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Heilversprechende Diäten, die das Idealgewicht bringen sollen, gibt es zu Genüge. Nur – sie nutzen erwiesenermaßen nichts. Im Gegenteil, durch den gefürchteten Jojo-Effekt landet man letztendlich bei mehr Pfunden! Die Psychologin Maja Storch zeigt mit ihrem revolutionären Ansatz des Ich-Gewichts, wie wir dem entgegensteuern können. Denn nur wenn es uns gelingt, unser Unbewusstes ins Boot zu holen, finden wir auch die richtige Motivation und schließlich unser wirkliches Ich-Gewicht. Amüsant und wissenschaftlich fundiert führt uns die Autorin in sieben nachvollziehbaren Schritten zu unserem eigenen Wohlfühlgewicht.
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Seitenzahl: 206
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Maja Storch
Mein Ich-Gewicht
Wie das Unbewusste hilft, das richtige Gewicht zu finden
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2016
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
E-Book-Konvertierung: Daniel Förster, Belgern
ISBN (E-Book) 978-3-451-80844-9
Gehören Sie auch zu den Menschen, die eigentlich genau wissen, was man tun müsste, um zum Idealgewicht zu gelangen? Die im Regal zahlreiche Bücher stehen haben, in denen sämtliche bekannte Formen von Diäten beschrieben sind? Wissen Sie, welche Nahrungsmittel viele Kalorien haben und welche wenig? Und Sie wissen ebenfalls, dass man mindestens dreimal in der Woche 30 Minuten Bewegung in den Stundenplan einbauen sollte. Sie wissen das alles.
Aber Sie tun es nicht. Und Sie haben laufend irgendwo in einem Winkel Ihrer Seele ein schlechtes Gewissen deswegen. Das soll anders werden.
Gewicht, Schönheit und Gesundheit sind Themen, die alle angehen. Darum lohnt es sich, hierzu einen eigenen Standpunkt zu entwickeln. Das ist jedoch nicht einfach, sondern ausgesprochen schwierig, denn die Experten streiten sich. Welches Essverhalten ist richtig, was ist falsch? Soll man mit Stöcken walken oder ohne? Muss eine Frau mit 50 Jahren dasselbe Gewicht haben, das sie mit 25 Jahren hatte? Ist ein Mann mit Bierbauch unattraktiv und muss er am Waschbrettbauch arbeiten? Wem soll man glauben? Wer bestimmt die Vorgehensweise? Wie soll man sich zurechtfinden im wuchernden Gestrüpp von BMI, Idealgewicht, Glyx-Index oder Waist-to-hip-Ratio?
Weil ich mich als Psychoanalytikerin seit 20 Jahren mit dem Unbewussten beschäftige, wundere ich mich, wie die Expertenwelt ernsthaft den Versuch unternehmen kann, an so einer zentralen, identitätsbestimmenden Sache wie dem eigenen Körperumfang arbeiten zu wollen, ohne sich dabei um unbewusste Motivlagen zu kümmern. Eine nachhaltige Lebensumstellung jeglicher Art kann niemals auf gesunde und bereichernde Art vollzogen werden, ohne das unbewusste mit ins Boot zu nehmen. Mit anderen Worten: Wenn Sie bei Ihrem Vorhaben, Ihr essverhalten zu ändern, immer wieder scheitern, hat das höchstwahrscheinlich damit zu tun, dass Ihr Unbewusstes diese Absicht bisher nicht unterstützt hat – aus was für Gründen auch immer.
Das Unbewusste verfügt nicht über Sprache, es kann sich nur in Gefühlen oder Bildern äußern. Dieser Code ist vielen Menschen unbekannt. Wer auf Dauer mit dem eigenen Gewicht arbeiten will, braucht Informationen darüber, wie man die Signale des Unbewussten deuten kann, und wie sich eine Absicht anfühlt, die vom Unbewussten unterstützt wird.
Dieses Buch bringt einen Begriff auf die Bühne, das Ich-Gewicht. Dieser Begriff soll helfen, das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper zurückzuerobern. Das Ich-Gewicht unterscheidet sich von allen anderen Definitionen des korrekten Körpergewichts durch vier wesentliche Merkmale:
• Ich-Gewicht wird gefühlt, nicht berechnet.• Ich-Gewicht ist flexibel, nicht normiert.• Ich-Gewicht ist selbstbestimmt, nicht fremdbestimmt.• Ich-Gewicht kommt ohne schlechtes Gewissen aus.Die herkömmliche Methode, um das richtige Gewicht herauszufinden, besteht in mathematischer Aktivität. Zur Verfügung stehen wechselnde Formeln, von denen ich im Laufe meines Lebens drei verschiedene kennengelernt habe. Mathematik auf den eigenen Körper anzuwenden heißt, das eigene Wohlbefinden von Zahlen abhängig zu machen. Selbstverständlich benötigt man Richtwerte, um extremes Übergewicht und gefährliches Untergewicht aus medizinischer Sicht klar definieren zu können. Für den großen Bereich der Menschen, deren Körperumfang sich zwischen den beiden Außenbereichen in der gemütlichen Mitte der statistischen Normalverteilung befindet, sind Zahlen jedoch irreführend, denn sie entfernen den Menschen vom Gefühl für sich selbst und führen zur innerpsychischen Entfremdung.1
Alle Maße, die sich aus Tabellen ablesen lassen, sind als feste Größen gedacht. Der menschliche Körper ist aber keine feste Größe. Der menschliche Körper ist lebendige Materie und ist darum in dauernder Veränderung begriffen. Leben lässt sich nicht in Formeln pressen, und wer das für sich versucht, wir bald feststellen, dass er sich in einem Zwangskorsett befindet. Der Körper verändert sich über die ganze Lebensspanne. Er reagiert auf hormonelle Umstellungen genauso wie auf Stress, Schlaf- oder Lichtmangel. Wenn man versuch, den eigenen Lebenslauf in die starre Struktur mathematischer Mittelwerte zu pressen, beschneidet man die Eigenheit und verliert an Identität. Das Ich-Gewicht wird ein Leben lang flexibel mit den momentanen Umständen ausbalanciert. Es passt sich dem Eigenen an – und nicht der Norm.
Nachdem sich auch nach vielen Jahren Forschung noch keine einstimmige Expertenmeinung dazu herausgebildet hat, wie man am besten mit dem eigenen Körpergewicht umgehen sollte, hat man alles Recht der Welt, zur Selbstbestimmung überzugehen. Die Fremdbestimmung greift nicht nur auf den Körperumfang zu, sie diktiert unrealistische Schönheitsideale, immer schneller wechselnde Modezyklen du sportliche Trends. Die allermeisten davon tragen nichts zu einem individuell erfüllten Leben bei, kosten aber viel Zeit und Geld. Das Ich-Gewicht ist das Gewicht, das selbstbestimmt erworben und gehalten wird; mit den Mitteln, die man aufgrund der aktuellen Lebenslage und der eigenen Vorlieben für sich selbst als angemessen einschätzen kann. Die Meinung von anderen kommt an zweiter Stelle, wenn überhaupt. An erster Stelle kommen die eigene Meinung und das eigene Gefühl für Wohlbefinden und Lebensqualität.
Weil gängige Vorstellungen vom richtigen Gewicht nicht mit dem Unbewussten abgestimmt sind, sind sie oft nur im Kampf gegen unbewusste Motivlagen durchzusetzen: mit Disziplin und Selbstkontrolle. Auf Dauer ist jedoch das Unbewusste das stärkere System. Darum erleben viele Menschen Misserfolge in Serie, deuten dies als mangelnde Willenskraft und leben permanent mit einem schlechten Gewissen. Im Gegensatz dazu erzeugt die Koordination von bewussten Plänen mit dem Unbewussten eine Form von Willenskraft, die von selbst funktioniert. Sie ist mit guten Gefühlen verbunden und mit Eigenmotivation optimal abgestimmt. Deswegen reduzieren sich die Misserfolge. Selbst wenn welche auftreten, kommt man ohne schlechtes Gewissen aus, weil man die Ursachen zielgerichtet suchen kann und nicht auf persönliche Willensschwäche zurückführen muss.
Dieses Buch führt in sieben Schritten dazu, die bewussten Pläne mit dem Unbewussten in Übereinstimmung zu bringen, und bereitet damit die Basis für das selbstbestimmte Ich-Gewicht. Jedes Kapitel ist einem dieser Schritte gewidmet. Die theoretischen Hintergründe werden verständlich erklärt und mit vielen Beispielen anschaulich gemacht. Ausgangspunkt ist Ihre aktuelle bewusste Absicht. Ich zeige Ihnen, wie Sie dazu systematisch den Kommentar der Unbewussten einholen können, um beides in Einklang zu bringen. Um diesen Einklang herzustellen, brauchen Sie eine neue Sichtweise auf das Thema Willenskraft, Wissen über die beiden Systeme Unbewusstes und bewusster Verstand sowie über die unterschiedlichen Bewertungsmöglichkeiten, mit denen die beiden Systeme arbeiten. Damit erwerben Sie faszinierende Einblicke in die Vorgänge, die der menschlichen Handlungssteuerung zugrunde liegen.
Als nächsten Schritt untersuchen Sie die Quellen der eigenen Idealvorstellungen und lernen, eigene Wünsche von fremden Vorstellungen zu unterscheiden, was gar nicht so selbstverständlich ist, wie es sich zunächst anhören mag. Ab diesem Punkt ist Ihr Vorhaben so weit gediehen, dass es drei Checks durchlaufen kann, um es mit nachhaltiger, lustvoller Willenskraft zu untermauern. Zum Schluss wird diese nun passgenau formulierte Absicht noch am richtigen Platz in der Zielpyramide verortet. Diese Verortung stellt nicht nur eine hohe eigene Motivation sicher, sondern verbindet Ihr Vorhaben auch optimal mit Ihrer Gesamtpersönlichkeit. Am Ende dieses Buches haben Sie sich ein Motto erarbeitet, das Ihr Unbewusstes zielgerichtet aktiviert und als Schlüssel zu Ihrem persönlichen Ich-Gewicht dient.
Diese Art der Entscheidungsfindung macht Sie autonom und unabhängig von fremden Meinungen. Sie macht Sie auch immun gegen selbst aufgestellte Fallen. Wenn Sie sich entschließen, Ihr Gewicht so zu belassen, wie es gerade ist, dann wird das nicht aus Trotz geschehen, sondern aus einer aufrechten, besonnen erworbenen inneren Einstellung heraus. Wenn Sie beschließen, Gewicht zu reduzieren, dann geschieht das nicht, weil Sie sich dem herrschenden Schönheitsideal unterwerfen, sondern weil Sie sich selbst gute Gründe dafür erarbeitet haben. Und wenn Sie anfangen, Bewegung in Ihr Leben zu bringen, dann nicht, weil Sie in einem wenig durchdachten Gesundheitsfanatismus der ewigen Jugend nachlaufen, sondern weil die Bewegung in Ihre ganz persönliche Art der Lebensführung eine spürbare Bereicherung bringt.
Der Einstieg in die sieben Schritte zum Ich-Gewicht besteht darin, dass Sie jetzt gleich, zu Beginn, einmal aufschreiben, was Sie für sich und Ihr Gewicht gerne wollen würden, wenn Sie wünschen dürften wie an Weihnachten. Sie werden sehen, dass dies der Anfang eines spannenden Prozesses ist. Schreiben Sie einfach spontan Ihren Herzenswunsch auf, ohne viel nachzudenken.
Ich __________________________________________________
… und nun kann’s losgehen!
1 Dieses Buch richtet sich an Menschen, deren Essverhalten weitgehend normal ist und deren Hauptproblem im Kampf mit ihrem schlechten Gewissen besteht. Ihnen soll dabei geholfen werden, ihre Motivlage zu klären und ihre Handlungsabsicht mit der unbewussten Bedürfnislage abzustimmen. Oftmals sind jedoch die Übergänge vom Bemühen um eine gesunde Ernährung oder um ein kontrolliertes Essverhalten zum Beginn einer Essstörung fließend und gar nicht so leicht zu bestimmen. Wenn Sie für sich selbst oder für einen Menschen aus dem Freundeskreis diesbezüglich besorgt sind, lege ich Ihnen drei Bücher ans Herz, die sich als Einstieg in die Selbsthilfe sehr gut eignen, Ihnen eine erste Einschätzung ermöglichen und vom theoretischen Hintergrund her mit allem, was in diesem Buch dargestellt wird, kompatibel sind.Fairburn, Ch. G. (2013). Essattacken stoppen. Ein Selbsthilfeprogramm gegen Binge Eating. Huber: Bern.Christopher G. Fairburn ist Professor für Psychiatrie an der Universität Oxford. Er ist einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Essstörungen und hat in diesem Buch alles zusammengetragen, was man derzeit über die Entstehung von Essstörungen weiß, trennt Sinn von Unsinn bei der Behandlung von Essstörungen und gibt umsetzbare Anleitung zur Selbsthilfe. Gerlinghoff, M. & Backmund, H. (2013) Essen will gelernt sein. Ein Arbeits- und Rezeptbuch. Beltz: Weinheim.Monika Gerlinghoff und Herbert Backmund sind Ärzte und Psychotherapeuten. Dieses Buch gibt einen Einblick in ihre Arbeit am Therapie-Centrum für Essstörungen in München, enthält viele beeindruckende und aussagekräftige Fallbeispiele von Patientinnen und hilft, das eigene Essverhalten zu analysieren.Schmidt, U. & Treasure, J. (2016) Die Bulimie besiegen. Ein Selbsthilfe-Programm. Beltz: Weinheim.Ulrike Schmidt und Janet Treasure sind Ärztinnen für Psychiatrie an der Klinik für Essstörungen am Maudsley Hospital in London. Dieses Buch haben sie für ihre Bulimie-Patientinnen geschrieben. Weil die Ess-Brech-Sucht oft mit großer Scham verbunden ist, scheuen sich viele der Betroffenen, Hilfsangebote wahrzunehmen. Die Autorinnen konnten in ihren Untersuchungen zeigen, dass der Einstieg mit ihrem Selbsthilfeprogramm vielen Patientinnen bereits hilft, die Anzahl des Erbrechens über die Woche bedeutsam zu reduzieren.
Dieses Buch gibt keine Empfehlungen für neue Diäten, Sportarten oder dazu, wie Sie Gesundheit erlangen können. In diesem Buch geht es ausschließlich um Psychologie.
Und das hat mit Arbeit zu tun. Wer eingängige Tipps und Tricks erwartet, die den mühelosen Weg versprechen, ist hier ganz falsch.
Stattdessen ist hier eine systematische Auswahl psychologischer Theorien zu finden, die verständlich machen, wie das Wunschgewicht individuell definiert und wie die Willenskraft dafür erzeugt werden kann. Die Theorien sind nicht ganz unkompliziert, ich werde mir aber Mühe geben, sie so zu vermitteln, dass sich auch psychologische Laien nicht das Hirn verknoten müssen.
Am Ende jedes Theorieteils findet sich ein Arbeitsblatt, das dabei helfen soll, den Inhalt des jeweiligen Kapitels auf die eigene Thematik zu beziehen. Darum ist dieses Buch nicht nur zum einmaligen Durchlesen gedacht, sondern als Arbeitsgrundlage zum mehrmaligen Gebrauch konzipiert. Wer nicht in das Buch hineinschreiben will, findet die Arbeitsblätter kostenlos als PDF-Datei auf der Homepage des Instituts für Selbstmanagement und Motivation Zürich (www.ismz.ch).
Die meisten Probeleserinnen und Probeleser haben das Buch zunächst einmal komplett durchgelesen, um sich einen Überblick über die Vorgehensweise zu verschaffen. Die Arbeitsblätter wurden erst in einem zweiten Durchgang ausgefüllt. In vielen Fällen war es hilfreich, die einzelnen Schritte zusammen mit ein oder zwei anderen Personen durchzugehen. Das gemeinsame Gespräch bringt oft mehr Anregungen, als man allein hervorzubringen vermag.
Wenn ich eine Zauberformel hätte, um zum eigenen Traumkörper zu gelangen, würde ich sie Ihnen mitteilen – leider habe ich keine. Was ich anbieten kann ist eine Anleitung zum gründlichen Nachdenken und zum sorgfältigen Umgang mit sich selbst, dem eigenen Körper und der eigenen Innenwelt. Gründliches Nachdenken und Sorgfalt sind nicht unbedingt die Tätigkeiten und Eigenschaften, die auf den ersten Blick besonders sexy und cool wirken, das weiß ich sehr wohl. Trotzdem ist es das Beste, was ich empfehlen kann.
Weil das Thema Gewicht, Fitness und Gesundheit im Alltagsverständnis sehr an die Vorstellung von Willenskraft gekoppelt ist, lohnt es sich, diesen Begriff einmal genauer unter die Lupe zu nehmen. Viele Menschen, die bei sich feststellen, dass es ihnen nicht gelingt, dreimal täglich Rohkostsalat mit Sellerieraspeln und ungezuckertem Ziegenhartkäse zu sich zu nehmen, bringen ihre kostbare Lebenszeit damit zu, sich mit einem latenten Schuldgefühl zu plagen. Dieses Schuldgefühl resultiert in vielen Fällen aus einer falschen Vorstellung davon, was Willenskraft ausmacht. »Wenn ich nur wollte, dann könnte ich schon.« Oder: »Reiß Dich doch einfach mal zusammen.« Oder: »Was dir halt einfach fehlt ist die Selbstdisziplin.« Kennen Sie solche Äußerungen? Die Schuldgefühle wegen mangelnder Willenskraft legen sich über das Leben mancher Menschen wie ein feiner unsichtbarer Staub. Sie beeinflussen die gesamte Lebensführung und auch die gesamte Lebensqualität. Ganz prekär wird die Sachlage dann, wenn man anfängt, Schuldgefühle wegen der Schuldgefühle zu entwickeln.
Beispiel: Ich bin morgens mit einer Schale Milchkaffee und der Samstagszeitung im Bett geblieben, anstatt joggen zu gehen. Und anstatt das zu genießen, habe ich ein schlechtes Gewissen, das dauernd wie ein feines Sirren in der Luft liegt. Darum habe ich jetzt zusätzlich ein schlechtes Gewissen, dass ich ein schlechtes Gewissen habe. Das muss nicht sein. Lassen Sie sich zum Einstieg von der Weisheit des Alters inspirieren.
Lebensbilanz einer 85–jährigen Frau
»Wenn ich mein Leben noch mal leben könnte, würde ich versuchen, mehr Fehler zu machen. Ich würde mich entspannen. Ich würde bis zum Äußersten gehen. Ich würde alberner sein als bei diesem Trip. Ich weiß einige Dinge, die ich ernster nehmen würde. Ich würde verrückter sein. Ich würde weniger hygienisch sein. Ich würde mehr Chancen wahrnehmen. Ich würde mehr unternehmen. Ich würde mehr Berge besteigen, in mehr Flüssen schwimmen und mehr Sonnenuntergänge beobachten. Ich würde mehr Eis und weniger Spinat essen. Ich würde mehr aktuelle Probleme und weniger eingebildete haben.
Das Leben ist mit einer Reise zu vergleichen. Ich habe meine Lebensreise immer mit zu viel und zu schwerem Gepäck unternommen.
Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte, würde ich im Frühling früher anfangen, barfuß zu laufen und im Herbst später damit aufhören. Ich würde öfter die Schule schwänzen. Ich würde gute Noten nur aus Versehen schreiben. Ich würde öfter Karussell fahren. Ich würde mehr Gänseblümchen pflücken. Wenn Du Dich andauernd nur schindest, vergisst Du sehr bald, dass es so wunderbare Dinge gibt wie zum Beispiel einen Bach, der Geschichten erzählt, und einen Vogel, der singt.«Quelle: Kaiser (1994)
Die alte Dame spricht das Faktum an, dass es offenbar möglich ist, auf eine Art zu leben, die vorwiegend mit guten Gefühlen behaftet ist. Das möchte der Mensch auch, der am Samstagmorgen das Joggen ausfallen lässt und mit Milchkaffe und Zeitung im Bett bleibt. Es gelingt ihm jedoch nicht, obwohl er sich redlich Mühe gibt. Wie lässt sich das erklären? Um darauf eine Antwort zu finden, müssen wir den Begriff Willenskraft näher bestimmen.
Wenn wir im alltäglichen Sprachgebrauch von Willenskraft sprechen, verbinden wir meistens einen ganz bestimmten Vorgang damit, den jeder Mensch an sich selbst schon einmal erlebt hat. Wir können nämlich beobachten, dass wir uns durch eine bestimmte Form von innerpsychischem Prozess selbst dazu zwingen können, etwas zu tun, das wir eigentlich nicht gerne tun. Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn ich mich dran mache, einen Karton voller Quittungsbelege alphabetisch zu sortieren und für die Steuererklärung vorzubereiten. Dies ist auch dann der Fall, wenn ich mich für die Krebsvorsorge anmelden soll. Wenn die Freundin anruft und über ihre Pollenallergie klagt, kann es durchaus sein, dass ich durch dieses Telefonat von einer anderen, eigentlich angenehmeren oder dringlicheren Tätigkeit abgehalten werde und ich während des Zuhörens dauernd das Gefühl habe, einen konkurrierenden Handlungsimpuls unterdrücken zu müssen. Ist es Ihnen nicht auch schon passiert, dass Sie eine Einladung erhalten haben zu einer Veranstaltung, zu der Sie eigentlich gar keine Lust haben? »Ich muss halt«, sagt man sich dann und geht hin, hat aber das dringende Gefühl, damit dem eigenen Bedürfnis entgegen zu handeln. Man glaubt, in der Lage zu sein, sich mit Willenskraft zu etwas zwingen zu können. Diese Art von Willenskraft besteht darin, eigene Wünsche zugunsten anderer Handlungsvorsätze zurückzustellen.
Menschen, die sich immer wieder aufs Neue, mehr oder weniger erfolglos, mit der Absicht herumschlagen, regelmäßig Sport zu treiben, machen ähnliche Beobachtungen hinsichtlich ihrer Wünsche und ihrer Willenskraft. Der Morgen ist nasskalt, das Bett ist gemütlich warm, und der Vorsatz heißt: »Walken gehen.« Wenn der Wille siegt – so die Alltagserfahrung –, dann schaffe ich es, den Wunsch, mich noch einmal in die Decken zu kuscheln, zu besiegen und stattdessen aufzustehen und meinen Vorsatz in Handlung umzusetzen. Wenn der Wille nicht siegt, wenn es an Willenskraft mangelt, dann bleibe ich liegen, und der sportliche Vorsatz wird nicht in Handlung umgesetzt. Jemand, der sich vorgenommen hat, der Figur zuliebe auf Süßigkeiten zu verzichten, kennt ähnliche Phänomene. Die Tüte mit Gummibärchen lockt, der Wille hält mich zurück. Die Gummibärchen duften lecker, der Wille hält mich immer noch zurück. Die Gummibärchen leuchten und funkeln, sie kichern und winken – der Wille wird schwächer. Die Gummibärchen kichern lauter und lauter, der Wille wird schwächer und schwächer, und schon bewegt sich die Hand, gegen meinen Willen, und schwupps, verschwinden die ersten Gummibärchen im Mund. All das gegen meinen ausgesprochenen Willen. Es ist fast so, als sei man von einem bösen Geist besessen oder von irgendeiner heimtückischen Instanz bewohnt, einem Schweinehund zum Beispiel. Wenn dem nicht so ist, weil es im Lichte der Wissenschaft weder böse Geister noch Schweinhunde gibt, dann kann es nur so sein, dass die Willensschwäche zur eigenen Persönlichkeit gehört. Und ist man so ein willensschwaches Bündel von Fleischeslust, ist die Assoziation zu Sünde und Schuld nicht weit. Diese Assoziationskette stellt eine hervorragende Quelle für prächtige, nachhaltige und deutlich wahrnehmbare Schuldgefühle dar. Man sieht: Versagende Willenskraft liefert eine sichere Basis für die Entstehung von Schuldgefühlen.
Die Schuldgefühle beruhen auf der Vorstellung, dass Willenskraft darin besteht, einen einmal gefassten Vorsatz gegen konkurrierende Handlungsimpulse durchzusetzen, auch wenn es schwierig wird. Die Fähigkeit dazu nenne ich in diesem Buch die Selbstkontrolle. Andere, häufig verwendete Begriffe für diese Fähigkeit des Menschen sind zum Beispiel Selbstdisziplin oder Selbstüberwindung. Egal, welches Wort dafür Verwendung findet, gemeint ist immer die Fähigkeit, etwas zu tun, das im Moment nicht angenehm ist und das mit der erfolgreichen Unterdrückung eines konkurrierenden Handlungsimpulses zu tun hat.
Außer der Selbstkontrolle gibt es jedoch noch eine andere Art, Handlungen auszuführen. Diese Art des Handelns nenne ich in diesem Buch die Selbstregulation. Damit wird eine Art beschrieben, Handlungen auszuführen, nämlich so, dass sie leicht fallen. Wenn Tante Martha zum Pfingstkarpfen einlädt, können wir das mit Selbstregulation regeln, falls wir Tante Martha gern haben, falls ihr Karpfen toll schmeckt und falls wir an Pfingsten sowieso nichts anderes vorhaben. Wenn Tante Martha jedoch ein stachliges Kinn hat, ihr Karpfen ein modriger Graus ist und wir über Pfingsten eigentlich auf Fuerteventura relaxen wollen, dann muss die Selbstkontrolle her, um Pfingsten bei Tante Martha zu verbringen.
Im Alltagsverständnis kommt Willenskraft dann zum Einsatz, wenn wir gegen die Vorstellung von angenehmen Pfingsten handeln. Wenn wir sowieso das tun, was wir gerne tun, benötigen wir keine Willenskraft, denn dann regeln sich die Dinge ja von selbst. So die landläufige Meinung. Man kann die Sache mit der Willenskraft aber auch ganz anders sehen. Ich mache Ihnen einen alternativen Vorschlag, wie sich Willenskraft definieren lässt. Die Definition, die ich vorschlage, hat insgesamt drei Vorteile. Der erste Vorteil liegt darin, dass sie Schuldgefühle vermindert. Der zweite Vorteil liegt darin, dass die Definition ohne abstruse innere Instanzen wie Schweinhunde, willensschwaches Fleisch oder böse Geister auskommt. Der dritte Vorteil liegt darin, dass Sie sich selbst zum Urheber und zur Urheberin Ihrer eigenen Handlungen ernennen können, dass Sie ein klares Konzept davon haben, wie Ihre Handlungen zustande kommen, und dass planbar wird, welche Maßnahmen Sie ergreifen können, um ihre Handlungen mit Ihren Wünschen zu koordinieren.
Wie sieht diese alternative Definition aus, und wie kann ich die alternative Art von Willenskraft selbst erzeugen? Wie wir bisher gesehen haben, gibt es zwei Möglichkeiten, Handlung hervorzurufen: eine, die mit Kontrolle und Zwang zu tun hat, und eine einfache, selbstregulierte. Bei der landläufigen Vorstellung von Willenskraft bleibt Ihnen nur die Selbstkontrolle übrig, wenn in Ihnen mehrere Handlungsimpulse gleichzeitig auftauchen. Es gibt jedoch auch eine andere Möglichkeit, mit konkurrierenden Handlungsimpulsen umzugehen. Diese Möglichkeit besteht darin, die innere Konfliktsituation so zu bearbeiten, dass sie in eine Handlung mündet, die mithilfe von Selbstregulation – also auf einfache und angenehme Art – ausgeführt werden kann. Willenskraft wäre nach dieser Definition dann gegeben, wenn ich im Sinne einer selbstgewählten Alternative handle und es mir gelingt, die Vielfalt meiner innerpsychischen Handlungsimpulse so zu koordinieren, dass ich in der Lage bin, die Handlung auszuführen, die ich mir vorgenommen habe. Und das, ohne Zwang auf mich oder psychische Teile meiner selbst auszuüben. Willenskraft hat in diesem Fall wenig mit Zwang und Überwindung zu tun hat, sondern viel mehr mit Treue zu sich selbst, mit Gefühl für den eigenen inneren Kern und der Fähigkeit, authentisch und frei zu handeln.
Das hört sich paradiesisch an? Zu schön, um wahr zu sein? So einfach kann es doch nicht gehen? Schön und ziemlich angenehm ist diese Lösung in der Tat. Einfach herzustellen – das sage ich ausdrücklich gleich zu Beginn – ist sie keineswegs. Die Lösung, Willenskraft dadurch zu erzeugen, dass ich konkurrierende Handlungsimpulse synchronisiere, so dass Handlung über Selbstregulation vonstattengeht, erfordert einiges an Wissen über den Aufbau unseres psychischen Systems und einiges an Synchronisierungsarbeit. Aber es zahlt sich aus, sich dieses Wissen anzueignen, denn es winkt reicher Lohn. Zunächst befassen wir uns mit der Frage, wie es überhaupt so weit kommen kann, dass wir konkurrierende Handlungsimpulse verspüren. Hierzu müssen wir uns anschauen, über welche innerpsychischen Vorrichtungen wir verfügen, um Handlung zu planen und auszuführen.
Zur Einführung in diese Thematik brauchen wir eine Vorstellung davon, wie sich das menschliche Gehirn im Laufe der Evolution herausgebildet hat. Es ist irreführend, sich die Funktionsweise des Gehirns so vorzustellen, als sei es eine geplante Apparatur, wie sie zum Beispiel in den Ingenieurwissenschaften konsequent und systematisch entwickelt wird. Wenn eine Gruppe von Ingenieurinnen und Ingenieuren den Auftrag bekommt, die beste Kaffeemaschine aller Zeiten zu entwickeln, dann wird sich ein Team zusammensetzen und eine Lösung entwickeln, die systematisch aufgebaut ist. Die Evolution geht anders vor. Ich habe hierzu beim Nobelpreisträger Eric Kandel ein illustratives Zitat gefunden.
Im Gegensatz zum Ingenieur schafft die Evolution nichts, was komplett neu wäre. Sie bedient sich des bereits Vorhandenen, indem sie ein System entweder so umwandelt, dass es eine neue Funktion erhält, oder mehrere Systeme so kombiniert, dass ein komplexes System entsteht. Wenn wir einen Vergleich ziehen wollen, haben wir es hier nicht mit Ingenieursarbeit, sondern mit einer Bastelei oder mit Flickwerk zu tun, bricolage sagen wir in Frankreich. (Jacob, zit. n. Kandel, 2006, S. 259).