Meer als Alles. - Udo Schroeter - E-Book

Meer als Alles. E-Book

Udo Schroeter

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Beschreibung

Erfolg im Job? Solide Partnerschaft? Ein Jahresurlaub? Alles erreicht! Aber ist das wirklich schon alles? Immer mehr Menschen fühlen sich als Fremde im eigenen Leben. Wer bist du wirklich? Welches Wort steht auf der Visitenkarte deines Lebens? Was ist deine Bestimmung im Leben? Udo Schroeter löst auch mit seinem dritten Buch viele Fragen aus und nimmt Sinnsucher jeden Alters mit auf eine Reise nach persönlichen Antworten auf diese existenziellen Fragen. Der Held seiner Geschichte, Angelführer Leif, gibt kluge Antworten auf die großen Herausforderungen des Lebens. Fünf erfüllte Tage verbringt er mit dem Sinnsucher Daniel am Meer und hilft ihm dabei, alte Schmerzen aus der Vergangenheit und Sorgen um die Zukunft loszulassen. Daniel erfährt aufs Neue: Das Leben ist hier und es ist jetzt. Es kommt darauf an, seine Bestimmung zu erkennen. Die Erzählung ist die Fortsetzung des Erfolgsbuches 'Bin am Meer' und steht doch als Geschichte völlig eigenständig.

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Seitenzahl: 179

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Inhalt

Die Anreise

Der erste Tag: Der Kreis und die Flasche

Der zweite Tag: Die Welt der Wunden und Ängste

Der dritte Tag: Visitenkarten des Lebens

Der vierte Tag: Kinder brauchen Rückenwind

Der fünfte Tag: Der Abschied

Nach der Reise

Kleiner Reiseführer

Bildteil

Mit einem herzlichen Dank an Rita Makkannaw für mein Wort auf der Visitenkarte meines Lebens

Es war ein warmer, ruhiger Oktobertag, als ich die kleine Insel mitten im Meer erreichte. Die Fähre hielt sich an ihren Fahrplan und das war durchaus nicht immer selbstverständlich.

Als ich vom Oberdeck aus auf den verschlafenen Hafen vor mir schaute, pfiff ich fröhlich die Melodie von Message in a Bottle vor mich hin. Ich freute mich nahezu unbeschreiblich auf die gemeinsame Woche mit Leif. Immerhin waren seit unserer letzten Begegnung zwölf Jahre ins Land gegangen. Zwölf Jahre, in denen viel passiert war in unser beider Leben und in denen der alte Mann keine Angelguidings angenommen hatte.

Stattdessen war Leif um die Welt gereist, hatte Wale in Südafrika, Alaska und Norwegen beobachtet, war den Südteil des Wanderweges GR 20 auf Korsika gegangen und hatte zwei Bücher geschrieben.

Und ich – ich war in dieser Zeit bei mir selbst angekommen.

Nach der Ankunft der Fähre fuhr ich über die enge Küstenstraße zu unserem vereinbarten Treffpunkt, einem alten Leuchtturm an der Südostspitze der Insel. Zu dem ruhigen Wetter gesellten sich angenehme Temperaturen und ich öffnete die Seitenscheibe bis zum Anschlag und ließ mir den warmen Fahrtwind ins Gesicht wehen.

Solch ein mildes Herbstklima war auf der Insel durchaus nichts Außergewöhnliches. Durch die hohen Temperaturen im Sommer wurde das Meer stark aufgeheizt und wirkte wie ein riesiger Wärmespeicher. Und diese Wärme gab es nur widerwillig wieder her.

Der Leuchtturm war schon von Weitem zu sehen. Seine strahlend weißen Aufbauten ragten aus den weitflächigen Kiefernwäldern empor. Sogar das Leuchtturmlicht war bereits angeschaltet und im Fünfsekundentakt erstrahlte für einen kurzen Augenblick der Lichtkegel über dem Wald und verschwand dann im nächsten Moment wieder über dem Meer.

Der Leuchtturm gehörte zu den wenigen auf der Insel, die den Schiffen tatsächlich noch den Weg über das Meer wiesen. Moderne Navigationsgeräte und ein Himmel voller Satelliten hatten in den letzten zwei Jahrzehnten einem Leuchtturm nach dem anderen den Garaus gemacht. Kaum vorstellbar, dass hier noch vor rund dreihundert Jahren Strandpiraten mit einem simplen Strandfeuer Schiffe in die Irre geführt hatten, damit sie sie dann in Ruhe ausplündern konnten.

Vor dem Leuchtturm lag ein kleiner Hafen. Im Sommer strömten die vielen Touristen hinaus auf die Hafenmolen. Sie beobachteten neugierig das behäbige Treiben der Fischer und sogen eine Prise Hafenduft in ihre Städternasen, die typische Mixtur aus schwerem Dieselöl, Meersalz, Möwenkot und Essenzen vom Dorsch. Am Abend kamen die Touristen noch einmal ans Meer, um in sich versunken den Sonnenuntergang zu bestaunen. Dann mischten sich auch Gerüche von Deorollern, schweren Parfüms und Haarsprays unter den Hafenduft.

Doch jetzt, in der Nachsaison, gehörte der Hafen wieder allein den Fischern. Endlich mussten sie sich keine Antworten auf die Fragen der Touristen mehr abringen, weder zu ihren Fängen noch zu den Fischen oder zum Lieblingsthema der Molengänger: dem Wetter.

Die Touristen hatten für ihre Urlaubstage hier viel Geld bezahlt, und als sei das schon Legitimation genug, haderten sie mit jedem heranziehenden Tiefdruckgebiet, das vollgepumpt war mit Regen, Wind und wenig freundlichen Temperaturen. Sie stritten mit der Realität und hofften wohl, den Fischern mit ihren bohrenden Fragen anderes Wetter abtrotzen zu können.

Die hatten aber, im Gegensatz zu den vielen Molengängern, eines in ihrem langen Leben am Meer gelernt: Mit dem Wetter hadert man nicht, man gibt sich ihm hin. Der Wind, die Lufttemperatur, die Strömungen, die Wasserstände, die Gezeiten, die Seenebel, der Wellengang, die Wassertemperaturen, der Sonnenschein, die Wolken – alles unterlag einem ständigen Wandel und nach einem stürmischen, regnerischen Tag konnte schon am nächsten die Sonne wieder von einem wolkenlosen Himmel scheinen.

Übrigens kämen die Fischer auch niemals auf die Idee, die Beurteilung eines Urlaubes in erster Linie vom Wetter abhängig zu machen. Dieses Verhalten war allein den Molengängern zu eigen.

Jetzt, im Herbst, fanden die Fischer wieder zu ihrem üblichen Nachsaison-Tagesgeschäft: dasitzen, schweigen und mit einer gut gekühlten Flasche Bier in der Hand aufs Meer blicken. Das Leben eines Fischers schien zu dieser Jahreszeit die perfekte Verkörperung der Leichtigkeit des Seins … wären da nicht die täglichen Bierflaschen zwei, drei, vier und fünf gewesen. Viele der Männer kämpften längst nicht mehr mit dem Meer und mit schwindenden Fischbeständen, sondern mit ihrer Alkoholsucht.

Aus stolzen Männern waren in sich gekehrte Zeitgenossen geworden, denen man ihre Perspektivlosigkeit an den Gesichtern ablesen konnte. Sie hatten keine richtige Aufgabe mehr und in diesen Lebenszustand hatten sie sich auch selbst gefischt. Geblieben waren nur ihre alten Geschichten.

Als ich den Parkplatz vor dem Leuchtturm erreichte, saß Leif auf der Ladefläche seines Landrovers, die Füße auf der Stoßstange abgestellt. Es gab dieses Auto also immer noch! Unglaublich, schließlich war es schon damals, auf meiner ersten Reise, ziemlich alt gewesen. Wahrscheinlich lagen auch die Van-Morrison-Kassetten immer noch im Handschuhfach …

Ich war glücklich und dankbar, den alten Mann endlich wiederzusehen, und mir war in diesem Augenblick sehr bewusst, dass dies vermutlich unsere letzte gemeinsame Zeit sein würde. Leif hatte bei unserem letzten Gespräch bereits angedeutet, dass seine Kräfte schwanden. Und wirklich war es ganz eindeutig: Die vergangenen Jahre waren nicht spurlos an Leif vorübergegangen. Aus einem alten Mann war ein noch älterer Mann geworden. In jüngeren Jahren hinterlässt die Zeit oft noch nicht so deutliche Spuren, doch bei Leif sah man die letzten zwölf Jahre gewaltig. Sein Gesicht war gegerbt von den unzähligen Stunden in Wind und Wetter. Unter dem Stetson schauten ein paar längere hellgraue Haarsträhnen hervor, und bevor wir uns in die Arme fielen, hob Leif für einen kurzen Moment zur Begrüßung den Hut vom Kopf.

Wir hielten uns fest und schauten uns tief in die Augen, und jeder sah, wie sich beim anderen ein paar Freudentränen ihren Weg von innen nach außen bahnten.

„Willkommen!“, sagte Leif und wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht.

„Du glaubst gar nicht, wie ich mich auf diese Woche gefreut habe!“, entgegnete ich.

„Du sprichst mir aus dem Herzen“, sagte Leif. „Komm, ich helfe dir, dein Auto auszuladen.“

Das Ferienhaus, das ich gemietet hatte, lag nur ein paar Gehminuten vom Leuchtturm entfernt direkt am Meer. Es war erst vor vier Jahren auf einem Platz gebaut worden, auf dem die alte Holzhütte des alteingesessenen Fischers Edwaldson gestanden hatte, der vor zehn Jahren verstorben war.

Zu seinen Lebzeiten hatte Leif oft mit Edwaldson vor seiner Hütte gesessen und ihm beim Filetieren der frisch gefangenen Fische oder beim Flicken seiner Netze zugeschaut. Leif war einer der wenigen Menschen, dessen Nähe der ansonsten menschenscheue Fischer überhaupt ertrug, und wenn er sich mit Leif unterhielt, erzählte er nie von sich. Er sprach über das Meer und über die Fische. Edwaldson war mit Leib und Seele Fischer.

Weil nach dem Tod von Edwaldson niemand aus seiner Familie die Lust und die Energie aufbrachte, sich um die Strandhütte zu kümmern, war sie zusehends dem Verfall preisgegeben. Irgendwann verkaufte die Familie die Bruchbude dann samt Grundstück an einen anderen Fischer, der darauf das neue Ferienhaus errichtete. Es war ein kleines, feines Holzhaus in einem schwedischen Rot und mit weißen Fensterrahmen. Über der Eingangstür war ein Treibholzbrett festgenagelt, auf dem der Name der Hütte stand: Solen. Das Wort kam aus dem Dänischen und bedeutete die Sonne.

Das Haus lag, umgeben von drei weiteren kleineren Fischerhütten, direkt in den Stranddünen. Vor dem Haus gab es eine kleine Holzterrasse, die nur einen halben Steinwurf vom Meer entfernt lag. Leif hatte mir diese kleine Perle empfohlen, die in keinem Reisekatalog dieser Welt stand und nur durch Empfehlungen ihre Mieter fand. Wenn etwas wirklich gut und stimmig ist, braucht es nicht einen einzigen PR- oder Marketingeuro, um die Herzen und Portemonnaies der Menschen zu erreichen. Dieses Haus stand schlicht und einfach genau am richtigen Platz.

Dazu passte auch, dass direkt vor dem Haus eines der vermutlich besten Angelriffe der Insel lag. Unter Meerforellenanglern hatte diese dreihundert Meter lange Untiefe längst Legendenstatus erreicht, und es gab kein Anglerforum und kein Angel-Printmedium, das diesem Riff nicht bereits mit einer Reportage oder einem Erfahrungsbericht gehuldigt hätte. Es war berühmt für seine exzellente Fischerei auf große Meerforellen und auf dem Weg zu diesem Ziel hatten sich hier schon unzählig viele Watangler in den Fluten des Meeres versenkt und waren mit einem nassen Arsch wieder ans Ufer zurückgekehrt. Wahrscheinlich sind hier sogar mehr Angler nass geworden, als Meerforellen gefangen wurden.

Und trotzdem: Was den Bergsteigern der Mount Everest und den Skifahrern die Streif ist, das ist dieses Riff für die Meerforellenfreaks. Nur wer hier einen Fisch gefangen und ohne vollgelaufene Wathose wieder den Strand erreicht hat, hat seinen inneren Heldenfrieden erlangt.

Diese Legende war allerdings schon bei meiner letzten Reise auf die Insel etwas ins Wanken geraten, als Leif mir erzählte, dass er öfters mit seinen Enkelsöhnen zum Angeln aufs Riff hinausging. Damals waren die beiden acht und zehn Jahre alt. In der Angelszene wird eben gern dick aufgetragen …

Als meine Sachen den Weg vom Auto zum Ferienhaus gefunden hatten – die meisten Wege musste ich dabei für meine Angelausrüstung zurücklegen –, setzten wir uns auf die Bank vor der kleinen Hütte und tranken einen Begrüßungskaffee.

Mir kam das alles völlig unwirklich vor. So lange hatte ich in der Vorfreude auf diese Reise gelebt, und jetzt holte mich eine Wirklichkeit ein, die ich kaum fassen konnte.

„Kneif mich mal!“ Ich klopfte Leif auf die Schulter. „Ich kann gar nicht fassen, dass wir jetzt zusammen hier sitzen.“

„Oh, doch! Das tun wir. Und es ist großartig, dass wir noch einmal die Gelegenheit dazu bekommen!“ Leif schaute zufrieden aufs Meer.

Mein Blick schweifte ebenfalls auf das lange Riff hinaus. Hier und da ragten einige größere Steine aus dem Wasser und die Wellen rollten sanft auf dem flachen Buckel des Riffs aus. Ein paar Möwen schwebten gelangweilt am Himmel, wohl wissend, dass es bei diesem ruhigen Wetter wohl eher schwierig werden würde, irgendetwas vor den Schnabel zu bekommen. Die Bachstelzen waren da schon erfolgreicher. Mit ihren langen feinen Schnäbeln pickten sie unermüdlich Sandflohkrebse aus dem Sand. Stecknadelkopfgroße Löcher verrieten den Vögeln, wo sie stochern mussten.

Ein Wintergoldhähnchen landete auf der Terrasse und begrüßte uns mit einem kecken Blick. Vor einigen Jahren war ein Wintergoldhähnchen auf der Angelrute von Leif gelandet, als der gerade draußen auf dem Riff stand. Der kleine Vogel war von seinem weiten Flug über das Meer auf die Insel völlig erschöpft und hätte die zweihundert Meter zum Ufer nicht mehr geschafft. Leif hatte sich seine Angelrute unter den Arm geklemmt und den Vogel an Land getragen. Eine halbe Stunde lang saßen die beiden zusammen am Strand, dann hatte der kleine Vogel seine Kräfte wiedergefunden. Seitdem tauchten häufig Wintergoldhähnchen im Leben des alten Mannes auf.

„Gute Bedingungen!“ Ich schaute zu Leif hinüber, der seinen Stetson neben sich auf die Bank gelegt hatte und immer noch verträumt aufs Meer blickte.

„Ja, sehr gute Bedingungen zum Angeln“, lächelte er. „Da sind bestimmt ein paar dicke Meerforellen unterwegs.“

„Ganz bestimmt“, stimmte ich ihm zu. „Aber heute ist erst einmal der Tag meiner Anreise!“

Noch während ich das sagte, musste ich lachen, denn so ein Satz wäre bei meinem ersten Aufenthalt auf der Insel völlig undenkbar gewesen. Damals war ich so getrieben gewesen, dass ich am liebsten sofort nach der Ankunft den ersten Fisch gefangen hätte, um das Gefühl zu haben, dass ich die Zeit hier auch möglichst produktiv nutzte. Doch eine von Leifs ersten Lektionen war das „Ankommen“ gewesen.

Das klang so simpel und war damals trotzdem alles andere als eine leichte Übung für mich gewesen, denn ich war mit meinen Gedanken meinem Leben ständig voraus. „Ankommen“ bedeutete für Leif, wirklich da zu sein, wo das Leben sich gerade abspielte – mit dem Herzen, dem Verstand und mit allen Sinnen. Diese Lektion des alten Mannes war eine bedeutende Erkenntnis für mich und ein Meilenstein auf dem Weg zurück zu mir selbst. Es ist bis heute immer wieder ein riesiges Glücksgefühl für mich, dass meine Gedanken nicht mehr davonlaufen …

Natürlich gingen wir an diesem Tag nicht mehr angeln. Stattdessen saßen wir bis zum Sonnenuntergang auf der Bank vor dem Ferienhaus, schauten aufs Meer und erzählten uns Geschichten von Walen, von Berggipfeln und vom Ankommen bei sich selbst.

Zwölf Jahre waren ins Land gegangen und dieses Gespräch verdeutlichte mir einmal mehr, dass es nicht entscheidend ist, wie viel Zeit wir mit einem Menschen verbringen, sondern wie wir diese Zeit tatsächlich füllen.

Es gab viele Menschen, mit denen ich sehr viel mehr meiner Lebenszeit verbrachte als mit Leif, mit manchen sogar täglich, und doch wusste ich eigentlich nicht viel über diese Menschen. Es waren Begegnungen ohne Eindruck.

Schon in diesen ersten Stunden mit dem alten Mann lag so viel Tiefgang und Herzlichkeit, dass ich das Gefühl hatte, bereits eine Ewigkeit hier auf der Bank gesessen zu haben.

In der Dämmerung kamen zwei junge Seehunde in die Nähe des Riffs. Sie verspielten ihre letzte Tagesenergie mit kleinen Verfolgungsjagden und dem Erklimmen von zwei Sandsteinplatten, auf denen sie kurze Zeit später friedlich einschliefen.

Es gab vier dieser Platten in Riffnähe, die so groß waren, dass sich die Seehunde darauf ausstrecken konnten. Platten, die selbst bei einem Wasserstand von plus zwanzig Zentimetern immer noch aus dem Wasser ragten und die Sonnenwärme speicherten. Die Seehunde lagen quasi auf riesigen Wärmflaschen und würden diese Steine erst kurz vor Sonnenaufgang wieder verlassen und zurück ins Meer rutschen.

Die Fischer waren den Seehunden alles andere als wohlgesonnen, sie machten die Tiere für die schwindenden Fischbestände verantwortlich. Ein ausgewachsener Seehund wog an die hundertfünfzig Kilo und fraß im Durchschnitt neun Kilo Fisch pro Tag. Das war, bei geschätzten dreitausend Tieren in den Gewässern um die Insel, eine riesige Tagesmenge Fisch. Aber es war nichts im Vergleich zu der Menge, die die Fischer mit ihren Netzen jahrzehntelang dem Meer entrissen hatten.

Irgendwann gab es auf offener See nicht mehr genug Dorsche und Heringe für die Seehunde und so rückten die schnellen Jäger den küstennahen Fischbeständen mehr und mehr auf die Schuppen. Und so gerieten auch die Meerforellen, die sehr küstennah leben, zunehmend auf den Speiseplan der Seehunde. Nur haben diese wilden Meerforellenstämme natürlich eine viel geringere Bestandsdichte als die Dorsche oder die Heringe.

Im vergangenen Herbst spielte sich an einigen Bachmündungen ein regelrechtes Drama ab: Vor den Mündungen warteten viele der Meerforellen darauf, ihrem inneren Ruf zu folgen und in die Bäche aufzusteigen, um dort zu laichen. Leider führten die Bäche nicht sehr viel Wasser, denn es hatte monatelang nur wenig Niederschlag über der Insel gegeben. Und so warteten die laichbereiten Fische darauf, dass endlich die Wasserstände in den Bächen hoch genug steigen würden, damit sie zu ihren Laichplätzen gelangen konnten.

Nichts konnte sie von diesem Plan abbringen, und so begaben sie sich in eine Gefahr, für die sie überhaupt nicht gewappnet waren, denn für die Seehunde waren diese wartenden Fische voller Laich eine leichte Beute. Immer enger trieben die Seehunde die Fische in den Mündungstrichtern zusammen und fraßen sie auf. Und mit ihnen auch die nächsten Generationen Meerforellen.

Jetzt wurde es also für alle knapp – für die Fischer, für die Seehunde und für die vielen Angler, die jedes Jahr auf die Insel reisten, um Meerforellen zu angeln.

Unser Tag endete erst, als der Mond über dem Meer auftauchte und das Riff in einem honiggelben Schimmer erstrahlte. Auch auf den anderen beiden Liegesteinen hatten sich jetzt Nachtgäste eingefunden: Vier Entenpaare teilten den Platz unter sich auf.

Leif fuhr nach Hause und ich kroch ins Bett. Das Schlafzimmer lag auf der Seite zum Meer. Durch das kleine Fenster schien der Mond hinein und sein fahles Licht erhellte die kleinen Blumen der schwedischen Tapete. Die Wellen rollten sanft auf dem breiten Sandstrand aus und machten die passende Hintergrundmusik zum sanften Mondschein.

Ich war wieder auf der kleinen Insel angekommen.

Es war Leif, der mich um kurz nach halb zehn mit einem forschen Klopfen an die Tür des Ferienhauses weckte.

„Aufstehen, angeln gehen!“, rief er fröhlich durch die geschlossene Tür.

„Schon halb zehn, unglaublich“, murmelte ich völlig überrascht, als ich dem alten Mann verschlafen die Tür öffnete. Mit einem innerlichen Schmunzeln erinnerte ich mich an die Zeiten, in denen ich ohne Schlafmittel nicht einmal an Schlaf denken konnte.

Wir frühstückten gemeinsam auf der Terrasse mit Blick auf das Meer. Die Seehunde waren wieder da und jagten draußen nach Heringen. Wenn sie kurz auftauchten, um Luft zu holen und sich zu orientieren, schauten sie auch immer wieder neugierig zur Terrasse.

Ich musste an den Tag zurückdenken, als mir zum ersten Mal ein Seehund am Meer begegnet war. Es war auch der Tag gewesen, an dem ich meinen Freund Bäumepflanzer kennenlernte.

Damals gewannen die Tage nach einem langen und harten Winter endlich ihre Länge und ihr Licht zurück, und ich fuhr ans Meer, wo ich erstmals mit meiner Angel einen Fisch fangen wollte.

Ich ging über den Deich hinunter zum Strand und erblickte einen Mann, der am Ufersaum kniete und einer stattlichen Meerforelle die Innereien herausschnitt.

Als er mich kommen hörte, drehte er sich kurz um und rief mir ein aufmunterndes „Viel Glück!“zu. Dann kümmerte er sich wieder um seinen Fisch.

Ich stellte mich keine dreißig Meter von ihm entfernt hin. Wo es einen Fisch gab, da würde es auch noch mehr geben, so meine Theorie. Ich steckte meine Angelrute zusammen, montierte einen kleinen Kunstköder, der aussah wie ein in die Jahre gekommener Hering, und warf den Hoffnungsträger in die unendlichen Wassermassen.

Es war für mich nahezu unvorstellbar, in einem so großen Meer mit meinem Köder wirklich auf einen Fisch zu treffen. Bis zu diesem Tag hatte ich nur Würmer in unserem überschaubaren Dorfteich gebadet. Aber trotz aller Unsicherheit fühlte ich mich damals großartig, denn es kehrte so etwas wie ein Abenteuergefühl in mein tristes Alltagsdasein zurück.

Sobald der Fremde seinen Fisch versorgt hatte, gesellte er sich zu mir, und wir kamen ins Gespräch.

„Es ist so groß!“ Ich blickte auf das Meer. „Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie ich hier jemals einen Fisch fangen soll.“

„Stell dir vor, du angelst an einem Dorfteich“, sagte der Mann. „Und den Restblendest du einfach aus.“

Das war drei Jahre vor meiner ersten Reise auf die Insel … und es war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.

Die Seehunde neben dem Riff tauchten wieder ab. Wenn sie wollten, konnten sie es ohne Mühe dreißig Minuten unter Wasser aushalten, aber diese Jungtiere waren viel zu neugierig, um so lange unten zu bleiben.

Leif und ich zogen unsere Wathosen an, nahmen unsere Angelruten und machten uns auf den Weg hinaus aufs Riff.

Es war einer jener Augenblicke, nach denen ich mich schon so lange gesehnt hatte – noch einmal mit dem alten Mann im Meer stehen.

Auf dem Riff lagen viele Steine, und die meisten von ihnen waren mit Blasentang oder Algen bewachsen. Das Waten war streckenweise eine rutschige Angelegenheit. Immerhin gaben mir die Filzsohlen unter meinen Watschuhen etwas Trittsicherheit, aber trotzdem rutschten die Füße beim Waten immer wieder kurz zur Seite weg und blieben dann am nächstgrößeren Stein hängen.

Genau für solche Angelstrecken gab es im Angelfachhandel eine praktische Gehhilfe, den Watstock. Wer nur die Hälfte bezahlen will, kauft sich allerdings einfach einen Nordic-Walking-Stock. Die lokalen Angler nannten diese Stöcke Pensionistenpinnen und dabei war ein leicht verächtlicher Unterton nicht zu überhören.

Nicht nur deshalb verzichtete ich auf so einen Watstock, sondern auch, weil ich es äußerst lästig fand, dieses Ding die ganze Zeit beim Fischen am Gürtel baumeln zu haben. Und schließlich kannte ich eine ganze Handvoll Angler, die beim Angeln in den Wellen tatsächlich über ihren eigenen Watstock gestolpert waren.

Leif brauchte so ein Ding natürlich nicht. Trotz seines hohen Alters verließ er sich lieber auf sein Körpergefühl. Er hatte sein ganzes Leben hier draußen verbracht, und selbst jetzt, mit sechsundachtzig Jahren, sahen seine Bewegungen immer noch sehr grazil und sicher aus, auch wenn er jetzt wesentlich mehr Zeit brauchte als früher, um auf das Riff hinauszukommen. Alle paar Meter legte er eine kurze Pause ein und atmete ein paarmal tief durch. Es war ein stolzer Mann, mit dem ich da auf dem Riff unterwegs war. Ein Mann, den ich zutiefst bewunderte.

Hier und da gab es kleinere Seegrasflächen auf dem Riff und das waren die idealen Steh- und Angelflächen. Auf ihnen hatte man einen sicheren Stand und konnte die anrollenden Wellen besser austanzen.

Auf der östlichen Seite des Riffs wurde das Wasser langsam tiefer. Einer Rampe gleich, schufen die Sandsteinplatten, die unter den Steinen lagen, einen sanften Übergang zwischen Wasser und Land.

Ganz anders dagegen sah es auf der Westseite des Riffs aus. Hier brach die Sandsteinformation abrupt ab und eine steile Kante hatte sich gebildet. Von einem auf den nächsten Schritt änderte sich hier die Wassertiefe von einem halben auf vier Meter. Das war auch die Falle, die den meisten Meerforellenanglern auf dem Riff zum Verhängnis wurde. Bei Seewind und kräftigen Wellen aus östlichen Richtungen wurden sie von dem auflaufenden Wasser einfach über die westliche Riffkante geschoben. Die andere Hälfte der Watangler, die sich auf dem Riff versenkte, stolperte ganz einfach über einen der vielen glatten Steine oder eben über den eigenen Watstock …

„Jetzt sind wir zweihundert Meter vom Ufer entfernt.“ Leif blickte sich kurz um, als wir einen der dicken Stehsteine weit draußen auf dem Riff passierten. Vor den letzten fünfzig Metern nahm Leif mein Angebot an, sich bei mir einzuhaken.