Meerjungfrauen morden besser - Tatjana Kruse - E-Book
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Meerjungfrauen morden besser E-Book

Tatjana Kruse

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Beschreibung

Piraten, Meerjungfrauen und ein Schatz – Konny und Kriemhild auf einem Roadtrip in ein maritimes Abenteuer, in dem Blut und Lachtränen fließen

Drei Fremde schlagen die Pension von Konny und Kriemhild kurz und klein und verlangen von den beiden Schwestern, ihnen die Millionen auszuhändigen, die der Kommodore, Kriemhilds verstorbener Kapitänsgatte, ihnen schulde. Hat der Kommodore tatsächlich illegal einen antiken Schatz gehoben, seine Crew übers Ohr gehauen, den Schatz zu Geld gemacht und irgendwo gebunkert?

Auf der Suche nach der Wahrheit begeben sich Konny und Kriemhild – mit dem Kommodore im Handstaubsauger und Nacktkater Amenhotep in der Transportbox – auf einen Roadtrip in den hohen Norden. Dabei bekommen es die Frauen aus der Provinz mit knallharten Rockern, Hardcore-Kiffern, Hehlern und einer Frau zu tun, die behauptet, die Geliebte des Kommodore gewesen zu sein. Eine Achterbahnfahrt der Emotionen für die Schwestern und ein großes Vergnügen für die Leserinnen und Leser …

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Seitenzahl: 332

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Tatjana Kruse

Meerjungfrauen morden besser

Die K&K-Schwestern ermitteln

Insel Verlag

Für Captain Jack Sparrow

Zum Teufel mit den Torpedos ‒ volle Kraft voraus!

~ ‌Miss Marple

Worum's geht:

Tag eins

Der Amoklauf der bösen Heinzelmännchen

Wenn Amor den Pfeil aus dem Köcher holt, dann duck dich weg!

Schlachtplatte de luxe

O Käpt'n, mein Käpt'n!

Die Verrohung der Sitten bei den heutigen Jugendlichen, unter besonderer Berücksichtigung Spätpubertierender zwischen fünfundvierzig und neunundfünfzig

Tag zwei

»Fernweh ist mein Heimweh.« Der Kommodore

Phase eins: Irreführung der Staatsgewalt

Phase zwei: Nebelbomben auf die unmittelbar Betroffenen werfen

Phase zweieinhalb: Nebelbömbchen-Nachschlag

Phase drei: Vergiss den Saftsack nicht!

Die Konny, die Kriemhild, der Kater und die Urne

Wenn ich ein Vöglein wär, flög ich zu dir. Da ich kein Vöglein bin, trink ich ein Bier.

Tag drei

Abramakabra: Sesambrötchen!

Von Nacktkatern, Nacktmullen und anderen Nackedeis

Nacktmull ‘Heterocephalus glaber“

Nacktkater ‘felis nudus“

Es geht eine Nudel auf Reisen

Über Faultürme ‒ oder: Das dynamische Verhalten der mesophilen anaeroben Schlammstabilisierung in Hinblick auf die Verbesserung der Abwassersituation durch organische Reduktionsmittel

Rumtopf auf der Reeperbahn

Tag vier

Chuck Norris, der Schnabel des Todes

Gib Küsschen!

Der letzte Flug der Kanonenkugel

Warum es so wichtig ist, bei Enterhaken in rostfreien Stahl zu investieren …

Ein liebend Männerherz hat Platz für tausend Frauen

Rosen sind rot, Veilchen sind blau … au!

»Wer aber unter euch angezogen sei, der lebe.« Pterodaktylus 21,4

1001 Nudelvariationen für Anfänger und Fortgeschrittene

Dr. Clooney, bitte in die Notaufnahme!

Frogman ‒ ungeküsst unter Prinzessinnen

Meerjungfrauen morden besser

Hochwürden zieht den Stöpsel raus

nu mal butter bei die fische

All die Tage danach

Es ist nie ganz zu Ende …

Danksagungen

Soundtrack zum Buch

Mit an Bord

Tag eins

Der Amoklauf der bösen Heinzelmännchen

Der Kopf kullerte die drei Steinstufen hinunter ‒ plopp, plopp, plopp ‒ und landete im Kies am Fuß der Treppe, wo er knirschend auseinanderbrach.

Es war nicht das erste Mal, dass ein abgetrennter, malträtierter menschlicher Schädel vor dem Eingang der Bed-&-Breakfast-Pension zum Liegen kam. Aber dieser hier war wenigstens nicht echt.

Statt zu bluten, bröselte er.

Gipsbrösel.

Der Gipskopf stellte Vincent van Goghs Haupt in Originalgröße dar. Noch mit beiden Ohren.

Jemand hatte die Büste schnöde durch die offene Tür gekickt, bevor er sich daranmachte, die komplette Pension zu zerlegen.

Sie waren zu dritt, und sie kannten kein Pardon in ihrem Wüten ‒ wie King Kong, Godzilla und der unglaubliche Hulk, die nach der Einnahme enthemmender Psychopharmaka alles in Klein- und Kleinstteile zerlegten, was ihnen vor Augen kam.

Aber die drei waren nicht auf Drogen, und sie nahmen die Pension auch nicht sinnlos aus Jux und Dollerei auseinander. Sie suchten etwas. Und sie suchten es mit einer Gründlichkeit und Gewissenhaftigkeit, die einem unbeteiligten Beobachter fast schon wieder Respekt abgenötigt hätten.

Nichts, wirklich gar nichts im Haus blieb verschont.

Der Kleinste und Schmächtigste der drei riss die Tapeten von den Wänden, um zu sehen, ob sich irgendwo dahinter ein geheimer Tresor verbarg.

Der Mittelgroße mit der ausladenden Leibesmitte ratschte mit einem funkelnden Armeemesser sämtliche Kissen auf. Er tat es genüsslich. Daunen stoben.

Der Größte und Unheimlichste von ihnen, ein Zwei-Meter-Kerl, dessen rechte Hand keine Hand, sondern eine Eisenklaue war, zerlegte das Mobiliar. Nicht mit seiner Klaue, wohlgemerkt, die war auf Hochglanz gewienert und sollte kratzerfrei bleiben, sondern mit einem Hammer, den er in seiner Linken hielt. So eine Klaue ist nämlich teuer, und die Krankenkasse zahlt bei Fahrlässigkeit kein Ersatzteil.

Drinnen im Hausflur nahm die verheerende Demontage ihren Lauf.

In dem leerstehenden Haus hallten das Reißen, Ratschen und Hämmern besonders laut nach. Darum war es eigentlich verwunderlich, dass der Kleine, den sie Das Wiesel nannten, plötzlich innehielt und stutzte. Also … nicht dass er es tat, sondern weswegen.

»Habt ihr das auch gehört?«, rief er über seine Schulter.

»Was?«, erwiderte Hans Schenk, der mit dem Kugelbauch.

»Hä?«, donnerte die Eisenklaue. Genauer gesagt, nicht wirklich die Klaue, sondern der Mann, der an ihr dran hing.

»Da ist doch jemand!« Das Wiesel hob die Nase und schnupperte. Das vermittelte jetzt irgendwie den Eindruck, als könne das Wiesel mit seinen Nüstern hören. Aber er hatte nur eine Sommergrippe und kein Taschentuch dabei, und da half es, wenn er bisweilen den Kopf in den Nacken legte und die Nase mehrmals hintereinander rasch hochzog. »Ich habe ein Geräusch gehört! Von da unten.«

Die Blicke von Hans Schenk und der Eisenklaue folgten der Nase, die nach oben zeigte, nicht dem Zeigefinger des Wiesels, der nach unten in den Keller wies.

»Da unten, sag ich! Im Souterrain!« Er sprach es Suhterängg aus.

Die drei nahmen Aufstellung am Kopf der Treppe, die ins Untergeschoss führte.

»Wir haben doch alle wegfahren sehen. Es kann niemand mehr hier sein«, flüsterte Hans Schenk und lugte über seinen Bauch in den dunklen Schlund des Pensionskellers hinab.

»Wir sollten nachsehen.« Die Eisenklaue, die eigentlich Herbert hieß, in bestimmten Kreisen auch Enterhaken-Herbert, schaltete das Treppenlicht ein und grinste diabolisch. Es war allgemein bekannt, was er mit Männern machte, die versuchten, seine Pläne zu vereiteln. Diese Männer einte hinterher alle eine langgezogene Narbe quer über das Gesicht. Wie ein Burschenschafts-Schmiss, der höllisch schiefgegangen war. Manche hatten hinterher auch einen zweiten Scheitel. Oder ihnen fehlte ein Auge. Es ging jedenfalls nie gut aus.

Das Wiesel, die Eisenklaue und Hans Schenk stiegen die Treppe hinunter. Nicht knarzend, sondern lautlos, weil es sich um Steinstufen handelte. Man hätte sie nur atmen hören können. Aber es war ja niemand außer ihnen da, also konnte sie auch niemand hören.

Oder doch?

Unten angekommen, verharrten sie einen Moment.

Das Wiesel warf einen bedeutungsschwangeren Blick in die Runde und zeigte mit dem Kopf zum Kellerraum auf der rechten Seite. Die anderen beiden nickten. Hans Schenk hob sein Messer, Herbert seinen Enterhaken.

Das Wiesel versuchte, das Licht im Kellerraum einzuschalten, aber der Schalter klackte nur, ohne dass sich etwas tat.

Vorsichtig betraten sie den halbdunklen, nur vom Flurlicht illuminierten Raum. Der vollkommen leer war. Abgesehen von einem gigantischen Eichenholzschrank.

Der Schrank ‒ ausufernd mit Weinreben und anderen Holzschnitzereien verziert, wie man das in den Jahrhunderten vor dem puristischen Credo Form follows function eben so gemacht hatte ‒, also dieser Schrank sah ein wenig so aus, als hätten sie sich in ihrer Zerstörungswut schon an ihm vergangen. Die linke Tür hing nur noch lose in den Angeln, eins der Beine war durch ein Stück Brennholz ersetzt worden, die hintere Seite des Schrankes fehlte ganz. Aber etwas ‒ oder jemand ‒ schien sich im Innern des Schrankes zu befinden, in dem Teil hinter der rechten Tür, der sich ihren Blicken entzog.

Man hörte jetzt deutlich ein Atmen. Nein, kein Atmen. Mehr ein Röcheln. Quasi das Röchelatmen von Darth Vader.

Hans Schenk, das Wiesel und die Eisenklaue schlichen sich auf Zehenspitzen heran. Das Wiesel zog eine Handfeuerwaffe aus dem Holster unter seinem Sakko hervor. Nicht aus Besorgnis, sondern wegen des Überraschungseffekts. Wer immer sich im Schrank befand, war in der Unterzahl und hatte keine Chance. Er würde sein blaues Wunder erleben.

Direkt vor dem monströsen Eichenholzschrank angekommen, warteten sie kurz, bis sich ihre Augen einigermaßen an das Restlicht aus dem Flur gewöhnt hatten und sie wieder sehen konnten.

Das Wiesel nickte erneut. Enterhaken-Herbert legte seine Eisenklaue um den Knauf der noch funktionierenden Schranktür und zog die Tür mit einem Ruck auf. Sie knarzte und ächzte, und gleich darauf blickten die drei Männer ins Innere des Schrankes.

Das sich ihnen gähnend leer präsentierte.

Abgelenkt, wie sie waren, bemerkten sie erst kurz darauf, dass die Präsenz, die sie spürten, nicht aus dem Innern, sondern von der Decke des Schrankes kam. Sie hoben ihre Blicke.

Im ersten Moment erkannten sie nichts als ein türkisblau leuchtendes Augenpaar, das sie von oben herab anstarrte.

Böse anstarrte.

Es war ein nachgerade unheimliches Starren. Horrorfilm-unheimlich.

Dieses Etwas, was immer es war, hatte auf sie gewartet. Was doch eigentlich merkwürdig war. Da könnte man auch gleich sagen, der nordatlantische Meeresboden habe auf die Titanic gewartet. Als wüsste die Verdammnis schon vorab, dass die Verdammten im Anmarsch waren.

»Was zum …?«, fing das Wiesel an und fuchtelte mit seiner Waffe. Enterhaken-Herbert hob seine Eisenklaue.

Dann lachte Hans Schenk gackernd. Die anderen fielen mit ein.

»Das ist ja nur eine Katze. Großer Gott, noch dazu eine grottenhässliche Katze ‒ die hat ja gar kein Fell.« Er stellte sich auf Zehenspitzen. »Na, du hässliche Kreatur, leidest du an galoppierendem Haarausfall? Miez, miez, miez.«

»Blödes Vieh«, brummte das Wiesel. »Stech es ab, dann machen wir weiter.«

»Aber gerne doch!« Hans Schenk grinste und wollte nach dem Nacktkater greifen.

»Lass mich das machen.« Enterhaken-Herbert nahm mit seiner Klaue Anlauf. Er grinste fies.

»Sag adiós, Kätzchen!«

Wenn Amor den Pfeil aus dem Köcher holt, dann duck dich weg!

»Ja, ich will!«

Im barocken Trausaal des Rathauses war es mucksmäuschenstill. Selbst die pummeligen Putten an der Stuckdecke hielten den Atem an. Man hörte ‒ neben dem Bekenntnis zur Liebe, das die Braut beseelt aus der Tiefe ihres Herzens hauchte ‒ nur Konny, die nieste und in ihr Stofftaschentuch schnäuzte.

»Kannst du noch lauter rotzen? Ich glaube, draußen auf dem Marktplatz haben es noch nicht alle gehört!« Kriemhild schüttelte den Kopf ‒ was ihr an Emotionalität fehlte, war sämtlich bei ihrer Zwillingsschwester gelandet.

»Was?«, schnüffelte Konny unter Tränen.

»Pst!«, zischelte Kriemhild und stieß Konny den Ellbogen zwischen die Rippen.

Der Standesbeamte, das Brautpaar und die Hochzeitsgäste sahen zu den Schwestern. Kriemhild guckte stur geradeaus, Konny hob entschuldigend die Schultern.

Sie schob schniefend ihr durchgeweichtes Taschentuch in den linken Ärmel ihres Goldlamékleides, der sich daraufhin wie bei einer Beulenpestkranken auswölbte.

Der Standesbeamte richtete seinen Blick wieder altväterlich-gewogen auf Braut und Bräutigam. Er räusperte sich und lächelte. »So erkläre ich Sie hiermit zu Mann und Frau.« Sein seniorenhaftes Wohlwollen mutierte zu einem bubenhaften Grinsen. »Der folgende Satz ist vom Gesetz her zwar nicht vorgesehen, aber ich sage ihn trotzdem immer wieder gern: Sie dürfen die Braut jetzt küssen.«

Die frisch gebackene Ehefrau zog mit beiden Händen den Kopf ihres nunmehr angetrauten Gatten zu sich und küsste ihn herzhaft. Und ausdauernd.

Das war das Zeichen für die anwesenden Gäste: Die Jubelorgie setzte ein.

Die fünf Uniformierten pfiffen lautstark.

Die drei Kostümträgerinnen applaudierten enthusiastisch.

Der Sohn der Braut nickte zustimmend, allerdings mit abgewandtem Blick, weil man auch als erwachsenes Kind nicht sehen will, wie die eigene Mutter einen im Grunde fremden Mann pornös mit Zunge küsst.

Klaus, der ›und Begleitung‹ von Konny, sprang auf und ließ seinen Koloss von einem Fotoapparat losklicken.

Das fünfjährige Blumenkind, ein Enkel der Braut, warf den Korb mit den Rosenblüten in hohem Bogen in die Luft, woraufhin es ‒ wie in dem Song von Hildegard Knef ‒ gewissermaßen rote Rosen regnete. Der Korb selbst verfing sich allerdings im Kronleuchter.

Konny erlitt jetzt einen kompletten Dammbruch und heulte haltlos, und sogar Kriemhild wirkte für ihre Verhältnisse gerührt.

Herr Hirsch, ihr Gärtner, war nunmehr offiziell der Ehemann von Kommissarin Klum, der Frau, die noch vor kurzem in dem Mordfall in Konnys und Kriemhilds Pension ermittelt hatte, bei dem alle Welt glaubte, Herr Hirsch hätte mit seinem Aufsitzrasenmäher einen Nachwuchsmusiker plattgefahren. Was sich als falsch herausstellte.

Keiner, nicht einmal Konny und Kriemhild, die ja mit ihm unter einem Dach wohnten, hatten etwas mitbekommen: Es war Liebe auf die erste Befragung gewesen. Kaum war der Fall abgeschlossen, hatte es eine Wirbelwindromanze gegeben, und nun waren sie schon Mann und Frau.

Außenstehende konnten nur wild spekulieren, was die beiden ineinander sahen ‒ er in der taffen Mittfünfzigerin mit dem strengen Kurzhaarschnitt und dem fassförmigen Körper, sie in dem vorverruhestandeten Aphasiker. Aber die besten Ehen werden ja ohnehin im Himmel geschlossen, und die da oben achteten nicht auf Schönheit, Jugend oder Unversehrtheit.

Der Jubel verebbte. Notgedrungen, denn die Zeit drängte, draußen im Flur wartete schon das nächste Paar mit seiner Entourage.

»Wie wunderbar«, hauchte Frau Klum, die auch nach der Eheschließung Klum hieß.

»Stabhochsprungrekord«, erklärte Herr Hirsch glücklich.

Nach seinem Schlaganfall hatte er zwar seine motorischen Fähigkeiten wiedererlangt, sein Sprachzentrum war jedoch gestört geblieben. Laut Aussage des behandelnden Arztes vermutlich dauerhaft. Offiziell nannte man das Aphasie. Herr Hirsch war noch völlig klar im Kopf, aber was aus seinem Mund kam, ergab keinen Sinn mehr. Außer man hatte gelernt, seine Lautäußerungen assoziativ zu deuten. Herr Hirsch liebte Leichtathletikübertragungen im Fernsehen, und wenn er von einem Stabhochsprungrekord sprach, legte das die Vermutung nahe, dass er sich in seinem Zustand als frisch gebackener Ehemann wohl fühlte.

Die Jungvermählten küssten sich nochmals zärtlich.

»Wo die Liebe hinfällt«, murmelte Konny und lächelte hingerissen.

Auch die anderen Gäste der standesamtlichen Trauung strahlten beglückt. Was konnte schöner sein als junge Liebe im Alter? Wobei Alter natürlich eine Frage des Standpunkts ist: für die Jungen unter ihnen waren die 57-jährige Frau Klum und ihr 63-jähriger Herr Hirsch alte Leute, fast schon Greise, aus Sicht von Konny hatten die beiden gerade mal die Lebensmitte erreicht. Wobei es schon kühn war, davon auszugehen, dass das Paar mit 114 respektive 126 noch seine Goldene Hochzeit erleben würde und Konny mit 120 ½ noch Konfetti dazu werfen könnte.

»Deine Wimperntusche schliert«, konstatierte Kriemhild, die Liebe für überbewertet hielt.

Die Gästeschar erhob sich.

»Jetzt gehen wir alle zum Café am Markt«, rief der Sohn der Braut. »Dort ist der Nebenraum für uns reserviert. Es gibt Kaffee und Kuchen und natürlich auch Alkoholisches.«

Der Sohn der Braut ‒ unehelich, sie war ebenso wie ihr nigelnagelneuer Gatte noch nie verheiratet gewesen ‒ war Mitte dreißig und jüngster Richter am hiesigen Amtsgericht. Er führte die Prozession an, die gleich darauf vom Rathaus quer über den Marktplatz zum Café zog, bestehend aus dem selig lächelnden Ehepaar sowie ‒ auf Seiten der Braut ‒ der Frau des Sohnes und dessen Kind, fünf kernigen Polizeibeamten in Ausgehuniform, einer davon vermutlich weiblich, die Wetten dazu liefen noch, und ‒ auf Seiten des Bräutigams ‒ aus drei ehemaligen Mitarbeiterinnen der Bankfiliale, deren Leiter Herr Hirsch vor seinem Schlaganfall gewesen war, dazu Konny und Kriemhild, seinen engsten Freundinnen, die ihn, den alten, invaliden Junggesellen, bei sich aufgenommen hatten.

Klaus, ehemaliger Kommilitone und jetziger Gelegenheitslover von Konny, fungierte als ›offizieller‹ Hochzeitsfotograf, obwohl er eigentlich Musikmanager war und vom Fotografieren keine Ahnung hatte. Die Bilder waren abwechselnd unscharf oder überbelichtet, aber das wusste zu diesem Zeitpunkt ja noch keiner.

Den Abschluss des Festzugs bildeten Konny und Kriemhild.

Mitten auf dem Marktplatz fühlte sich Konny plötzlich von ihrem Klaus am Goldlaméärmel gezupft. Das durchnässte Taschentuch fiel dabei heraus, aber das bemerkten weder Klaus noch Konny, sondern nur eine zufällig in der Nähe befindliche Taube.

»Du, Schatz, ich muss los«, sagte Klaus.

»Wie? Los?«

»Ich muss weg.«

»WEG?«

»Ich habe gerade eine SMS bekommen. Heute Abend singt Leo Baker in Stuttgart. Den will ich schon seit Ewigkeiten verpflichten. Es heißt, er will sein Management feuern. Das ist meine Chance. Und die Kiste hier ist ja sowieso schon gelaufen.«

Klaus hatte nur eine Handvoll Musiker unter Vertrag, von denen keiner wirklich erfolgreich war. Nur ein einziges Mal hatte es einen Silberstreifen am Horizont gegeben ‒ die Band Cordt stand kurz vor dem Durchbruch ‒, aber dann wurde der Leadsänger mit dem Aufsitzrasenmäher von Gärtner Hirsch in der Bed-&-Breakfast-Pension von Konny und Kriemhild plattgefahren, und seitdem dümpelte Klaus weiter im unteren Mittelfeld der Musikagenten herum. Eigentlich musste man es ihm hoch anrechnen, dass er Konny den Aufsitzrasenmähervorfall nie zum Vorwurf gemacht hatte. Fand Klaus. Wie dem auch sei, er brauchte dringend einen neuen Musiker mit Potenzial.

Konny dagegen fand, dass er in diesem Moment dringend an ihrer Seite zu sein hatte.

»Aber …« Konny hatte vor gefühlt hundert Jahren mit ihm studiert, ihn dann aus den Augen verloren und ihn seit ihrer Neubegegnung rund um den Aufsitzrasenmähervorfall immer mal wieder mit Genuss vernascht. Exakt diese Freude hatte sie auch im Anschluss an die Hochzeitsfeierlichkeiten geplant. Nichts war doch trauriger, als nach einer Hochzeit keinen Sex zu haben!

»Aber …« Sie wollte zivilisiert bleiben und ihm nicht hier, vor der versammelten Hochzeitsschar und den allgegenwärtigen Touristen, eine Kopfnuss versetzen, auch wenn es sie fast unwiderstehlich in den Fingern juckte. Außerdem war ihr selbst nicht ganz klar, ob sie wütend werden oder heulen wollte. Sie entschied sich für den Mittelweg: Sie schmollte. Auch eine Frau von Anfang sechzig hat noch Träume und Sehnsüchte. Und schmollt wie eine Sechsjährige, wenn diese Träume und Sehnsüchte zu platzen drohen.

»Ich muss ihn nur im richtigen Moment abfangen.« Klaus war mit seinen Gedanken schon längst bei den Vertragsverhandlungen mit Leo Baker und achtete gar nicht weiter auf sie. Das war keine böse Absicht. Das lag allein an der männlichen Fokussierung, die nicht multitaskingfähig war. »Ehrlich, das wär echt der Hammer, wenn ich ihn verpflichten könnte!« Jetzt bemerkte er ihre Schnute doch. »Äh … nicht traurig sein, Süße. Wir holen das nach!« Er schenkte ihrem Schmollgesicht ein entschuldigendes Lächeln.

Wir holen das nach? Was denn, bitte schön? Die Hochzeit? Konny schmollte noch mehr.

So eine Schmollfratze hatte zwar im Laufe der einhundertausendjährigen Menschheitsgeschichte noch nie einen Mann dazu gebracht, seine Pläne über den Haufen zu werfen, dennoch setzten Frauen immer noch und immer wieder genau diesen Gesichtsausdruck auf, wenn es nicht so lief, wie sie es sich erhofft hatten.

»Ich bin sicher, dass ich nächstes Wochenende wieder vorbeikommen kann. Spätestens übernächstes Wochenende. Ich melde mich.« Klaus küsste Konny nicht auf die Stirn, den Geschmack von Make-up auf den Lippen konnte er nicht ausstehen, und er küsste sie auch nicht auf den Scheitel, weil es ihm mit dem Geschmack von Haarspray ganz genauso ging. Stattdessen spitzte er nur die Lippen und pustete als Spitzmaulfrosch auf zwei Beinen etwas Luft ganz allgemein in Richtung ihres Gesichts.

»Die Fotos schicke ich dir per Mail«, rief er ihr noch über die Schulter zu, bereits auf dem Weg zu seinem Wagen im Parkhaus.

Konny sah ihm fassungslos nach. »Aber …«

Wie eine Salzsäule ‒ besser gesagt: Goldlamésäule (und dazu korinthisch, also ausladend-schnörkelig) ‒ stand Konny mitten auf dem Marktplatz und sah dem entschwindenden Rücken ihres Lovers nach.

»Komm jetzt!«, herrschte Kriemhild sie an.

Konny reagierte erst gar nicht. Sie war zur Gänze auf Klaus konzentriert. Hörte sie da etwa die Nachtigall trapsen? Warum behandelte er sie schlagartig, als sei sie eine Zigarette und er auf kaltem Nikotinentzug? Sie hatten doch so schöne Stunden zusammen verbracht! Das Wochenende am Bodensee! Das Wochenende im Schwarzwald! Das Wochenende im Bett! Sie hatte wirklich, wirklich gedacht, mit Klaus würde jetzt eine ruhige Phase der Zweisamkeit in ihrem Leben einkehren. Natürlich war er viel unterwegs. Aber jede freie Minute würden sie zusammen verbringen, mehrheitlich in der Horizontalen. Zwei reife Menschen, die endlich ihren Seelenverwandten gefunden hatten und nun Hand in Hand in den Sonnenuntergang flanierten. Vielleicht nicht die große Liebe, aber doch das große Miteinander.

»Konny!«, donnerte Kriemhild und riss ihre Schwester damit aus den 3-D-Phantasien in Hollywoodrosa.

»Klaus ist gegangen.«

»Für immer?« Kriemhild bekümmerte das nicht weiter. Sie stand Klaus völlig gleichgültig gegenüber. Männer interessierten sie nicht. Frauen auch nicht. Kriemhild kreiselte in ihrem eigenen Universum, mit ihr selbst als Sonne. Unnachgiebig zog sie ihre Schwester zum Café hinüber, in das die anderen Hochzeitsgäste bereits verschwunden waren.

Konny schniefte. Von den beiden war sie eindeutig näher am Wasser gebaut. Sie tastete erst im linken Ärmel, dann im rechten nach ihrem Taschentuch, aber das war mittlerweile auf dem Marktplatzpflaster zum Spielball der Taube geworden, die darin nach Brotkrumen suchte. Oder es zerpicken wollte, um damit ihr Nest auszupolstern. Wer weiß schon, was in so einem Taubenhirn vor sich geht.

Es blieb Konny jedenfalls nichts anderes übrig, als sich mit dem Handrücken über die Nase zu fahren. Die bis dato vertikal verlaufenden Mascara-Schlieren bekamen horizontale und diagonale Ergänzungen.

»Geh aufs Klo und mach dich frisch«, verlangte Kriemhild.

»Ich brauche erst Alkohol, sonst kann ich für nichts garantieren.« Konnys Nervenkostüm war zum Zerreißen gespannt.

Sie betraten das plüschige, bei Touristen wegen des Ausblicks auf den pittoresken Marktplatz sehr beliebte Café. Aus dem Nebenraum hörte man bereits das Klirren von Gläsern, die prostend aneinandergestoßen wurden.

Die Schwestern gesellten sich zu der Feiergruppe. Konny nahm dem Servierfräulein an der Tür zum reservierten Nebenzimmer ein Glas Sekt ab und kippte es in einem Zug hinunter. Sie stellte das leere Glas zurück auf das Tablett und wollte nach dem nächsten vollen Glas greifen.

»Jeder nur ein Glas«, sagte die junge Kellnerin bedauernd.

»Wer sind Sie? Die Promillekontrolleuse?« Konny war im Grunde ein sehr umgänglicher Mensch. Aber nicht jetzt und nicht hier.

»Was? Äh … nein.« Die junge Frau, sichtlich neu im Job, sah sich verstört um. »Pro Gast nur ein Glas. Wenn Sie noch etwas trinken möchten, dann bringe ich Ihnen das selbstverständlich gern. Das müssten Sie dann aber selbst bezahlen.«

Aha, also gewissermaßen abgezähltes Freibier. Herr Hirsch war als ehemaliger Bankfilialleiter durchaus vermögend, und auch Frau Klum kam aus gutem, begütertem Stall, aber von den Reichen konnte man sparen lernen.

Kriemhild reichte ihr Glas an ihre Schwester weiter. »Hier, nimm meines, du Schluckspecht. Und hör auf, dich so lautstark danebenzubenehmen!«

Konny hickste. Es war ein Prickelwasserhicksen, aber bei Kriemhild kam es als Einverständniserklärung an.

Sie mischten sich unter das Feiervolk.

Es gab nur Stehtische, die aber waren ganz entzückend eingedeckt ‒ in Rot und Weiß und mit Blüten-Deko. Die Hochzeitsgäste standen allerdings nicht an den Tischen, sondern im Kreis um die frisch Angetrauten: die Angehörigen, das Blumenkind, die Polizisten und die Bankerinnen. Apropos Bankerinnen ‒ hatten die sich vermehrt? Waren das eben nicht drei junge Frauen gewesen? Oder doch schon vier? Hatten sie die Vierte übersehen, weil sie im Rollstuhl saß und somit tiefergelegt war?

Un. Ver. Zeih. Lich.

Kriemhild und Konny gesellten sich dazu. Das Glas in Konnys Hand war schon wieder leer. Sie schaute sich suchend um: Wer hier sah so aus, als würde er auf das ihm zustehende Glas verzichten? Alkoholiker und Schwangere?

Der Sohn von Frau Klum räusperte sich, plusterte sich ein ganz klein wenig auf und hob mit seiner Rede an. »Liebe Gäste …« Er strahlte. »Alter schützt vor Liebe nicht, aber Liebe schützt in einem gewissen Grad vor dem Altern«, verkündete er.

»Hört, hört«, rief Konny. Es klang skeptisch.

Kriemhild versetzte ihr einen Stoß zwischen die Rippen. An dieselbe Stelle wie vorhin im Trausaal. Das würde einen Bluterguss geben.

Konny sah zu der jungen Rollstuhlfahrerin neben sich. Sie hätte schwören können, sie noch nie gesehen zu haben. Aber ihr Blick war zugegebenermaßen nicht mehr ganz klar. Um wieder in ihr Goldlamékleid zu passen, hatte sie die letzten Tage mehr oder weniger hardcore gefastet, und der Sekt stieg ihr in Rekordtempo zu Kopf.

»Die Liebe, was soll man über die Liebe sagen …«, dozierte der Jung-Richter mit derselben drögen Stimme, mit der er sonst Kleinkriminelle zu sechs Monaten auf Bewährung verdonnerte, »… sie hebt uns empor auf Himmelsschwingen …«

Offenbar hatte er mit beiden Händen voll in die Klischeekiste gegriffen respektive in einen Hochzeitsredenratgeber. Seine Rede las er von Karteikarten ab.

»Trinken Sie das nicht?«, flüsterte Konny der jungen Frau neben sich zu, deren Glas noch unberührt schien.

»Nein, ich vertrage keinen Alkohol.«

»Dann her damit.« Konny tauschte mit der Frau die Gläser.

Kriemhild knurrte und knuffte. Das Hämatom wuchs.

»… die Liebe macht uns zu besseren Menschen. Sie heilt. Sie inspiriert. Sie …« Der Richter redete sich in Fahrt und raschelte wild mit den Karteikarten, weil er sie offenbar durcheinandergebracht hatte. Was ihn nicht weiter hätte aufregen sollen: weil es nämlich nicht auffällt, wenn man eine Binsenweisheit perlenschnurartig an die andere fädelt.

Konny hickste.

Konny und Kriemhild waren Zwillingsschwestern, aber zweieiig. Sie waren sich ‒ äußerlich und innerlich ‒ so was von gar nicht ähnlich. Es müsste einen weiteren Begriff geben für Geschwister aus ein und demselben Wurf, die sich so dermaßen unähnlich waren: um sechs Eier verwandt?

Konny war eher klein und drall, mit Hummelhüfte statt Wespentaille, wie sie immer zu sagen pflegte; Kriemhild dagegen eher groß und hager, wie ein umgedrehter Besen, der Stil unten und die Borsten zu einem Zopf geflochten.

Während Kriemhild sich streng an Konventionen hielt, weil sie darin das Rückgrat menschlichen Zusammenlebens sah, pellte sich Konny ein Ei darauf, was andere Leute von ihr dachten. Dass die beiden jetzt, im Alter, zusammen eine Bed-&-Breakfast-Pension betrieben, lag nicht darin begründet, dass sie sich liebten und gemeinsam alt werden wollten, sondern allein darin, dass sie keine andere Möglichkeit sahen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

»… die Liebe …«, rief der Richter, »… die Liebe …«

»Liebe ist kacke!«

Letzteres war Konny nur so rausgerutscht. Bei aller Unkonventionalität nahm sie doch ‒ im Gegensatz zu ihrer Schwester ‒ immer Rücksicht auf die Gefühle anderer Menschen ‒ also, nicht aller Menschen, aber der Menschen, die sie mochte, wie Herrn Hirsch und Frau Klum ‒, aber die drei Glas Sekt hatten ihr Gehirn bereits mariniert.

Alle starrten sie an.

Kriemhild lief rot an und zog ihre Schwester nach draußen.

»Mit dir ist man immer blamiert. Immer! Du gehst jetzt auf die Toilette und machst dich frisch, und dann trinkst du einen doppelten Espresso!«

Konny schwankte in Richtung der Fliesenabteilung, und weil sie mit den Piktogrammen nicht klarkam, landete sie in der Herrentoilette. Sie brauchte ewig, um sich mit üppigen Mengen Toilettenpapier das Gesicht halbwegs sauber zu wischen. Mehreren Café-Gästen, die das Pech hatten, sich ausgerechnet jetzt erleichtern zu müssen, lallte sie zu, dass man sich auf Männer nicht verlassen könne. Und dass die Welt eine bessere wäre, wenn es überhaupt keine Männer gäbe und sich die Menschen durch jungfräuliche Geburt vermehrten. Und es dauerte nochmal so lange, bis sie ‒ nach drei doppelten Espressi, im Stehen an der Kuchentheke zu sich genommen ‒ wieder halbwegs zurechnungsfähig war.

Doch als sie gefühlte Stunden später zurück in den Nebenraum kam, hatte sie nicht, wie erhofft, die komplette Feier verpasst, sondern nur die Rede. Der Jung-Richter schloss gerade mit den Worten: »Auf meine Mutter und … ihren Mann!« Das mit dem Stiefvater musste er noch üben.

»Hipp, hipp, hurra!«, rief die versammelte Festgesellschaft. Alle hoben ihre Gläser.

Konny bekam wieder einen gierigen Blick. Sie würde noch viel trinken müssen, um ihre Enttäuschung angesichts Klausens Unzuverlässigkeit verkraften zu können. Es war ja nicht nur dieser singuläre Vorfall! Konny war von der Liebe generell enttäuscht, darüber, dass sie wieder nicht den Traumprinzen in strahlender Rüstung gefunden hatte. Und wenn sie die Liebe ihres Lebens nicht in Form eines Mannes fand, dann vielleicht doch auf dem Grund eines Champagnerglases? Sie wollte auf die Jungkellnerin zumarschieren.

Kriemhild sah den Blick ihrer Schwester und hielt sie am Goldlaméärmel fest. Ihre gemeinsame Bed-&-Breakfast-Pension warf bei weitem nicht genug ab, um die liebesentzugbedingten Alkoholexzesse ihrer Schwester finanzieren zu können.

Das Blumenkind, dem während der endlosen Rede offenbar langweilig geworden war, schob findig einen Stuhl an einen der Stehtische, kletterte hinauf, zog ‒ in enthusiasmierter Hingabe an die ihm gestellte Aufgabe ‒ die Blumen aus der Vase und warf sie in hohem Bogen in den Raum.

»Malte, nein!«, sagte die Mutter, allerdings nicht militärisch-zackig-streng, sondern in kommunikationsdynamischem ›lass-uns-das-ausdiskutieren‹-Tonfall, weshalb Malte auch nicht gehorchte, sondern seinen Stuhl an den nächsten Stehtisch schob, um auch aus den dortigen Blumen Flugobjekte zu machen.

»Und jetzt wollen wir feiern!«, rief Frau Klum ungewohnt fröhlich. »Zum Kaffee gibt es Erdbeerkuchen ‒ normal und glutenfrei. Optional mit normaler oder laktosefreier Sahne.«

Kriemhild schnaubte. »Seit 5000 Jahre essen die Menschen Weizen und trinken Milch, aber plötzlich reagieren alle allergisch auf Gluten und Laktose«, murmelte sie. »Lächerlich.«

Kriemhild hatte nicht viel Verständnis für Neumodisches. Allergien waren für sie ein Zeitgeisthype. Was in der Pension, wo sie für die Küche verantwortlich war, bisweilen zu Problemen führte.

Blumenkind Malte warf erneut die Blumendeko durch den Raum. Diesmal mit Vase. Es scherbte.

»Malte, nein!«, sagte die Mutter. Jetzt hörte man das Ausrufungszeichen heraus. Also man hörte es, Malte nicht. Der kletterte vom Stuhl und schob ihn abermals einen Stehtisch weiter.

Man hörte das Quietschen von Gummireifen.

»Ist bei Ihnen noch frei?«

Es war die junge Frau im Rollstuhl, deren Sekt Konny getrunken hatte.

»Ja bitte, sehr gern.« Konny strahlte. Wer sie mit Alkohol versorgte, hatte immer einen Platz in ihrem Herzen.

Die Bankerinnen gesellten sich dazu, weshalb es auf einen Schlag eng in der Ecke wurde. Aber wenn einander fremde Menschen sich auf einer Party begegnen, neigen sie erst mal zur Geschlechtertrennung. Die Uniformierten standen an einem der Stehtische an der Fensterfront, am Nebentisch gruppierte sich die Familie. Die restlichen Stehtische blieben leer.

Mal abgesehen von dem letzten, noch unversehrten Stehtisch, an dem Malte nun zugange war. Maltes Mutter griff pädagogisch ein und entfernte die Blumen mitsamt Vase. Wenn sie allerdings geglaubt hatte, dass Malte sich davon in irgendeiner Weise einschränken ließ, kannte sie ihr Balg aber schlecht: Malte griff sich die Zuckerdose und warf sie in die Luft. Dazu quiekte er beglückt.

Den Flug überstand die Zuckerdose unbeschadet, was sich nicht von der Landung sagen ließ. Zucker stäubte fontänenartig auf.

Kriemhild schüttelte den Kopf. Sie bedauerte es, dass körperliche Züchtigung kein fundamentaler Bestandteil der Kindererziehung mehr war, nicht einmal bei einem derart unverbesserlichen Mini-Randalierer. Eine Ohrfeige hätte diesem Lümmel nicht geschadet.

»Er meint es nur gut«, rief Maltes Mutter in die Runde und wischte sich verschämt Zucker aus dem Haar.

Man sah Kriemhild an, dass sie sich auch für Erwachsene ein strengeres Regiment und Ohrfeigen vorstellen konnte.

Konny lenkte rasch ab. »Sie haben früher für Herrn Hirsch gearbeitet, stimmt's?«, erkundigte sie sich bei den Bankerinnen. Wer sich smalltalkmäßig auf ihre Schwester verließ, der war verlassen.

»Ja.« Drei der vier jungen Frauen nickten und kicherten, nur die vierte ‒ die Rollstuhlfahrerin, die Konny ihren Sekt überlassen hatte ‒ nickte nicht. Vielleicht fand sie ja, dass sich das von selbst verstand.

»Wir freuen uns sehr, dass es ihm nach seinem Schlaganfall wieder so gut geht«, meinte die Rothaarige.

»Und dass er sich auf seine alten Tage noch verliebt hat«, ergänzte die Brünette.

»Und geheiratet hat!«, seufzte die zweite Brünette, und man hörte deutlich, dass sie es immer noch nicht glauben konnte. Vermutlich war sie Single und fragte sich, wieso ein greiser Aphasiker eine Frau abbekam, sie aber immer noch jeden Abend mit einem Glas Rotwein in der Hand und ihrer Katze auf dem Schoß die Online-Dating-Datenbanken durchforstete. Sämtliche auf Tinder gelisteten Männer hatte sie nämlich schon durch ‒ das typische Kleinstadt-Single-Schicksal.

Konny lag auf der Zunge, etwas Abfälliges über die Ehe zu äußern, solange ein Mann daran beteiligt war, aber Kriemhilds Ellbogen war schneller.

»Autsch.« Das Hämatom unter ihrem Goldlamékleid nahm allmählich die Ausmaße Grönlands an.

Die Rothaarige grinste. »Darf ich fragen, ob Sie Schwestern sind?«

Eine der Brünetten meinte: »Also, wir wissen ja, dass Sie zusammen die Pension oben am Waldrand führen und dass unser Ex-Chef nach seinem Schlaganfall zu Ihnen gezogen ist, um Gartenarbeiten für Sie zu erledigen, aber wir sind uns nicht sicher, ob Sie Schwestern sind oder Schwägerinnen, also ob eine von Ihnen den Bruder der anderen geheiratet hat? Oder so?«

Drei der jungen Frauen nickten, die vierte blieb reglos. Wieder die rollstuhlfahrende Blondine mit dem Fransenpony. Vielleicht hatte sie einen Krampf im Hals. Oder eine akute Nackenversteifung.

»Wir sind Zwillingsschwestern«, erklärte Kriemhild. Normalerweise leugnete sie in Gesellschaft jede Verwandtschaft mit Konny, aber in dieser Runde ging das schlecht. In einer Kleinstadt kannte jeder jeden, und auch wenn sich Klatsch und Tratsch schneller verbreiteten als echte Fakten, sickerte die Wahrheit irgendwann doch immer durch. »Ich bin die Ältere. Um vierzehn Minuten.«

»Zwillingsschwestern? Das ist ja sooo spirituell!«, hauchte die Rothaarige begeistert. »Sie sind quasi gebürtige Seelenverwandte. Eine Schicksalsgemeinschaft der Natur!« Sie bekam große Augen. »Wenn Ihre Schwester sich verletzt, was spüren Sie dann?«

»Freude!«, konstatierte Kriemhild mit Pokerface.

Drei von ihnen guckten erst verwirrt, dann kicherten sie albern. Die Reglose verzog immerhin die Mundwinkel. In Konny wuchs der Verdacht, dass es sich bei ihr gar nicht um eine ehemalige Mitarbeiterin von Herrn Hirsch handelte, sondern um eine Hochzeitspartycrasherin.

Hm, durfte man das einer Rollstuhlfahrerin unterstellen oder war das politisch unkorrekt? Konny fand, dass eine liebeskummerkranke Frau das Recht hatte, bei der Welt ‒ und auch den tiefergelegten Mitmenschen ‒ immer erst mal vom Unguten auszugehen. Wäre immer alles eitel Sonnenschein, hätte ihr Herz ja keine weitere Kerbe abbekommen.

Eine der Brünetten fragte allen Ernstes: »Sind Sie denn eineiige Zwillinge?«

Konny und Kriemhild sahen sich an. Die eine klein und drall, die andere groß und hager.

»Ja«, sagte Kriemhild und lächelte milde.

»Wahnsinn!« Die drei Stehenden starrten Konny und Kriemhild an, als würden sie zum ersten Mal einem geklonten Mammut gegenüberstehen. Die Rollstuhlfahrerin schürzte die Lippen.

Konny und Kriemhild beschlossen spontan ‒ das mussten sie nicht aussprechen, das kommunizierten sie telepathisch ‒, ihre Ersparnisse einer anderen Bank anzuvertrauen.

»Darauf geb ich eine Flasche Sekt aus!«, rief die Rothaarige, und Konny verzieh ihr sofort alles.

»Ich helfe dir tragen«, sagte die erste Brünette.

»Ich pudere mir solange die Nase«, verkündete die zweite Brünette.

Die Reglose blieb reglos.

Kriemhild holte sich von der im Nebenraum aufgebauten Kuchentheke einen Erdbeerkuchen ‒ mit extra Gluten! ‒, häufte Laktosesahne darauf, kehrte zum Stehtisch zurück und säbelte drauflos.

Konny, der es egal war, ob sie mitten im Stehempfang aus ihrer goldenen Wursthülle platzte, holte sich gleich zwei Stück Kuchen. Sie nahm auch die ganze Schale Schlagsahne mit.

Das zweite Stück Kuchen stand ohne Frage einem anderen Gast zu, denn der Kuchen war zweifelsohne ebenso abgezählt wie der gegorene Traubensaft, aber an der Kuchentheke galt wie im richtigen Leben das Darwin'sche Prinzip: Nur die Starken überleben.

Ins Mümmeln der Schwestern drang das Räuspern der vierten jungen Frau. »Ich muss mit Ihnen reden, Frau Kapitän!«

Konny sah überrascht auf. Der verstorbene Mann ihrer Schwester war schon so lange verstorben, dass niemand sie mehr mit Frau Kapitän anredete. Die meisten hatten sogar vergessen, dass es ihn je gegeben hatte.

»Jetzt nicht!« Kriemhild redete nicht gern mit vollem Mund. Sie aß immer gern zügig durch. Außer natürlich, wenn sie sich über etwas zu beschweren hatte. Schimpfkanonaden wirkten noch besser, wenn man dabei Krümel spucken konnte.

»Frau Kapitän, hören Sie doch ‒ es ist wichtig! Es geht um Ihren Mann. Ich bin extra angereist, um das persönlich mit Ihnen zu bereden. Für ein Telefonat ist es viel zu brisant … äh … Frau Kapitän?« Sie winkte mit der Hand wie ein Scheibenwischer von links nach rechts und wieder zurück, weil Kriemhild zwar in ihre Richtung schaute, ihr Blick jedoch glasig wirkte.

»Nur weil ich Sie ansehe, wenn Sie reden, heißt das noch lange nicht, dass ich zuhöre. Oder dass mich interessiert, was Sie sagen.« Kriemhild senkte den Blick auf den Erdbeerkuchen.

Konny dagegen wurde neugierig. Und wenn sie in ihren sechzig Lebensjahren etwas gelernt hatte, dann das: Neugier toppte Liebeskummer. Woher wusste die junge Frau, dass Kriemhild Kapitänsgattin war? Und ganz offenbar gehörte sie nicht zu der Hühnerschar von Bankangestellten. Wer war sie also?

Konny nahm sich vor, ihr exakt diese Fragen zu stellen, sofort nachdem sie das zweite Stück Kuchen verputzt hatte, aber da erhob sich der Jung-Richter erneut und klopfte mit seiner Kuchengabel gegen sein leeres Sektglas.

»O Gott, nicht noch eine Rede.« Kriemhild sprach laut aus, was alle anderen nur dachten.

Da Kriemhilds Stimme wie ein Nebelhorn dröhnte, hatte der Richter es gehört. Man konnte nur hoffen, dass Kriemhild nie wegen irgendeiner Bagatelle in seinen Amtsgerichtssaal kam: Sie würde nicht unter fünfzehn Jahren mit anschließender Sicherheitsverwahrung davonkommen.

Der Klum-Sohn räusperte sich. »Unsere Frischvermählten müssen jetzt los ‒ die Hochzeitsreise ruft, und das Schiff wartet nicht. Ich läute hiermit die Verabschiedungsrunde ein.«

Herr Hirsch und Frau Klum wollten eine Mittelmeerkreuzfahrt unternehmen. Oder eine Donaukreuzfahrt. Oder über den Rhein schippern. Niemand wusste es so genau, die beiden hatten ein großes Geheimnis daraus gemacht. Nur dass es eine Schiffsreise war, schien klar, weil Herr Hirsch für sich und seine Liebste in der Löwen-Apotheke eine Großpackung Tabletten gegen Seekrankheit gekauft hatte.

»Konfetti!«, rief Konny und streute mitgebrachten Basmati-Reis über das junge und auch wieder nicht junge Paar.

»Alles, alles Gute«, riefen die anderen und streuten nichts, weil sie mehrheitlich fanden, dass sich das in einem Café nicht gehörte.

Frau Klum und Herr Hirsch liefen lachend nach draußen, wo sie in einen dunklen Audi mit Chauffeur stiegen, der sie zum nächsten Flughafen bringen sollte.

Konny fand ja, dass der Jung-Richter seine Mutter und Herrn Hirsch hätte fahren können, dann wäre noch Geld übrig gewesen, um die Hochzeitsgäste auch weiter kostenlos zu alkoholisieren oder wenigstens mit Schlagsahne zu versorgen. Aber es war, wie es war.

Ohne das Brautpaar und ohne Alkohol löste sich die Runde rasch auf. Man hatte sonst so gar nichts gemeinsam. Außer vielleicht die Knausrigkeit, für Kaffeegenüsse nicht selbst zahlen zu wollen.

»Darf ich Sie doch noch einmal ansprechen, bitte?« Die junge Frau im Rollstuhl klang norddeutsch.

»Aber natürlich«, sagte Konny, die nicht nur als ehemalige Journalistin wissbegierig war, sondern auch als Mensch.

»Wenn Sie unbedingt Selbstgespräche führen wollen«, sagte hingegen Kriemhild. Sie zog ihr güldenes Schwesterlein mit sich aus dem Café.

»Bist du gar nicht neugierig?«, wollte Konny wissen, die sich nur deshalb ziehen ließ, weil ihr eingefallen war, dass im Keller der Pension noch eine Kiste Sekt lagerte.

»Großer Gott, nein. Ich will nur nach Hause und die Beine hochlegen und dem Kommodore ein weiteres Kapitel aus Krieg und Frieden vorlesen.«

Der Kommodore, ihr Gatte, wartete zu Hause in seiner marineblauen Urne auf Kriemhild. Nur weil er schon seit fünfzehn Jahren tot war, hieß das nicht, dass ihre Ehe zu Ende war. Fand Kriemhild. Und hatte deshalb mit einem klitzekleinen illegalen Umweg über Holland dafür gesorgt, dass sie ihren Urnengatten zu Hause im ehelichen Schlafzimmer unterbringen konnte.

Sich das Leben mit seiner Asche zu teilen hatte etwas durchaus Befriedigendes: kein Streit, nie ein böses Wort, nur stille Harmonie.

Konny fügte sich. Es hatte keinen Sinn, sich Kriemhild zu widersetzen. Da konnte man auch gleich versuchen, einen Tsunami mit einem Frühstücksbrett aufzuhalten.

Auf dem Weg nach draußen schnappte sie sich die Sektflasche, die die Kellnerin, die gerade die Scherben des Blumenkindvandalismus zusammenkehrte, allzu vertrauensselig auf dem Tablett hatte stehen lassen. Sie war noch halb voll.

Kriemhild zog Konny, die unterwegs die Flasche leerte, bis zur Bushaltestelle. Der nächste Bus in ihre Richtung ging in einer Viertelstunde ‒ er würde sie nicht direkt vor der Haustür absetzen, das tat keiner, dazu lag die Pension allzu abseits, aber die knapp eineinhalb Kilometer Fußweg würden hoffentlich reichen, Konny wieder auszunüchtern.

Die Tage vor der Hochzeit waren anstrengend gewesen. Kriemhild freute sich jetzt auf eine ruhigere Phase.

Sie wusste es in diesem Moment noch nicht, aber immer wenn ein Mensch seine Zukunft plant, fällt das Schicksal im Hintergrund lachend vom Stuhl …

Schlachtplatte de luxe

»Was ….?« Konny blieb stehen, äugte ‒ und sprintete los. Insoweit man in einem auf Körper geschnittenen Goldlamékleid sprinten konnte. Es war eher ein flottes Gehen. Auf einen Schlag war sie wieder nüchtern.

Kriemhild folgte ihr. Über den Kies der Auffahrt knirschend, marschierte sie auf das Unfassbare zu.

Vor dem Eingang blieben die Schwestern stehen.

Entsetzt starrten sie auf den Schädel vor den Sandsteinstufen zur Bed-&-Breakfast-Pension. Unschöne Erinnerungen kamen hoch. Konny suchte mit zitternder Hand Halt am Arm ihrer Schwester. Aber auch Kriemhild ganzkörperzitterte.

Auf den zweiten Blick erkannten sie: Der Kopf war nicht real. Will heißen, nicht menschlich. Das immerhin war eine Erleichterung. Aber die Erschütterung der Schwestern hielt an. Durch die aufgebrochene Eingangstür sahen sie nämlich in den Flur. Der Anblick, der sich ihnen darbot, war ein Bild der Zerstörung, wie sie es nicht einmal aus Tom-Cruise-Filmen kannten.

Arm in Arm stiegen sie die Sandsteinstufen zur Haustür hoch, die aus den Angeln gehoben worden war.

Der Läufer im Flur war übersät mit den Scherben des Garderobenspiegels, die Anrichte war nur mehr ein Meer aus Holzsplittern, selbst der Kronleuchter war offenbar wie eine Piñata zerschlagen worden, und nur noch sein Gerippe baumelte an der Decke.

Der Blick nach rechts in den Salon offenbarte eine ähnlich desaströse Schneise der Verwüstung: Die Polster der Sessel und des Sofas waren aufgeschlitzt und ihr Innenleben nach außen gekehrt worden. Sämtliche Familienfotos lagen, zu Schnipseln zerrissen, in ihren zerbrochenen Rahmen auf dem Parkettboden. Kein einziges Möbelstück war verschont geblieben.

Konny und Kriemhild staksten wie unter Schock durch das Esszimmer in die Küche. Jeder ihrer Schritte gab ein mahlendes Geräusch von sich, denn alles, wirklich alles war zu Kleinholz beziehungsweise zu Scherben verarbeitet worden. Sie wateten durch ein Trümmerfeld.

Plötzlich blieb Konny abrupt stehen.