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In ihrem Erfolgsroman erzählt Christa Wolf die Geschichte der Medea neu und entwirft das Porträt einer eigenwilligen, ungewöhnlichen Frau.
Als Frau des Argonauten Jason lebt Medea in Korinth, wohin sie ihm aus ihrer Heimat Kolchis gefolgt ist. Im königlichen Palast Korinths gerät sie in ein Spiel aus Verleumdungen, Intrigen und Lügen. Der Kampf um die Macht steht im Mittelpunkt, und Medea soll als Sündenbock geopfert werden. Die Medea der griechischen Tragödie, die Barbarin, Giftmischerin, die rachsüchtige Mörderin – hier wird diese Frauenfigur aus dem jahrtausendealten Mythos gelöst, das überkommene Bild revidiert.
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Seitenzahl: 253
Christa Wolf
Medea. Stimmen
Roman
Suhrkamp
Die Erstausgabe von Medea. Stimmen erschien 1996 im Luchterhand Literaturverlag.
Der Text, der dem 2001 erschienenen Band 11 der von Sonja Hilzinger herausgegebenen Werke in zwölf Bänden folgt, wurde für diese Ausgabe durchgesehen und korrigiert.
Umschlagfoto: Herlinde Koelbl/Agentur Focus
ebook Suhrkamp Verlag Berlin 2010
© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2008
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
www.suhrkamp.de
Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski
eISBN 978-3-518-74230-3
Achronie ist nicht das gleichgültige Nebeneinander, sondern eher ein Ineinander der Epochen nach dem Modell eines Stativs, eine Flucht sich verjüngender Strukturen. Man kann sie auseinanderziehen wie eine Ziehharmonika, dann ist es sehr weit von einem Ende zum anderen, man kann sie aber auch ineinanderstülpen wie die russischen Puppen, dann sind die Wände der Zeiten einander ganz nah. Die Leute aus den anderen Jahrhunderten hören unser Grammophon plärren, und wir sehen durch die Zeitwände hindurch, wie sie die Hände heben zum lecker bereiteten Mahle.
Elisabeth Lenk
Die Stimmen
medea
Kolcherin. Tochter des Königs Aietes und der Idya. Schwester der Chalkiope und des Absyrtos
jason
Argonaut, Schiffsführer der »Argo«
agameda
Kolcherin. Vormals Medeas Schülerin
akamas
Korinther. Erster Astronom des Königs Kreon
leukon
Korinther. Zweiter Astronom des Königs Kreon
glauke
Korintherin. Tochter des Königs Kreon und der Merope
Andere Personen
Kreon
König von Korinth
Merope
Königin von Korinth
Iphinoe
ihre ermordete Tochter
Turon
Korinther. Gehilfe des Akamas
Lyssa
Kolcherin. Ziehschwester und Gefährtin der Medea
Arinna
Lyssas Tochter
Kirke
Zauberin. Schwester von Medeas Mutter
Presbon
Kolcher. Veranstalter der Spiele in Korinth
Telamon
Gefährte des Jason. Argonaut
Phrixos
aus Jolkos, brachte das Vließ nach Kolchis
Pelias
Onkel des Jason in Jolkos
Cheiron
Erzieher des Jason in den thessalischen Bergen
Meidos, Pheres
Söhne der Medea und des Jason
Oistros
Bildhauer, Medeas Geliebter
Arethusa
aus Kreta, Medeas Freundin
Der Alte
aus Kreta, Arethusas Geliebter und Freund
Wir sprechen einen Namen aus und treten, da die Wände durchlässig sind, in ihre Zeit ein, erwünschte Begegnung, ohne zu zögern erwidert sie aus der Zeittiefe heraus unseren Blick. Kindsmörderin? Zum erstenmal dieser Zweifel. Ein spöttisches Achselzucken, ein Wegwenden, sie braucht unseren Zweifel nicht mehr, nicht unser Bemühen, ihr gerecht zu werden, sie geht. Uns voran? Von uns zurück? Die Fragen haben unterwegs ihren Sinn verloren. Wir haben sie auf den Weg geschickt, aus der Tiefe der Zeit kommt sie uns entgegen, wir lassen uns zurückfallen, vorbei an den Zeitaltern, die, so scheint es, nicht so deutlich zu uns sprechen wie das ihre. Irgendwann müssen wir uns begegnen.
Lassen wir uns zu den Alten hinab, holen sie uns ein? Gleichviel. Es genügt ein Händereichen. Leichthin wechseln sie zu uns über, fremde Gäste, uns gleich. Wir besitzen den Schlüssel, der alle Epochen aufschließt, manchmal benutzen wir ihn schamlos, werfen einen eiligen Blick durch den Türspalt, erpicht auf schnellfertige Urteile, doch sollte es auch möglich sein, uns schrittweis zu nähern, mit Scheu vor dem Tabu, gewillt, den Toten ihr Geheimnis nicht ohne Not zu entreißen. Das Eingeständnis unserer Not, damit müßten wir anfangen.
Die Jahrtausende schmelzen unter starkem Druck. Soll also der Druck bleiben. Müßige Frage. Falsche Fragen verunsichern die Gestalt, die sich aus dem Dunkel der Verkennung lösen will. Wir müssen sie warnen. Unsere Verkennung bildet ein geschlossenes System, nichts kann sie widerlegen. Oder müssen wir uns in das Innerste unserer Verkennung und Selbstverkennung hineinwagen, einfach gehen, miteinander, hintereinander, das Geräusch der einstürzenden Wände im Ohr. Neben uns, so hoffen wir, die Gestalt mit dem magischen Namen, in der die Zeiten sich treffen, schmerzhafter Vorgang. In der unsere Zeit uns trifft. Die wilde Frau.
Jetzt hören wir Stimmen.
Alles, was ich begangen habe bis jetzt, nenne ich Liebeswerk ... Medea bin ich jetzt, gewachsen ist meine Natur durch Leiden.
Seneca, ›Medea‹
Medea
Auch tote Götter regieren. Auch Unglückselige bangen um ihr Glück. Traumsprache. Vergangenheitssprache. Hilft mir heraus, herauf aus dem Schacht, weg von dem Geklirr in meinem Kopf, warum höre ich das Klirren von Waffen, kämpfen sie denn, wer kämpft, Mutter, meine Kolcher, höre ich ihre Kampfspiele in unserem Innenhof, oder wo bin ich, wird denn das Geklirr immer lauter. Durst. Ich muß aufwachen. Ich muß die Augen öffnen. Der Becher neben dem Lager. Kühles Wasser löscht nicht nur den Durst, es stillt auch den Lärm in meinem Kopf, das kenn ich doch. Da hast du neben mir gesessen, Mutter, und wenn ich den Kopf drehte, so wie jetzt, sah ich die Fensteröffnung, wie hier, wo bin ich, da war doch kein Feigenbaum, da stand doch mein geliebter Nußbaum. Hast du gewußt, daß man sich nach einem Baum sehnen kann, Mutter, ich war ein Kind, fast ein Kind, ich hatte zum erstenmal geblutet, aber ich war doch nicht deswegen krank, du hast doch nicht deswegen bei mir gesessen und mir die Zeit vertrieben, den Kräuterumschlag auf Brust und Stirn gewechselt, mir meine Hände dicht vor die Augen gehalten und mir die Linien in den Handflächen gezeigt, zuerst die linke, dann die rechte, wie verschieden, du hast mich gelehrt, sie zu lesen, oft habe ich mich ihrer Botschaft entzogen, habe die Hände zu Fäusten geballt, habe sie ineinander verschlungen, habe sie auf Wunden gelegt, habe sie zu der Göttin aufgehoben, habe das Wasser vom Brunnen getragen, das Leinen mit unseren Mustern gewebt, habe sie in den warmen Haaren der Kinder vergraben. Einmal, Mutter, in einer anderen Zeit, habe ich mit meinen beiden Händen zum Abschied deinen Kopf umspannt, seine Form ist als Abdruck in meinen Handflächen geblieben, auch Hände haben ein Gedächtnis. Jeden Flecken von Jasons Körper haben diese Hände abgetastet, erst heute nacht, aber ist denn jetzt Morgen, und welcher Tag.
Ruhig. Ganz ruhig, eins nach dem anderen. Besinn dich. Wo bist du. Ich bin in Korinth. Der Feigenbaum vor der Fensteröffnung der Lehmhütte war mir ein Trost, als sie mich aus dem Palast des Königs Kreon wiesen. Warum? Das kommt später. Ist das Fest vorüber, oder muß ich noch hingehen, wie ich es Jason schließlich zugesagt habe. Du kannst mich jetzt nicht im Stich lassen, Medea, von diesem Fest hängt viel ab. Nicht für mich, habe ich ihm gesagt, und das weißt du auch, aber meinetwegen, ich komme, habe ich zu ihm gesagt, aber das ist das letzte Mal. Du hast mir damals jene winzige Linie in der linken Hand mit dem Fingernagel nachgezogen, du hast mir gesagt, was es bedeuten würde, wenn sie irgendwann einmal die Lebenslinie kreuzte, du hast mich gut gekannt, Mutter, lebst du noch.
Sieh her. Da kreuzt diese winzige Linie, die sich vertieft hat, die andere. Paß auf, hast du gesagt, Hochmut läßt dein Inneres erkalten, mag ja sein, aber Schmerz, Mutter, Schmerz hinterläßt auch eine wüste Spur. Wem sage ich das. Wie dunkel es auch gewesen ist, als wir an Bord der »Argo« gingen, deine Augen habe ich gesehen und nicht vergessen können, ihr Blick brannte mir ein Wort ein, das ich vorher nicht kannte: Schuld.
Jetzt klirrt es wieder, es ist das Fieber, aber mir ist doch, als hätte ich an dieser Tafel gesessen, nicht gerade neben Jason, war das gestern, bleib hier, Mutter, woher kommt diese Müdigkeit, ich will nur noch ein wenig schlafen, gleich steh ich auf, ich ziehe das weiße Kleid an, das ich selbst gewebt und genäht habe, wie du es mir beigebracht hast, dann gehen wir wieder gemeinsam durch die Gänge unseres Palastes, und ich werde froh sein, wie ich es als Kind gewesen bin, wenn du mich an die Hand genommen und auf den Innenhof geführt hast, zu dem Brunnen in der Mitte, weißt du, daß ich nirgendwo einen schöneren angetroffen habe, und eine der Frauen zieht uns den Holzeimer hoch, und ich schöpfe das Quellwasser und trinke, trinke und werde gesund.
Es ist nämlich so: Entweder ich bin von Sinnen, oder ihre Stadt ist auf ein Verbrechen gegründet. Nein, glaub mir, ich bin ganz klar, mir ist ganz klar, was ich da sage oder denke, ich habe ja den Beweis gefunden, mit diesen Händen habe ich ihn betastet, ach, Hochmut ist es nicht, was mich jetzt bedroht. Ich bin ihr doch nachgegangen, der Frau, vielleicht wollte ich auch Jason eine Lehre erteilen, der geduldet hatte, daß man mich an das Ende der Tafel zwischen die Dienstleute setzte, richtig, das habe ich nicht geträumt, das war gestern. Jedenfalls sind es die höheren Dienstleute, hat er kläglich gesagt, mach keinen Skandal, Medea, nur heute nicht, ich bitte dich, du weißt, was auf dem Spiel steht, das Ansehen des Königs vor all den ausländischen Gästen. Ach Jason, streng dich nicht an. Er hat noch nicht begriffen, daß König Kreon mich nicht mehr kränken kann, aber darum geht es jetzt nicht, ich muß meinen Kopf frei haben. Ich muß mir versprechen, daß ich mit keiner Menschenseele jemals über meine Entdeckung reden werde, am liebsten würde ich es so machen, wie wir es als Kinder gemacht haben, Chalkiope und ich, weißt du das, Mutter, wir wickelten unser Geheimnis fest in ein Blatt ein und aßen es auf, indem wir uns unverwandt in die Augen blickten, unsere Kindheit, nein, das ganze Kolchis war voller dunkler Geheimnisse, und als ich hier ankam, als Flüchtling in König Kreons schimmernder Stadt Korinth, da dachte ich neidvoll: Diese hier haben keine Geheimnisse. Und das glauben sie auch selbst von sich, das macht sie so überzeugend, mit jedem Blick, mit jeder ihrer maßvollen Bewegungen schärfen sie dir ein: Es gibt einen Ort auf der Welt, da kann der Mensch glücklich sein, und spät erst ging mir auf, daß sie es dir sehr übelnehmen, wenn du ihnen ihr Glück bezweifelst. Aber darum geht es doch gar nicht, was ist nur mit meinem Kopf, daß er die Gedanken in ganzen Schwärmen losläßt, warum fällt es mir so schwer, den einen Gedanken aus dem Schwarm herauszufischen, den ich brauche.
Ich hatte das Glück, daß ich an der Tafel des Königs zwischen meinen Freund Leukon, den zweiten Astronomen des Königs, und Telamon zu sitzen kam, den kennst du auch, Mutter, es war derjenige der Argonauten, der zusammen mit Jason in unseren Palast kam, nachdem sie an der Küste von Kolchis gelandet waren, ich mußte mich also nicht langweilen beim Festmahl, denn Leukon ist ein kluger Mann, mit dem ich gerne rede, es ist eine Sympathie zwischen uns, und Telamon, ein wenig ungefüge, aber mir treu ergeben seit jenem ersten Nachmittag in Kolchis vor so vielen Jahren, die ich kaum zählen kann, er versucht, in meiner Gegenwart besonders witzig, auch besonders obszön zu sein, wir hatten zu lachen, und ich, entschlossen, den König von meinem minderen Platz aus zu strafen, legte das Benehmen einer Königstochter an den Tag, die ich allerdings auch bin, nicht wahr Mutter, die Tochter einer großen Königin. Es fiel mir nicht schwer, Aufmerksamkeit zu erregen und Respekt einzufordern, selbst von den fremden Gesandten aus Libyen und von den Inseln im Mittelmeer, Telamon spielte mit, wir brachten den armen Jason in die Klemme, hin und her gerissen zwischen der Botmäßigkeit gegenüber einem König, von dem wir allerdings abhängen, und seiner Eifersucht, trank er mir verstohlen zu und beschwor mich mit Blicken, meinen Übermut nicht zu weit zu treiben, aber wenn der König zu einer seiner Tiraden ansetzte, mußte er an seinen Lippen hängen. An unserem Tischende war es lustig, jetzt fällt mir alles wieder ein. Wie die beiden Männer an meiner Seite sich um mich zu streiten begannen, wie Leukon, der große, schlanke, etwas ungelenke Mensch mit dem ovalen Schädel, der wohl Spaß versteht, selbst aber keinen Spaß machen kann, dem hünenhaften, blondlockigen Telamon ernstlich meine Fähigkeiten als Heilerin anzupreisen begann, wie Telamon darauf lauthals von meinen körperlichen Vorzügen schwärmte, die braune Haut, sagte er, das Wollhaar, das wir Kolcher alle haben und das Jason gleich für mich eingenommen habe, ihn übrigens auch, aber was sei er schon gegen Jason, er wurde sentimental, wie die starken Männer es leicht werden, meine Glutaugen, sagte er, du kennst ihn ja, Mutter, immer, wenn ich ihn sehe, fällt mir ein, wie du, als er bei uns in der Tür stand, die Hand vor den Mund geschlagen und wie im Schreck Oi! gerufen hast, anerkennend, wenn ich nicht irre, und wie deine Augen dabei funkelten, und wie ich merkte, daß du noch keine alte Frau warst, und ich unwillkürlich an den sauertöpfischen, mißtrauischen Vater denken mußte. Ach, Mutter. Ich bin keine junge Frau mehr, aber wild noch immer, das sagen die Korinther, für die ist eine Frau wild, wenn sie auf ihrem Kopf besteht. Die Frauen der Korinther kommen mir vor wie sorgfältig gezähmte Haustiere, sie starren mich an wie eine fremde Erscheinung, wir drei Vergnügten an unserem Tafelende zogen alle Blicke auf uns, all die neidvollen und empörten Blicke der Hofgesellschaft und die flehenden des armen Jason, nun ja.
Warum bin ich der Frau nachgegangen, der Königin, die ich, solange ich in dieser Stadt Korinth bin, kaum je zu Gesicht bekommen habe. Eingesponnen in ein dichtes Netz schauerlicher Gerüchte, zuverlässig verborgen hinter ihrer Unnahbarkeit, verbringt sie ihre Tage und Nächte im entlegensten, ältesten Teil des Palastes, in dickwandigen Kammern, die lichtarmen Höhlen gleichen sollen, eher eine Gefangene als eine Herrscherin, bedient und bewacht von zwei seltsam urtümlichen Weibern, die ihr aber auf ihre Weise treu ergeben sein sollen, ich glaube, sie kennt meinen Namen nicht, und ich hatte keinen Gedanken verschwendet an die unglückliche Königin eines Landes, das mir fremd geblieben ist und immer fremd bleiben wird. Wie mein Kopf mich schmerzt, Mutter, etwas in mir wehrt sich dagegen, noch einmal in diese Höhlen hinunterzusteigen, in die Unterwelt, in den Hades, wo gestorben und wiedergeboren wird seit alters her, wo aus dem Humus der Toten Lebendiges gebacken wird, zu den Müttern also, zur Todesgöttin, zurück. Aber was heißt da vorwärts, was zurück. Das Fieber steigt, ich mußte es tun. Ich habe diese Frau an Kreons Seite zum erstenmal gesehen, Mutter, mit jenem Zweiten Blick, den du an mir bemerkt hast. Ich wehrte mich bis zum äußersten, bei diesem jungen Priester in die Lehre zu gehen, lieber wurde ich krank. Jetzt erinnere ich mich, das war die Krankheit, während der du mir meine Handlinien zeigtest, der Priester hat später scheußliche Verbrechen begangen, er war nicht normal, da sagtest du, das Kind hat den Zweiten Blick. Er ist mir hier fast abhanden gekommen, manchmal denke ich, die krankhafte Furcht der Korinther vor dem, was sie meine Zauberkräfte nennen, hat mir diese Fähigkeit ausgetrieben.
So erschrak ich, als ich die Königin Merope sah. Daß sie wortlos neben König Kreon saß, daß sie ihn zu hassen, er sie zu fürchten schien, das konnte jeder sehen, der Augen im Kopf hatte. Ich meine etwas anderes. Ich meine, daß es auf einmal ganz still wurde. Daß jenes Flimmern vor meinen Augen erschien, das dem Zweiten Gesicht vorausgeht. Daß ich in dem riesigen Saal mit dieser Frau allein war. Da sah ich sie, ihre Aura fast vollständig verdunkelt von unstillbarem Leid, so daß mich ein Entsetzen erfaßte und ich ihr nachgehen mußte, als sie, kaum war das Mahl beendet, aufstand und ohne ein erklärendes Wort, ohne einen Gruß wenigstens für die fremden Kaufleute und Gesandten, steif in ihrem golddurchwirkten Festkleid hinausging und den König zwang, ihre Ungehörigkeit zu überspielen durch schnelleres Reden, lauteres Lachen. Von Herzen gönnte ich ihm seine Niederlage. Er muß diese Frau gezwungen haben, all diesen neugierigen eitlen Leuten ihr zerstörtes Gesicht hinzuhalten, wie mich Jason dazu gebracht hat, ihnen eine Komödie vorzuspielen. Jetzt war es genug. Wir gingen, beide aus dem gleichen Grund: Stolz. Das habe ich nie vergessen, daß du mir einmal gesagt hast, wenn sie mich umbringen würden, meinen Stolz müßten sie noch extra erschlagen. So ist es geblieben, und so soll es bleiben, und es wäre gut für meinen armen Jason, wenn er das rechtzeitig erkennen würde.
Ich folgte der Frau. Der Gang, der zum Festsaal führt, wie oft bin ich ihn gegangen, als Jasons, des königlichen Neffen und Gastfreunds geachtete Frau, an seiner Seite, in Zeiten, die mir glücklich erschienen. Wie habe ich mich so täuschen können, aber nichts täuscht sicherer als Glück, und es gibt keinen Platz, der die Schärfe der Wahrnehmung so trübt wie der Platz im Gefolge des Königs. Merope war wie vom Erdboden verschluckt, es mußte einen Ausschlupf geben, ich suchte und fand ihn hinter Fellen versteckt, ich nahm eine der Fackeln aus ihrer Halterung und schlüpfte in den Gang, der bald so niedrig wurde, daß ich nur noch gebückt gehen konnte, oder habe ich das geträumt, das düstere Kellergewölbe, des Königs herrlicher lichter Palast als sein eigenes Gegenbild noch einmal in die Tiefe, ins Finstere gebaut. Die Steintreppen, Stockwerk um Stockwerk hinunter, das muß ich geträumt haben, aber die Kälte, die habe ich doch nicht geträumt, ich schlottere ja immer noch, und die Schärfe der Steine, die mir die Haut ritzten, woher sonst wären meine Arme so voller verschorfter Kratzer, und dann im letzten, tiefsten Grund, in jenem Keller, in dem sich sogar in diesem trockenen Land Wasser sammelt, der Einstieg in das Höhlengewirr, zwei Stufen nehmen und dann bäuchlings hinein, und weiterkriechen, die Fackel schützend, die nur noch flackert, nicht mehr an Merope denken, die mir voraus sein mochte oder nicht, an nichts und niemanden mehr denken, weitermüssen, immer weiter, die Höhle, zu der der Gang sich schließlich erweiterte, war mir traumbekannt, oder woher wußte ich, daß hier der Weg sich gabelte, woher wußte ich, daß ich mich links zu halten hatte, daß bald meine Fackel erlöschen würde. Sie erlosch. Dann war der Gang so eng, daß ich rückwärts hätte kriechen müssen, um hinauszukommen, mußte also weiter, wissend, es könnte mein Verderben sein, immer wieder verirrt sich jemand in unterirdischen Höhlen und kommt darin um, will ich umkommen, die Frage hat mich gestreift, ich habe den Mund verzogen und bin weitergekrochen, dann leckte ich von den Wänden sickernde Feuchtigkeit, ein geschmackloses Naß, dann spürte ich, daß die Zusammensetzung der Luft sich veränderte, dann sträubte sich mir das Haar, noch ehe ich den Ton hörte. Dann hörte ich den Ton. Er hielt länger an, als ein Mensch Atem hat, ein kaum hörbares, doch durchdringendes Winseln, das konnte auch ein Tier sein, aber es war kein Tier.
Es war die Frau. Es war Merope. Ich wollte zurück, nur noch zurück, und schob mich Stück für Stück vorwärts. Der Ton brach ab, der Hammer in meiner Brust überdröhnte jeden anderen Laut, das tut er auch jetzt, hämmert bis in die Schläfen, dann sah ich, als meine Augen in der Finsternis die Richtung gefunden hatten, im matten Schein ihres Öllämpchens die Königin sitzen, steil aufgerichtet an die Felswand gelehnt, die Augen unverwandt auf einen gegenüberliegenden Punkt geheftet. Klatschnaß vor Schweiß war ich in dieser Eiseskälte, ich stank vor Grauen, das war mir noch nie passiert, in mir regte sich etwas, das ich unter Verschluß gehalten und fast vergessen hatte, etwas Lebendiges in dieser Totengruft. Das war kein Spiel mehr. Wie eitel war die ganze Aufführung an der Königstafel gewesen, wie eitel auch mein Gehabe. Weiß ich doch lange: In dem großen Getriebe spielt auch der seine Rolle, der es verhöhnt, zwar ließ ich mich kaum noch darauf ein, das ist wahr, aber trieb mich nicht doch eine Spur von Gefallsucht auf des Königs Fest, anstatt mich zu verweigern, wie Merope es tat, die mich bis hierher geführt hatte, ans Ende der Unterwelt, wo mich nach dem Grauen die Panik überfiel, denn da kroch in unheimlicher Stille etwas heran, vor dem ich mich verbergen mußte, aber da war kein Spalt, keine Ritze im Fels. Was da heranschlich, hatte gelernt, sich lautlos zu bewegen und nicht einmal einen Luftzug zu verursachen, besser noch, als ich es kann, denn du hast mir sehr früh diese Art der Bewegung beigebracht, Mutter, die aus winzigen Nichtbewegungen besteht, und auch mit der Mauer zu verschmelzen hast du mich gelehrt – ich brauche das in meines Vaters Palast, sagtest du, ehe ich verstand, warum –, ebenso wie das Atmen, das jeden Hauch zurückhält, der sonst von eines Menschen Körper ausgeht, es war alles noch da, übernahm von selbst den Befehl und verhinderte, daß ich laut schlotterte vor dem Wesen, das, Schatten eines Schattens, sich zu der Frau heranschob, ihr ein Wort zuflüsterte, ihr das verlöschende Lämpchen aus der Hand nahm, worauf die sich hinter dem Weib, das ich nun erahnte, herziehen ließ und beide, da die Höhle sich verengte, auf die Knie hinunter mußten, eine Bewegung, die ich ihnen unwillkürlich nachmachte. Ich ging in die Knie, ob aus Schwäche oder aus Dankbarkeit gegen eine Gottheit, die mich noch einmal hatte davonkommen lassen. Oder aus Todesfurcht.
Ich wartete, bis die Frauen außer Hörweite waren, dann fing ich an, mich an den Wänden der Höhle entlangzutasten. Ich mußte das Geheimnis dieser Königin kennen. In vollkommener Finsternis fanden meine Fingerspitzen, wonach sie wohl gesucht hatten, Einkratzungen, die nicht die Natur dem Stein zugefügt hat, Schabungen, mit Instrumenten ausgeführt, die ich von Kolchis her kenne, Linien, die ich verfolgen konnte, bis sie sich zu Zeichen zusammensetzten, zu Figuren, die man hier in Korinth, das wußte ich, in den Höhlengräbern hochgestellter Toter anbringt. Das kam meinem Verdacht entgegen, den ich noch nicht hätte ausdrücken können. An der Stelle, an der Merope gehockt hatte, ließ ich mich auf alle viere nieder und kroch hinüber zu der Wand, auf die die Königin gestarrt hatte, ertastete mit widerstrebenden Fingern die tiefe Einbuchtung im Stein und fand, wovor ich mich gefürchtet hatte, stieß einen Schrei aus, der in dem Höhlensystem widerhallte. Dann kehrte ich um. Ich hatte erfahren, was ich wissen wollte, versprach mir, es so schnell wie möglich zu vergessen, und kann seitdem an nichts anderes denken als an diesen schmalen kindlichen Totenschädel, diese feinknochigen Schulterblätter, diese zerbrechliche Wirbelsäule, ach.
Die Stadt ist auf eine Untat gegründet.
Wer dieses Geheimnis preisgibt, ist verloren. Den Schock habe ich zur Umkehr gebraucht. Weg von den spöttisch herabgezogenen Mundwinkeln an der Königstafel, das ist klar. Aber wohin. Da wüßtest auch du mir keinen Rat, Mutter, da kann ich meine Handlinien befragen, wie ich will, klare Linien, nun gut, aber was heißt das, heute und hier. Die Krankheit, wie sie mich auch durchschüttelt, will mir eine Atempause verschaffen, ich kenne den geheimen Sinn der Krankheiten, doch weiß ich ihn bei anderen besser zur Heilung zu nutzen als bei mir selbst. Halb willentlich überlasse ich mich dem Fieber, das steigt und mich auf einer heißen Woge wegspült, das mir Bilder zuträgt, Fetzen von Bildern, Gesichter.
Jason. Habe ich mich ihm verraten? Nein. Obwohl es einen Augenblick gab, einen flüchtigen, verführerischen Augenblick, aber ich schwieg. Doch, ja, ich schwieg. Jason wartete ja auf mich, das hatte ich nicht einberechnet, immer noch kenne ich ihn nicht ganz, habe versäumt, ihn ganz zu kennen, weil es mir nicht mehr wichtig war, gefährliche Bequemlichkeit. Anstatt alles daranzusetzen, jede seiner Regungen vorauszusehen, leistete ich mir den Luxus der Gleichgültigkeit, sonst hätte ich wissen können, daß jene Mischung aus Triumph und Demütigung, die er an der Festtafel des Königs erfahren hatte, seine Begierde so steigern mußte, daß nur ich sie stillen kann, keines der Mädchen im Palast, die ihm gerne zu Willen sind.
Erschöpft, schmutzig schleppte ich mich nach Hause, zu dem Lehmhäuschen, das mit dem Rücken an der Palastmauer klebt wie ein Vogelnest und von dem Feigenbaum überwölbt wird, in dessen lichtes Laub ich von meinem Lager aus sehe. Lyssas Blick warnte mich, ihre Lippenbewegung deutete mir an, wer hinter dem Türvorhang im Nebenraum auf mich wartete, Hände und Gesicht konnte ich mir rasch noch abspülen, ein sauberes Hemd statt des verdreckten zerrissenen Kleides überwerfen, ehe Jason nach mir rief. Mit nichts täuschen wir die Menschen mehr, als wenn wir unser gewöhnliches Verhalten an den Tag legen, also mußte ich Jasons Zeug, das er wie immer einfach hatte fallen lassen, wie immer beiseite schieben und meinen Fuß dabei unter dem langen, losen Hemd hervorstrecken, mit jener anmutigen Bewegung, die sich bewußt ist, daß Jason die Füße der Frauen mag, aber keine habe so schöne Füße wie ich, das sagte er wieder, und ich wollte Zeit gewinnen und fragte ihn, ob er sich erinnere, wann er meine Füße zum erstenmal in seine Hände genommen habe, und er, selbstgewiß, erwiderte: Dumme Frage. Komm. So spricht der Mann jetzt mit mir, es macht mir nichts mehr aus, daß er mich mit seinen anderen Frauen verwechselt. Ich sagte, zuerst solle er mir antworten. Bestimmte Dinge vergißt ein Mann doch nicht, sagte er und gab mir ein Beispiel seiner Fähigkeit zu vergessen.
In Kolchis sei es gewesen, an jenem Palisadenzaun hätten wir gesessen, der den inneren Palasthof gegen den äußeren abgrenzt, Nacht sei es gewesen,Vollmond, daran erinnere er sich genau. Du trugst ein Hemd wie dieses, sagte er, ich hatte eine so feine Weberei noch nie gesehen, hinter dem Zaun sangen die Wachen eure schrecklichen Gesänge, die einem aufs Gemüt schlagen. Jetzt erinnerte auch ich mich, auch mir griffen die langgezogenen schwermütigen Lieder unserer jungen Soldaten ans Herz, nicht aus dem gleichen Grund wie ihm. Du hast mir versprochen, sagte Jason, mir zu diesem verdammten Vließ zu verhelfen, das Sinn und Zweck unserer langen Reise war, und ich, nun ja, da du es wissen willst, ich nahm deinen Fuß in meine Hände. Komm jetzt.
Ich staunte, auch über mich. Er kann mir immer noch weh tun, Mutter, das muß aufhören. Dabei hätte mir klar sein müssen, daß auch er sich nur einen einzigen Grund dafür denken konnte, daß ich ihm gegen den eigenen Vater half: Ich mußte ihm, Jason, unrettbar verfallen sein. So sehen sie es alle, die Korinther sowieso; für die erklärt und entschuldigt die Liebe der Frauen zu einem Mann alles. Aber auch unsere Kolcher, die mit mir gegangen sind, haben in Jason und mir von Anfang an ein Paar gesehen, es will ihnen nicht in den Schädel, daß ich in meines Vaters Haus nicht mit einem Mann schlafen konnte, der ihn betrog. Mit meiner Hilfe betrog, Mutter, ja, ja doch, das war doch die Grausamkeit meiner Lage, die mich zerriß, daß ich keinen Schritt machen konnte, der nicht falsch war, keine Handlung, die nicht etwas, was mir teuer war, verriet. Ich weiß, wie die Kolcher mich nach meiner Flucht genannt haben müssen, dafür hat schon der Vater gesorgt: Verräterin. Das Wort brennt mich noch immer. Es brannte mich in jener Nacht auf der »Argo«, einer der ersten Nächte nach unserer Flucht, die Flotte der Kolcher, die uns verfolgte, hatte von uns abgelassen, ich hockte auf einer Taurolle an der Bordwand, es war Neumond, ein ungeheurer Sternenhimmel, weißt du noch, hätte ich Jason fragen können, wie von einer Hand gestreut fielen die Sternschnuppen ins Meer, die See war ruhig, leise schlugen die Wellen an die Bordwand, leise und regelmäßig ruderten die Argonauten, die Ruderdienst hatten, das Schiff schaukelte kaum, es war eine laue Nacht. Als du kamst, Jason, könnte ich ihm sagen, warst du ein dunkler Schatten gegen den Sternenhimmel, du hattest eine gute Stunde, du sagtest das Richtige im richtigen Ton, du tatest das Richtige auf die richtige Weise, du mildertest meinen Schmerz, den du nicht kanntest und den ich für unstillbar hielt. Du nahmst, wie um sie zu wärmen, meine Füße in deine Hände.
Unsinn, hätte Jason gesagt, so schwieg ich. Er sagte: Wir wollen nicht streiten, Medea. Nicht heute nacht. Komm. Die Stimme. Noch einmal das Signal, dem etwas in mir entspricht, noch einmal überließ ich ihm nicht nur meinen Fuß, jeden Flecken meines Körpers, auf den er zu antworten weiß wie kein Mann sonst. Zu antworten wußte, schien es. Jason? Langes Schweigen. Das kannte ich schon. Jetzt würde er Schuldige suchen. Das kommt, sagte er anklagend, weil du mich betrügst. Oder wohin bist du so schnell verschwunden bei dem Festmahl, mit wem hast du dich amüsiert. Darauf mußte ich nicht antworten, das machte ihn böse. Früher, sagte er, wäre dir das nicht passiert. Früher hast du mir Kraft gegeben, alle Kräfte, die ich brauchte. Was er sagte, war wahr, ich stand auf, tauchte Gesicht und Arme in das Wasser, das ich am Morgen von der Quelle geholt hatte. Früher, sagte ich zu Jason, früher hast du an mich geglaubt. Und an dich.
Immer hast du ein Widerwort, sagte Jason, immer weißt du alles besser, wann wirst du zugeben, daß deine Zeit vorbei ist. Jetzt, sagte ich, selbst überrascht, jetzt gebe ich es zu, aber was nützt es dir. Da preßte er seinen Kopf zwischen seine Hände und gab ein Stöhnen von sich, das ich von ihm noch nicht gehört hatte. Denk doch nicht, sagte er, denk doch bloß nicht, mir macht es Spaß, wenn auch du nicht weiterweißt. Das war ein Eingeständnis, das ich von ihm nicht erwartet hätte. Ich setzte mich zu ihm aufs Lager, löste ihm die Hände von den Schläfen, strich ihm über Stirn, Wangen, Schultern, die verletzliche Mulde über seinen Schlüsselbeinen, komm, sagte er bittend, ich legte mich zu ihm, ich kenne seinen Körper, weiß seine Lust aufzustacheln, hinter geschlossenen Lidern überließ er sich seinen Phantasien, an denen er mich nie teilnehmen ließ. Ja, ja, ja, Medea, das ist es. Ihm gelang, was ich ihm wünschte, mit seinem ganzen Gewicht fiel er auf mich, grub sein Gesicht zwischen meine Brüste und weinte, lange. Nie vorher sah ich ihn weinen. Dann stand er auf, tauchte sein Gesicht in die Wasserschüssel auf der Truhe, schüttelte den Kopf wie ein Stier, der einen Schlag vor die Stirn bekommen hat, und ging, ohne sich noch einmal nach mir umzuwenden.
Dafür werde ich zahlen müssen. Immer muß die Frau dafür zahlen, wenn sie in Korinth einen Mann schwach sieht.
Und zu Hause? In Kolchis? Täusche ich mich selbst, wenn ich innerlich darauf bestehe, da ist es anders gewesen? Merkwürdig, wie ich mich neuerdings darin übe, die Erinnerung an Kolchis wieder heraufzurufen, sie mit Farben aufzufüllen, als wollte ich dem Schwinden von Kolchis in mir nicht einfach zusehen. Oder als brauchte ich es, ich weiß noch nicht, wozu.
Ich ging zu Lyssa, sie schlief nicht. Nebenan, durch den Türvorhang, hörte ich den Atem der Kinder. Ich wünschte mir, Lyssa würde mich fragen, wo ich gewesen sei, aber sie fragt niemals. Unter allen Lebewesen ist sie diejenige, von der ich nicht einen Tag lang