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Die Lebensentwürfe, Wertvorstellungen, religiösen und kulturellen Hintergründe der Menschen werden immer vielfältiger. Manche erleben dies als Bereicherung, nicht wenige aber als Last. Was muss die Gesellschaft, was muss der Einzelne tolerieren und wo liegen die Grenzen der Toleranz? Wie viel Andersartigkeit muss man erdulden und wie viel Kritik aushalten? In seinem neuen Buch streitet Joachim Gauck für eine kämpferische Toleranz. "Ich war und bin bis heute der Meinung, dass es kein Laisser-faire geben darf gegenüber jenen, die Pluralität und Toleranz mit Füßen treten. Toleranz, die Nachsicht und Duldsamkeit preist gegenüber den Verächtern der Toleranz, hilft den Tätern und nicht den Opfern. Intoleranz gegenüber einer Intoleranz, die Menschen unterdrückt und verachtet, ist eine Haltung von Demokraten im Namen der Menschenwürde." Aus der entschiedenen Überzeugung heraus, dass die Gesellschaft eine deutlichere und bewusstere Debatte über Toleranz benötigt, spürt er den Fragen nach: Was macht Toleranz aus und was macht sie notwendig? Und warum ist Intoleranz heute so populär und attraktiv? Die großen Themen der Zeit – wie das Erstarken populistischer Parteien, die Debatten in der Migrationspolitik, die Zunahme des Islam in europäischen Gesellschaften, die drohende Klimakatastrophe und die zunehmende Digitalisierung der Welt – bieten viel Angriffsfläche für das Maß dessen, was ein Einzelner bereit ist zu akzeptieren und zu ertragen. Daraus erwachsen Formen des Extremismus und der Intoleranz, die der ehemalige Bundespräsident als die großen Herausforderungen unserer Zeit bezeichnet, denn zum bereits vorhandenen Links- und Rechtsextremismus gesellt sich der islamische Fundamentalismus. Intoleranz jedoch nur denjenigen vorzuwerfen, die extreme Haltungen vertreten, ist kurzsichtig. Die "Intoleranz der Guten" kann ebenso die Gemeinschaft schwächen. Diese politische Korrektheit im Sinne einer politischen und ethischen Orientierung trägt zwar zu gegenseitigem Respekt und Verständigung bei, dennoch müssen kontroverse Diskussionen möglich sein. Dies zeigt sich besonders in Migrationsfragen. Die derzeit größte Zerreißprobe für die individuelle und gesellschaftliche Toleranz ist die hohe Zahl von Menschen, die Schutz in Deutschland und Europa suchen. Kritisch hinterfragt Joachim Gauck, wo die Grenzen der Toleranz erreicht werden. Der große Demokrat schließt mit einem starken Plädoyer für die Erhaltung und Wahrung von Toleranz als Tugend und als Gebot der politischen Vernunft, die gut ist für jeden Einzelnen und unerlässlich für die Gesellschaft. "Es ist nicht die schlichte Vertrautheit mit dem Eigenen, was uns sicher macht, das Richtige zu verteidigen. Sondern die Gewissheit, dass der Verteidigung wert ist, was allen Menschen zukommt: Würde, Unversehrtheit, Freiheit und Recht. Es wird sich immer und immer wieder lohnen, dafür zu streiten mit Verantwortungsbewusstsein, mit Mut und – mit kämpferischer Toleranz."
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Seitenzahl: 270
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Joachim Gauck
In Zusammenarbeit mit Helga Hirsch
Toleranz: einfach schwer
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2019
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: Judith Queins
Umschlagmotiv: ©J. Denzel / S. Kugler
E-Book-Konvertierung: Daniel Förster, Belgern
ISBN E-Book: 978-3-451-81527-0
ISBN Print: 978-3-451-38324-3
Warum dieses Buch?
Über die Notwendigkeit von Toleranz
Frühere eigene Erfahrungen mit Toleranz und Intoleranz
Zum Beispiel: Das Haus I
Von notgedrungen zu kostbar: Historische Annäherungen an die Toleranz
Das Ende der einheitlichen Weltsicht
Vom Zwang zur Koexistenz zum Minderheitenschutz
Die Intoleranz der ehemaligen Häretiker
Die Trennung von Staat und Religion
Von der Toleranz des Staates zur Toleranz zwischen den Menschen
Die Unterdrückung am Pranger
Die Ausweitung der Toleranz
Die rechtliche Sicherung eines erweiterten Toleranzgebots
Was ich unter Toleranz verstehe: 12 Aspekte
Am Beginn einer neuen Epoche: (In)Toleranz in Zeiten des Umbruchs
Die Repräsentanzlücke
Desillusionierung oder: Kein Ende der Geschichte
Gegenbewegung
Die Gesellschaft sortiert sich neu
Erweiterungen und Grenzen: Wie viel Toleranz lässt sich lernen?
Toleranzfähigkeit – je nach individueller Disposition
Die Angst vor dem Wandel berücksichtigen
Kollektiver Nachholbedarf in Sachen Toleranz
Wie viel Toleranz gegenüber Intoleranten? Über den Umgang mit extremistischen Auffassungen
Die neuen und die alten Rechten
Keine Toleranz gegenüber Rechtsradikalen
Repressive Toleranz
Rechts ist nicht rechtsradikal
Das Feld des Nationalen nicht den Extremisten überlassen
Falsche Nachsicht gegen linke Gewalt
Unterschätzter Islamismus?
Verhärtete radikale Milieus unter Muslimen
Islamistisch und islamisch
Antisemitismus: Für einen differenzierten Umgang
Aufklärung hilft
Die Intoleranz der Guten: Wenn politische Korrektheit zum Problem wird
Betreutes Sprechen
Politische Korrektheit auf dem Vormarsch
Die Grenzen der öffentlichen Regulierung
Identitätspolitik – gerechter oder spalterisch?
Welche Identität(en) wollen wir?
Wenn Partikularismus die Oberhand gewinnt
Die Rolle als Opfer: identitätsstiftend?
Offenheit und Wertebewusstsein: Toleranz in der Einwanderungsgesellschaft
Fremdenfeindlichkeit verschwindet nicht
Wie viel Zuwanderung nützt unserem Land?
Wer gehört dazu?
Multikulturalismus: Über die Grenzen der Toleranz
Migrantische Intoleranz: Interne Restriktion
Von der Kraft unserer Werte
Zum Beispiel: Das Haus II
Für eine kämpferische Toleranz
Dank
Über die Autoren
70 Jahre ist es her, dass sich Deutschlands Westen nach der Gewalt und den Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes mit dem Grundgesetz eine freiheitliche und demokratische Grundlage gab. 30 Jahre ist es her, seit Deutschlands Osten nach dem Gewinn der Freiheit wiedervereinigt wurde. Niemals werde ich vergessen, mit welch überwältigender Erleichterung und Freude ich diese Zeit erlebte und mit welchen großen Erwartungen ich in die Zukunft blickte. Ich habe mir nicht vorstellen können, dass es jemals notwendig sein würde, über Toleranz in unserem Land zu schreiben. Denn mit dem Gewinn von Freiheit und Demokratie musste sie sich quasi naturwüchsig dazugesellen und erweitern – davon war ich überzeugt.
So blieb die Vorstellung von Toleranz lange wie ein altes Familienschmuckstück in meinem Besitz – geschätzt, aber wenig beachtet. Nun aber, in neuer Zeit, wollte sie genauer angeschaut und bewertet werden. Denn etwas hat sich tiefgreifend verändert im Land. Das Klima zwischen den Menschen ist rauer geworden. Ich erlebe die gegenaufklärerische Leugnung von Fakten und Evidenz und die Geringschätzung Experten gegenüber, als ließe sich Wahrheit durch subjektives Empfinden oder willkürliche Festlegungen neu erfinden. Auf den Straßen und mehr noch im Netz ist eine zum Teil bösartige Intoleranz zu besichtigen und eine Verweigerung von Affektkontrolle, die sich eine Generation zuvor höchstens versteckt gezeigt hatte und in eher begrenzten Gruppen üblich war. Fast kein Tag, an dem durch die sozialen Netzwerke nicht eine Flut von Beleidigungen, Häme, ja Hetze spült. Zivilisatorische Schranken, die uns gelehrt hatten, Unwillen nicht in Beschimpfung und Wut nicht in Aggression kippen zu lassen, erweisen sich zunehmend als unwirksam. Die Hemmschwellen sind gesunken.
Nun sehe ich, was ich nach dem Erschrecken über die Anschlagsserie Anfang der 1990er Jahre in Hoyerswerda, Solingen, Hünxe, Mölln und zahlreichen anderen Städten in diesem Ausmaß nicht mehr erwartet hatte: eine alte und neue Fremdenfeindlichkeit, alten und neuen Rassismus, Antisemitismus, zudem eine wachsende Bereitschaft in Milieus von Einheimischen wie Eingewanderten, sich autoritären Führerpersönlichkeiten zuzuwenden und gewählte Volksvertreter mit Verachtung, Hass und Häme zu überschütten. Im politischen Leben hat sich die Frontbildung zugespitzt wie vielleicht zum letzten Mal im Westdeutschland Ende der 1960er Jahre. Der politische Gegner wird schnell zum Feind erklärt, der mit meist moralischen Werturteilen angegriffen, ausgegrenzt und möglichst mundtot gemacht werden soll. Kompromisse erscheinen häufig nicht mehr wünschenswert, werden vielmehr als Ausdruck politischer Schwäche verachtet und durch die Politik des »alles oder nichts« ersetzt. »Volk gegen Elite«, heißt es stattdessen.
Die Dialogkultur hat erheblich gelitten, ein Miteinander-Reden ist manchmal nicht mehr möglich. Statt das Gespräch oder auch den handfesten Disput mit Andersdenkenden zu suchen, ziehen sich nicht wenige Bürger in gleichgesinnte Lebenswelten zurück. Freundschaften enden aufgrund unterschiedlicher Lagerzugehörigkeit, Milieus sortieren sich neu, die etablierte Parteienlandschaft löst sich auf – weniger in Deutschland, deutlicher in anderen westlichen Ländern. Die Radikalisierung hat zugenommen. In ihrem manichäischen, auf Spaltung und Polarisierung angelegten Weltbild unterscheiden sich Rechtsradikale nicht von Linksradikalen und nicht von Islamisten. Häufig greifen sie zum Mittel der Gewalt und missachten die Rechtsordnung. Letztlich sind die Fundamentalisten unterschiedlichster Couleur aus demselben Holz geschnitzt.
Als weiteres Problem sehe ich falsche Toleranz, die neben aller bewundernswerten Empathie etwa gegenüber Menschen aus Einwandererfamilien nicht frei ist von Naivität und allzu großer Nachsichtigkeit. Das, was divers ist, gilt einigen allein schon wegen seiner Andersartigkeit als schützenswert. Beispielsweise ist die Politik einiger Multikulturalisten von dem Diktum bestimmt, andere Kulturen, Sitten, Religionen seien pauschal als erweiternd, belebend, eben »bereichernd« anzusehen. Wer nach konkreten Inhalten anderer Sitten und Religionen fragt und sich unter Umständen dagegen abgrenzt, gilt schnell als Rassist. Diversität gilt etlichen pauschal als das neue Leitbild.
Die Toleranz ist nach den globalen Gewalterfahrungen bis Mitte des 20. Jahrhunderts unbestritten als eine grundlegende Voraussetzung einer demokratischen, pluralistischen Gesellschaft akzeptiert. »Praktizierte Toleranz bedeutet […] für jeden einzelnen Freiheit der Wahl seiner Überzeugungen, aber gleichzeitig auch Anerkennung der gleichen Wahlfreiheit für die anderen.« So heißt es in der Erklärung über die Prinzipien der Toleranz, die 1995 von den UNESCO-Mitgliedsstaaten zum 50. Jahrestag ihres Bestehens verabschiedet wurde. Da die Menschen unterschiedlich sind, da demokratische Gesellschaften auf Pluralität beruhen, kann nur Toleranz das friedliche Zusammenleben sichern. Das ist so einsichtig, so erfahrungsgestützt, dass alle bewusst lebenden Menschen es leicht nachvollziehen können.
Doch obwohl Toleranz in jedem Bildungsplan westlicher Gesellschaften verankert ist und an Feier- und Gedenktagen für sie geworben wird, zeigt sich, dass sie keine selbstverständliche Haltung war und erst recht nicht ist. Mehr noch: Es ist nicht einmal klar, was Toleranz genau meint. Philosophen, Theologen, Juristen, Soziologen und Journalisten haben zwar immer wieder über Toleranz nachgedacht, eine präzise, für alle verbindliche Definition hat sich daraus aber nicht entwickelt. Bis heute kennzeichnet den Begriff eine gewisse Unschärfe. Für die einen ist Toleranz eine Tugend, unter der sie die weitherzige Akzeptanz von anderen Positionen verstehen. Andere halten Toleranz für eine Untugend, weil sie darin eine nur herablassende Duldung sehen. Wenn es beispielsweise im »Historischen Wörterbuch der Philosophie« heißt, Toleranz sei »die Duldung von Personen, Handlungen oder Meinungen, die aus moralischen oder anderen Gründen abgelehnt werden«, werden sich sicher Menschen finden, die mit Goethe darauf antworten: »Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.«1
Ich spürte jedenfalls: Wenn ich Toleranz bedroht sehe und die neue Intoleranz bekämpfen will, muss ich vertieft Bescheid wissen. Deswegen wollte ich genauer wissen, wie Toleranz entstanden ist und warum sie immer wieder vernachlässigt oder missachtet wurde. Und wenn mich mein angeborener Optimismus dazu zu verleiten suchte, allein die Fortschritte von Toleranz in der Geschichte zu sehen, musste ich mir nur die Vergangenheit des 20. Jahrhunderts in Deutschland und Europa aufrufen, zwei totalitäre Systeme, für die Intoleranz gegenüber Andersdenkenden und Minderheiten geradezu ein grundlegendes Kennzeichen war. Und ich sah: Mögen Nationalsozialismus und Kommunismus in Europa auch Vergangenheit sein, als Versuchung sind andere Formen autoritärer Herrschaft wie auch neue Intoleranz für manche Zeitgenossen wieder attraktiv.
So versuchte ich dem nachzuspüren: Was macht Toleranz aus, und was macht sie notwendig? Und warum ist Intoleranz attraktiv? Der Text, der aus diesen Fragen und Sorgen entstanden ist, dient der Selbstvergewisserung: Er versucht, sich die Geschichte des Begriffs zu erschließen, und verbindet dies mit den aktuellen Auseinandersetzungen. Dabei ist mir bewusst (geworden), dass ich bei mancher Kontroverse noch keine endgültige Urteilssicherheit habe. Nur eines ist mir klar geworden: Wir brauchen in unseren Breiten eine deutlichere und bewusstere Debatte über Toleranz, diese schwer errungene, oft verweigerte, von verschiedenen Seiten diskreditierte Haltung freier Menschen.
So schreibe ich auf, was ich heute weiß. Es kann nur ein Gesprächsbeitrag sein. Mag er gültig sein, so ist er jedenfalls nicht endgültig.
Darüber nachzudenken, was Toleranz meint, war für mich in meinen jungen Jahren nicht nötig gewesen. Sie kam wie von selbst in mich hinein, denn sie gehörte zur gebotenen Lebensform eines Christenmenschen. Wer dem Nächsten mit Respekt, Aufmerksamkeit und Empathie begegnen wollte, musste tolerant sein. Das verstand sich fast von selbst, war also eigentlich ganz einfach – einfach im Sinne von selbstverständlich.
Genauso einfach im Sinne von selbstverständlich war es, gerade nicht tolerieren zu wollen, was in der DDR als politische und kulturelle Doktrin über uns gekommen war. Bereits als Kind wusste ich, dass das, was um mich herum geschah, Unrecht und Willkür waren. Die Menschen waren nicht gleich, sondern wurden ungleich behandelt je nach politischer Haltung. Oppositionelle wurden diskriminiert, etliche kamen ins Gefängnis oder wurden bis in die 1950er Jahre nach Moskau und Sibirien verschleppt, von wo viele nie zurückkehrten. Wer eine andere Auffassung vertrat als die herrschende Partei, durfte nicht studieren, ja nicht einmal Abitur machen. An den Universitäten und Hochschulen verpflichtete man alle Studierenden zum gesellschaftswissenschaftlichen Grundstudium des Marxismus-Leninismus, Karrieren waren weitgehend von einer SED-Mitgliedschaft abhängig. Bücher und alle Medien unterlagen der Zensur – Lügen und Halbwahrheiten fanden sich allüberall. Ich schweige vom grundsätzlichen Legitimationsdefizit der Parteiherrschaft, der Nichtgewährung freier und gleicher Wahlen und ihrer Folge: der Ohnmacht der Vielen.
Über Toleranz haben wir im Elternhaus und später unter Freunden nie diskutiert. Privat war sie selbstverständlich, im politischen Leben hatte sie angesichts unserer Lebensrealität keine Bedeutung, keinen Platz, kein Betätigungsfeld. Wir wollten uns weder um eine tolerante Haltung gegenüber dem diktatorischen Regime bemühen, noch durften wir von ihm Toleranz uns gegenüber erwarten.
Im Rückblick würde ich sagen: Ich bin angesichts dieser Verhältnisse nicht mit einem Gebot zur Toleranz im politischen Raum aufgewachsen, sondern mit einem Verbot. Ein permanenter Widergeist des »Nein« und »Nimmermehr« und ein beständiges »Aber« bestimmten mein Denken und Fühlen. Auf die Indoktrinierung und Intoleranz des herrschenden Systems antwortete ich mit dem Trotz und dem unbedingten Willen dessen, der sich behaupten und »ihnen« gegenüber immer recht haben und recht bekommen will. Ich wollte keine Toleranz gegenüber der Intoleranz entwickeln, wollte nicht billigen, was der Gesellschaft als Meinung, Lebensstil, Kultur, selbst als wissenschaftliche Lehrmeinung aufgezwungen wurde. Denn nicht Pluralität prägte den Alltag in der DDR, sondern die dichotome Frontstellung »Wir« gegen »Die«. »Wir«, die wir uns verweigerten oder aufbegehrten, gegen »Die«, die Konformität und Unterordnung erzwingen wollten. So verbarrikadierte ich mich in meinem Dagegen und trainierte Selbstbehauptung.
Eine ideologisch offene Haltung gegenüber jenen, die als Sachwalter eines intoleranten Systems auftraten, wäre den allermeisten Aktiven in Kirchengemeinden, Basis- und unabhängigen Künstlergruppen wie Verrat erschienen. Das unterschied sie von jenen in der DDR, die glaubten, sich mit der Macht gut stellen zu müssen, um vielleicht eine Reform von oben einzuleiten. Für die Kirche, in der ich viele Jahre als Pastor arbeitete, war jedenfalls klar: Absprachen, wie ich sie beispielsweise in den 1980er Jahren zur Vorbereitung der evangelischen Kirchentage in Rostock zu führen hatte, waren ausschließlich mit staatlichen Stellen zu treffen und nur zur Not mit der Partei, aber auf keinen Fall mit der Staatssicherheit. Die ungleichen Positionen lagen auf der Hand – der Staat war fast allmächtig, die Kirche fast ohnmächtig –, manchmal allerdings konnten wir doch gewisse Freiräume durchsetzen, ohne grundsätzlich die Unabhängigkeit unserer Positionen aufzugeben. Die Wirklichkeit gebot uns, die Macht der Diktatoren als gegeben zu akzeptieren. Diese zu ertragen, war ein Gebot der Notwendigkeit, nicht der Toleranz.
Was mich und viele andere damals zusätzlich schmerzte, war die Tatsache, dass Unangepasste nicht nur auf die Intoleranz von Partei und Regierung stießen, sondern auch auf die Intoleranz vieler Mitbürger. Da war der Nachbar, der argwöhnisch verfolgte und meldete, ob die Studentin im Parterre des Öfteren Westbesuch bekam. Da war der Arbeitskollege, der, ohne jemals dazu beauftragt worden zu sein, weitergab, dass der Lehrling eine Bibel auf dem Regal seines Wohnheimzimmers stehen hatte. Wie wir inzwischen aus dem Stasi-Archiv wissen, haben sich telefonisch auch immer wieder Bürger gemeldet, die der Stasi »einfach nur mal sagen« wollten, dass die Bekannte YZ vom letzten Urlaub in Polen Materialien der unabhängigen Gewerkschaft Solidarność mitgebracht hatte oder der Kollege Bücher aus dem Westen besaß. Derartige Denunziationen von Nachbarn und Kollegen gruben sich unter Umständen tiefer in die Seelen der Denunzierten ein als der allgegenwärtige Druck der Partei, weil sie ihnen im Alltag weniger Auswege ließen und ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber der Umwelt schufen.
Es wäre allerdings nur die halbe Wahrheit, wenn ich nicht auch davon berichten würde, dass die Ideologie des herrschenden Systems auch eine verführerische Seite besaß. Angeblich diente sie doch einem guten Zweck: dem Erreichen des endgültigen Ziels der Geschichte, dem eigentlichen, dem tiefer verstandenen Interesse der Menschheit. Ohne Denken und Handeln der Partei gab es angeblich keinen Fortschritt. Wenn die Vertreter der »Arbeiter-und-Bauern-Macht« die Interessen des Volkes also am besten vertraten, dann waren sie auch berechtigt, diese Interessen notfalls gegen den Willen von Betroffenen durchzusetzen. Sogar Staatsterror wie etwa am 17. Juni 1953 wurde dann ein legitimes Mittel, Menschen zu ihrem Glück zu zwingen. Und es mangelte nicht an willfährigen Dichtern und Intellektuellen, die sich daran beteiligten, »das Ungereimte zu reimen«, wie Wolf Biermann dichtete. Sie sangen das Lob der Intoleranz, einige verführt von einer Heilserwartung, andere aus Eigennutz.
Dann, spät, kam 1989. Das lange Unvorstellbare wurde Wirklichkeit. Die DDR hörte schneller auf zu existieren, als jemand von uns Unabhängigen und Oppositionellen das jemals zu träumen gewagt hätte. Wir, die Menschen der damaligen DDR, erkämpften erst die Freiheit und erlebten dann sogar die Wiedervereinigung. Ich schied als Pastor aus der Kirche aus und stieg in die Politik ein, denn ich wollte in der »neuen« Politik mitgestalten. Mein Lebensmittelpunkt verlagerte sich von Rostock nach Berlin. Und was die Toleranz betrifft, so war sie zwar in meiner Vorstellung immer eine unerlässliche Tugend eines demokratischen Staates gewesen. Doch als ich ihr tatsächlich begegnete, erschien sie mir manchmal eher als Belastung denn als Bereicherung. Nun war sie offiziell zwar selbstverständlich, aber gar nicht mehr einfach.
Der Neubürger in der Freiheit, der ich damals war, fremdelte zum Beispiel mit dem Fremden, den Ausländern und Migranten auf den Berliner Straßen. In Rostock waren die Vietnamesen, Polen, Mosambikaner oder Kubaner, die seit Mitte der 1960er Jahre als Arbeitskräfte ins Land gerufen worden waren, abgeschottet in Wohnheimen untergebracht. Ich war Ausländern nur gelegentlich im Rahmen der Kirche oder während meiner wenigen Auslandsbesuche begegnet. Als Fremde in der Fremde waren sie mir attraktiv und interessant erschienen, als Teil meines Alltags kratzte ihre unübersehbare Anwesenheit an meinen Gewohnheiten und Vertrautheiten.
Ich fremdelte auch mit der Rolle und dem Auftreten von Homosexuellen und Lesben im öffentlichen Leben. Nie hatte ich in der DDR gesehen, dass Homosexuelle sich auf der Straße ihre Zuneigung zeigten. Zwar hatte die DDR das Verbot der Homosexualität früher abgeschafft als Westdeutschland. Doch in der Gesellschaft blieb das Thema verpönt. Ich kannte mit meinen 50 Jahren nur wenige, die sich offen zu ihrer Homosexualität bekannt hätten. Lesben und Schwule fürchteten gar nicht mal so sehr die Intoleranz des Staates, sondern die Intoleranz ihrer nächsten Umgebung. Es war schon etwas Besonderes, dass evangelische Kirchenleitungen schwule Pastoren akzeptierten. In Ost-Berlin beispielsweise verdankten es Schwulengruppen der Toleranz evangelischer Gemeindemitglieder, dass sie überhaupt einen Raum bekamen, in dem sie sich treffen konnten.
Toleranz – das schien mir im wiedervereinigten Berlin aber auch eine dem juste milieu eigene Haltung der Indifferenz. Eine Unentschiedenheit gegenüber jeder Art von Eindeutigkeit und eine Scheu vor Verbindlichkeit – alles in allem eine entkernte Leichtigkeit. Vielen von uns aus dem Osten, die wir gerade gelernt hatten, entschieden aufzutreten, notfalls auch auf den Straßen und trotz des Risikos, auf die Gewalt des Staatsapparats zu stoßen, musste diese Toleranz unter dem Motto »anything goes« wie eine Spielart der Dekadenz erscheinen. Konfrontiert mit der Vielfalt in einer freien, offenen Gesellschaft sagte mir mein Kopf: Das ist Pluralität, und Pluralität braucht Toleranz. Mein Gefühl hinkte aber hinterher – im Vertrauten fühlte ich mich sicherer.
Ich habe in dieser Zeit der Eingewöhnung in den Westen allerdings auch erfahren, dass Fremdes nicht per Knopfdruck und nicht in beliebiger Menge integriert werden kann. Es braucht Zeit, um sich an Neues zu gewöhnen, sich teilweise vielleicht sogar mit ihm anzufreunden, es braucht auch Zeit, um zu lernen, Menschen und Dinge auszuhalten, die den eigenen Gewohnheiten und Denkweisen widersprechen. Ich lernte, dass es auch in einem demokratischen Staat Situationen geben kann, die mich überfordern und meine Toleranzgrenze überschreiten. Und ich erkannte, dass es, wenn man sich überfordert fühlt, besser ist, solche Situationen zu meiden, als sich vielleicht zu Reaktionen hinreißen zu lassen, die unbeabsichtigte Folgen haben.
Mehr als mir lieb war, wurde meine Fähigkeit zur Toleranz nämlich herausgefordert, nachdem ich als Abgeordneter von Bündnis ’90 im ersten frei gewählten Parlament der DDR mit der Funktion des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR betraut worden war. Die Erfahrungen aus der Nachkriegszeit im Westen Deutschlands hatten mich zu der Überzeugung geführt, dass das Verdrängen und Verschweigen von Verantwortung und Schuld während der Nazi-Diktatur ungerecht gegenüber den Opfern und schädlich für das moralische und das Rechtsempfinden der Gesellschaft waren. Mir vorzustellen, dass ähnlich wie in den 1950er Jahren in der Bundesrepublik nun wieder Richter, Staatsanwälte oder auch Militärs aus der DDR-Diktatur unterschiedslos und ungeprüft von der neuen Demokratie übernommen würden, erschien mir nicht nur politisch unklug, es widersprach auch zutiefst meinem Gerechtigkeitsempfinden. Das wäre falsche Toleranz gewesen. Ähnlich dachten wohl alle, die für die Demokratie gekämpft hatten und jetzt als Abgeordnete verschiedener demokratischer Parteien in der Volkskammer saßen.
Ich war und bin bis heute der Meinung, dass es kein Laisser-faire geben darf gegenüber jenen, die Pluralität und Toleranz mit Füßen treten. Toleranz, die Nachsicht und Duldsamkeit preist gegenüber den Verächtern der Toleranz, hilft den Tätern und nicht den Opfern. Intoleranz gegenüber einer Intoleranz, die Menschen unterdrückt und verachtet, ist eine Haltung von Demokraten im Namen der Menschenwürde.
Dass jene, die das System der DDR getragen und gebilligt hatten, sich einer Aufarbeitung widersetzten und Geschichtsklitterung zu betreiben versuchten, verwundert nicht. Erstaunlicher war die Erfahrung, dass die Aufarbeitung kommunistischer Diktatur auch bei vielen linken und linksliberalen Intellektuellen aus dem Westen auf Skepsis oder Ablehnung stieß. Es gehe doch um Versöhnung, hieß es, nicht um Rache und Vergeltung. Ein »Schlussstrich« sei angesagt. Jemand kritisierte die Überprüfung möglicher Stasi-Kontakte sogar als Inquisition und forderte eine Amnestie. Wie passte das zusammen, fragte ich mich, dass sich die alte Bundesrepublik gerade aufgrund des Drucks von Linken und Linksliberalen zur kritischen Aufarbeitung der Nazi-Diktatur entschieden hatte, dasselbe Milieu nun aber gegenüber den Verstrickten der SED-Diktatur mit Wahrnehmungsverweigerung und einem milden Blick auf Diktatoren und ihre Zuträger reagierte? Hatte sich nicht längst die Einsicht durchgesetzt, dass der alten Bundesrepublik viele der Proteste nach 1968 erspart geblieben wären, wenn sie Unrecht zuvor nicht so lange unter den Teppich gekehrt hätte?
Bei genauerem Hinsehen ließ sich aufklären, was zunächst als paradox erschien. Ganz offensichtlich plädierten jene Menschen für den Schlussstrich, die sich in der jungen Bundesrepublik gegen eine Restauration von rechts wandten und in der Sowjetunion immer nur das Opfer sahen. Sie lehnten die Totalitarismustheorie ab, die auch linke Diktaturen delegitimierte. Sie wollten lieber schweigen als den repressiv-totalitären Charakter des realen Sozialismus benennen und sahen sowieso viel lieber nach Lateinamerika, nach Südafrika, aber nur ungern in den Osten. Was beispielsweise in Polen der antikommunistischen Solidarność gelang, stieß wegen deren Verbindungen zur katholischen Kirche auf Skepsis und Ablehnung. Die Angst davor, als Antikommunist zu gelten, hat den Einsatz für Menschen- und Bürgerrechte im real existierenden »linken« Totalitarismus untergraben. Damals habe ich gelernt, dass die Bereitschaft zu Toleranz immer auch abhängig ist von der politischen Haltung eines Individuums. Gegenüber Gleichgesinnten, Verbündeten im Geiste oder auch gegenüber Familienmitgliedern ist der Mensch offensichtlich eher zur Nachsicht bereit; gegenüber Gegnern hingegen entwickelt er frühzeitig eine Neigung zur Intoleranz.
Mein Verständnis von Toleranz beruht aber darauf, dass unterschiedliche und sogar entgegengesetzte politische Optionen oder Haltungen prinzipiell ein gleiches Existenzrecht haben. Es gibt nur einen einzigen Grund, Menschen von Toleranz auszuschließen, das ist, wenn sie sich nicht mehr im rechtlichen und ethischen Rahmen unserer Gesellschaft bewegen. Oder in den Worten des Rechtsphilosophen Norberto Bobbio: »Die Toleranz muss sich auf alle Menschen erstrecken, ausgenommen diejenigen, die das Prinzip der Toleranz leugnen. Kurz gesagt, alle, außer den Intoleranten, müssen toleriert werden.«2
Mit diesem ideellen Gepäck im Kopf habe ich mich nun noch einmal aufgemacht, um dem nachzuspüren, was Toleranz heute angesichts neuer Lernfelder bedeutet.
1 Goethe, Maximen und Reflexionen, hg. von Max Hecker, Weimar 1907
2 Norberto Bobbio, Gründe für die Toleranz. In: Ders., Das Zeitalter der Menschenrechte. Ist Toleranz durchsetzbar? Berlin 1998, S. 103
Auf der Suche nach einem lebensnahen, alltäglichen Beispiel für Toleranz kam mir Thomas in den Sinn, ein guter Bekannter in Westdeutschland, der vor einigen Jahren ein Haus von seiner Tante geerbt hat. Ein Mietshaus mit mehreren Parteien in einer westdeutschen Großstadt. Für Thomas, der seinen Lebensunterhalt als Angestellter in einer Stadtverwaltung verdient, ein ziemlicher Rollenwechsel. Dieses Mietshaus erschien mir plötzlich ein passendes Bild für eine Gesellschaft im Kleinen. Die Mieter brauchen Regeln, um miteinander auszukommen. Sie müssen sich nicht lieben, sie sollten sich aber auch nicht hassen. Sie müssen lernen, Konflikte zu lösen und in immer neuen Konstellationen miteinander auszukommen. Da Thomas mir regelmäßig von dem Haus erzählt, sind mir die Bewohner und die Verhältnisse vertraut geworden, ohne dass ich jemals vor Ort gewesen wäre. Und erstaunlich oft ging es in seinen Geschichten um Toleranz beziehungsweise ihre Grenzen.
Bevor Thomas das Erbe antrat, hatte er kurzzeitig Zweifel, ob ihn das Haus finanziell nicht überfordern würde. Das Gebäude war in einem relativ schlechten Zustand, ein wenig verwahrlost, die Fassade wies Risse auf, im Treppenhaus bröckelte der Putz von den Wänden. Bekannte rieten ihm, das Erbe vorsichtshalber auszuschlagen. Doch die Entscheidung fiel schnell. Das Haus erinnerte Thomas an Gefühle, Gerüche, Erinnerungen aus der Kindheit, als er die Tante regelmäßig besucht hatte. Dieser Ort gehörte zu seiner Geschichte. Und die Sparkasse sicherte ihm einen Kredit zu. Er trat das Erbe an.
Die neue Rolle forderte ihn allerdings gehörig heraus. Er arbeitete drei Tage in der Stadtverwaltung und kümmerte sich den Rest der Woche um das Haus. Es galt, neue Mietverträge aufzusetzen, neue Versicherungen abzuschließen, alle Daueraufträge zu ändern und Angebote für die Gebäudesanierung einzuholen. Ein Rundgang mit einem Architekten förderte zudem zutage, dass auch im Keller und auf dem Dachboden Ausbesserungen erforderlich sein würden. Thomas machte Pläne für die Ausbesserungsmaßnahmen, nahm Verhandlungen mit Firmen auf und holte das Einverständnis der Mieter für die Baumaßnahmen ein. Bei diesen ersten Gesprächen erfuhr er auch erstmals von Konflikten.
Es gebe ein Problem im Haus, erklärte ihm die ehemalige Grundschullehrerin, die unten im Erdgeschoss wohnt. Das »Problem« seien die beiden Studenten unter dem Dach. Sie hielten sich nicht an die Nachtruhe, probten regelmäßig mit Freunden Musikstücke, mit denen sie angeblich bei verschiedenen Live-Veranstaltungen auftraten. Sie fände es ja lobenswert, sagte die Lehrerin, dass sich die Studenten Geld verdienten, aber warum üben sie zuhause und nicht in irgendeinem Club? Mehrfach hätten sich die Hausbewohner bei der Tante beschwert, doch die sei mit der Sache im fortgeschrittenen Alter überfordert gewesen. Mehrfach hätten die Mieter sogar die Polizei gerufen. Dann sei zwar für einige Tage Ruhe eingetreten, doch kurz darauf sei die Auseinandersetzung in die nächste Runde gegangen. »Sie werden sich doch kümmern?«, fragte die Grundschullehrerin und sah Thomas erwartungsvoll an.
Thomas kümmerte sich. Zunächst suchte er ein Gespräch mit den Studenten, verwies sie auf die Hausordnung, forderte deren Beachtung. »Eine Gemeinschaft braucht ein Minimum an Regeln, braucht gegenseitige Rücksichtnahme.« Doch schon während des Gesprächs merkte er, dass seine Argumente die Studenten nicht erreichten. Warum, so musste er sich vielmehr anhören, würden sich die Mieter in ihrem Fall beschweren, wo doch die Familie im ersten Stock einen Hund hätte, der nachts nicht selten laut und lange bellte? Außerdem spielten sie im Dachgeschoss. Da gebe es keine Mieter daneben und darüber.
Thomas wollte kein Spießer sein, er wollte sich aber auch nicht auf der Nase herumtanzen lassen – und schrieb eine Abmahnung. Als allerdings schon nach zwei Wochen der nächste Beschwerdeanruf kam, sah er keinen anderen Ausweg mehr und setzte ein Kündigungsschreiben auf. Eine so lange und systematische Missachtung der Regeln konnte nicht mit Duldung rechnen. Doch bevor er den Brief noch einmal mit einem Rechtsanwalt durchgehen konnte, erreichte ihn das Kündigungsschreiben der Studenten; sie waren ihm zuvorgekommen. Thomas war es mehr als recht. Die unerwartet frei gewordene Dachwohnung brachte ihn sogar auf die Idee, sie für sich selbst als Zweitwohnung zu nutzen. Homeoffice ließ sich mit seiner Arbeit vereinbaren, Thomas hatte sich erkundigt. Und Anwesenheit im Haus würde dem Fortgang der Sanierungsmaßnahmen nur dienlich sein. Schon bald lebte Thomas mehr in seinem Haus als in seiner Mietwohnung.
Die Grundschullehrerin war für ihn die Verbindung zur alten Zeit, er erinnerte sie aus der Kindheit. Jetzt war sie schon einige Jahre pensioniert, aber sie ging zwei Mal jede Woche weiterhin in ihre Schule, drei Straßenzüge weiter, und gab Nachhilfeunterricht bei Schülern mit Sprach- und Schreibschwierigkeiten. Frau N. war so etwas wie ein personifiziertes Regelwerk für die Bewohner. Eigentlich hatte immer sie für das Klima im Haus gesorgt, indem sie etwas vorlebte, das für alle nützlich und hilfreich war. Wenn gestresste Nachbarn wenig Zeit für die Sorgen der eigenen Kinder hatten, fanden sie Geduld und Gehör bei ihr. Man konnte ihr die Schlüssel für die Wohnung und die Briefkästen anvertrauen, wie auch die Balkonblumen in Urlaubszeiten. Nur in einem Fall war ihr Verhältnis zu einem Mitmieter gestört.
Früher, so erzählte die Lehrerin, hätte sie zur Familie S. im ersten Stock ein freundschaftliches Verhältnis gehabt. Sie hätten die Geburtstage miteinander gefeiert, wären auch miteinander ins Kino gegangen. All das sei inzwischen vorbei. Nicht wegen des Hundes, den Herr S. vor zwei Jahren angeschafft hätte, obwohl laut Mietvertrag das Halten von Tieren untersagt sei und ihr das Bellen manchmal tatsächlich auf die Nerven ginge. Nein, der Grund lag im Sinneswandel von Herrn S. Es hatte einige heftige Debatten gegeben, und nun gehe sie Herrn S. aus dem Weg.
Herr S. war im Stadtteil geboren, nur wenige Hundert Meter entfernt. Doch – so behauptete er, als Thomas ihn kurze Zeit später sprach – der Stadtteil sei nicht mehr sein Zuhause. Früher hätten nur Deutsche hier gewohnt, dann seien türkische Familien zugezogen, danach auch andere Ausländer, nun seien die Deutschen in der Minderzahl, und im eigenen Land würden die eigenen Regeln nicht mehr gelten. Würde die Firma, bei der Herr S. arbeitet, nicht so nah liegen, wäre er längst umgezogen. Seine Tochter, erklärte Herr S., hätte er jedenfalls nicht in eine Schule gehen lassen können, in der drei Viertel der Schüler nicht einmal richtig Deutsch könnten. Trotz des viel längeren Schulwegs habe er sie woanders eingeschult. »Wie soll denn sonst etwas aus ihr werden?«
Früher, so erfuhr Thomas des Weiteren, hatte Herr S. die SPD gewählt, da hatte er noch Politiker wie Willy Brandt vor Augen. Heute findet er richtig, was Sozialdemokraten wie Thilo Sarrazin und Heinz Buschkowsky sagen – aber die sollen aus der SPD ja rausgeschmissen werden. »Wenn man deren Meinung vertritt, ist man schon ein Rassist.« Wie könne es aber sein, dass Hunderttausende junger Männer ins Land kämen, die keine Chance auf Asyl hätten und trotzdem nicht abgeschoben würden? Wie viel Frauen sollten denn noch vergewaltigt werden? Jedenfalls hat es Herrn S. gereicht. Bei den letzten Bundestagswahlen hat er die AfD gewählt.
An jenem Abend hatte Thomas mich angerufen. Das Gespräch belastete ihn. Er selbst hat immer für die Grünen votiert. Hat mit ihnen gegen Atomkraft und rassistische Parolen demonstriert, hat Migranten in einem Fußballclub betreut. Es fiel ihm schwer, in einem Haus zu wohnen, wo er den AfD-Wähler im Wohnzimmer unter sich wusste. Er müsse, versuchte ich beruhigend einzuwenden, mit einem Mieter doch auch nicht befreundet sein. Er könne doch Distanz halten. Und außerdem: Wie tief reiche die Wut von Herrn S. denn überhaupt? Sei er eher ein Protestwähler, oder sei er wirklich fremdenfeindlich? Wie komme er beispielsweise mit der türkischen Familie aus, die doch auf demselben Stockwerk wohne? Ich spürte durchs Telefon, wie Thomas aufatmete. Plötzlich tauchte ein Hoffnungsschimmer auf. Denn als er sich im Gespräch mit Herrn S. ganz allgemein erkundigt hatte, wie er mit den übrigen Mietern auskomme, da hatte Herr S. erklärt, neben ihm, da wohnten ja Türken, »aber die sind ganz in Ordnung«. Leise, höflich und unauffällig.
Die vierköpfige türkische Familie lebt noch nicht lange im Haus. Herr K. besitzt ein Friseurgeschäft in der Hauptstraße des Stadtteils. Irgendwann hatte es sich auch hier ergeben, dass Thomas bei Baklava und Tee einen Teil der Familiengeschichte erfuhr. Die Eltern von Herrn K. waren als Gastarbeiter gekommen, er selbst ist schon in Deutschland geboren. Die Mutter war noch Analphabetin gewesen, doch Vater und Mutter hatten ihn immer zum Lernen ermuntert. So hat er eine Ausbildung gemacht, den Meistertitel als Friseur erworben und nach einiger Zeit einen eigenen Salon aufgemacht. Es geht ihm gut. Dank der vielen Flüchtlinge hat sich die Zahl seiner Kunden fast verdoppelt. Deswegen beschäftigt er inzwischen auch einen Araber. Und der Araber, sagte Herr K. dann mit einem etwas verlegenen Lächeln, hätte ihm noch einen kleinen Zugewinn gebracht. Unter Arabern sei nämlich das Hawala-System verbreitet, eine sehr alte Methode zur Geldüberweisung jenseits der Banken. Besonders Menschen, die sich in Deutschland im Asylverfahren befänden, würden ihren Verwandten in Syrien und dem Irak auf diese Weise Geld überweisen, denn die Gebühren seien erheblich niedriger als bei Western Union. Herrn K. erschien die Sache vorteilhaft für die Flüchtlinge und vorteilhaft für sich selbst, eine Win-win-Situation sozusagen.
Wenn jemand nun Herrn K.s arabischem Mitarbeiter im Hinterzimmer Geld übergibt, erhält der Adressat in Syrien oder dem Irak das Geld schon wenige Minuten später ausgezahlt. Alles ohne Bürokratie, nur aufgrund eines Telefonanrufs und gegen einen bestimmten Code. Alles auf der Basis von Vertrauen und gegen nur minimale Gebühren. Herrn K.s Mitarbeiter braucht weder den Namen des Einzahlenden noch den Namen des Empfängers, er stellt auch keinen Beleg über die überwiesene Summe aus.
Thomas hatte von derartigen Transaktionen noch nie etwas gehört. Sobald er zurück in seiner Wohnung war, suchte er Aufklärung im Internet – und erschrak ein wenig. Denn da stand: Das Hawala-Banking ist in Deutschland ohne Genehmigung und Kontrolle der BaFin3 strafbar. Wer unerlaubt ein Hawala-Büro betreibt, kann wegen Steuerhinterziehung, wegen Verstoß gegen das »Zahlungsdienstaufsichtsgesetz« oder wegen Geldwäsche belangt werden. Riesige Summen werden so verschoben, auch für Drogendealer, Schleuser und Terroristen, und die Aufdeckung ist für Polizei und Justiz nahezu unmöglich. Mit sehr großer Wahrscheinlichkeit würde sein Mieter zwar unentdeckt bleiben, überlegte Thomas, aber das Geldgeschäft blieb trotzdem kriminell.
Er quälte sich tagelang: »Mache ich mich nicht strafbar, wenn ich Herrn K. nicht anzeige?« War die Grenze dessen erreicht, was er tolerieren konnte, weniger als Hausherr denn als Bürger? Und was wären die Konsequenzen? Würden die Mieter im Haus in ihm einen Kontrolleur sehen, vor dem man sich in Acht nehmen muss? Über richtige und falsche Toleranz zu entscheiden, fiel Thomas weit schwerer, als er erwartet hatte. »Oder hast du eine gute Lösung?«, fragte er mich kleinlaut. Hatte ich nicht, auch ich hatte erstmals vom Hawala-Banking gehört. Wir beschlossen, das Thema erst einmal zu vertagen.
Wochen vergingen. Ich hörte nichts von Thomas. Er war mit den Renovierungsarbeiten voll beschäftigt. Und er lernte, möglichst nur so viel Kontakt zu den Mietern zu halten, wie aus Gründen der Hausrenovierung erforderlich war. Irgendwie richtete er sich in einer freundlichen Distanz ein. Zu enger Kontakt, das war ihm inzwischen klar geworden, stellte seine Toleranz nur unnötig auf die Probe. Das Pärchen, das im Erdgeschoss neben der Lehrerin wohnte, war zudem nur selten da. Der junge Mann reiste viel für eine internationale Firma um die Welt, sie war Sozialarbeiterin. Sie hatten keine Kinder und pflegten in der Freizeit ihre Hobbys. Thomas waren so unkomplizierte und gleichzeitig so seriöse Mieter nur recht. Und im Übrigen: Die Sache mit dem Hawala-Banking hatte er irgendwie »vergessen«.
3 Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht
Wir suchen sie immer gern, die Rückversicherung in der Geschichte. Weil wir hoffen oder ganz einfach davon ausgehen, etwas lernen zu können. Doch weil neue Situationen immer neue Analysen, Sichtweisen und neue Handlungsoptionen erfordern, können historische Erfahrungen wohl nicht mehr als ein Orientierungsrahmen sein. Letztlich bleibt der Griff in die Geschichte ein wenig willkürlich, und oft steckt hinter dem Wunsch nach Kenntnis nicht allein historisches, sondern auch politisches Interesse.