Mein Herz hört deine Worte - Joanne Bischof - E-Book

Mein Herz hört deine Worte E-Book

Joanne Bischof

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Beschreibung

Eine Liebes-Geschichte mit einem Hauch Spannung – der neue historische Liebes-Roman der preisgekrönten Autorin Joanne Bischof. So bezaubernd und unkonventionell wie schon lange kein Buch mehr. Als Ava im Sommer 1890 die Apfelplantage der Familie Norgaard in Virginia erreicht, ist sie geschockt: Die drei "Jungen", um die sie sich kümmern soll, sind bereits ausgewachsene Männer. Völlig mittellos sieht Ava nun einer ungewissen Zukunft entgegen. Jorgan, Haakon und Thor nehmen sie zwar herzlich auf, aber gerade der gehörlose Thor, der so laut und ungestüm wirkt, schüchtert Ava anfangs sehr ein. Auch scheint er gegen seine ganz eigenen Schatten anzukämpfen. Doch dann ist die Zukunft der Apfelplantage in Gefahr, und während sie sich Seite an Seite für deren Erhalt einsetzen, entsteht in Avas Herzen Zuneigung für den besonderen jungen Mann. Und sie entdeckt, dass man für die Sprache der Liebe keine hörbaren Worte braucht …

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JOANNE BISCHOF

AUS DEM AMERIKANISCHENVON HANNAH SCHWARZ

Published by arrangement with Thomas Nelson,a division of HarperCollins Christian Publishing, Inc.Titel der amerikanischen Originalausgabe: Sons of Blackbird MountainCopyright © 2018 Joanne BischofOriginalausgabe: Thomas NelsonAlle Rechte vorbehalten.

Dieser Roman ist ein fiktionales Werk. Namen, Charaktere, Orte und Begebenheiten entspringen entweder der Fantasie der Autorin oder wurden fiktionalisiert. Alle Charaktere sind ausgedacht und jegliche Ähnlichkeit zu Personen – jetzt oder in der Vergangenheit – sind rein zufällig.

Die Bibelstellen sind der Übersetzung Bibeltext der Schlachter entnommen. Copyright © 2000 Genfer Bibelgesellschaft. Wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung. Alle Rechte vorbehalten.

© der deutschen Ausgabe:2019 Brunnen Verlag GmbH GießenLektorat: Carolin KotthausUmschlagfoto: Mark Owen / ArcangelUmschlaggestaltung: Daniela SprengerSatz: DTP BrunnenDruck: GGP Media GmbH, PößneckISBN Buch: 978-3-7655-0718-2ISBN E-Book: 978-3-7655-7544-0www.brunnen-verlag.de

Für meine Schwester

Inhalt

Vorwort

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

Achtundzwanzig

Neunundzwanzig

Dreißig

Einunddreißig

Zweiunddreißig

Dreiunddreißig

Vierunddreißig

Fünfunddreißig

Epilog

Anmerkungen der Autorin

Dank

Vorwort

Diese Geschichte enthält Gebärdensprache, die schon seit einigen Jahrhunderten von Gehörlosen verwendet wird. Obwohl Gebärdensprache und gesprochene Sprache viele Gemeinsamkeiten haben, sind sie doch zwei eigenständige Sprachen. Sätze in Gebärdensprache haben eine andere Struktur als gesprochene Sprache. Es gibt einige Wörter, die in gebärdensprachlichen Sätzen weggelassen werden.

Beispielsweise kann der Gehörlose in diesem Roman von den Lippen ablesen und versteht, wenn ein Sprecher sagt: „Die Frau ist hübsch.“ Er kann diesen Satz auch lesen und niederschreiben, doch wenn er ihn als Gebärdensprache wiedergibt, wird er üblicherweise Frau hübsch gebärden. Und auch wenn dieser Satz sehr leicht aussieht, ist die Gebärdensprache doch sehr komplex. Statt einer bestimmten Wortbetonung ist bei Gebärdensprache meistens der dazugehörige Gesichtsausdruck oder die jeweilige korrekte Bewegung ausschlaggebend für die Bedeutung. Beim Wort hübsch das Kinn sinken zu lassen, bestimmt beispielsweise den Grad der Bewunderung. Beim Gebärden des Satzes seine Augenbrauen hochzuziehen würde den Satz zu einer Frage machen. Würde man dagegen die Augenbrauen zusammenziehen und den Kopf hin und her wiegen, bedeutete es eher sieht okay aus. Jede Bewegung ist wichtig!

In Mein Herz hört deine Worte wurde Gebärdensprache teilweise so niedergeschrieben, wie sie tatsächlich verwendet wird – inklusive der Mimik. Diese Passagen dienen der Authentizität und helfen, dass man die Sprache in ihrer ganzen Fülle nachempfinden kann. Bei anderen Passagen wurden nur bestimmte Wörter verwendet, um den Fluss der Erzählung zu gewährleisten. Dabei wurde darauf geachtet, dass die Beweggründe des gehörlosen Charakters und sein Verständnis von Satzstrukturen genau zum Ausdruck kommen.

Das Ziel dieser Art zu schreiben ist, Gehörlosen und ihrer Sprache Respekt zu erweisen und einem Mann, der weder hörbar sprechen noch hören kann, Gehör zu verschaffen.

Ergänzung des Brunnen Verlags:

Der Verlag ist sich bewusst, dass die politisch korrekte Übersetzung des englischen Wortes „deaf“ im Deutschen das Wort „gehörlos“ oder „hörgeschädigt“ ist. „Taubstumm“ ist keine korrekte Übersetzung, da Gehörlose oder Hörgeschädigte nicht stumm sind – sie können sich u. a. mittels Gebärdensprache sehr gut verständigen. Dennoch wurde entschieden, im Roman das Wort „taubstumm“ oder eine ähnliche Variante zu verwenden, da man diese Begriffe in der Zeit, in der der Roman spielt, unreflektiert so verwendete.

Eins

BLACKBIRD MOUNTAIN, VIRGINIA27. AUGUST 1890

Ava sah auf den Brief in ihrer Hand hinab. Zum wiederholten Mal las sie die in der Handschrift ihrer Tante Dorothee verfasste Adresse. Dann fiel ihr Blick auf das Holzschild, das vor ihr im Boden steckte. Der Ort stimmte überein, trotzdem hatte Ava plötzlich Schwierigkeiten, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Heiß brannte die Sonne auf sie herab und von den Küsten Norwegens war ihr nur noch die Erinnerung geblieben.

Der einfache Weg, der sich vor Ava erstreckte, unterschied sich kaum von der Straße, auf der sie hergekommen war. Allerdings würde sie die endlosen Waldgebiete hinter sich lassen, die sie den Vormittag über durchquert hatte, und in den Schatten unzähliger Bäume einer Plantage treten können. Den Früchten nach zu urteilen, die von den knorrigen Ästen hingen, musste es sich um eine Apfelfarm handeln. Ein süßer Duft hing in der stickigen Hitze. Ava holte tief Luft, beugte sich näher zu dem Schild und fuhr mit ihrem Finger die grob geschnitzten Buchstaben nach.

Norgaard.

Also dann. Das musste es sein. Das Land, in dem Tante Dorothees Neffen ihr Unwesen trieben. Frei und wild waren die Jungs, zumindest den Geschichten nach. Ava machte das nichts aus. Als sie im Armenhaus gelebt hatte, hatte sie immer wieder zusehen müssen, wie die Waisenkinder dort verwahrlosten. Nachdem sich ihre Umstände so drastisch geändert hatten, war sie nun – in Freiheit – umso begieriger darauf, dieses Haus zu finden. Und ihre dort lebende Familie.

Vor allem aber war sie gespannt auf die Kinder. Ein gleichmäßiges Trommeln auf dem Weg riss Ava aus ihren Gedanken und sie schaute auf. Ein Hund kam auf sie zugerannt. Schwanzwedelnd schnüffelte er an Avas Schuhen und schlug Ava mit seiner Rute gegen das Bein. Lächelnd beugte sie sich hinab und tätschelte den braunen Kopf, den ihr der Hund zur Begrüßung entgegenreckte. „Hallo, du“, sagte sie.

Nachdem das Tier Avas Hand ein paarmal abgeleckt hatte, machte es kehrt und trottete weiter den Weg entlang. Es schien, als wolle der Hund ihr den Weg weisen. Da er sich mit Sicherheit besser in dieser hügeligen Landschaft auskannte als sie, griff Ava rasch nach ihrer abgenutzten Reisetasche.

Während sie weiterlief, klopfte sie sich den Staub von ihrem schwarzen Trauerkleid. Ein Kleid, das sie von nun an nicht mehr brauchen würde. Die zwei Trauerjahre hatten bereits geendet, bevor sie auch nur einen Fuß in diese Gegend namens Blackbird Mountain gesetzt hatte.

Plötzlich knackte ein Ast auf dem Weg vor ihr und Ava schirmte ihre Augen ab. Immer länger wurden jetzt die Schatten in dem Hain, während es allmählich Abend wurde. Die tief stehende Sonne blendete. Ein weiterer Ast brach und ein Mann trat auf den Weg, nicht einmal ein halbes Dutzend Baumreihen von Ava entfernt. Weder konnte sie sein Alter einschätzen, noch konnte sie erkennen, was der Mann dort tat. Er kniete mit dem Rücken zu ihr und schien Äpfel in große Metalleimer zu sammeln. Der Hund umrundete ihn vergnügt. Ava fühlte sich beinahe wie ein Eindringling. Vorsichtig ging sie ein paar Schritte näher heran, um ein Hallo rufen zu können. Doch der Mann reagierte nicht. Erst als Avas Schatten neben ihn fiel, wandte er sich ihr zu. Langsam richtete er sich auf und fuhr sich mit seiner großen, kräftigen Hand durch das ungekämmte Haar. Es war so dunkel wie die Erde unter seinen Stiefeln und hing wirr bis über die Schultern hinab.

Der Fremde öffnete leicht seinen Mund. Im Ausdruck seiner Augen lag eine beunruhigende Mischung aus Schmerz und Überraschung. Der Blick, mit dem er Ava bedachte, war so tiefgründig, dass er sogar von den gleichmäßigen Gesichtszügen des Mannes ablenkte. Er sagte kein Wort, bot Ava nur eine Art stumme, entwaffnende Verbundenheit an, als sei diese Welt für sie beide ein ungerechter Ort.

Ava hatte Mühe, ihre Stimme wiederzufinden. „Guten Tag, Sir. Könnten Sie … Könnten Sie mir bitte sagen, wo ich Dorothee Norgaard finde?“, fragte sie. Obwohl Ava vier Jahre lang eine Norgaard gewesen war, klang der norwegische Name mit ihrem irischen Akzent immer noch nicht richtig. Der Mann schielte auf die Reisetasche in Avas Händen, die sie fest umklammert hielt, und fuhr dann mit seinem Blick von ihren staubigen Schuhen bis hinauf zu ihrem Gesicht.

Auch wenn sich Ava nun noch mulmiger fühlte als zuvor, lockerte sie ihren Griff um den Lederriemen ihrer Tasche und erinnerte sich daran, dass sie das Schild korrekt gelesen hatte. Die Norgaard-Farm. Hier musste sie sein. Ava war einfach zu weit und zu lange gereist, um nicht am richtigen Ort zu sein.

Missmutig schob sich der Mann die Ärmel seines Karohemdes über die Ellbogen und deutete dann mit seinem Daumen über die Schulter. Offensichtlich war der Bursche kein großer Redner. Warum Ava ihn als Bursche bezeichnete, wusste sie nicht. Immerhin wirkte der Fremde deutlich erwachsener als sie mit ihren einundzwanzig Jahren. Stark und robust stand er vor ihr, ähnlich den Bäumen, die das Land säumten. Auch er schien einige Lasten auf seinen breiten Schultern tragen zu müssen.

Endlich gab sein Blick den ihren frei und der Mann wandte sich um und deutete erneut auf den vor Ava liegenden Weg. Also gut. Das bedeutete wohl, dass sie in diese Richtung weiterlaufen sollte. Sie schenkte ihm ein leises Dankeschön, was der Mann mit einem Nicken beantwortete. Als Ava an ihm vorbeiging, spürte sie den Blick seiner braunen Augen auf ihr ruhen.

Nach nur wenigen Schritten hielt Ava inne. Dieser Mann hatte die gleiche Stirn wie ihr Benn. Auch sie zeigte die stolzen Züge nordischer Herkunft. Obwohl sich die Haare des Fremden von Benns hellen Locken unterschieden wie der Tag von der Nacht, entdeckte sie etwas Bekanntes an seinem Auftreten. Dieselbe stramme Haltung und derselbe ernste Blick. „Könnte es sein, dass Sie einer von den Norgaards sind?“, fragte Ava in der Hoffnung, dass ihr irischer Akzent nicht zu unverständlich war. Offensichtlich hatten die meisten Amerikaner ein Problem mit ihrer Aussprache.

Zwei Eimer entfernt von den anderen kniete der Mann wieder auf dem Boden und sammelte Äpfel. In seinem Blick lag diesmal Bedenken. Er hatte etwas Wildes an sich, das – gepaart mit seiner Stille – Avas Unbehagen noch verstärkte. Doch dann nickte er. Ava lächelte ein wenig. Dieser Mann war kein Fremder, sondern gehörte zur Familie. „Ich bin Ava. Benns Witwe“, stellte sie sich vor. Wieder nickte der Mann, als hätte er das bereits geahnt. Vielleicht war er ein Onkel der Kinder. Wieso hatte Dorothee ihn dann nie erwähnt?

„Also“, begann Ava und deutete auf den Weg vor sich. Als ihr eine Strähne ihres rostroten Haares ins Gesicht fiel, wischte sie sie rasch fort. „Ich soll hier entlanggehen?“, fragte sie und wieder nickte der Mann, was Ava erneut ein Lächeln entlockte. „Ich danke Ihnen, Mr Norgaard.“ Sie umfasste den Griff ihrer Reisetasche wieder ein wenig fester und machte sich auf den Weg. Immer noch konnte sie den Blick des Mannes auf sich spüren. Komischer Vogel.

Kurze Zeit später erblickte Ava vor sich ein großes rotes Haus. Ausgeblichen und verwittert wie es war, erinnerte es mehr an eine Scheune als an ein Wohnhaus. Doch mit dem Schaukelstuhl auf der Veranda und der aufgespannten Wäscheleine handelte es sich offensichtlich um Letzteres. Nach einem Blick über ihre Schulter bemerkte Ava, dass der Mann ihr folgte. Immerhin in einigem Abstand, so viel musste sie ihm lassen.

Trotzdem blickte sich Ava im Weitergehen alle paar Baumreihen um, bis die Plantage schließlich endete und sich ein riesiger Hof vor ihr eröffnete. Die dicken, verzweigten Äste gaben den Blick auf verschiedene Schuppen und Nebengebäude frei. Zwei der Gebäude waren massiv, weiter hinten entdeckte sie einen fast vollständig verkohlten Schuppen. Um die meisten Gebäude herum stapelten sich haufenweise Holzkisten und mehr Metalleimer, als sie jemals auf einer Farm zu Gesicht bekommen hatte.

Jetzt hielt Avas stummer Begleiter an und verschränkte die Arme vor der Brust. Zögerlich machte Ava genau in dem Moment einen weiteren Schritt auf das Haus zu, als ein zweiter Mann aus diesem heraustrat. Obwohl er genauso groß war wie der erste, war dieser Mann eher drahtig gebaut. Seine Haare waren zwar etwas heller, aber genauso lang – zumindest dem ersten Anschein nach, da dieser Mann das Haar zurückgebunden hatte.

Schwere Stiefel traten die Stufen hinunter. Noch ein Norgaard? Avas Blick huschte umher und suchte nach einem Hinweis auf die Kinder. Doch es war weder auch nur ein Spielzeug zu entdecken, noch hatte eines der Kleidungsstücke an der Wäscheleine annähernd Kindergröße.

Ava betrachtete den Fremden auf der Veranda und widerstand dem Verlangen, den kleinen Anhänger von ihrer Mutter an der Kette um ihren Hals zu berühren. Dies tat sie oft, wenn sie nervös war. „Hallo, Sir“, sagte Ava, trat näher und streckte dem Mann ihre Hand entgegen. Als er sie ergriff, wirkte Avas Hand plötzlich ganz winzig in seiner. „Mein Name ist Ava. Ich war mit Benn verheiratet“, stellte sie sich zum zweiten Mal vor. Obwohl es ihr komisch vorkam, so mit der Tür ins Haus zu fallen, wusste sie nicht, wie sie sich sonst vorstellen sollte. „Ah“, sagte der Mann und studierte sie für einen Moment. „Es ist mir eine Freude, Sie endlich kennenzulernen, Ma’am“, sagte er dann. Nachdem er sich geräuspert hatte, nannte er ihr seinen Namen. Jorgan.

Ava kannte diesen Namen aus vielen von Tante Dorothees Briefen. Darin war Jorgan nicht mehr als ein kleiner Junge gewesen. Doch diese Beschreibung passte nicht im Geringsten zu dem Mann, der vor ihr stand. Definitiv hatte Dorothee die Söhne nicht als Männer dargestellt. Noch bevor sich Ava einen Reim darauf machen konnte, trat ein weiterer Mann aus dem Haus. Obwohl der Charme des dritten Bruders bis ins Detail beschrieben worden war, wurde das Lob seiner Großtante diesem Mann nicht gerecht, der niemand anderes als nur der sehr erwachsene Haakon sein konnte. Seine strahlend blauen Augen nahmen Ava gefangen, und obwohl er glatt rasiert war, zerschlug sein muskulöser Körper jeden Gedanken daran, dass es sich bei den Norgaard-Nachkommen um Kinder handeln könnte.

Als Panik in Ava aufzusteigen drohte, sagte Jorgan: „Und das ist Haakon. Er ist der Jüngste.“ Mit einer Birne in der einen und einem Messer in der anderen Hand schnitt Haakon sich ein Stück ab und führte es auf der flachen Seite des Messers zum Mund. Sein markantes Gesicht spiegelte nichts als Unfug wider. „Wir haben uns schon gefragt, ob Sie auftauchen würden“, fuhr Jorgan fort.

Ava schluckte schwer. Wie hatte sie so falschliegen können? In Gedanken ging sie Dorothees Briefe durch. Immer wieder wurden die männlichen Nachkommen der Norgaards alles andere als Männer dargestellt. Jungen hatte Dorothee sie genannt. Sie hatte Andeutungen über die Abenteuer und den Unfug gemacht, den sie anstellten, und von ihren ungehobelten Manieren und den Bedarf nach einer festen Hand und Leitung erzählt. Selbst von Strafen hatte sie geschrieben. Vor allem, wenn es um Haakon ging. Denselben Haakon, der nun auf Ava herabgrinste und so aussah, als hätte ihm schon seit einiger Zeit keiner mehr so wirklich den Hosenboden versohlt.

Mittlerweile zitterten Avas Hände und sie presste sie gegeneinander. Aus ihrem Versuch, mit fester Stimme zu antworten, wurde nicht mehr als ein leises Flüstern: „Es freut mich, Sie kennenzulernen, Sirs. Ich vermute, Sie sind … die Brüder? Die Söhne?“

Wessen Söhne, daran konnte Ava sich nicht mehr erinnern. Dorothee hatte nur selten etwas von den verstorbenen Eltern berichtet. Mit einem Mal löste sich der Gedanke an drei verwahrloste Kinder in Luft auf, die Avas Unterstützung nötig gehabt hätten. Oder ihre mütterliche Fürsorge. Tante Dorothees Schilderungen waren wirklich irreführend gewesen. Avas Verlangen, endlich mit ihr sprechen und das Missverständnis aufklären zu können, wurde immer stärker.

„Genau. Ich bin der Älteste“, sagte Jorgan. „Am besten nennen Sie uns einfach beim Vornamen. Immerhin gehören Sie zur Familie und müssten ansonsten ziemlich oft Mr Norgaard sagen. Wie mir scheint, haben Sie Thor bereits getroffen. Er ist der Zweitälteste.“ Mit seinem Finger deutete er hinter Ava auf den dunkelhaarigen Mann, der noch immer ein paar Schritte entfernt stand. Denjenigen, der so stark aussah wie ein Ochse und den Blick noch immer nicht von Ava abgewendet hatte.

Thorald. So war er in den Briefen genannt worden. Es hatte immer so geklungen, als nehme er einen besonderen Platz im Herzen seiner Großtante ein. Aber um nichts in der Welt hätte Ava den Namen mit diesem Mann in Verbindung gebracht. „Richtig“, sagte sie. „Wir … sind uns schon begegnet.“

Jorgan lächelte schief. „Entschuldigen Sie. Thor redet nicht besonders viel.“

Das hatte Ava bereits herausgefunden.

Jorgan schielte an ihr vorbei und ließ dann seinen Blick schweifen, als würde er nach Worten suchen. „Sind Sie vom Bahnhof hierhergelaufen?“, fragte er.

„Ja“, antwortete Ava. Ihre schmerzenden Füße erinnerten sie an jede einzelne Meile von der Stadt bis hierher.

„Entschuldigen Sie, dass wir nicht gekommen sind, um Sie abzuholen. Und mein Beileid wegen Benn.“

„Danke“, erwiderte Ava leise. Sie setzte ihr Gepäck auf dem Boden ab und wusste nicht recht, was sie sagen sollte. Ihr Ehemann – der Cousin der Männer – war tot. Und Ava nun hier in Amerika.

Wieder schnüffelte der Hund an ihren Schuhen und Haakon schnippte mit den Fingern. „Grete!“ Sofort trottete der Hund, der wohl eine Hündin war, an seine Seite.

Ava sah sich um. Nachdem sie nun die Bekanntschaft mit drei Männern gemacht hatte, war sie mehr als bereit, endlich eine Frau zu sehen. „Könnten Sie mir vielleicht sagen, wo ich Tante Dorothee finden kann?“

Jorgan schielte zu seinen Brüdern hinüber, bevor er sich den Nacken rieb. Mit sorgenvoll zusammengezogenen Brauen wandte er sich schließlich an Ava. „Daraus schließe ich, dass Sie meinen Brief nicht erhalten haben.“

Kopfschüttelnd verneinte Ava.

Jorgan umfasste seinen anderen Arm knapp oberhalb des Ellbogens. „Sie ist … Ich fürchte, Ihnen sagen zu müssen, dass Dorothee … gegangen ist. Vor nun zwei Monaten.“

„Wohin ist sie gegangen?“, fragte Ava. Im selben Moment lief sie rot an. Plötzlich fühlte sich ihr Trauerkleid viel zu eng und zu schwer an.

„In-In den Himmel“, antwortete der älteste der Brüder.

„Höchstwahrscheinlich“, fügte Haakon hinzu und schob sich ein weiteres Birnenstück in den Mund.

Avas Magen verkrampfte sich. Hitze stieg ihr in den Kopf und die Welt um sie herum drehte sich. „Sie ist … verstorben?“, fragte sie atemlos.

Mitfühlend senkte Jorgan seinen Kopf. „Es tut mir leid, es Ihnen auf diese Weise mitteilen zu müssen. Ich habe Ihnen sofort einen Brief geschrieben in der Hoffnung, er würde Sie noch vor Ihrer Abreise erreichen“, erklärte er. Dann betrachtete er ihre vom Wind zerzausten Haare. „Wie ich sehe, war ich zu spät.“

Ava musste sich hinsetzen, aber hier gab es nichts außer dem Staub unter ihren Füßen. Ohne auf ihr Kleid oder ihre Strümpfe zu achten, ließ sie sich auf die Erde nieder. Plötzlich fühlte Ava sich schrecklich klein. Blinzelnd sah sie in den klaren blauen Himmel empor. Er erinnerte sie unverhohlen daran, wie weit entfernt sie von Norwegen war. Oder Irland. Sie war hier in Virginia. An einem Ort namens Blackbird Mountain. Und hier war keine Tante Dorothee.

Obwohl Ava mit dieser Frau keine Blutsverwandtschaft verband und durch den Briefwechsel zwischen ihnen nicht mehr als eine einfache Freundschaft entstanden war, war Benns Großtante alles gewesen, was ihr von einer Familie geblieben war.

„Was soll ich nur tun?“, flüsterte sie zu sich selbst.

Der älteste Bruder, Jorgan, kam an ihre Seite. Er kniete sich in den Staub und stützte sich mit seinen von der Arbeit rau gewordenen Händen auf dem Boden zwischen ihnen ab. „Miss?“, fragte er.

Zitternd sog Ava die Luft ein und sah dem Mann ins Gesicht. „Was soll ich nur tun?“, frage sie erneut.

„Sie … Sie legen einfach Ihren Arm in meinen“, schlug Jorgan vor und machte Anstalten, ihr aufzuhelfen. „Kommen Sie herein. Miss Ida, unsere Haushälterin, wird Ihnen etwas zu essen geben.“

Jorgan half ihr die wenigen Stufen zur breiten Veranda hinauf und führte sie zur Haustür. Mit vor Verwirrung hochgezogenen Brauen hielt der jüngste der Brüder sie offen. Jorgan führte Ava in die Küche, zog einen Stuhl vom Tisch und half ihr, darauf Platz zu nehmen. Im selben Moment trat eine Frau aus der Speisekammer, deren Haut so dunkel wie Zimtstangen war. Mit einem freundlichen Lächeln brachte sie Ava eine Tasse Kaffee und eine Scheibe Gewürzbrot. Ava rührte weder das eine noch das andere an. Stattdessen verschränkte sie die Hände zwischen ihren Knien, um sie vom Zittern abzuhalten.

Undeutlich hörte sie die Frau sagen: „Sie ist ziemlich blass.“

Dann Haakons Stimme: „Sie ist ja auch Irin.“

Ava rührte sich nicht.

„Ich meine damit, dass sie sicher gleich umkippt, Haakon. Ohnmächtig wird“, erklärte die Frau und legte Ava ihre kühlen Hände an die Schläfen. Beinahe hätte Ava die Augen geschlossen.

„Sie wusste nichts von Dorothees Ableben“, sagte Jorgan mit gedämpfter Stimme.

Ein Stuhl schabte über den Boden und Jorgan setzte sich neben Ava. Die Frau reichte ihm ebenfalls eine Tasse Kaffee. Aus dem Augenwinkel sah Ava, wie Thor den Raum verließ.

„Alles in Ordnung mit Ihnen?“, fragte Jorgan sanft.

Ava nickte, doch selbst diese kleine Bewegung fühlte sich unwirklich an. Verzweiflung machte sich in ihrer Kehle breit und brannte dort stärker, als es der Fußmarsch diesen Berg hinauf getan hatte. Sie neigte den Zinnbecher in ihrer Hand, doch beim Anblick der dampfenden Flüssigkeit zog sich ihr der Magen zusammen.

„Sie sind trotzdem willkommen hier“, sagte Jorgan und schien es ernst zu meinen.

„Aber wir haben keinen Platz, wo wir sie unterbringen können“, warf Haakon nicht gerade leise ein.

Ava sah sich um. Die Dämmerung war hereingebrochen. „Gibt es denn … Gibt es noch mehr Familien in der Gegend?“

„Nein, Ma’am“, antwortete Haakon. Seine stechend blauen Augen verloren an Reiz, als er Ava von oben bis unten musterte. „Nur uns.“

Niemand rührte sich. Unbeweglich verharrte jeder an seinem Platz, der stickigen Luft gleich. Ava legte sich die Hand auf die Stelle an ihrer Brust, an der sie ihren pochenden Herzschlag spüren konnte. Sie atmete tief in ihre schmerzenden Lungen ein. Jetzt war nicht die richtige Zeit, um zu verzweifeln. Trotzdem wurde ihr Zittern immer schlimmer, schwoll an wie eine Flut. Die Welt verschwamm vor Avas Augen und irgendjemand sagte ein paar Worte, die sie nicht verstehen konnte.

Die Veranda knarzte, gefolgt von schweren Schritten. Einen Moment später wurde ein Glas Wasser vor ihr abgestellt. Ava spähte hinauf und blickte in Thors Gesicht. Wasser tropfte vom Glasrand, als sei es gerade erst an einer Quelle gefüllt worden. Als Ava das Glas nicht ergriff, schob Thor es ihr entgegen und trocknete sich anschließend die Hände an der Hose.

Ein kleiner Schluck des kühlen Wassers lief Avas Kehle hinab und sie überwand sich, ihrem Wohltäter ein Danke zuzuflüstern.

Mit einem leichten Humpeln kam die Haushälterin näher und legte zärtlich ihre Hand auf Avas. Im sanften Blick der Frau lag Besorgnis. Dieses Feingefühl ließ Tränen in Avas Augen treten. Die Frau bat die Männer, sie für einen Moment alleine zu lassen. Nachdem sie die Küche verlassen hatten, drückte die Haushälterin Avas Hand erneut. Diese schloss ihre Augen und schickte ein Gebet in den Himmel, nein, eher eine Bitte, dass dieser Tag nur ein Traum war.

„Nun lass nicht den Kopf hängen. Wir werden schon dafür sorgen, dass es dir wieder gut geht. Besser als gut. Ich versprech’s dir. Ich schmeiße den Haushalt hier schon seit fast dreißig Jahren. Früher haben die Jungen mich Mommy genannt, aber jetzt sagen sie nur noch Miss Ida. Ich werde gut für dich sorgen“, versprach die Haushälterin. Ein paar verirrte graue Haare kräuselten sich um ihre glänzende Stirn und in ihren Augen lag so viel Freundlichkeit, dass Ava zwischen all der Unsicherheit einen kleinen Hoffnungsschimmer wahrnahm. „Du musst dich vor nichts fürchten. Die Norgaards sind alles gute Jungen. Hab sie selbst erzogen und sie sind treuere Seelen, als du dir vorstellen kannst“, fuhr Ida fort.

Ava nickte langsam.

„Also dann“, sagte die Haushälterin und bedeutete Ava, mit ihr weiter ins Hausinnere zu gehen. Ein Haus, das unter derselben Leere zu stöhnen schien, die Ava in ihrem Inneren spürte.

Dennoch unterschied sich dieser Ort deutlich von dem Leben, das Ava bis jetzt gekannt hatte. Vielleicht würde sie hier endlich Sicherheit und Ruhe finden. Oder sogar ein Zuhause. Hatte Dorothee nicht genau davon gesprochen? Die Verse, die sie Ava zugesandt hatte, hatten schließlich dafür gesorgt, dass Ava es wagte, aus den Schatten ihrer Vergangenheit herauszutreten, hinauf auf die Gangway des Schiffes.

Der HERR wird eine Zuflucht sein dem Unterdrückten, eine Zuflucht in Zeiten der Not. Mit einem beherzten Griff brachte Miss Ida sie beide zum Stehen. Dann hob sie Avas Reisetasche hoch, als würde das Gewicht ihrer dünnen Gestalt nichts ausmachen. „Es gibt eine Sache, die du über Haakon wissen solltest: Er weiß nicht immer, wovon er redet“, sagte Ida an Ava gewandt und drückte freundlich ihren Arm. Dann winkte sie Ava hinter sich her. „Lass uns einen Platz für dich finden.“

Zwei

Von der Veranda aus beobachtete Thor, wie Miss Ida Ava in die Stube führte. Dann trat auch er ins Haus und folgte ihnen. Gerade rechtzeitig betrat er den Großen Saal, um zu sehen, wie die Rothaarige um das ausgeblichene Sofa und den mit Büchern beladenen Beistelltisch herumging. Avas Schritt wurde langsamer, als ihr Blick auf das riesige Geweih über der Feuerstelle fiel. Ihre weit aufgerissenen Augen wanderten anschließend hinab zu dem Feuerholz, das den Kamin auf beiden Seiten flankierte.

Fein säuberlich hatten sie die Scheite gestapelt. Allein die nicht vorhandenen Vorhänge an dem Fenster über dem Kamin störten das Bild. Im Krieg hatte man sie von den Stangen genommen und Kleidung daraus gefertigt. Avas Aufmerksamkeit richtete sich auf die Waffen, die auf einem weiteren Tisch lagen. Dann auf die Munitionsschachtel, die anscheinend erst frisch durchwühlt worden war. Daran war er schuld gewesen, musste Thor zugeben.

Plötzlich warf Ava ihm einen Blick über ihre Schulter zu, als hätte sie die ganze Zeit schon gewusst, dass er da war. Es war der gleiche skeptische Blick, den sie ihm schon vorher zugeworfen hatte.

Warum? Er würde sie nicht anfassen. Und beißen würde er auch nicht.

Avas schwarzer Rock schwang wie eine Glocke von links nach rechts, als sie Miss Ida die Treppe hinauf folgte. Ihre schmale Hüfte sah aus, als könnte sie ein paar gute Mahlzeiten vertragen.

Eigentlich hatte Thor auch hinaufgehen wollen, aber vielleicht sollte er ein wenig Abstand lassen. Seine Arbeit auf der Plantage war für heute getan. Die Eimer hatte er alle gefüllt und mit Jorgans Hilfe die diesjährigen Erntehelfer ausgesucht. Er hatte drei ausgewählt. Jugendliche Negros, die bereits im letzten Herbst gute Arbeit geleistet hatten. Bestimmt würden die Nachbarn sich wieder darüber aufregen. Was bedeutete, dass seine Brüder und er mit uneingeladenen Gästen würden rechnen müssen. Doch diesmal wäre er gewarnt.

Mit diesen Gedanken im Hinterkopf machte sich Thor an die Arbeit und reinigte die Waffen. Er hob ein Gewehr vom Beistelltisch, lud es durch und sicherte es. Dann hob er es auf Augenhöhe, kniff ein Auge zu und visierte mit dem anderen über Kimme und Korn das Regal aus Kiefernholz am anderen Ende des Raumes an. Anschließend ließ er das Gewehr wieder sinken, blies etwas Staub vom Lauf und justierte das Korn. Zufrieden legte er es wieder ab.

Als ob sie ein Eigenleben führen würde, griff seine Hand zu dem Einmachglas, das danebenstand. Wie immer war es halb gefüllt mit dem besten Destillat des Landes. Er hatte zwar schon so viel getrunken, dass er bis zum nächsten Morgen durchhalten konnte, aber trotzdem trank Thor jetzt ein paar großzügige Schlucke. Noch während er das Glas zur Seite stellte, wusste Thor, dass dies nicht der letzte Griff zum Schnaps für heute gewesen sein würde. Mit diesem Gast im Haus würde er sich so viel Mut wie möglich antrinken müssen.

Das verkohlte Ende eines Streichholzes segelte an seinem Gesicht vorbei. Thor wandte sich zu seinem älteren Bruder um, der seine Aufmerksamkeit verlangte. Jorgan zog an einer frisch angezündeten Pfeife und zeigte dann mit ihr zur Treppe, die der neue Hausgast erst vor ein paar Minuten hinaufgegangen war. Schließlich machte er mit nüchternem Gesicht die Geste für schön, indem er die Fingerspitzen seiner geöffneten Hand vor seinem Kinn zusammenführte.

Thor wandte sich ab. Daran musste er nicht erinnert werden. Er spielte mit dem Deckel seines Glases und drehte ihn auf die Öffnung.

Jorgan stampfte auf, um erneut Thors Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Als die Holzdielen unter seinen Füßen nachgaben, warf Thor seinem Bruder einen Blick zu. Jorgan sprach Worte, die Thor zwar lesen, aber niemals würde hören können: „Du weißt, warum Dorothee sie eingeladen hat.“

Thor schloss die Munitionsschachtel, während seine Augen noch immer auf seinem Bruder ruhten, der ihm mit seinen zweiunddreißig Jahren vier Jahre voraushatte.

„Weil du dich niemals etwas traust“, sagte Jorgan. Niemals Haus verlässt, ergänzte er mit Gesten. Während er die Worte mit den Händen formte, baumelte die Pfeife zwischen seinen Lippen.

Ich verlasse Haus, gestikulierte Thor zurück. Er hielt seinen Daumen und zwei weitere Finger in die Luft für drei. Letzten Sonntag war er in der Kirche gewesen und unter der Woche zweimal am Weiher zum Baden. Für ihn war das viel.

Jorgan gluckste. Thor erkannte das an dem Hauch eines Grinsens und dem schnellen Heben und Senken seiner Brust.

Als Jorgan diesmal sprach, konnte Thor ihn nicht verstehen und er deutete auf die Pfeife zwischen Jorgans Lippen. Er zog sie aus dem Mund und sprach deutlicher: „Du bleibst in der Kirche nur für dich.“ Dann schielte er über seine Schulter in die Richtung, aus der er ein Geräusch gehört haben musste. Jorgan sprach nicht weiter, bis Thor seine sich bewegenden Lippen sehen konnte. Diese ungeschriebene Regel befolgten alle in diesem Haus. Trotzdem konnte Thor seinen Bruder auch dann kaum verstehen, da dessen Bart dringend gestutzt werden musste: „Und am Weiher gibt es keine Frauen.“

Thor rollte mit den Augen und versuchte Ruhe auszustrahlen, während das Thema Ava ihn innerlich aufwühlte. Ida kam die Treppe herunter und nickte bestätigend zu Jorgans Kommentar über Frauen, während sie nach dem Besen griff. Frische Bettlaken hingen zusammengefaltet über ihrem Arm und sie humpelte auffälliger als sonst an diesem Abend.

Thor stieß ein leises Seufzen aus. Da hatte wohl jemand gelauscht. Mit dem Zeigefinger zeigte Thor in Idas Richtung und weil er kein Zeichen zu diesem Wort kannte, musste er es buchstabieren: immer E-I-N-M-I-S-C-H-E-N. Verärgert bewegte er seine Hände schneller als sonst, wodurch die einzelnen Buchstabenzeichen verschwammen.

Ida lächelte bloß. Da Thor sich der zahlenmäßigen Unterlegenheit bewusst war, griff er nach seinem Glas und stürmte in Richtung Treppe. Zwei Stufen auf einmal nehmend hechtete er nach oben. Dann schritt er den Flur entlang. Von den vier Türen passierte er zunächst die von Jorgans Zimmer. Bei der nächsten Tür hielt er den Kopf gesenkt und den Blick starr auf den Boden. Hier hatte man Ava vermutlich untergebracht.

Zwar stand ein Bett in dem Raum, aber als er das Zimmer zuletzt betreten hatte, war es unter einem Haufen alter Felle und zwei Körben voller Einmachglasdeckel begraben gewesen. Den aufgetürmten Fellhaufen und Körben im Flur nach zu urteilen, hatte es sich Ava hier wohl gemütlich gemacht. Die nächste Tür führte in Dorothees altes Zimmer. Merkwürdig, dass Ida nicht dieses Zimmer für Ava hergerichtet hatte. Vielleicht wollte sie die Erinnerung an Dorothee noch ein wenig länger erhalten. Die letzte Tür lag am Ende einer zehnstufigen Wendeltreppe, die zum dritten Stockwerk hinaufführte. In dem ausgebauten Dachboden wohnte Thor seit jeher zusammen mit Haakon. Im Sommer war es sehr heiß hier oben, im Winter kalt. Trotzdem war es nicht so schlimm, dass die beiden nicht dankbar für diesen Ort gewesen wären. Der gesamte Raum war gesäumt mit Fenstern. Thors Lieblingsfenster zeigten westwärts hinaus auf den Abhang, auf dem seine Baldwins mit ihren tiefroten Früchten wuchsen. Die Sonne war bereits untergegangen. Allein ein sanfter, rötlicher Schimmer zog sich noch über den Horizont und spähte durch die knorrigen Äste der Apfelbäume.

Nachdem Thor die Tür hinter sich geschlossen hatte, trat er zum Bett und setzte sich auf die Matratze. Dann griff er unter das Bett und zog eine grob gezimmerte Holzkiste hervor. Es befand sich nichts Wertvolles in dieser Kiste, nur eine Ansammlung von Krimskrams. Ein wunderbares Versteck für die eine Sache, die er dort aufbewahrte, wo sie niemandem auffallen würde.

Thor musste nicht erst in die Kiste greifen und das eingerahmte Hochzeitsbild herausziehen, um Avas kaum nach oben gezogene Mundwinkel vor sich zu sehen. Oder zu wissen, dass die junge Braut an der Seite von Benn Norgaard auf den Monat genau siebzehn Jahre alt war. Dass sie aus ihrem Leben in einem irischen Armenhaus gerissen worden war, um einen Mann zu heiraten, den sie nicht kannte. Trotzdem griff Thor – mit Avas Bild frisch vor Augen – in die Kiste und zog das Foto zwischen zwei Büchern hervor. Beides norwegische Bücher, die ebenso zerlesen waren wie die englischen Titel, die Thors Bücherregal füllten.

Er schaute hinab auf die Fotografie und fuhr sanft mit dem Daumen über den Rahmen. Bei dem Anblick von Avas weit geöffneten Augen und ihrem verunsicherten Blick fühlte Thor einen stechenden Schmerz. Benns stolzer Griff um ihre Hand. Das war es, was Thor an diesem Foto immer schon gestört hatte. Ein paar Monate nach der Hochzeit war es mit der Post gekommen. Das Unbehagen in Avas Blick. Wie jung und einsam und verloren sie aussah. Vielleicht konnte Thor nicht hören, aber ganz gewiss konnte er sehen. Besser als manch anderer. Und schon immer hatte er diesen Herzschmerz in ihrem Gesicht gesehen.

Aber Ava war die Frau eines anderen und darum hatte Thor sich geschworen, die Erinnerungen an das irische Mädchen aus seinen Gedanken zu bannen. Anschließend hatte das Foto als Staubfänger an der Wand gedient – neben vielen anderen Fotografien, die dort hingen. Bis die Neuigkeiten über Benns Tod die Farm erreichten. Da hatte Thor das Bild wieder von der Wand genommen und ein weiteres Mal das Gesicht der jungen Frau studiert, die sich an seinen älteren Cousin gebunden hatte.

Die – nun als Witwe – den Namen Norgaard trug.

Das Bild hatte Thor sicher in seiner Kiste verstaut. Zusammen mit dem kleinen Funken Hoffnung, der sich in seinem fest verschlossenen Herz geformt hatte.

Und nun befand sich Ava nur wenige Meter von ihm entfernt. Sie war ihm so nah, dass Thor nur den Flur hinablaufen und an die Tür klopfen musste, um in diese Augen blicken zu können. Um erneut festzustellen, dass ihre Haare tatsächlich die Farbe von Kupfer hatten und dass ihre Haut wirklich so weiß war wie auf der Schwarz-Weiß-Fotografie in seiner Hand. Er hatte sich die Farbe ihrer Haut wie Buttercreme vorgestellt und genauso seidenweich.

Diese Frau, die erst vor ein paar Stunden in der Plantage auf ihn zugekommen war. Als Thor todmüde dort stand, nur eine Armeslänge von Ava entfernt, konnte er kaum die Fragen beantworten, die sie ihm stellte. Vom ersten Moment an hatte Thor gewusst, dass es Ava war. Sein Herz hatte so schnell in seiner Brust geschlagen, dass Thor für einen Moment lang gefürchtet hatte, es würde versagen. Selbst wenn er gewusst hätte, was er ihr hätte sagen sollen, hätte er es nie im Leben aussprechen können.

Er spürte die Holzdielen vibrieren. Thor ließ das Bild wieder in die Kiste gleiten und schob sie außer Sicht. Gerade als er sich aufrichtete, betrat Haakon das Zimmer. Mit zusammengepressten Fingerspitzen führte Haakon seine Hand mehrmals an den Mund.

Zeit zum Essen. Thor erhob sich. Haakon sagte etwas, aber der Satz verlor sich im Dämmerlicht. Thor hasste die Dunkelheit, weil sie seine Welt zusammenschrumpfen ließ. Mit etwas Abstand zwischen den Handflächen ließ er seine geöffneten Hände vor seiner Brust gegeneinanderkreisen, legte dann die Handflächen aneinander und bewegte sie sanft vor und zurück – Gebärdensprache bitte. Eine Freiheit, die er niemals für selbstverständlich gehalten hatte. Zumindest nicht, seit ein Lehrer ihm die Hände zusammengebunden und von ihm verlangt hatte, wie jedes andere Kind reden zu lernen.

Haakon deutete in den Flur und buchstabierte dann A-V-A. Anschließend fuhr er mit dem Zeigefinger vom Auge runter über die Wange. Sie weinte?

„Nicht laut“, sagte Haakon und drehte die Laterne auf. „Ich habe sie gehört, als ich an ihrem Zimmer vorbeikam.“ Dann drehte er sich um. Für nichts in der Welt würde dieser Junge eine warme Mahlzeit verpassen. Kurz bevor er verschwand, drehte Haakon sich noch einmal um. „Warum hat Dorothee sie herkommen lassen?“

Thor zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf. Das war die einzige Antwort, die er Haakon geben würde.

„Scheint, als wären wir gleich alt. Habe das herausgefunden, als ich ihr verklemmtes Fenster repariert habe“, ergänzte Haakon. Dabei ließ er bedeutungsschwanger seine Augenbrauen auf und ab hüpfen, als wäre das Fenster nicht das Einzige, dem er sich annehmen wollte. Noch bevor sich Thor eine Antwort ausdenken konnte, hatte Haakon sich bereits umgedreht und war die Treppe hinabgestürmt.

Nicht wirklich hungrig griff Thor nach dem Einmachglas. Obwohl er kein Verlangen hatte, drehte er den Deckel von der Öffnung, hob das Glas an die Lippen und trank. Unerfüllte Sehnsucht hatte diese Gewohnheit mit der Zeit in ihm reifen lassen. Doch als der Branntwein ihm warm die Kehle hinablief, folgte kein tröstliches Gefühl, und der Alkohol tat nichts gegen die penetrante Erinnerung an Haakons selbstgefälliges Grinsen. Verärgert über seine eigene Schwäche drehte Thor den Deckel wieder auf die Öffnung.

Dann erhob er sich, setzte das Glas beiseite und brachte ein weiteres Mal das Foto zum Vorschein. Steif von dem langen und harten Arbeitstag lief Thor die Treppe hinab. Der Flur lag beinahe in vollkommener Dunkelheit, allein der Schein von Avas Lampe trat unter ihrer Tür hindurch. Thor ging so vorsichtig, wie er nur konnte. Als sie noch jünger gewesen waren und regelmäßig Unfug ausgeheckt hatten, hatte Haakon ihm gezeigt, welche Bodendielen knarzten. Thor versuchte, nicht auf diese zu treten, und hielt dann vor Avas Tür inne.

Zögernd legte er seine Handfläche gegen das Holz. Dann senkte er den Kopf und schloss die Augen.

Da war es. Ein sanftes Beben im Gebälk. Es bewegte sich unter seiner Hand … Der Klang ihrer Trauer. Überwältigt zog sich Thor zurück, dankbar über Idas Anwesenheit. Vielleicht würde sie dafür sorgen, dass Avas Tränen schneller versiegten und sie leichter in den Schlaf finden konnte.

Nach einem letzten Blick auf das Foto – der Beginn einer Geschichte, über die er nichts wusste und offen gestanden auch nicht verdiente – kniete Thor sich nieder und stellte es in die Nische von Avas Tür. Wenigstens etwas, das er für sie tun konnte.

Drei

Nachdem Miss Ida Ava in das Badehaus geführt hatte – ein kleiner Raum, der sich an die Außenwand der Küche schmiegte –, hinkte sie über den Dielenboden zur Badewanne hinüber. Der dazugehörende Wasserhahn wurde aus einem Wasserbehälter gespeist, der mit dem Ofen auf der anderen Seite der Wand verbunden war. Ida drehte an dem Knauf und die Wanne füllte sich mit dampfendem, heißem Wasser. Ava fühlte sich darin wie im Himmel. Sie genoss das Gefühl von Frische an ihrer Haut und in ihren Haaren, während sie sich den Staub der Straße von Kopf bis Fuß abschrubbte. Leider waren all die Erinnerungen an den Grund ihres Kommens nicht so einfach abzuwaschen. Ava verstaute sie tief in ihrem Herzen und versuchte stattdessen, dankbar diesem Tag entgegenzublicken und sich auf das zu konzentrieren, was er noch für sie bereithalten würde.

Nachdem sie aus der Wanne gestiegen war und sich abgetrocknet hatte, schlüpfte sie in einen Rock, den sie noch aus ihrer Zeit im Armenhaus besaß. An der Taille mussten ein paar Sicherheitsnadeln helfen, damit der Rock ihr nicht über die Hüften rutschte. Ava ordnete den Stoff so an, dass man die Eingriffe nicht auf den ersten Blick erkennen konnte, und stellte sicher, dass der Kragen ihrer düsteren Bluse eng an ihrem Hals anlag. Vielleicht sah sie so etwas streng aus, vor allem in Anbetracht dieses schönen Sommermorgens, aber Ava wollte so unauffällig wie möglich sein.

In ihrer Reisetasche hatte Ava ein hübscheres Kleid aus hellblauem Bombasin. Obwohl der weite, ausladende Rock eigentlich für einen Reifrock gedacht und damit aus der Mode gekommen war, hatte Ava aus dem Kleid ein ansehnliches und modisches Kleidungsstück zaubern können. Auch die Pagodenärmel hatte sie zu diesem Zweck abgenommen und geändert. Eigentlich hatte sie sich bisher auf eine Gelegenheit gefreut, dieses Kleid zu tragen. Nur heute nicht.

Der Geruch frisch gebackener Brötchen und heißen Fleisches lockte Ava in die Küche. Als sie eintrat, sah sie Thor am Tisch sitzen. Sein schwarzes Haar hatte er mit einem Lederriemen zurückgebunden und die Ärmel seines Hemdes hatte er bis zu den Ellbogen zurückgeschoben. Gerade nippte er an einer Tasse Kaffee, vor ihm stand sein halb leerer Teller. Nun trat auch Haakon ein, der sich sofort zum Herd wandte und seinen eigenen Zinnbecher füllte. Er lächelte Ava zu.

„Sie haben wirklich ganz schön rotes Haar“, sagte Haakon, als er ihr den Becher reichte.

Dankend nahm Ava ihn entgegen und spähte erst in die dampfende Flüssigkeit, dann in Haakons markantes Gesicht. „Und Sie haben ziemlich blaue Augen“, entgegnete sie.

Grinsend zog er einen Stuhl zurück und setzte sich. „Wir sollten uns duzen, schließlich sind wir eine Familie.“

Ava goss sich einen Schuss Milch in den Kaffee und nickte zögernd. Dann bereitete sie sich einen Teller mit gebackenen Kartoffeln und Schinken zu. Als sie endlich zu Tisch saß, betrachtete sie ihr Essen, bevor sie eines der Brötchen halbierte. Ihr wurde hier ein so reichhaltiges Mahl angeboten – solch einen Luxus hatte sie noch nie genossen. Das Wasser lief ihr bei dem Gedanken an den ersten Bissen im Mund zusammen, doch bevor es dazu kam, entdeckte Ava das Marmeladenglas. Es stand vor Thor und sah so verführerisch aus, dass sie es nicht ignorieren konnte.

Ebenso schwer zu ignorieren, aber nicht im Mindesten verführerisch, war das Glas mit Schnaps. Es stand so dicht neben dem Marmeladenglas, als ob sie beide gleich oft beim Frühstück benutzt wurden. Thor hatte die Ellbogen auf dem Tisch abgestützt und las die Zeitung, die er über seinem Teller ausgebreitet hatte. Seine dichten, dunklen Wimpern bewegten sich mit den Worten.

„Könntest du mir bitte die Marmelade reichen?“, fragte Ava.

Thor leckte seinen Daumen an und blätterte um. Haakon sah zu seinem Bruder und streckte sich dann aus, um das Glas zu Ava hinüberzuschieben.

„Danke“, sagte Ava leise, während ihre Augen noch immer auf Thor ruhten.

Haakon würzte sein Essen nach und sagte: „Er kann dich nicht hören.“

„Bitte?“, hakte Ava nach.

„Thor. Er kann dich nicht hören“, wiederholte Haakon und tippte sich ans Ohr. „Er kann überhaupt nichts hören.“

Avas Blick huschte wieder zu Thor hinüber, der noch immer in seine Zeitung vertieft war. „Kann er nicht?“

Nachdem Haakon an seinem Kaffee genippt hatte, verzog er sein Gesicht und stand auf.

Mit erhobener Augenbraue schielte Thor zu seinem Bruder hinüber und stürzte dann sein eigenes Gebräu hinunter. Es war so schwarz wie die Nacht. Haakon griff nach der Zuckerschale und Thor wandte sich nach einem letzten Augenrollen wieder der Zeitung zu.

Derweil setzte sich Haakon wieder und stellte den Zucker auf den Tisch. „Sieh her …“, sagte er zu Ava und klopfte neben Thors Ellbogen auf den Tisch. Dieser hob sogleich den Kopf.

Haakon tippte sich mit einem Zeigefinger an das Ohr und dann auf seine Lippen. Anschließend deutete er auf Thor und nach ein paar weiteren Gesten zu Ava. Nun sah Thor sie an und mit einem Mal war ihre gesamte Verwirrung von gestern verschwunden. An ihre Stelle trat Traurigkeit. Ava erinnerte sich daran, welchen Eindruck Thor bei ihr hinterlassen hatte. Mit Haakons Erklärung machte plötzlich alles Sinn.

Hatte sie ihn wirklich für so imposant gehalten? Tatsächlich hatte er eine stattliche Größe und die filigrane Lehne seines staksigen Stuhls schien in keiner Weise zu dem breiten Rücken zu passen. Und dennoch …

„Was soll ich tun?“, fragte sie Haakon.

„Was meinst du?“, antwortete er.

Noch immer blickte Ava Thor tief in die Augen. „Was kann ich sagen?“, verdeutlichte sie ihre Frage.

„Du kannst sagen, was du willst. Solange er dich ansieht, kann er deine Lippen lesen“, erklärte der jüngste Bruder.

Wirklich? Thors Aufmerksamkeit wanderte für einen kurzen Moment hinunter zu Avas Lippen, dann wieder hinauf in ihre Augen. Haakon lachte leise, woraufhin Thor verschiedene Bewegungen mit seinen Händen in Richtung seines kleinen Bruders ausführte. Dieser antwortete. Eine Art der Kommunikation, schnell und fremd.

„Ich – das habe ich nicht gewusst“, sagte Ava und hoffte, dass sie die beiden nicht unterbrach.

Haakon zuckte mit den Schultern. „’tschuldige dafür. Wir sind so an seine Art gewöhnt, dass wir vergessen, dass andere es nicht sind.“ Er griff nach seiner Gabel und spießte eine Kartoffel auf.

Mit der Handwurzel rieb Thor sich die Stirn. Nachdem er sich das Glas mit Schnaps geschnappt hatte, drehte er den Deckel ab und goss sich die bernsteinfarbene Flüssigkeit in den Kaffee.

Eine solche Menge, dass selbst Haakon zu kauen aufhörte. „Langsam, Thor“, sagte er.

Thor warf ihm einen finsteren Blick zu.

Jorgan kam in die Küche geeilt und schob sich eine Streichholzschachtel in die Hemdtasche. Freundlich lächelte er Ava an. „Ida sagte mir, dass Sie mit mir sprechen wollten.“

„Richtig“, nickte Ava. In ihr regte sich der verzweifelte Wunsch nach Sicherheit. Sie wollte herausfinden, was sie tun sollte. Wissen, was für einen Platz sie hier hatte. Würde sie überhaupt einen Platz hier haben? Oder wäre es besser, wenn sie weiterziehen würde? Sollte sie bleiben, würde das Wort darüber die Runde machen. Die Leute würden ihre ganz eigene Meinung darüber haben, dass sie hier allein mit drei unverheirateten Männern lebte. Und das würde dem Ruf dieser Familie nicht gerade guttun, die sie doch so freundlich aufgenommen hatte. Jorgan schaufelte sich Essen auf einen Teller. „Lassen Sie mich erst Haakon und Thor loswerden, dann können wir uns hinsetzen und reden“, sagte er. „Danke“, antwortete Ava knapp und fügte dann hinzu: „Ihr Bruder und ich sind uns einig geworden, dass wir uns duzen sollten.“

Jorgan nickte und ließ sich dann am Ende des Tisches nieder. Sogleich wandten er und seine Brüder sich dem Essen zu. Ava fühlte sich wie immer vollkommen fehl am Platz, trotzdem versuchte sie es den Männern gleichzutun. Nach ein paar Minuten Stille klopfte Haakon neben Thor auf den Tisch, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen. Wieder machte er mehrere dieser Handbewegungen – sie reihten sich so weich und nahtlos aneinander, dass es sich wohl um einen Satz handeln musste. Ohne eine Miene zu verziehen, blickte Thor auf die Hände seines Bruders. Dann musste Haakon etwas über Ava gesagt haben, denn Thors Blick glitt zu ihr hinüber. Ava saß sehr still.

Mit zwei seiner Fingerknöchel fuhr Thor sich über den Bart. Seine braunen Augen ruhten immer noch auf Ava, als er nach dem Zinnbecher griff und den Inhalt – der aus mehr Alkohol als irgendetwas anderem bestehen musste – hinunterstürzte.

„Wenn es dich beruhigt, kannst du Guten Morgen zu ihm sagen“, meinte Haakon, der seinen leeren Teller zurückschob. „Du kannst es ihm sagen, wenn er dich ansieht, oder du kannst es ihm zeigen“, ergänzte er. Daumen und Zeigefinger einer Hand legte er zusammen und spreizte dann die Finger beider Hände auseinander, um mit ihnen eine aufgehende Sonne zu symbolisieren. „Guten Morgen“, sagte er dazu.

Thor blickte nun Haakon an. Nein … er starrte ihn an. Dann fiel sein Blick wieder auf Ava. Plötzliche Panik überfiel sie und brachte sie dazu, ein „Guten Morgen“ hervorzupressen. Viel zu laut. Sie zuckte zusammen.

Grinsend warf Haakon seine Serviette auf den Tisch. „Du musst nicht brüllen.“ Mit zusammengezogenen Brauen klopfte Thor zweimal auf den Tisch und Haakon erklärte: „Sie hat es fast geschrien.“

„Halt den Mund, Haakon“, murmelte Jorgan, während er eine Kartoffel zerkaute. Thor schob seinen Stuhl zurück und stand auf.

„Habe ich ihn beleidigt?“, fragte Ava und Thor zuckte zusammen, als hätte sie es mit dieser Frage nur noch schlimmer gemacht.

„Nee. Thor ist morgens immer übel gelaunt“, meinte Haakon und schielte zu Jorgan hinüber, als würde er dessen Einspruch erwarten. „Er schiebt es immer auf die Kopfschmerzen, aber ich glaube, dass das einfach seine Persönlichkeit ist“, fügte er hinzu.

Thor polterte aus der Küche in den anliegenden Raum, kehrte aber nur Sekunden später wieder. Ein Gewehr lag über seiner strammen Schulter. Er schickte eine scharfe Handbewegung in Haakons Richtung und marschierte dann nach draußen.

Haakon stand auf und deutete auf ihn. „Siehst du, wenn ich das jemals gesagt hätte, hätte ich sofort meinen Mund mit Seife ausgewaschen bekommen.“ Er trat hinaus auf die Veranda, während Jorgan sein Grinsen hinter dem Kaffeebecher zu verstecken versuchte.

Voller Angst, sie könne Thor in irgendeiner Weise beleidigt haben, sammelte Ava die leeren Teller ein und stapelte sie. In der Waschschüssel wusch sie die wenigen Teller ab. Durch das Fenster beobachtete sie, wie Thor zwei Stuten aus dem Stall führte. Mit Haakons Hilfe sattelte er sie.

„Wohin gehen sie?“, wollte Ava wissen.

„Reiten die Grenzen ab. Thor macht sich Sorgen, dass jemand auf unserem Land herumstreunen könnte, und will sich umsehen“, erklärte Jorgan.

„Oh“, sagte Ava bloß.

„Ida ist im Garten“, sagte Jorgan.

Ava hatte nicht gefragt, aber sie empfand die Erwähnung von Idas Verbleib als sehr aufmerksam. Sie beobachtete Haakon und Thor, die, ohne zu sprechen, miteinander arbeiteten. Plötzlich bemerkte Ava, dass der Teller auf den sauberen Boden tropfte, und sie wandte sich auf der Suche nach einem Handtuch um. Weil sie nicht wusste, wohin das Geschirr gehörte, stapelte sie die trockenen Teller auf dem Tisch.

„Erzähl mir etwas über dich, Ava“, bat Jorgan, als er den Stapel in einem Wandschrank verstaute.

Ava schüttelte die Kaffeekanne, um zu sehen, ob sie leer war. Während sie sie abwusch, erzählte sie von ihrem Leben mit Benn in der kleinen Wohnung über einer Bäckerei.

„Wie du sicher weißt, hat er in der Nähe des Hafens beim Bau von Booten mitgearbeitet. Derweil habe ich genäht.“ Ava hatte gelernt, innerhalb einer Woche ein schaufensterwürdiges Kleid zu nähen. Wenn es etwas gab, das sie sich von ihrer Mutter abgeschaut hatte, dann war es Effizienz und der Blick fürs Detail.

Warum sie gerade mit dem Nähen auf Jorgans Frage geantwortet hatte, wusste Ava nicht. Vielleicht, weil es weniger erschütternd war als der Rest ihres Lebens.

„Und wie hast du diese Fähigkeit erlernen können?“, wollte Jorgan wissen.

„Meine Mutter war Dienstmagd – Schneiderin für einen Lord und seine Frau. Wir haben in einem großen Anwesen auf dem Land nördlich von Dublin gelebt, aber da war ich noch sehr jung. Ich kann mich nicht an vieles aus dieser Zeit erinnern“, erzählte Ava. Nur an die stetig arbeitenden Hände ihrer Mutter und ihre lächelnden Augen.

Andere Erinnerungen waren weniger deutlich. Wie zum Beispiel die Erinnerung an den Nebel, der sich dort zwischen die Hügel schmiegte. Oder an die irische Oberschicht, den Klang von zartem Porzellan beim Nachmittagstee und den Glanz von abendlichen Festen, bei denen sich farbenfrohe Kleider im Kerzenlicht zu der Musik einer einsamen Fiedel drehten.

„Solange ich nicht im Weg herumstand und außer Sicht blieb, durfte ich so lange bleiben, wie ich wollte“, erinnerte Ava sich. Diese Gefälligkeit wurde nicht vielen Bediensteten gewährt.

Wer ihr Vater war … nun, das wusste sie wirklich nicht. Man hatte ihr nie erlaubt, mit den anderen Kindern zu spielen, und noch bevor sie alt genug war, um sie in die Geheimnisse der Weiblichkeit einzuführen oder zu erklären, wie Kinder auf die Welt kamen, wurden sie und ihre Mutter weggeschickt.

„Von dort aus sind wir nach Süden gereist und in dem Armenhaus gelandet. Meine Mutter hat nicht einmal den ersten Monat nach unserer Ankunft dort überlebt. Ich habe es etwas länger ausgehalten“, erzählte sie mit fester Stimme, auch, als Trauer und Verlust mit eiskalter Hand Besitz von ihrem Herzen ergriffen. Sie holte sich selbst in die Gegenwart zurück, indem sie sich daran erinnerte, wo sie war – umgeben von Idas warmer Küche und Jorgans vorbildlichem Benehmen.

„Das tut mir aufrichtig leid“, sagte er sanft. „Und es tut mir leid, dass Dorothees Briefe dich so in die Irre geführt haben. Zumindest in Hinsicht auf meine Brüder und mich. Wenn du gerne hierbleiben würdest, hätte ich ein paar Aufgaben für dich. Aber erst will ich deine Meinung hören.“ Jorgan trocknete seine Hände an dem Handtuch, das Ava ihm reichte, und fragte dann: „Was möchtest du?“

Das war eine Frage, die Ava erst einmal im Leben gestellt worden war. In Irland hatte eine Nonne Ava in ihr Büro im Armenhaus bestellt und ihr von Benn Norgaard berichtet, einem Bootsbauer aus Norwegen, der sich nach der rothaarigen Frau erkundigt hatte – derjenigen, die eine Schachtel voller Garnrollen über den Hof getragen hatte, als er auf der gepflasterten Straße davorgestanden hatte.

Geschockt über das Angebot, das der Mann ihr gemacht hatte, hatte Ava auf den kleinen goldenen Ring gestarrt, den die Nonne aus einem seiner Taschentücher gewickelt hatte. Trotzdem hatte Ava ihre Armenhauskluft gegen ein abgetragenes Kleid getauscht, das ihr darüber hinaus noch zwei Nummern zu groß gewesen war. In der Tasche dieses Kleides hatte sie den Namen einer Pension gefunden, in der der Fremde ein Zimmer für sie für zwei Wochen im Voraus gemietet hatte. Er selbst war bereits fort – auf ein Schiff zurückgekehrt, das vor der irischen Küste auf Sand gelaufen war und bei dessen Reparatur er helfen musste. Dennoch hatte der Norweger die Nachricht hinterlassen, dass er nach vierzehn Tagen zurückkehren würde, um sie zu ehelichen. Falls das Mädchen bis dahin nicht geflohen wäre. Gerade als Ava ein Pfund zugelegt und die Läuse aus ihren Haaren gewaschen hatte, kehrte der Fremde zurück und hielt sein Versprechen.

Weil der Cousin dieses Mannes nun auf eine Antwort wartete, sagte Ava: „Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung. Ich bin in dem Glauben hierhergekommen, Dorothee bei eurer Erziehung unterstützen zu können. Ich hatte erwartet, dass ihr viel jünger wäret. Und natürlich, dass sie noch immer hier wäre.“

Jorgan nickte verständnisvoll. Trotzdem entging Ava der Hauch eines Grinsens nicht. Es schien, als habe Jorgan den Plan verstanden, den seine Tante Dorothee ausgeheckt hatte. Auch Ava meinte mittlerweile, sie durchschaut zu haben.

„Ich habe mir nie besonders viel gewünscht. Was ich möchte, ist eine Aufgabe, um mir ein Bett und eine warme Mahlzeit zu verdienen. Dafür wäre ich sehr dankbar. Dorothee hatte angedeutet, dass ich eine solche Anstellung hier finden könnte“, erklärte sie.

„Sicherlich könnten wir eine Aufgabe für dich finden“, antwortete Jorgan und grinste dann. „Solange du keine harte Arbeit scheust.“

Nicht im Geringsten. „Wäre es …“, Ava hielt inne. Wie sollte sie ausdrücken, was sie dachte? „Wäre es nicht unschicklich, wenn ich hierbleiben würde?“, versuchte sie es.

„Für andere schon“, antwortete Jorgan und blickte über die Schulter zu dem großen Fenster. Mit einem Kopfnicken bat er Ava, ihm die Treppe hinauf zu folgen. Seine tiefe Stimme klang noch genauso freundlich wie zuvor, als er sagte: „Und die Leute verpassen keine Möglichkeit, sich das Maul über andere zu zerreißen.“

Wohl wahr, das taten sie nicht.

Im Flur blieb Jorgan vor Dorothees Zimmer stehen und Ava tat es ihm gleich.

„Vielleicht können wir dem Tratsch irgendwie entgehen. Ich werde mit meinen Brüdern darüber sprechen“, sagte Jorgan und öffnete die Tür. Dicke, geblümte Vorhänge hingen vor dem Fenster, die Jorgan behutsam zur Seite zog. „Bestimmt findest du hier etwas, das du gebrauchen kannst“, sagte er.

Licht durchflutete den Raum und bahnte sich einen Weg zwischen dem tanzenden Staub hindurch. Ava trat ein und lief die nächstbeste Wand entlang. Dort hingen eingerahmte Stickarbeiten, jede mit den Initialen D. N. signiert. Die edlen Blütenblätter und verschlungenen Ranken zeugten von Norwegens eleganter Handwerkskunst.

Neben den Stickarbeiten hingen einige Kinderzeichnungen, die Dorothee an die Wand geheftet hatte. In der Ecke jedes Bildes stand in Dorothees vertraut verschnörkelter Handschrift der Name des Künstlers und das entsprechende Alter. Unter einer wilden Bleistiftkritzelei stand Haakon, 3 Jahre. Unter dem Bild eines großen Wals inmitten einer stürmischen See stand Jorgan, 10 Jahre. Das letzte Bild trug die Unterschrift Thorald, 7 Jahre. Die Bilder konnten also nicht zur gleichen Zeit entstanden sein. Ava beugte sich zu der letzten Zeichnung hinunter, der kindlichen Darstellung einer Familie. Die grob gezeichneten Personen lächelten über die gesamte Breite des Gesichts und jede Figur stand neben einem riesigen Baum, der bis in den Himmel hineinreichte. Vögel flogen über ihre Köpfe hinweg. Vorsichtig berührte Ava die vergilbte Ecke des Bildes.

Nicht weit von ihr entfernt stand Jorgan und schob eine Vase mit vertrockneten Blumen zur Seite, um nach einem Nähkorb zu greifen. „Den solltest du bekommen.“

„Oh, das kann ich auf keinen Fall annehmen“, erwiderte Ava.

„Was für einen Nutzen hat der Korb, wenn er hier herumsteht? Es würde Dorothee stolz machen zu sehen, dass er weiterhin gebraucht wird.“

Also griff Ava nach dem Henkel des Korbes und allein das Gewicht der ganzen Knöpfe, Nadeln und Garne sandte eine Welle der Freude durch den Körper. Ihr eigener Nähkorb war längst fort. Verkauft, um die Überfahrt hierher zu bezahlen.

„Gibt es sonst noch etwas, das du brauchst?“, fragte Jorgan.

„Für den Anfang reicht das aus.“ Und mehr als das. Ava sah sich im Raum um und begutachtete Dorothees kleines Reich. Rosa und elfenbeinfarbene Töne dominierten den großen Quilt, der über das Bett gelegt worden war, und das Kupfer des Kopfbrettes schimmerte im Glanz der Sonne. Farbenfrohe Garnreste ruhten auf dem Nachttisch ebenso wie eine elegante Schere. Es schien beinahe so, als hätte Dorothee bis zur letzten Sekunde an einem Projekt gearbeitet.

„Darf ich fragen, wie Dorothee verstorben ist?“, wollte Ava wissen.

Jorgan trat näher an das Fenster heran und spähte hinaus. „Sie war schon alt – fast neunzig –, ist eines Tages zu Bett gegangen und nie wieder aufgewacht. Sie ist friedlich eingeschlafen. An einem Tag war sie noch da, am nächsten schon nicht mehr. Wir zeigen es vielleicht nicht gerne, aber meine Brüder und ich vermissen sie sehr.“

„Ich wünschte, ich hätte sie kennenlernen können“, murmelte Ava.

Jorgan lächelte traurig, dann sah er sich um. „Sie hat sehr gut von dir gesprochen.“ Er hob ein besticktes Deckchen auf, das auf einem nahe gelegenen Stuhl lag. „Und ich weiß: Sie wollte, dass du dich hier zu Hause fühlst. Also bitte lass es uns wissen, wenn du irgendetwas brauchst. Da du gerne nähst, wirst du bestimmt auch einen Blick in den Verschlag draußen werfen wollen. Da liegen stapelweise Stoffe und Schachteln voll Garn. Ich kann es dir zeigen, wenn du magst.“ Mit diesen Worten reichte Jorgan ihr die Gobelinstickerei. Als hätte er geahnt, dass ihre Reisetasche von solchen Dingen nicht viel in sich barg.

„Vielen Dank“, sagte Ava. Ihre Stickkünste hielten sich in Grenzen, dennoch fielen Ava einige Fehler bei den weißen und rosafarbenen Blüten und Ranken auf dem dunkelblauen Stoff auf. Gerne hätte sie zur Nadel gegriffen und das Werk vollendet. Es schien ihr so, als wäre diese Stickerei nicht anhand einer Vorlage entstanden, sondern direkt aus Dorothees Herz und Sinnen gekommen.

„Solltest du dich jemals nach einer Anstellung sehnen, können wir uns in den umliegenden Städten umhören. Allerdings …“, Jorgan hielt inne und lächelte freundlich. „Allerdings wäre es schade, dich wieder ziehen lassen zu müssen.“

Gerade als Ava ihm ein Danke schenken wollte, durchbrach der laute Donner eines Schusses die Luft. Vor Schreck sprang Ava auf. Ein weiterer Schuss kam aus derselben Richtung. Als alles wieder still war, grinste Jorgan und sagte: „Keine Sorge, das war nur Thor.“

„Was tut er da?“, fragte Ava.

„Verscheucht jemanden von unserem Land. Manchmal fühlen sich unsere Nachbarn zu wohl bei uns. Keine Sorge: Er passt auf, dass er niemanden trifft.“

Ava schluckte hart.

„Damit du Bescheid weißt: Unter der Woche ist Miss Ida die meiste Zeit hier“, fuhr Jorgan fort. Er hob die elegante Schere vom Nachttisch auf und schob sie unter den Deckel in den Korb. „Samstagabends besucht sie ihre Schwester Cora. Du wirst sie noch kennenlernen. Sie ist wirklich freundlich. Lebt auf unserem Land, ein paar Morgen hinter den Plantagen. Das ist ein Grund für die regelmäßigen Streifzüge von Thor und Haakon. Sie wollen sicherstellen, dass niemand sie belästigt.“

Jorgans Blick glitt zum Fenster, dann wieder zu Ava. „Ida hat angeboten, dauerhaft hier zu wohnen. Dann wäre es niemals unschicklich für dich, hier zu sein. Du wärst einfach Teil unserer Familie. Nichts anderes, als Dorothee im Sinn hatte. Wir würden dich für deine Arbeit bezahlen. Statten dich mit allem Nötigen aus, damit du ein neues Leben beginnen kannst. Wie auch immer wir dir helfen können. Wir leben im Überfluss, Ava, und es wäre unsere Aufgabe, für dich zu sorgen.“ Er winkte sie zu sich heran und deutete aus dem Fenster auf die nebenstehenden Gebäude. „In diesem Gebäude mit dem spitzen Giebel wirst du dich sicher einmal umsehen wollen. Dort wirst du ein paar Kisten mit Dorothees Sachen finden, die wir nach ihrem Tod dorthin gebracht haben. Auch Stoffe und so. Bediene dich ruhig. Und außerdem … es gibt noch etwas, das ich dir gerne zeigen würde.“

Am Ende des Ganges stellte Ava ihre neuen Schätze in ihrem Zimmer ab und folgte Jorgan dann hinab in das Erdgeschoss. Er sagte kein Wort, bis sie vor dem Haus standen. „Du solltest wissen, wie wir unseren Lebensunterhalt verdienen“, bemerkte er dann und zeigte auf das größte der umstehenden Gebäude. Eine Scheune, so groß wie das Wohnhaus selbst. „Manche Leute empfinden das als eine Schande, deswegen solltest du Bescheid wissen, bevor du dich zum Gehen oder Bleiben entscheidest.“