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Die Bundesrepublik Deutschland ist eine repräsentative Demokratie – zumindest auf der Ebene des Bundes. Die Gesetzgebung liegt ausschließlich in den Händen von Bundestag und Bundesrat – so haben es die Väter und Mütter des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat 1948/49 beschlossen und in der Verfassung niedergelegt. Elemente direkter Demokratie, wie sie heute vielfach für den Bund gefordert werden, sieht das Grundgesetz nicht vor. Vor ihnen hat insbesondere Theodor Heuss als Abgeordneter im Parlamentarischen Rat nachdrücklich gewarnt. Gilt diese Warnung noch heute? Diese Warnung greift Bundespräsident Joachim Gauck in der Theodor-Heuss-Gedächtnis-Vorlesung auf, die er aus Anlass des 50. Todestages von Heuss am 12. Dezember 2013 auf Einladung der Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus an der Universität Stuttgart gehalten hat, und er verbindet sie mit einem eindringlichen Plädoyer für die repräsentative Demokratie in Deutschland. Der Ort der Differenzierung und der Ort des Kompromisses ist das Parlament, nicht das Plebiszit. Die parlamentarische Demokratie in Deutschland bedarf freilich, so Joachim Gauck, der kreativen Impulse der direkten Demokratie, wie sie auf kommunaler und Länderebene gepflegt wird, und sie bedarf der vielfachen Formen des bürgerschaftlichen Engagements. Insbesondere setzt das Gelingen der Demokratie in Deutschland die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger voraus, sich an die Verbrechen zweier Diktaturen ebenso zu erinnern wie an die raditionen von Freiheit und Demokratie. Die Theodor-Heuss-Gedächtnis-Vorlesung wird alljährlich im Dezember von der Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus und der Universität Stuttgart veranstaltet. Die Vorlesung knüpft an die Tradition der öffentlichkeitswirksamen Rede an, für die Theodor Heuss als Hochschullehrer, Politiker und Bundespräsident stand.
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Seitenzahl: 32
30
KLEINE REIHE Theodor-Heuss-Gedächtnis-Vorlesung 2013
Bundespräsident Joachim Gauck
Mehr Bürgergesellschaft wagen
Über repräsentative Demokratie, Bürgersinn und die Notwendigkeit des Erinnerns
STIFTUNGBUNDESPRÄSIDENT -THEODOR - HEUSS - HAUS
BUNDESPRÄSIDENT JOACHIM GAUCK
Mehr Bürgergesellschaft wagen
Über repräsentative Demokratie, Bürgersinn und die Notwendigkeit des Erinnerns
Eine Gedächtnisvorlesung darf vieles sein: Erinnerung und Dank, Bühne für Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Als Bürger Gauck hätte ich vielleicht eine Freiheitsrede gehalten auf Theodor Heuss, den großen Liberalen. Nun aber komme ich zu Ihnen als Bundespräsident. Ich komme mit großer Freude und rede nicht einfach nur als Bürger Gauck, sondern als Amtsnachfolger jenes Mannes, der einmal sagte: »Ich gebe keine Richtlinien, ich gebe Atmosphäre.«[1]
Damit bin ich nicht ganz zufrieden, mit dieser Selbsteinschätzung. Ich verbuche sie unter schwäbischen Humor. Theodor Heuss war einer jener großen Politiker – das wissen wir doch alle –, der der bundesdeutschen Demokratie den Weg gebahnt hat. Und nicht nur über die Demokratie hat er wichtige Dinge neu vermittelt. Er hat auch für eine Erinnerungskultur geworben, die sich später als etwas herausstellen sollte, das geistiger Besitz eines erneuerten Deutschlands wurde. Weil er für diese Erinnerungskultur ein Fundament gelegt hat, kann ich den Satz mit der Atmosphäre überhaupt nicht akzeptieren. Und wenn ich nachlese, wie er über die repräsentative Demokratie gesprochen hat, dann will ich ebenfalls nicht nur über Atmosphäre sprechen. Schließlich will ich über unsere Bürgergesellschaft nachdenken und darüber, was daraus geworden ist.
I.
Bis zur Gründung der Bundesrepublik hatte Theodor Heuss seine Grundüberzeugungen entwickelt: Er stand zum deutschen Weststaat – anders als viele andere Deutsche damals. Den provisorischen Charakter zu unterstreichen, das hätte für ihn bedeutet, die Handlungsfähigkeit und Autorität dieses neuen Staates zu untergraben. Er befürwortete zudem eine starke Kompetenz des Bundes, denn er fürchtete die Übermacht der Länder. Er warb für eine und vertrat eine repräsentative Demokratie – und er hielt die plebiszitären Elemente angesichts der historischen Situation und angesichts der Größe Deutschlands durchaus für schädlich.
Manches hat sich durch die historische Entwicklung erübrigt. Deutschland ist wiedervereinigt. Das Verhältnis zwischen Bund und Ländern ist trotz mancher Debatten wohl geordnet: Im Westen wurde es erprobt, im Osten wurde es 1989 schon erwünscht und dann auch gern übernommen. Heuss‘ Haltung gegenüber der direkten Demokratie dürfte heute allerdings kontroverser sein als damals.
Heuss sah im parlamentarischen System »die Erziehungsschule der politischen Verantwortung«. Dem Sozialdemokraten Walter Menzel, der zu den wenigen zählte, die Volksinitiative und Volksbegehren in das Grundgesetz aufnehmen wollten, entgegnete Heuss 1948: »Cave canem! Ich warne davor, mit dieser Geschichte die künftige Demokratie zu belasten.« Das Volksbegehren drohe in der »großräumigen Demokratie« und in der »Zeit der Vermassung und Entwurzelung«, so Heuss, eine Trophäe der Volksverführer zu werden.[2]
»Es wäre mir unsinnig erschienen«, erklärte er sieben Jahre später, »dem deutschen Volk in seinem soziologisch und seelisch so amorphen Zustand wieder eine Gesetzgebung herzustellen, die für jeden Demagogen, für jede demagogische Forderung einfach eine Lockung und eine Prämie anbietet.«[3] Heuss, der 1932 noch emphatisch die Direktwahl des Reichspräsidenten befürwortet hatte, riet 1949 dann dringend von der Direktwahl eines Bundespräsidenten ab. Ja, da begegnet uns ein Misstrauen, das wir heute nicht teilen mögen, aber das wir verstehen können.