte sie ab, als Tante Lisbeth einmal bemerkte, sie habe »so ein glockenreines Silberstimmchen«. »Ich find’ hell singen blöd. Und kann jetzt schon viel tiefer«, und quetschte als Kostprobe einige rauhe, geknödelte Töne hervor. Und als ein Richterkollege des Vaters sie über die Maßen beachtete und sogar ihre patzigen Antworten noch »herzerfrischend frech« fand, wußte sie sich nicht anders zu helfen, als steifbeinig in der Speisekammer zu verschwinden, in gefährlicher Halböffentlichkeit ein Marmeladenglas leerzulöffeln und schließlich noch eine Vase herunterzuwerfen. Später freilich, abends im Bett, schämte sie sich ihrer zwanghaften Ungezogenheiten, hatte sie viel im Gebet zu besprechen. So ein Tag war verdorben, die Nacht auch. Sie fürchtete sich vor den Träumen und davor, auch morgen als Ute zu erwachen, die häßliche, schlechte Ute, der es auch dieses Mal nicht gelungen war, sich Mühe zu geben. Sie nahm sich wieder mal vor, die Identität zu wechseln. Vielleicht Beate zu werden am nächsten Tag: Schön, zurückhaltend, klug, behutsam von innen heraus. »Sie ist zu gut für diese Welt«, würde der Vater dann von ihr sagen – wie sonst von der Schwester, und Ute verwarf, in die Haut der Schwester zu schlüpfen. Sie würde ersticken an so einem Satz.

Übrigens war es meist gar nicht so schlimm, am nächsten Tag wieder als Ute zu erwachen. Da saßen Petra, Berta, Frosine auf ihrem Bett, bereit, im Notfall mal wieder angesprochen zu werden, und da gab es Lichtblicke im Tagesgeschehen: die Geigenstunde vielleicht oder »Zeichnen«, wo sie mit Berti und Mo, ihren beiden Banknachbarinnen, beim Pinseln auf welligem Papier sich etwas erzählen konnte, ohne daran denken zu müssen, daß sie, ihr Leben, so anders war, als sie es sich wünschte. Und auch zu Hause fiel für sie was ab, einfach nur so, ohne Ansehen ihrer Person: Sonntags war sie beim Rodeln dabei, klammerte sich zwischen Geschwistern und Vater auf dem dreiteiligen Anspanner fest und war froh, daß ihr Herzklopfen im Indianergeheul unterging, wenn sie alle anderen Schlitten im Pulverschnee hinter sich ließen. Und wenn sie am 31. Dezember jeden Jahres gegen zehn Uhr abends zu Hause aufbrachen und über glitzernden, knirschenden Schnee zwischen schwarzen Baumsilhouetten hindurch zum Herkules hochkletterten, um nach dem zwölften Schlag die Stadt unten vielfarbig explodieren zu sehen, hätte niemand gesagt: »Du bleibst zu Hause!« Sie hörte mit allen anderen zu, wie die Kriegsgefangenen in Rußland aus einer Wanne ein Cello gebaut hatten und Sinfonien zur Aufführung brachten – wenn ihn etwas berührt hatte, konnte der Vater faszinierend erzählen. Sie saß mit großen Augen dabei, wenn Herr Hase eingeladen war, Herr Hase, mit der nach hinten gekämmten silbergrauen Mähne, den dicken Lippen und den durchdringenden Augen. Er leitete den Kirchenchor, in dem die Eltern mitsangen, und immer wieder wurde über ihn etwas geflüstert, das Ute nicht verstand. »Manisch-depressiv« sei er und »im KZ gewesen« – was immer das sein mochte. Ute ließ es sich nicht entgehen, wenn der zu Besuch kam.

Den Rücken krumm, die Beine im Schneidersitz, kauerte sie auf dem grünen Drehsessel und staunte, wie er mit einer Nußmakrone unsichtbare Zeichen in die Luft malte und dabei erklärte: »Ich schlag’ ihnen alles kaputt, so wahr ich Hase heiße!«

Immer blieb allerdings das Gefühl: All das würde auch ohne sie stattfinden, sie selbst war Nutznießerin eines Systems, in das sie zufällig hineingeraten war, und konnte froh sein, daß ihr derartiges geboten wurde. Sie sah mit an, wie der Vater mit den kleineren Brüdern Drachen steigen ließ, Bergtouren machte, Kaninchenställe baute, mitzitterte, wenn ein Modellflugzeug abstürzte, und erlaubte sich nicht einmal, neidisch zu sein; sie hatte so etwas einfach nicht verdient.

 

Sie lud sich selber mit ein, wenn ihre großen Geschwister in der Mansarde zusammensaßen, immer darauf gefaßt, von ihnen hinausgeworfen zu werden. Claus war im ersten Semester, Bea und Hans dachten über die Schule hinaus. Codewörter tauschten sie aus, unverständlich für Ute, aber zugleich Anlaß für lebhafte Phantasien. Sie machte die »Spiegel-Affäre« zum spektakulären Mordfall, ausgeführt mit Hilfe der glatten silbernen Fläche. Ließ eine Herde von Nashörnern durchs Staatstheater toben, über den dicken blauen Teppichboden, den sie beim Weihnachtsmärchen bewundert hatte. Ob die Spuren des Nashörnerdungs wohl wieder herausgingen?

Gespräch über Leute – Freunde von Hans, Studienkollegen von Claus, die Ute sehr wohl ein Begriff waren. Sie hatte sie schon erlebt – von unten nach oben, ohne selbst von ihnen beachtet worden zu sein. Andere Bekannte der großen Geschwister hatten sich ihr noch nicht vorgestellt: Franz Josef Strauß zum Beispiel oder Bert Brecht. Sie sah keinen Grund, sich über die zu erregen, so wie die anderen es taten, langweilte sich, verkniff sich gewaltsam ein Gähnen, das sie als zu den »Kleinen« gehörig entlarvt hätte. Dämmerte vor sich hin, bis ihr auffiel, daß die Geschwister die Stimmen gesenkt hatten, beinahe flüsterten, wie beim Komplott: »…der ist nicht so arm, wie er tut – nie im Leben!« Wie bringt man einen Menschen dazu, seine wirtschaftlichen Verhältnisse offenzulegen? Und – nächste Stufe – holt man ihm das Geld aus der Brieftasche oder vom Konto? Mehr mit Weichheit und Charme, wie Bea es kann? Oder lieber mit roher Gewalt? Hans war für das zweite: »Ich fang’ ihn ab nach dem blöden Chor: Wahrheit und Geld oder zwei blaue Augen.« Sie hatten Ute vergessen, die unter der schrägen Wand fast zum Schatten geworden war. Dabei glitschig und heiß mit hinter den Knien gefalteten Händen, die sich bemühten, das Zittern der Beine in Grenzen zu halten. Denn die sprachen vom Vater.

 

Alle waren sie ihm näher als Ute, die streitbaren großen und die bevorzugten kleinen Geschwister. Erst recht natürlich die Mutter, und wenn er mittags in seinem clownesk sitzenden Anzug »vom Amt« zum Essen kam und trotz aller Hetze seine Frau in den Arm nahm und auf den Mund küßte, sah Ute, peinlich berührt von soviel zur Schau gestellter Nähe, die nicht sie betraf, an den beiden vorbei.

Aber er war Maßstab für sie, nicht nur, wenn es um Leistung und Schulerfolg ging. »Komm, Herr Jeus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast«, und danach: »Gesegnete Mahlzeit«, der Vater hatte, leicht bespöttelt von der Mutter, den Brauch des Händereichens eingeführt.

Er war fromm, wenngleich er regelmäßigen Kirchgang nur von Konfirmanden erwartete. Er wählte christlich, und Ute fühlte sich in eine Falle gelockt, als ihre Flötenlehrerin sie zum Spielen von Weihnachtsliedern mitnahm und sie erst kurz vorher erfuhr, daß es sich um eine Feier der SPD-Frauen handelte. »In dulci jubilo« konnte sie schon lange auswendig; die Elfjährige stand O-beinig, die Füße nach innen geknickt, auf dem kleinen Podium im Festsaal des »Hotel Vaterland« zwischen den anderen Flötenkindern und tastete mit den Augen die Gesichter der Frauen ab, die hinter bunten Tellern am tannengeschmückten langen Tisch saßen. Sozialdemokraten – waren das nicht Heiden? Komisch, daß die überhaupt Weihnachten feierten. Solche, die anderen alles wegnehmen wollten? Es paßte nicht ins Bild, daß Ute sich zum Schluß Schokolade aussuchen durfte. Eine ganze Tafel – zu Hause wurde so etwas nur stückweise zugeteilt. Trauben-Nuß – auf dem Heimweg mit der Straßenbahn konnte Ute sich nicht sattsehen an den prallen Weintrauben, die auf das weißgoldene Papier geprägt waren. Nur – unvorstellbar der Gedanke, diese Tafel mit nach Hause zu nehmen. »Von Sozialdemokraten«, würde sie sagen müssen, wenn jemand sie nach der Herkunft fragte. »Wie kommen Sozialdemokraten dazu, dir Schokolade zu schenken?« Ute lief die lange Müllerstraße hoch, in ihren Händen wurde die Tafel weich. Plötzlich kam ihr der Gedanke, daß sie vergiftet sein müßte. Rechts und links die Einfamilienhäuser ihres Vororts, gepflegte Rasenflächen hinter gutgestutzten immergrünen Begrenzungen. Ute schob die Tafel in eine Buxbaumhecke. Drehte sich nach zehn Schritten noch einmal um und sah sie weiß-blau-golden aus dem winterlichen Grün hervorleuchten. Bald nach ihr würde ein armes Kind des Wegs kommen. Eines von denen, die kein Obdach haben. Immerhin würde ihm mit Trauben-Nuß eine kleine Weihnacht zuteil werden. Ute schluckte einen Kloß der Rührung herunter und vergaß, daß die Schokolade ja vergiftet war.

 

Ernüchternde, allmählich wachsende Überzeugung, daß ihre großen Geschwister die Schokolade gegessen hätten. Immer aufs neue die sprach- und atemlose Faszination, wenn sie mitbekam, wie sie auf den Vater schimpften: auf seinen Geiz, seine Starrköpfigkeit, seine reaktionären Ansichten. Ohne Hemmungen verlangten sie Geld für Kleider, Bücher, Reisen, Fahrzeuge … Dabei bekamen sie Stipendien, Hochbegabtenförderung, wie sie betonten. Aber mit der Selbstverständlichkeit derer, die es verdienen, heimsten sie auch sonst ein, was sie kriegen konnten.

Nicht, daß Ute ihre Kindheit über gedarbt hätte. Es gab auch andere Wege, an das Geld zu kommen, das sie brauchte. Für eine Mark die Stunde riß sie in einer Gärtnerei Brennesseln aus, beim sonntäglichen Kuchenverkaufen im Schloßhotel bekam sie Trinkgeld und 10 Prozent Bedienung, 30 Mark oft an einem Sonntag. Gratis dazu: den Stolz, in eine Welt hineinschnuppern zu dürfen, die Oberschülerinnen normalerweise verschlossen war. Die in ihrer Klasse kannten den süßlich-fetten Geruch nicht, den Hotels nach hinten heraus wie Körperdünste auszuströmen pflegen, sie ahnten nichts von den gedörrten Kadavern der Kakerlaken, die Ute mit dem Handfeger aus den Regalen holte, wo die Kuchenteller gestapelt waren.

Manchmal traf Ute eine von ihnen, feingemacht, mit Familie auf der Terrasse. Welchen Kuchen sie ihnen empfehlen könnte? Keinen, ehrlich gesagt. Dadurch, daß sie den »Bruch« verzehren durfte – die umgefallenen Tortenstücke, die Krümel der Baumkuchenringe, die Ränder der großen Streuselplatten –, hatte sie das teure Zeug längst über. Überhaupt, wenn die wüßten … Ute genoß die Blasiertheit der Eingeweihten, duzte die schwarzen Kellner und die weißen, durch ihre Mützen zur Decke verlängerten Köche, schielte nach ihnen, traute sich manchmal ein schräges, undefinierbares Lächeln. Lauschte im Keller zwischen den Spinden für die private Garderobe den Gesprächen der Aushilfsfrauen, fiel vor Neugier fast aus den eigenen Ohren, wenn etwa Frau Weber »vom Silber« die fünfzehnjährige Fee aus der Spülküche beriet: »Kind, ich sprech’s dir, wo die Kinner gemacht wern, kommse au raus. Halt dich zu da, un wenns da unnen noch so zwitschert!«

Später stieg Ute mit der Geige ins städtische »Muck-Geschäft« ein. »Mucken« – bei Feierlichkeiten Musik machen – war die einträglichste und vergnüglichste Art, reicher zu werden. Eine »Gruft-Mucke« etwa – ein langsamer Satz aus dem Es-Dur-Quartett von Schubert in der Friedhofskapelle – brachte 50 Mark pro Spieler. Berauschendes Gefühl – ein brauner Schein, der nach zehn Minuten in der Tasche knisterte.

Ihr war, als hätte sie alle damit hintergangen: Ohne es zu verdienen, kaufte sie sich Pullover, Hosen und Schallplatten und machte Reisen, in denen nicht die Seufzer des Vaters steckten.

2. Kapitel

Unabhängigkeit war ein wichtiges Ziel schon für die Vierzehnjährige. Niemanden brauchen, keinem verpflichtet sein. Erst recht nicht dem Vater. Ihn einfach stehenlassen mit seinem Geld und seinen Lebensprinzipien. Eigenständigkeit. Die Vorformen waren: ein ständig schlechtes Gewissen, weil sie den Erwartungen nicht entsprach. Unsichtbar werden am Bahndamm hinter der Strohmiete mit den Winterkartoffeln. Mit dem Daumen in Sigmund Freuds »Sexualtheorien« Zügen nachlauschen, die sich ratternd und gleitend in die Zukunft entfernten. »Micky-Maus« lesen, denn das war zu Hause verpönt. Geige üben im Keller, um so dem Familienstandard, etwas Besonderes zu können, Genüge zu tun.

Einsamkeit: Täglicher Schulweg auf dem mit Klee, Huflattich, Löwenzahn und Vogelmiere bewachsenen Pfad zwischen Bahndamm und Schrebergärten, der sich mitunter auf zwei Stunden ausdehnen konnte. Bis sie sich eines Tages weinend, kratzend, tretend eines Mannes erwehren mußte, der vielleicht nur zum Pinkeln im Busch gestanden hatte und die Gelegenheit günstig fand. Ein untersetzter, harmlos aussehender Mensch mit rundem, sommersprossigem Gesicht und steil aus der Hose ragendem Glied, der ohne Vorwarnung vor ihr stand und versuchte, ihr den Rock hochzuheben: »Irgendwann fängste ja doch damit an!« Mit der Wut einer in die Enge getriebenen Katze brachte Ute ihn zum Aufgeben, aber aus dem Weg zum Träumen, Bummeln, Gedichteaufsagen, Blumenpflücken war nun eine Falle geworden, sein verlockender Friede war vergiftet. Stolpernd, fast rennend, ihren eigenen Herzschlag als flattrigen Rhythmus in den Ohren, brachte sie ihn in Zukunft hinter sich. Unabhängig sein hieß: niemandem davon zu erzählen. Die tägliche Angst für sich zu behalten, schweigend zu ertragen, wie sie nach innen wucherte in verächtliche Abwehr gegen Männer schlechthin, von der auch der Vater nicht ausgenommen wurde.

Neue Flucht in Frömmigkeit, anfallsweise sich hineinplumpsen lassen wie in ein altmodisches, kühles, wolkig gebauschtes Federbett, das die Sicht nahm, Geräusche dämpfte, Körper und Seele nur einen Wunsch ließ: nicht mehr hier wegzumüssen. Ute schlich sich in Kirchen – die katholischen sind Tag und Nacht geöffnet –, mied die regenbogenfarbenen Glasfenstermuster, drückte sich in eine lichtlose Ecke der überkopfhohen Bänke, schnupperte weihrauchgeschwängerten Staub und fühlte sich sicher und frei. Sie konnte katholisch werden – bald wäre sie alt genug für diesen Schritt: Weg vom Vater, weg von den evangelischen Geschwistern, weg von der protestantischen Tüchtigkeit zu Hause. Weg von der Schule und als Novizin in ein Kloster, weg von den Männern. »Irgendwann fängste ja doch damit an«? Sie nicht! Sicher, sie hatte viel Zeit verschwendet, sich »darunter« etwas vorzustellen, immer wieder die Teile betastet, um die es ging, mit schüchternen, auf Rückzug bedachten Fingern Zeichen gemorst und meistens vergeblich auf Antwort von unten gewartet. Gut, das »Zwitschern« zwischen den Beinen kannte sie schon und schämte sich des klebrigen Strahls, der gegen ihren Willen ins Höschen schoß, wenn bei Klassenfesten das Licht dunkler wurde und sie sich enger zum Blues zusammenschlossen. Dabei war es beinah egal, mit wem sie tanzte – Hauptsache, er roch anders als sie – nach Tabak, nach Bier, eben nach Mann –, und die Wange an ihrer Wange war rauh. Es war so unpersönlich, so austauschbar: So stellte sie »es« sich nicht vor. »Irgendwann fängste ja doch damit an«? … sie fand »es« gewalttätig, eklig, tierisch – so wie sich selbst –, und wirkliche Freiheit besitzen hieß, sich dem zu entziehen …

Manchmal kamen Leute in »ihre« Kirche, knieten sich hin, murmelten gesenkten Kopfes oder schwiegen über zu Kirchtürmen gelegten Händen, bekreuzigten sich. Ute fühlte sich ihnen verbunden, es waren »ihre« Leute, je länger sie blieben. Nur zu viele durften es nicht werden, denn dann kam auch der Priester im weißen, bestickten Gewand, Meßknaben schwenkten Weihrauchgefäße, all die einzelnen schlossen sich zusammen, ohne und gegen sie, wurden intim miteinander, singend, betend, kniend, stehend, auf eine Weise, die Ute zum peinlichen Fremdkörper machte. Spätestens, wenn ein Glöckchen zu bimmeln begann, drückte sie sich aus dem Gebäude, um sogleich zu vergessen, was sie darin gesucht hatte.

 

Jemand hatte ein gebrauchtes Fahrrad annonciert, in der Schule, am Schwarzen Brett. 45 Mark Verhandlungsbasis. Ute, stets etwas unsicher über den jeweiligen Stand ihrer Vermögensverhältnisse, drehte die Taschen um und bekam diese Summe zusammen. Entschloß sich, das zufällig angesammelte Geld dieses Mal nicht in Erdbeereis schmelzen zu sehen, und kaufte das Rad. Schwarz war es, etwas rostig, aber gut genug, um die tägliche Angst darauf niederzutreten, den bedrohlichen Weg auf zehn Minuten zu verkürzen. So sehr zu verkürzen, daß sie bald auf Verlängerung sann, Umwege fuhr, gewundene Pfade, Schleichwege entdeckte, die sie zu Fuß nicht zu betreten gewagt hätte.

»Bedecke deinen Himmel, Zeus,

mit Wolkendunst,

und übe,

dem Knaben gleich,

der Disteln köpft,

an Eichen dich

und Bergeshöhn …«

Die Strecke zwischen Friedhof und Zuchthaus hindurch, über die ehemalige städtische Schutthalde, war nicht geeignet für Fahrräder. Ute stieg nicht ab, schlingerte, holperte, balancierte, und ihre Stimme, die an die stacheldrahtgekrönten Mauern, an Riesendisteln, winzige Birken und Grabsteine hinsang und -zitierte, schlingerte, holperte ebenso und brach nicht ab:

»… und an diesem Mittag wird es still sein am Hafen,

wenn man fragt, wer wohl sterben muß?

Und dann werden sie mich sagen hören: ›Alle!‹

und wenn dann der Kopf fällt …«

Manchmal konnte sie schneller werden, fuhr, ohne zu bremsen, ein Stück bergab.

»… und ein Schiff mit acht Segeln

und mit fünfzig Kanonen

wird entschwinden mit mir …«

Auf Nase und Stirn saßen Schweißperlen der Erregung, trotz des Fahrtwinds. Ein bis zwei Stunden brauchte sie nun wieder. Und wenn sie nach Hause kam, verspätet, erhitzt, zerzaust, mit ungewöhnlich gesunder Farbe, wunderte sich schon einmal jemand: Seit wann hatte Ute sportliche Interessen?

 

Ironie des Schicksals, daß ihre Stellung innerhalb der Familie gewichtiger wurde in dem Maße, in dem sie keinen Wert mehr darauf legte. Je seltener ihre großen Geschwister nach Hause kamen, um so mehr wurde sie zur »Ältesten«, eine Würde, die sie nie gewollt hatte, eine Bürde, die sie in den kommenden drei Jahren, so gut es ging, abzuschütteln versuchte.

Trotz der Unbehaglichkeit, zu den »Kleinen« gezählt zu werden, hatte sie nie ernsthaft gewünscht, zu den »Großen« zu gehören, und die Aufgabe, die ihr nun daraus erwuchs, überforderte sie. Vor allem, Prellbock zu sein zwischen Eltern, die sich neuerdings ständig stritten – oder hatte Ute es früher bloß nicht gemerkt?

Warum mußte der Vater Herrn Hase Geld leihen, Herrn Hase, der inzwischen von sich glaubte, er sei so etwas wie Johann Sebastian Bach, und täglich lange Telefongespräche nach Frankfurt, Berlin und London führte, um andere davon zu überzeugen? Warum sträubte die Mutter sich dagegen, daß der Vater ihr die Küche umbauen wollte – kleiner, heller, zweckmäßiger, nach den neuesten Erkenntnissen der Küchenforschung? Und wenn die Mutter unbedingt zur Erwachsenentanzstunde gehen wollte, um Foxtrott, Cha-cha-cha und Leute kennenzulernen, mußte sie da wirklich den Vater mitschleppen? Was sollte sie, Ute, ausrichten gegen das Schweigen, das sich zwischen den Eltern auszubreiten begann, wenn die Auseinandersetzungen bis zu einem gewissen Punkt ätzender Sinnlosigkeit getrieben worden waren? Fast sehnte sie sich zu den Zeiten zurück, in denen sie das dumpfe Brüten des Vaters ausschließlich auf sich bezogen hatte. Schneidendes Klirren von Messer und Gabel am stillen Tisch. »Richte deiner Mutter aus, daß …«, gebot ihr der Vater mit rauher Stimme, während seine Frau in der Küche den Salat anmachte. Noch mehr als vorher suchte Ute nach Schlupflöchern, in denen sie sicher war vor solchen Anforderungen. Sollten die sich doch die Augen auskratzen, wenn sie es wollten! Um sie, Ute, hatte sich schließlich auch keiner gekümmert. Und überhaupt – wie hätte sie da eingreifen sollen? Etwa Stellung beziehen und den Zorn des jeweils anderen Elternteils auf sich selbst lenken? Es war ein fragiles inneres Gleichgewicht, das zwischen solchen und ähnlichen Gedankengängen balancierte. Das etwa dann ins Wanken geriet, als sie Frank eines Abends hemmungslos weinend in seinem Bett fand: »Die sollen sich nicht immer zanken!«, und: »Du mußt was machen, du bist schon sechzehn!« Während Ute den Schluchzenden zu beruhigen versuchte, wußte sie schon, daß sie sich auch in Zukunft nicht einmischen würde.

 

Nicht-Einmischung – das war die andere Seite der Unabhängigkeit: die Finger von denen lassen, die sie ohnehin nicht beeinflussen konnte. Dafür selbst unbehelligt bleiben in den eigenen Verletzlichkeiten, die sie durch Stacheln der Abwehr zu schützen suchte. Sich in geheimnisvolle Zurückgezogenheit begeben, in der sie ihr Leben brav bis zur Langeweile gestaltete, ausgezehrt vom Mangel an Gelegenheit. Tägliches Bemühen, vor Eltern und Geschwistern zu verbergen, daß es nicht viel zu verbergen gab. Sie ließ »die zu Hause« im unklaren über ihren Stundenplan, schützte Proben vor, Sportstunden, die es nicht gab – man hatte es aufgegeben, mit dem Essen auf sie zu warten. Nachmittags, manchmal erst abends, ließ sie sich wieder sehen. Ihre Freundinnen kamen vom Dorf, die hatten auch keine Eile, mittags um halb zwei, wenn es zum letzten Mal schellte. Deren Zug fuhr um zehn nach drei, Zeit genug, sich im leeren Klassenraum gegenseitig die Haare zu schneiden, im nahe gelegenen Park »Astor« zu rauchen oder bei Regenwetter im Café Walter, wo es für 15 Pfennige Malzkaffee gab. Sie redeten über die Lehrer, taxierten, als hätten sie freie Auswahl, die Jungs, die mit Berti und Mo in die Kleinbahn zu steigen pflegten, und fanden sie indiskutabel. Ute brachte die beiden zum Bahnhof, verabschiedete sich von ihnen mit langen Küssen, genoß die empörten Blicke der Fahrschüler und Angestellten, die um diese Zeit die Coupés des Zuges besetzten, ging davon, aufrecht und leicht, träumte dabei, später mal durch Skandale fliegen zu lernen.

Manchmal wartete Heinz auf sie. Ute erschrak, wenn sie ihn sah. Sie dachte, in ihn verliebt zu sein, aber beim Anblick seiner vierzigjährig-runden Gestalt, laut Paß war er eben achtzehn, angesichts der Apfelbacken, der hängenden Unterlippe, der von Speckfalten verengten Sehschlitze unter der karierten Schiebermütze, hätte sie sich am liebsten versteckt. Sie aßen zusammen ein Eis, und Ute verweigerte Küsse, ohne grundsätzlich zu werden. Anschließend hatten sie Jugendorchester, Heinz blies die erste Oboe. Sein Gesicht wurde schmal; er zog beim Blasen die Wangen ein, die Augen waren nun groß, mit tiefer Falte dazwischen, über den hochgezogenen Brauen krauste sich die Stirn im Schatten der schwarzen Strähne, die er sich nicht zurückstreichen konnte. Heinz spielte schwingend, sensibel, dann wieder blockflötenklar, der Ton seines Instruments drang in die Ritzen der staubigen Polster des düsteren Saales, in dem sie probten, und Ute in alle Poren. Sie reckte den Hals über ihr Zweite-Geige-Pult hinweg, starrte Heinz in sein anderes Gesicht, schämte sich ihres Herzklopfens, des Dranges, ihn nun zu umarmen …

Sie wußte, das würde mit Verklingen des Stückes vorbei sein. Wenn Heinz das Instrument absetzte und zu ihr kam, breit, mit nach außen gewendeten Füßen, würde sie steif werden, innen und außen, sachlich und freundlich von etwas anderem reden, und das Warten hätte sie wieder – wie in der Schule oder zu Hause, auch mit Berti und Mo –, nur beim Musikmachen konnte sie es vergessen und eben auf ihren Wegen, diesen stundenlangen, verworrenen Touren mit all den Gedichten und Liedern, den Träumen von Menschen, dem Menschen, den sie nicht kannte. Es ließ sich nicht verhindern, daß sie doch einmal ankam, ihr blieb, Geige zu üben, zu essen, zu schlafen, die Zeit totzuschlagen bis … ja, bis irgend etwas Großartiges passierte, wovon Ute nicht wußte, was es sein würde.

Schlimm war: Sie wartete nicht allein. Da lagen sie auf der Lauer – die Brüder, die Mutter, der Vater, der nichts davon sagte, nur seufzte. Ihre Frage war schlicht: Bekam Ute, die Schwester/Tochter mit den spitzen Knien, den sperrigen Haaren, der dicken Brille und dem mürrischen Zug um den Mund, »überhaupt einen ab«? Sie fragten es täglich – laut, leise, tuschelnd, deutlich oder ironisch verfremdet. Ute stellte sich dem, ohne Antwort zu geben. Sie machte sich einen Mann – für den Hausgebrauch. »Frivolin« nannte sie den und gestaltete ihn bei den sich stets wiederholenden Frage-Antwort-Geplänkeln zur kompletten Figur aus. Stehgeiger wurde er im Kurpark Wilhelmshöhe, hatte blondes, fettiges Haar, vorne rechts eine Zahnlücke und trug mit Vorliebe karierte Hosen. Sogar malen konnte sie ihn auf Verlangen, zeigte ihn bereitwillig vor, wann immer es ihr geraten erschien, um die Leere in sich zu schützen, dieses schillernde Nichts, in dem nur Heinz sich hin und wieder materialisierte. Sogar ein heimliches gemeinsames Kind schaffte sie an – ihre Lust an makabren Phantasien mischte sich mit dem Drang, von sich selber abzulenken. Nepomuk, dreibeinige Mißgeburt, Sohn des zahnlückigen Frivolin, wurde im Laufe der Jahre immer abscheulicher.

So blieb sie oben bei den Gesprächen am Tisch, denen oft eine prüde Zotigkeit anhaftete, in merkwürdigem Kontrast zur Berührungsangst in ihrer Familie. Die kleinen Brüder – an der Schwelle zur Vorpubertät – haßten »Weiber« und interessierten sich für alles, was »man damit machen kann«. Warteten gerade das Tischgebet ab, um sich danach, atemlos und mit vollem Mund, in ihr Lieblingsthema zu stürzen: »Ficken« und »Schwul sein«, »Onanieren« in Suppenschüsseln und Milchkannen, Männer, die in weißen Ziegen staken und »unehrliche Kinder« – ohne Scheu vor den Eltern wurden Vokabeln erprobt und das Prickeln, das sie zwischen den Beinen, in Rücken und Bauch auslösen konnten.

»Die Orgel durch die Kirche braust, der Onanist fickt durch die Faust«, wußte der Vater beizusteuern, während die Mutter lieber persönlich wurde: »Wer« von ihren Kindern bekam »wen ab« und – ganz speziell – »wen du, Ute?« Nur nicht stammeln, schweigen, rot werden! »Frivolin« war ja da und »Nepomuk« mit den drei Beinen, aber trotzdem war Ute froh, wenn – »gesegnete Mahlzeit!« – das Thema fallengelassen wurde.

… bis die Legende von Frivolin nicht mehr zu halten war; Frank hatte etwas gehört und fragte direkt: »Heißt der nicht Heinz, und du heiratest den?« – »Ach – einen Heinz hast du, das ist ja nett. Bring’ ihn doch einfach mal mit!« Die Mutter tat, als sei nichts dabei, stellte die schmutzigen Teller zusammen und lenkte dann mit der auffälligen Unauffälligkeit ungeübter Kupplerinnen das Gespräch auf Torstens Schulaufgaben.

»Bring’ ihn doch einfach mal mit …« Heinz redete meistens von Geld, roch nach Bier, und seine Hand, die auf Utes lag, schien die eines riesenhaften Babys – rosig und rund. Er war fett wie nie. Ute saß mit ihm am karierten Plastiktisch des »Venezia«, der Zehnplattenwechsler spielte »Moonlight«. Heinz blinzelte sie an aus den Spalten, die der Speck ihm gelassen hatte, rückte näher. Seine Hand bewegte sich ihren Arm hoch, Ute löffelte ihr Eis, eifrig, in winzigen Einheiten. »Bring’ ihn doch einfach mal mit …«! Sie würden durch Türspalten, Fenster und Schlüssellöcher sehen und kichernd wieder verschwinden, sie kämen ins Zimmer, beiläufig, vorübergehend, abwechselnd, unübersehbar zahlreich für jemanden, der sich nicht auskannte. Die Mutter hätte Gelegenheit, Proben ihres persönlichen Humors vorzustellen, etwa: »Wollen Sie noch ein Bier? Sie sehen so aus …« Und dann käme die entscheidende Frage, vorgebracht meistens von Frank in der halboffen pendelnden Tür, gedeckt durch zwei erwartungsvolle Augenpaare dahinter und durch die Möglichkeit zum sofortigen Rückzug: »Sach mal, willst du Ute heiraten?« oder gar: »Habt ihr schon mal gefickt?«

Kaum etwas blieb einem Freund/Verehrer erspart, der sich ins Haus ihrer Eltern und Geschwister hineinwagte. Beates Männer, die trotzdem kamen, führten es vor: was auszustehen, wie es zu überstehen war. Die spielten mit, fragten zurück, waren geistvoll, schlagfertig, wendig, selbstbewußt, weil hochbegabt. Und – wie Beate – irgendwie edel, überstrahlt von einem Glanz, den Heinz nicht hatte, es sei denn, er spielte Oboe.

Seine Hand war oben angekommen, streichelte Utes Hals. Sie schloß halb die Augen, sah ihn inmitten der kleinen Brüder, neben den Bernhards, Wolfgangs, den Dietern, die ihrer Schwester anhingen. Fand ihn aufgequollen ins nicht mehr Erträgliche, ein tumber Kloß, den Maßstäben nicht gewachsen. Sie würde ihn auch heute nicht küssen und am besten gar nicht mehr sehen …

 

So nahmen die leeren Zeiten zu Hause eher noch zu, die sie hilflos stopfte mit gestohlenen Plätzchen und Salzstangen, von denen sie gerne die viereckigen Salzkristalle abknabberte. Dabei schmökerte sie ziellos in zufällig dem Schrank entnommenen Büchern, blätterte stundenlang in Lexikonbänden, kramte gelangweilt in alten Familienphotos, die sie schon aus dem Gedächtnis hätte abzeichnen können. Einmal fiel ihr dabei etwas in die staubigen Finger, das sie überraschte:

»Besichtigung der Gasmaskenfabrik der Degea-AG in Oranienburg durch die Referendarsgemeinschaft 2 und 4 des Amtsgerichts Berlin am 10. Oktober 1934.«

Vor einem Klinkerbau posierte eine Gruppe von jungen alten Männern. Vorläufig waren sie schlank, die noch vollen Haare sauber gescheitelt und an die Köpfe geklebt. Unjunge Gesichter, aber glatt, wie eben gebügelt. Ute war, als hätte sie jeden einzelnen schon mal getroffen – auf der Straße, in der Klassenelternversammlung und andernorts, wo solide Endvierziger sich aufzuhalten pflegen. Heute wie damals mit Schlips, Mantel, Hut, weißem Hemd, geputzten Schuhen. Zwischen ihnen, in der ersten Reihe fast links, saß der Vater. Auch er sah sich selbst sehr ähnlich – trotzdem fiel er heraus, so verschüchtert, wie er wirkte in seinem viel zu großen Mantel. Er balancierte mit einem Bruchteil seiner Sitzfläche zwischen zwei ehemaligen Corpsstudenten auf der langen Bretterbank. Abwartend, scheu, ein bißchen unbehaglich – wie ein Tanzstundenherr beim ersten Eintreffen der Mädchen. Nur, daß er gerade Gasmasken besichtigt hatte. Unter der Aufsicht des blondgelockten Uniformierten, der die Gruppe rechts flankierte und alle überragte.

Ute wußte selbst nicht, warum sie das Photo dem Kasten entnahm und im Durcheinander ihrer persönlichen Papiere verschwinden ließ. Sie sah keinen Zusammenhang, als sie auf der Suche nach einem Wahlgebiet für das Abitur die Bücherregale ihrer großen Brüder durchstöberte und an einem dicken Taschenbuch mit schwarzem Hakenkreuz auf rotem Umschlag hängenblieb: »Justiz im Dritten Reich«. Ein Band, dessen trockener Stil sie ernüchterte, den sie aber mit einer Verbissenheit, wie sie sie bisher nur zum Geigeüben aufgebracht hatte, durcharbeitete. Gesetz zur Aufhebung des Berufsbeamtentums, Gesetz zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses, zur Rassenschande, in sich logische Texte von unerbittlicher Folgerichtigkeit, die das Grauen, das sie auslösen würden, hinter hölzerner Sachlichkeit verbargen. Was hatten sie mit ihr zu tun. Oder mit ihrem Vater?

Juristenausbildung. Einmal faßte sich Ute ein Herz und fragte den Vater, ob auch er am Referendarausbildungslager in Jüterbog teilgenommen habe. »Natürlich!« Das sei übrigens die Zeit gewesen, in der er und Mutti geheiratet hätten. Sie seien in Oswalds Haus am See gezogen, Brennholz im Wald, Wasser im Hof und die dicksten Tomaten in der Nachbarschaft habe er gehabt. Der Stolz, der von Anfang bis Ende in seiner Stimme mitschwang, ließ Ute erschrecken. Sie fragte nicht weiter.

 

Immerhin gab es Juden, die noch nach Jahrzehnten Briefe an ihn schrieben, dankbar, weil er ihnen das Leben gerettet hatte durch Freispruch, Verstecken, Hilfe zum Wechseln der Grenzen. Das erzählte er manchmal, und Ute bewahrte es gerne. Sie hätte sich infiziert gefühlt bei der Vorstellung, einen Nazi-Vater zu haben. Eine Krankheit war das gewesen, eine grauenvolle Epidemie, nicht mit anderen Jahren vergleichbar. Dieser Zeit war nicht beizukommen mit Zahlen, Tabellen, fettgedruckten Überschriften im Geschichtsbuch. Ute sagte sich das an dem Tag, als sie in der Schule die »Fünf« in »Faschismus« bekam. Sie hatte etwas gemurmelt von »Juden«, »furchtbar«, »vergasen«, war nicht auf die erwarteten drei Begriffe gekommen: »Deutschland erwache!«, »Volk ohne Raum« und »Blut und Boden«.

Erst auf dem Heimweg fiel die Scham von ihr ab: »Fünf« in »Faschismus« – na und? Was hatten sie denn damit zu tun, ihre Mutter, ihr Vater, ihre Geschwister? Vor allem sie selbst? Eine »Fünf« in »Faschismus« war keine Schande. Eher das Gegenteil.

 

Ihr Weltbild hatte zu knirschen begonnen, zeigte Risse, Lücken, von denen sie zunächst nicht wußte: Waren es vielleicht nur Kratzer auf ihrer eigenen Brille? Tage, vollgestopft mit Terminen, legten sich wie Kleister über die Scharten, dann wieder, zu leeren Zeiten, putzte Ute die Gläser, rieb sich die Augen, kniff sie zusammen, sah, obwohl sie’s nicht wollte, neue und tiefere Sprünge um sich herum.

»Ich bin schlecht – die Welt ist in Ordnung,

ich werde besser – die Welt nimmt mich an …«

Das stimmte so nicht. Ute stellte die Schuldfrage neu auf den langen Wegen, am Rande einer lehmigen Lastwagenspur mit dem Rad balancierend, sortierte, schied aus und fand endlich jemanden, den sie wagte, verantwortlich zu machen: Gott.

»Der Herr ist mein Licht und mein Heil,

vor wem sollte ich mich fürchten?«,

sangen sie im Schulchor zum Reformationstag. Fürchten? Vor wem? Da waren die Büsche zwischen Bahndamm und Weg, aus denen schon einmal jemand gekommen war, um ihr Gewalt anzutun, da war ihre Kinderangst vor den mächtigen Särgen im Fenster des »Sargmagazin Gobrecht«, vor dem sie oft auf den Bus warten mußte; diese Angst hatte sie zeitweise beinahe gelähmt: in einem solchen Sarg aufzuwachen.

»Nun hab’ ich doch die Rose aufgegessen,

die man mir in die starre Hand gegeben!

Daß ich noch einmal Rosen würde essen,

hab’ nimmer ich gedacht in meinem Leben …«

Lebendig begraben zu sein – vielleicht morgen schon: An hellen Tagen, in starken Stunden konnte sie darüber lachen – aber was war mit dem Schrei gewesen, der endlos und gellend nach dem Einschlag einer Granate zwischen zwei Zahnreihen hervordrang? »Fox tönende Wochenschau« hatte ihn wiedergegeben, vor der Räuberklamotte »Das Wirtshaus im Spessart«. Nur der Schrei war haftengeblieben, schrille Wirklichkeit inmitten der bunten Illusion. Ute wußte: Er brach nicht ab, zerschnitt die Alltagsgeräusche rund um die Welt. Sie übte sich im Vergessen, las keine Zeitung, ging aus dem Raum, wenn jemand am Radio kurbelte, um Nachrichten zu empfangen. Durch feiges Kneifen aus Angst vor neuen Herden der Angst – nur so verlor sich das Zittern in ihren Händen.

»Der Herr ist meines Lebens Kraft,

vor wem sollte mir grauen?«

… oder wovor? Was war mit den indischen Kindern, eben geboren, fast schon gestorben, mit hungergeblähten Trommelbäuchen, lebendig von Würmern zerfressen? Und – grausam absurd – dem Schokoladenpudding, den es heute wieder geben würde – sie mußte sich erbrechen, wenn sie daran dachte, die Klumpen, die Haut darauf, an das brunnentiefe, randvoll gehäufte Glasschälchen, in dem er wartete …

»So die Bösen, meine Widersacher und Feinde,

an mich wollen, mein Fleisch zu fressen,

müssen sie anlaufen und fallen.«

Utes Fleisch? Die drei Gramm auf den spitzen Knochen? Sie wußte nicht, wer danach gieren sollte. Hatte sie Feinde? Sie war den Leuten eher egal und die ihr. Vielleicht Jutta Bauer aus ihrer Klasse, die den Lehrern die Tasche trug? Ute verachtete sie, aber war sie ihr Feind?

»Ich habe Wut, ich habe Wut

auf das verdammte Rußland!«