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Verantwortung für die Vergangenheit, Ermutigung für die Zukunft
Seit Joachim Gauck 1990 in öffentliche Ämter kam, spricht er zu wichtigen Themen und Anlässen. Und die Menschen hören ihm zu, weil er glaubwürdig ist – und unbequem. Weil das, was er sagt, von seiner Biographie gedeckt ist. In diesem Buch sind erstmals die wichtigsten Reden der letzten 25 Jahre zu seinen Lebensthemen Freiheit, Verantwortung und Selbstermächtigung versammelt: kluge, feinsinnige und auch leidenschaftliche Texte über Themen, die Gauck wichtig sind.
»Bürger trifft Bürger«, so beschreibt Joachim Gauck auch sein Verständnis der öffentlichen Auftritte, die er seit März 2012 als Bundespräsident wahrnimmt. Ihm geht es nicht darum, der Bevölkerung nach dem Mund zu reden, sondern eine klare Haltung zu wichtigen Fragen einzunehmen, die unser Leben und unsere Gesellschaft betreffen. Er hütet sich vor vermeintlichen Patentrezepten und sagt sehr deutlich, wo ideologische Fallen lauern. Gerade dadurch hat er die Herzen und Köpfe in Deutschland für sich eingenommen, über alle Parteigrenzen hinweg. Gauck will uns mit seinen großen Reden dazu ermutigen, unser Leben und das Nachdenken darüber, ja: das Schicksal unseres Landes selbst in die Hand zu nehmen. So spricht er über Anpassung und Widerstand. Darüber, wie schwierig es ist, Freiheit zu gestalten. Warum Deutschland und Europa eine lebendige Erinnerung brauchen. Und wie aus Untertanen engagierte Citoyens – eben Bürger – werden.
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Seitenzahl: 341
JOACHIM GAUCK
Nicht den Ängsten folgen,den Mut wählen
DENKSTATIONEN EINES BÜRGERS
Siedler
Erste Auflage
Copyright © 2013 by Siedler Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: Rothfos + Gabler, Hamburg
Lektorat und Satz: Ditta Ahmadi, Berlin
ISBN 978-3-641-12790-9
www.siedler-verlag.de
Inhalt
Einleitung
Aufbruch 1989
Hoffnung
Abschied vom Schattendasein der Anpassung
1989 – Das Später kam früher
Über Deutschland
Die Entscheidung fiel für ein erprobtes Politikmodell
Zehnter Jahrestag des Mauerfalls
Staatssicherheit: Aufarbeiten – aber wie?
Herrschaftswissen in Hände und Köpfe der Unterdrückten
Die friedliche Revolution und das deutsche Modell von 1990
In meinem früheren Leben …
Von der Würde der Unterdrückten
Wut und Schmerz der Opfer
Man kann vergeben
Der lange Schatten der Ohnmacht
Zur Freiheit geboren
Ohnmacht
Noch lange fremd
Der sozialistische Gang
Von Staatsinsassen und Einäugigen
Wann wird all das weichen?
Erinnern an zwei Diktaturen
Zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus
Von Zeugenschaft, Verweigerung und Widerstand
Befreiung feiern – Verantwortung leben
Über die Rezeption kommunistischer Verbrechen
Freiheit in der Freiheit
Es ist unser Land
Freiheit
Freunde und Fremdeln
Politiker nicht beschimpfen
Unsere Demokratie wird leben
Wir müssen sehen lernen, was ist
»Israel muss man wollen«
Europa:Vergangenheit und Zukunft
Welche Erinnerungen braucht Europa?
Polen: das Unmögliche wagen
Europa: Vertrauen erneuern, Verbindlichkeit stärken
Vita
Einleitung
Das Leben, in das ich hineingeriet, war eines, das ich nicht schweigend ertragen wollte. Aber viele der Worte, die mir aus politischen Gründen wichtig waren in der Kindheit, der Jugendzeit und dann bis zu meinem fünfzigsten Lebensjahr, waren im Land der Diktatur nicht erwünscht. Ich habe es in diesem Land dennoch aushalten können, weil mir mein Beruf in der Kirche Möglichkeiten gab, Meinungen und Worte zu vertreten, die ich als Lehrer oder Journalist niemals hätte äußern dürfen.
In diesem Band sind Reden aus fünfundzwanzig Jahren vereint.
Einige der frühen Texte haben wieder wachgerufen, was selbst nach zwei Jahrzehnten noch Spuren in mir hinterlassen hat. Andere Texte zeigen, wie stark sich unsere Lebensumstände und meine Interessen verändert haben, seitdem Deutschland wieder eins wurde. Manche Reden und Aufsätze behandeln also bereits Historisches, andere greifen Gegenwart und Zukunft auf.
Reden, die ich oft weitgehend frei gehalten habe, tragen zudem einen deutlich anderen Duktus als schriftlich abgelieferte Beiträge für Zeitungen oder Bücher. Entstanden ist eine Sammlung aus höchst unterschiedlichen, teilweise typischen, aber auch einigen ganz besonderen Texten.
Am Anfang steht eine Predigt zum Kirchentag im Norden der DDR, die zugleich politische Anspielungen, Kritik und Worte der Hoffnung enthält. Es war das Jahr 1988. Wir wagten damals noch nicht, vom Untergang des Kommunismus zu träumen, aber wir wollten von den Machthabern endlich gehört werden. Es wirkte befreiend auf die große Kirchentagsgemeinde, dass wir offen die Stationierung der Raketen in unseren Wäldern oder die repressive Pädagogik problematisierten. Mehr noch aber war die Gemeinde elektrisiert von Bildern, in denen ihr Lebensgefühl Ausdruck fand: »Seele und Herz unzähliger Menschen in Eiszeit«.
Dieser Band enthält sodann Reden und Artikel, die nach 1990 entstanden sind. In den ersten zehn Jahren dominierten Beiträge zur Aufarbeitung der Stasi-Hinterlassenschaft und zum Umgang mit der kommunistischen Diktatur. Während meiner anschließenden ehrenamtlichen Tätigkeit als Vorsitzender des Vereins »Gegen Vergessen – Für Demokratie« widmete ich mich unter anderem dem Widerstand in der NS-Zeit, der Verteidigung der Demokratie und Fragen von Mentalität und Mentalitätswandel in Transformationsgesellschaften.
Die vorliegende Sammlung von Aufsätzen und Reden belegt die Kontinuität meines öffentlichen Engagements. Als Bundespräsident stehe ich nun – schon im fortgeschrittenen Alter – noch einmal vor neuen Herausforderungen. Als Beispiel für die Erweiterung meines Themenspektrums mag die Rede zu Europa stehen.
Um Wiederholungen zu vermeiden, wurden die Texte des Bandes einem gründlichen Lektorat unterzogen und deutlich und beherzt gekürzt. Ich hoffe, dass dies der Erkennbarkeit meiner Person nützt.
Aufbruch 1989
Hoffnung1
In diesem Gottesdienst werden wir sehr intensiv um Hoffnung bitten, denn wir denken, dass nur, wer etwas hofft, auch die Kraft zum Engagement hat. Das verbindet Christen und Nicht-Christen. Wir müssen etwas haben, von dem wir träumen können. Dann werden wir uns auch in Bewegung setzen und in Kirche und Gesellschaft notwendige Veränderungen bewirken.
Interview zum Schlussgottesdienst auf dem Kirchentag in Rostock, Juni 1988.
1 Aus einem Interview mit der »Ferienwelle« im Juni 1988. Die »Ferienwelle« war ein erweitertes Regionalprogramm des DDR-Rundfunks, gesendet von Mai bis September in den Nordbezirken.
Abschied vom Schattendasein der Anpassung
Rostock, 19. Juni 1988, Predigt während des Schlussgottesdienstes auf dem Kirchentag2
Liebe Gemeinde der Weggefährten und Gäste!
An Festtagen wird auch bei Regen alles licht. Aber Kirchentag und Hochzeit sind selten. Tägliche Sorgen engen Blick und Seele ein. Als Kind, Frau und Mann, als Christen und Staatsbürger erleben wir oft mehr Dunkelheit als Licht. Mancher kommt sich benachteiligt vor – und mancher ist es auch. Polarnacht liegt oft Jahrzehnte über ganzen Völkern und Bevölkerungsgruppen – Seele und Herz unzähliger Menschen in Eiszeit! Ungleichmäßig sind die Licht- und Klimazonen über die Erdkugel verteilt, Fülle und Mangel im Leben der Menschheit desgleichen. Vor dem Licht ist die Nacht. Aber in der Tiefe der Nacht wird für den, der wachen muss, die Sehnsucht nach dem Licht am heftigsten. Man kann diese Sehnsucht am Morgen schnell vergessen. Ob das gut ist?
Licht lässt uns sehen – auch die Dinge, die in uns geschehen. Vielleicht so: Ich nehme das Dunkel ernst, ich halte die Sehnsucht am Leben, schlucke sie nicht herunter. Ich warte nicht auf das magische innere Licht, sondern nehme auch meine quälenden Zweifel ernst. Ich verzichte darauf, mein Leben zu retuschieren. Denn ich muss aushalten, was quält, sonst entdecke ich die Sehnsucht nicht. Und ich will mich sehnen, sonst finde ich die Hoffnung nicht.
Hoffnung wächst nicht aus haben, sie wächst aus Sehnsucht nach sein.
Wenn sie echt ist, riskiert sie etwas. Nicht Idylle, sondern Veränderung umgibt sie. Eine Schwester von ihr heißt Unruhe. Bitte erschrecken wir nicht, sondern bedenken wir, wohin uns die Ruhe gegenüber allem Unrecht geführt hat! Die etablierte Christen- und Bürgergemeinschaft muss wohl lernen, ihren Unruhestiftern zu danken. Sie lehren uns: Finde dich nicht ab mit dem, was du vorfindest. So suchen viele von uns erbittert und doch mit Hoffnung unter dem täglichen Leben das Leben, unter den vielen Wahrheiten die Wahrheit. Und sollte da nicht auch Nähe Gottes sein, wo wir so hungern und dürsten nach dem Wirklichen und Wahrhaftigen, dem Sinn für unser Leben? Da sind wir noch kein Licht, aber wir werden schon erleuchtet. Und wir werden die Brücke finden, die uns gehen, handeln und lieben lässt.
Wie könnten wir dem Leben neu begegnen?
Der 1. Johannesbrief bietet dafür zwei Schwerpunkte an. Erstens: erkennen und bekennen, wie ich wirklich bin; zweitens: Erneuerung erfahren.
Erkennen, »dass ich ein Sünder bin«, heißt es in der Sprache der Bibel. In unserer Sprache heißt das: die eigenen Grenzen erkennen.
Dem Licht – Gott – gegenüber erkenne ich Schatten und Rückseiten: Ich mache nicht nur Fehler, ich werde schuldig. Und dies nicht nur irgendwo am Rande, sondern im Zentrum des Lebens. Schuld, so erkennen wir, ist eine Dimension des menschlichen Lebens. Wer sie leugnet und stur behauptet, der Mensch ist gut, gut, gut, tut sich und seinen Mitmenschen nichts Gutes. Wer dies erkannt hat, wird frei werden, Schuld Schuld und Sünde Sünde zu nennen. Das ist sicher ein schwerer Schritt, besonders für erwachsene Menschen; noch schwerer ist er für formierte Menschengruppen. Aber neues Leben kann wachsen, wo Schuld bekannt und Neuanfang gesucht wird. Es erfüllt Christen mit einem guten Gefühl, wenn ihre Kirche sture Rechthaberei verlässt und für sich selbst Umkehr bejaht. Und es erfüllt uns mit einem neuen Gefühl gegenüber Vertretern der marxistischen Weltanschauung, wenn wir aus der Sowjetunion hören, dass Schuld Schuld genannt werden kann.
Was für den einzelnen Menschen gilt, gilt auch für die Gesellschaft; erkennen und benennen, was ungut ist, und dann anfangen, auf eine neue Art zu leben. Plötzlich entsteht dann Nähe, wo lange Distanz war. Wir brauchen diese Nähe, denn wir haben einen Dialog des normalen Gesprächs, nicht der tönenden Phrasen zu erlernen. Das wünschen wir uns so sehr: ein neues Miteinander in unserer Gesellschaft – Abrüstung und Entspannung als tragende Säulen eines neuen innergesellschaftlichenDialogs! Was außenpolitisch mehr und mehr gilt (Abrüstung), will und muss mehr und mehr in das Innere dieses Landes!
Wir freuen uns über jeden Schritt, der auf diesem Weg zurückgelegt wird, besonders über den begonnenen Dialog zwischen Marxisten und Christen auf unserem Kirchentag.
Beim Ernstnehmen unserer Grenzen und unserer Schuld fällt der Blick in diesem Jahr (vor fünfzig Jahren Reichspogromnacht) auf unsere Unheilsgeschichte gegenüber den Juden.
Neues wird, wo alte Schuld nicht geleugnet wird.
Dem Leben neu begegnen bedeutet Erneuerung erfahren. Wo der erste Schritt getan ist, begegnet uns Jesus. Er findet uns, wie er uns gerufen hat: mangelhaft. Und er vergibt uns. – Da denken wir daran, wie wir klein waren und sich Hände auf unseren Kopf legten, die alles, alles gutmachten. Da konnten wir wieder aufspringen und weiterlaufen, noch immer mangelhaft, aber geliebt.
So wollen wir Vergebung begreifen.
Christine Lavant:
Angst, leg dich schlafen,
Hoffnung, zieh dich an, du musst mit mir gehen.
Schnür die Schuhe fester! Ich hielt dich lang verborgen,
kleine Schwester, schön bist du geworden,
und ich freu mich dran.
Mit der Schwester Hoffnung suchen wir jene geheimnisvolle und verwandelte Beziehung zu dem schöneren Gegenüber unseres beschädigten Menschseins.
Dorothee Sölle spricht einmal von der »Zärtlichkeit Gottes«. Sie ahnen dürfen – das geschieht, wenn wir beieinanderstehen: freundlich, solidarisch, geschwisterlich. Darum ist unser wichtigstes Erlebnis nicht das Interessante und Spektakuläre, sondern das, was uns neu hoffen macht. Das brauchen wir wie Brot zum Leben.
So viele Abgründe warten auf Brücken, die engagierte Menschen bauen:
– Menschen sollen sich begegnen, nicht verurteilen.
– Die Natur will bewahrt, nicht ausgebeutet sein.
– Aus unseren Wäldern soll das Teufelszeug der Raketen verschwinden.
– Aus unseren Schulen sollen die Schwarz-Weiß-Klischees verabschiedet werden.
– Unsere Republik will einladender werden: Wir werden bleiben wollen, wenn wir gehen dürfen.
– Ausbeutung, Apartheid und Unterdrückung warten auf den Hass der Liebenden.
– Die Opfer jeder Gesellschaft warten auf die Nähe von Genossen und Geschwistern, die diese Namen verdienen.
– Und: Unsere Kirche will auferstehen zum Leben!
Nehmen wir Abschied, Freunde, vom Schattendasein, das wir leben in den Tarnanzügen der Anpassung. Also: die Brücke betreten in das Leben, das wir bei Jesus Christus lernen können!
2 Joachim Gauck, »Abschied vom Schattendasein der Anpassung«, Manuskript in Privatbesitz, abgedruckt in: Walter Kempowski, Mein Rostock, Frankfurt am Main 1994, S. 104–108.
1989 – Das Später kam früher
Der Beitrag erschien 20093
Ich beginne mit dem Glück. Wir schrieben den 19. Oktober 1989. In der Rostocker Marienkirche drängten sich Tausende von Menschen. Sie waren nicht zum ersten Mal hier, sondern hatten schon in der Vorwoche ihren Wunsch nach Erneuerung der Gesellschaft zum Ausdruck gebracht. Das hatte andere motiviert dazuzukommen, so wurden in anderen Kirchen Parallelgottesdienste mit exakt denselben Texten abgehalten. Wir Organisatoren dieser Veranstaltungen trugen über unsere Netzwerke Informationen von den sich neu bildenden Bewegungen und aus anderen Städten zusammen. All diese Menschen hatten gehört von den Montagsdemonstrationen in Leipzig seit September, von den Demonstrationen in Plauen seit Anfang Oktober. Sie hatten im Westfernsehen Tausende von Flüchtlingen in der Botschaft der Bundesrepublik in Prag gesehen, gehört von der Massenausreise in verriegelten Zügen über Dresden, sie hatten die Prügelorgien der Staatsmacht in Dresden und am 7. Oktober in Berlin beklagt, und viele hatten für die Opfer Mahnwachen und Fürbittandachten organisiert. Aber auf der Straße waren sie bis jetzt noch nicht gewesen. Was würde jetzt in Rostock geschehen? Fehlte uns der Mut der Sachsen? Mussten wir Mecklenburger uns an den Tankstellen im Süden beschimpfen lassen, weil es im Norden zu keinen »öffentlichen Kundgebungen gegen den Staat« gekommen war?
Ich war damals seit fast zwanzig Jahren Pastor in Rostock, seit Kurzem auch Sprecher des »Neuen Forums«. An jenem 19. Oktober 1989 predigte ich in der überfüllten Marienkirche – über Amos 5, 21–24, wo es unter anderem heißt: »Ich bin euren Feiertagen gram und verachte sie und mag eure Versammlungen nicht riechen. Und ob ihr mir gleich Brandopfer und Speisopfer opfert, so habe ich keinen Gefallen daran … Es soll aber Recht offenbart werden wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein starker Strom.«
Der Staatsfeiertag am 7. Oktober 1949 anlässlich der DDR-Gründung vierzig Jahre zuvor war erst wenige Tage vorbei. Wir alle in der Kirche hatten in den Nachrichten die Menschenströme gesehen, die an den Tribünen vorbeigezogen waren und der ergrauten Macht ihren Tribut gezollt hatten. Wir alle hatten uns dabei gesehnt nach einem Amos, einer Kassandra, einem Jan Hus oder einem Martin Luther King, der – so sagte ich damals – »das kollektive Unrechtsempfinden und die kollektive Sehnsucht nach Wahrheit und Recht« ausdrücken würde. Aber war es nicht an einem jeden von uns, die Freiheit einzuklagen?
Da hörte ich mich auf einmal sagen, dass es Menschen gebe, die ihrer Angst »Auf Wiedersehen« sagen und den aufrechten Gang trainieren: »Wir wollen nicht in der Schizophrenie unser Leben verbringen. Wir wollen hier leben in Wahrheit und Gerechtigkeit … Es gibt genug Stasi-Leute um uns herum, wir suchen die Stasi nicht in uns.« Erst gab es eine Pause. Einige schluchzten. Dann fingen alle an zu klatschen.
Nach dem Gottesdienst formte sich aus den Tausenden in der Marien- und der Petrikirche ein langer Zug, ein Zug ohne Transparente, ohne laute Parolen, aber mit Kerzen. Wir zogen vorbei an den Zwingburgen der Staatsmacht, der unbeleuchteten Bezirksbehörde des Ministeriums für Staatssicherheit, der Bezirkszentrale der SED, dem Rathaus. Wir warfen keine Steine, aber wir klatschten und pfiffen vor dem Hochhaus, in dem viele Stasi-Mitarbeiter wohnten, und wir brachen aus in Hohngelächter, als uns vor dem Stasi-Gebäude eine Stimme per Lautsprecher aufforderte: »Verlassen Sie den Platz! Lösen Sie die Demonstration auf!«
Der Abend des 19. Oktober bedeutete in Rostock den Durchbruch. Wir hatten das Lebensgefühl der Massen in Leipzig nach Rostock geholt. »Wir sagen unserer Angst ›Auf Wiedersehen!‹« Als die erste Massendemonstration in unserer Stadt zu Ende ging, wussten wir alle, die dabei waren: Wir schaffen es, wir werden gewinnen. Das war Glück. Glück in einer großen historischen Stunde. Jeder hatte seine Angst besiegt, hatte sich und seine oft so feigen Mitbürger als Teil einer Protestbewegung gesehen. Die meisten hatten unendlich lange zu allem geschwiegen. Jetzt wollten auch sie mitreden, mit dabei sein, endlich mündig sein.
Nie war deutlicher zu spüren, welche Verwandlung Menschen erfahren, die von den Zuschauerrängen auf die Bühne überwechseln. Arbeiter, Handwerker, Studenten und Krankenschwestern, sie alle entdeckten ihre Potenzen und bestimmten ihre Rolle in der Gesellschaft neu. Das »Wir sind das Volk!« hieß für jeden Einzelnen: »Ich bin ein Bürger!« Unglaublich, wie jahrzehntelang eingeübte Demut, wie Furcht und Anpassung abgestreift werden konnten wie ein Kokon, der die weitere Entwicklung zum Erwachsenwerden hinderte.
»Er-Mächtigung«, so erlebt, wird von den Betroffenen nicht nur als ein politischer Begriff verstanden, als Definition eines gesellschaftlichen Prozesses. Ermächtigung drückt mehr aus, ein Lebensgefühl, die Freude eines Menschen, der über sich hinauswächst, Glück.
Es war unglaublich. Wir waren das Volk. Und ich war dabei.
Seit zwanzig Jahren nenne ich dieses Land gern mein Land.
3 Auszug aus Joachim Gauck, »1989 – Das Später kam früher«, in: Hildegard Hamm-Brücher, Norbert Schreiber (Hg.), Demokratie, das sind wir alle, Zabert Sandmann Verlag, München 2009, S. 112–123
Über Deutschland
Weimar, 2. Oktober 1994, Vortrag im Rahmen der Reihe »Weimarer Reden«4
Frau Ministerin, Herr Oberbürgermeister,
meine sehr verehrten Damen und Herren!
Die Kirche feiert am ersten Oktobersonntag das Erntedankfest. In Gottesdiensten wird Dank für verdiente und unverdiente Gaben gesagt, und nach alter Sitte spendet man auch etwas. Die Ärmeren geben meist etwas mehr, die Reicheren etwas … überlegter.
Liebe Landsleute aus dem Osten, lassen Sie uns in unserer Erinnerung zurückgehen ins Jahr 1989, in den Sommer, den bleiernen. Die Depression unserer Gemüter, wir haben sie noch nicht vergessen.
Die SED regierte, ohne dass sie führte. Die Festlichkeiten zum Republikgeburtstag wurden wie üblich vorbereitet. Zu allem Unglück stand ein rundes Jubiläum ins Haus. So etwas wird teuer!
Derweil waren Junge und Junggebliebene auf dem Sprung. In den »Bruderländern« suchten sie Schlupflöcher in die Freiheit. Sie waren aktiv und auf uns störende Weise mobil. In vielen Elternhäusern, Freundeskreisen, Gemeinden wurden Abschiedstränen geweint. Bei manchen wuchs endlich die Wut, und sie erreichte ihren Höhepunkt, als die bösen Greise in Berlin den Flüchtenden nachriefen: »Denen weinen wir keine Träne nach.« Ihre Lohnschreiber haben es im flugs aufgeschrieben. Sollten Sie es vergessen haben: Es gibt Bibliotheken, man kann es nachlesen.
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