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Der spirituelle Weg wird oft als rein geistige Übung praktiziert. Dabei greift die Konzentration darauf zu kurz: Nur wenn wir auch unseren Körper – Stimme, Sinne und Bewegung – einbeziehen, kommen wir wirklich in Kontakt mit unserer Seele und einer intensiven spirituellen Energie, in der uns Lebendigkeit und innerer Frieden durchströmen. Den wirksamsten Weg zu dieser erfüllenden Ganzheit eröffnet Embodiment – eine Methode, die Maja Storch, Eva Maria Jäger und Stefan Klöckner nun für den Bereich des spirituellen Wachstums weiterentwickelt haben. Eindrucksvoll zeigen die Autoren anhand gregorianischer Gesänge, dass heilige Texte erst in gesungener Form ihre volle heilsame Wirkung entfalten. Mithilfe von angeleiteten Körpergebeten, abgestimmt auf den individuellen Bedürfnistyp, demonstrieren sie, wie organische Bewegungen uns umfassend stärken. In diesem Fließen, Klingen und Singen lösen wir Erstarrungen und berühren uns innerlich neu – voller Liebe, Vertrauen und tiefster Verbundenheit mit uns selbst. Mit einem Selbsttest zur Bestimmung des Bedürfnistyps, Videoanleitungen zu den Körpergebeten und gregorianischen Gesängen zum Download.
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Seitenzahl: 421
Dr. phil. Maja Storch, geb. 1958, ist Diplom-Psychologin und Psychoanalytikerin. Sie arbeitet als Inhaberin und wissenschaftliche Leiterin des Instituts für Selbstmanagement und Motivation Zürich (ISMZ), eines Spin-offs der Universität Zürich. Zusammen mit Dr. Frank Krause hat sie das Zürcher Ressourcen Modell (ZRM®) entwickelt. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Persönlichkeitsentwicklung und Ressourcenaktivierung.
Sie ist C-Kirchenmusikerin und spielt regelmäßig Orgel in den Gottesdiensten ihrer Heimatgemeinde.
Prof. Dr. phil. Eva Maria Jäger, geb. 1967, ist Diplom-Psychologin und Vorreiterin in der praktischen Anwendung von Maja Storchs Embodiment-Forschung. Sie bekleidet eine Professur für Soziale Arbeit und arbeitet als Verhaltenstherapeutin in eigener Praxis in München.
Prof. Dr. theol. Stefan Klöckner, geb. 1958, studierte Musik, Musikwissenschaft und katholische Theologie, 1991 promovierte er in katholischer Theologie (Dogmatik). Klöckner ist Professor für Musikwissenschaft/Geschichte der Kirchenmusik an der Folkwang Universität der Künste Essen. 2010 gründete er das ensemble VOX WERDENSIS, das weit über Deutschland hinaus für Gregorianischen Choral und die Musik des Mittelalters bekannt ist.
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Originalausgabe
© 2021 Arkana, München
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Lektorat: Ralf Lay
Umschlaggestaltung: ki 36 Editorial Design, München, Daniela Hofner
Umschlagmotiv: © Per Swantesson / stocksy
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-26192-4V001
www.arkana-verlag.de
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Einleitung: Darum geht es in diesem Buch
Die Frage nach der spirituellen Heimat
Embodiment
Warum wir dieses Buch geschrieben haben
Das Selbst
Der bewusste Verstand und das unbewusste Selbst
Das unbewusste Selbst und die Spiritualität
Gibt es ein »wahres Selbst«?
1. Embodied Prayers
Heilsame Spiritualität
Worte im Körper
E wie Embodied, P wie Prayer
Bindung und Atem
Der Körper als Schatzkiste
Der Körper als Tempel und Wohnung Gottes
Zur Auswahl der Gebetsworte
Zur Auswahl der Körperbewegungen
Bedürfnistyp und Test
Nach Bedürfnis maßschneidern
Die acht Bedürfnistypen
Die Auswahl des persönlichen Verses
Merkmale der Embodied Prayers
Die Praxis der Embodied Prayers
Im Raum gehen und ankommen
Stehen
Sitzen und im Guten bei sich sein
Abklopfen und die Schafe zusammentrommeln
Schwingen und die Mitte finden
Heiligen Raum betreten
Grundlegende Embodied Prayers
Hinweise zum Üben der persönlichen Embodied Prayers
2. Der Gregorianische Choral – Eine Erlebnisreise des »Abenteuers Stimme«
Die Gesänge »an sich geschehen lassen«
»Heiliger Bimbam …« – Mein Kinderglaube
Das Singen – und der Kampf um die Leiblichkeit
Vier Säulen und ein Fundament
Verführerische Sinnlichkeit – Augustinus und Hieronymus
Der Lebensatem Gottes
Einige Gedanken zu den konkreten Praxisbeispielen
Gregorianischer Choral I: Der Hymnus »Splendor paternae gloriae«
Trauern, klagen, fluchen: »Nieder geschlagen« sein
Wenn Gott so ferne scheint
Gregorianischer Choral II: Der Introitus »Reminiscere«
Der Antrieb ist die Sehnsucht und der Treibstoff die Hoffnung
Perspektivenwechsel
Gregorianischer Choral III: Die Communio »Memento verbi tui«
Wandle dich vor mir, und werde ganz heil!
Gregorianischer Choral IV: Die Communio »Illumina faciem tuam«
Heilungsgeschichten
Heilungsgeschichte I: Der Glaube kommt vom Hören
Gregorianischer Choral V: Die Antiphon »Bene omnia fecit«
Heilungsgeschichte II: Erkenne und glaube!
Gregorianischer Choral VI: Die Communio »Lutum fecit«
Heilungsgeschichte III: Das stinkt zum Himmel!
Gregorianischer Choral VII: Die Communio »Videns Dominus«
Das Wort wird Klang
Ruminari, eine Embodiment-Meditation
Gregorianischer Choral VIII: Die Communio »Qui meditabitur«
Zum Schluss: »Ich lasse dich nicht …«
3. Spirituelles Embodiment in Krisen, bei Entscheidungen und bei Identitätsfragen
Spirituelles Embodiment als Krisenintervention
Befreiung aus der Schockstarre
Neuronale Plastizität
Spirituelles Embodiment als Entscheidungshilfe
Sowohl-als-auch statt Entweder-oder
Carolyns Entscheidungskonflikt
Der Weg zur Identität und zum wahren Selbst
Einen »spirituellen Mangel« ausgleichen
Die Faszination des Numinosen
Klarheit durch Somatogramme
In Kontakt mit dem kollektiven Unbewussten
Kulturelle Vielfalt
Das wahre Selbst und die eigene Identität
Spirituelle Vielfalt
Epilog
Anhang
Dank
Eva Maria Jäger
Literatur und Download-Link
Anmerkungen
Register
Sachregister
Personenregister
Maja Storch
Dieses Buch richtet sich an Suchende: Was ist der Sinn meines Lebens – vor allem, wenn’s schwer wird? Was trägt mich dann? Warum bin ich auf dieser Erde? Wo ist mein Platz in der Welt? Was ist meine Berufung?
Alle diese Fragen, so verschieden sie vom Wortlaut her auch sein mögen, zielen auf ein bestimmtes Thema hin: Es ist die Frage nach der spirituellen Heimat, die suchende Menschen umtreibt. Den Suchenden genügt es nicht, ein »normales« Leben zu führen, auch wenn sie über alle Attribute des äußeren Erfolges verfügen könnten, die die jeweilige Kultur als erstrebenswert darstellt. Diese Menschen wollen mehr. Sie haben eine Ahnung davon, dass sie in ihrer Einzigartigkeit ihren individuellen Beitrag zum Gelingen des Ganzen beizusteuern haben.
Doch worin kann dieser Beitrag bestehen? Wie stelle ich die Verbindung zum Heiligen her, um Antworten zu bekommen? Wie bin ich vom Universum gemeint? Was ist mein wahres Selbst? Die Antwort, die wir in diesem Buch geben, zeigt einen möglichen Weg auf, der gut umgesetzt werden kann und in unseren Augen bisher wenig systematisch untersucht wurde. Spirituelles Embodiment bedient sich des Körpers und der Stimme als Ausdrucksmittel und Zugang zum wahren Selbst. Über das Körpergefühl gelingt uns das oftmals bedeutend einfacher und nachhaltiger als über das isolierte Denken.
Oft wird in unserer Kultur der Zugang zum Heiligen über Texte vermittelt. Ein Gebet wird meistens dadurch praktiziert, dass vorformulierte Worte gesprochen werden. Dabei kann uns das vielfache Wiederholen bestimmter Formulierungen einerseits in eine meditative Stimmung versetzen (zum Beispiel im Rosenkranzgebet oder beim Rezitieren von Mantras). Andererseits kann es auch schnell geschehen, dass das Gesagte gar nicht wirklich empfunden, sondern einfach nur »heruntergeleiert« wird. Worte, die auf diese Art gesprochen werden, können ihre heilsame Wirkung nicht entfalten; sie bleiben dann leere Floskeln ohne Resonanz im Seelenleben. Ein ehemaliger Schüler aus einem christlich geprägten Internat erzählte zum Beispiel: »Ich habe in meiner Schulzeit so oft das Vaterunser herunterbeten müssen, dass ich eine regelrechte ›Vaterunser-Hornhaut‹ auf der Seele entwickelt habe.« Hier verfehlt das Gebet natürlich völlig seine spirituelle Absicht – und mit seiner »Hornhaut« steht der fromme Internatsschüler vermutlich auch gar nicht so allein da.
Natürlich ist es wenig sinnvoll, über einen Mangel zu klagen, ohne auch einen Vorschlag zur Abhilfe anzubieten. Der Vorschlag in diesem Buch lautet: Durch spirituelles Embodiment stellen wir den Kontakt zum Heiligen her, von dem wiederum Erbauung und Heilung zu uns kommen.
Solch eine Aussage ist eine starke Behauptung und will eingehend begründet sein. Wir werden dies in aller Ruhe und mit viel Sorgfalt tun – versprochen!
Fragen wir zunächst: Woher kommt der Begriff »Embodiment«, und was hat man sich unter »spirituellem Embodiment« vorzustellen?
»Embodiment« bedeutet wörtlich übersetzt »Verkörperung«. Im wissenschaftlichen Sprachgebrauch bezeichnet dieser Begriff den Einbezug des Körpers in wissenschaftliches Denken.1 Eine zentrale Annahme der Embodiment-Ansätze ist die Wechselwirkung von körperlichem und psychischem Geschehen. Jeder Gedanke und jedes Gefühl haben eine sogenannte sensomotorische Komponente. Jede Einsicht, jedes Verstehen setzt voraus, dass der Inhalt dessen, was verstanden werden soll, körperlich nachvollzogen wurde. Diese Aussage ist äußerst folgenreich, denn sie zieht nach sich, dass dem Körper eine wichtige Rolle bei der Verarbeitung von Informationen zukommt. Sogar ein so abstraktes Konzept wie der mathematische Begriff der Unendlichkeit hat einen sensomotorischen Anteil, wie Forscher haben zeigen können.
Embodiment-Ansätze betrachten den Menschen als Einheit von Körper und Geist.2 Körperliches und Psychisches wirken permanent aufeinander ein und sind untrennbar miteinander verbunden. Unsere Handlungen, unser Urteilsvermögen, die Art und Weise, wie und was wir entscheiden, die Stimmungslage und die Gefühlsbewertung von Situationen – all dies ist aufs Engste an unsere sinnlich-motorischen Eindrücke gekoppelt.
Die ganzheitliche Sichtweise des Embodiment-Ansatzes ist in der Wissenschaft ziemlich neu und ungewohnt. Bisher dachte man immer, dass für das Verstehen allein der Verstand zuständig ist. Man sieht etwas ein, man macht sich etwas klar, man reflektiert und überdenkt etwas, und auf diese Art stellt sich die Erkenntnis ein. Diese Vorstellung stimmt nur bedingt, wenn man Embodiment-Ansätze betrachtet. Bevor der Verstand etwas entziffern kann, ist immer zuerst der Körper im Spiel. Er produziert ein körperliches Mini-Theater mit allen Sinnen, und dieses sinnliche Schauspiel kann dann unser Verstand in Worte fassen und sprachlich zum Ausdruck bringen.
Auch in der westlichen Philosophie und in den westlichen Religionen hat der Körper lange Zeit eine dem Verstand untergeordnete Rolle gespielt. Man betrachtete den Verstand als Hauptzentrale, die dem Körper Befehle erteilt, die dieser dann ausführt. Dass Körper und Verstand in dauernder Wechselwirkung sind und sich gegenseitig beeinflussen, ist äußerst reich an Konsequenzen für spirituelles Erleben und Glaubenserfahrungen – wir werden davon noch viel sprechen.
Neben dem Körper und dem Verstand spielt nach ganzheitlicher Auffassung natürlich auch die Seele beziehungsweise Psyche eine Rolle. Deshalb möchte ich hier noch kurz etwas zu den beiden Begriffen »Seele« und »Psyche« sagen. Das Wort psychē hat im Altgriechischen die Bedeutung »Atem, Hauch, Seele«. Lange Zeit wurden »Psyche« und »Seele« synonym verwendet: Innenleben, Seelenleben, psychische Verfassung – all dies ist im Grunde eng miteinander verwoben. Eng gekoppelt an den Begriff der Seele ist aber auch die spirituelle Vorstellung einer unsterblichen Seele als Teil des Menschen, der nach dem Tode weiterlebt.
In diesem Buch verwenden wir den Begriff »Psyche« statt »Seele«, da sowohl Eva Maria Jäger als auch Maja Storch von der Psychologie herkommen und mit diesem Begriff präzise arbeiten können.
Mit dem Aufkommen der experimentellen Psychologie durch Wilhelm Wundt (1832–1920) versuchte die Psychologie, sich an den Universitäten als eigenständige akademische Disziplin zu etablieren. Die Begriffe »Seele« und »Psyche« verschwanden aus dem Sprachgebrauch. Man behandelte spezifische Störungsbilder und nicht die Psyche als innere Gesamtheit. In den letzten Jahren verschiebt sich jedoch besonders in der Psychotherapie diese Spaltung wieder hin zugunsten eines Einbezugs des Innenlebens in die Therapie oder Beratung. Das geschieht nicht zuletzt deswegen, weil man auch die seelisch-psychischen Vorgänge experimentell erfassen kann, was umso besser gelingt, seit man komplexe Fragestellungen mithilfe rechnergestützter apparativer Versuchsanordnungen untersuchen kann. So werden zum Beispiel schnelle hochauflösende Kameras für Mikroanalysen der Augenbewegungen von Babys oder Infrarottechniken für Blickbewegungen an Bildschirmarbeitsplätzen eingesetzt. Und einige psychophysiologische beziehungsweise wahrnehmungspsychologische Forschungsaufgaben sind ohne moderne elektronische Techniken nicht lösbar.
Für welche Art von Spiritualität gilt unser Ansatz?
Die Antwort hierauf ist eindeutig: »Für jede Art von Spiritualität.« Auch wenn wir selbst aus christlichen Kreisen kommen und entsprechende Fallbeispiele anführen, haben wir darauf geachtet, dass wir Geschichten von Menschen erzählen, die sich so oder so ähnlich auch in anderen Glaubensgemeinschaften ereignen könnten. Selbst religiös ungebundene Menschen können, sofern sie auf der ehrlichen Suche nach Spiritualität sind, mit Embodiment eine wirkmächtige Ressource anzapfen, die ihnen auf ihrem Weg eine echte Unterstützung sein kann.
Eine evangelische Pastorin gesteht zum Beispiel: »Ich habe seit vielen Jahren ein großes Problem mit meinem Glauben. Was habe ich schon nachgedacht, wie viele Bücher habe ich gelesen, und die Nächte, in denen ich mir den Kopf zerbrochen habe, mag ich gar nicht mehr zählen. Es gelingt mir einfach nicht zu glauben. Mittlerweile würde ich sagen, dass ich in einer handfesten Glaubenskrise stecke.« Die Pastorin versucht möglicherweise, sich mit dem falschen psychischen Funktionssystem ihres Glaubens zu versichern. Aus der Sicht des Embodiments wäre hierbei eine hilfreiche Unterstützung möglich. Die Gewissheit, nach der sie sucht, wird nämlich nicht allein vom Verstand vermittelt. Verlässt man sich ausschließlich auf ihn, kann man schnell einmal im Nirgendwo landen, wo Fragen keinen Sinn ergeben und Antworten schal und unbefriedigend sind.
Ein katholischer Diakon hingegen erklärt: »Über meinen Glauben zu sprechen fällt mir ehrlich gesagt schwer. Das muss man erlebt haben, das lässt sich mit Worten nicht beschreiben. Für mich ist dieses Erleben etwas sehr Intimes. Ich kann das nicht zu Markte tragen.« Was dieser Diakon beschreibt, lässt sich ebenfalls gut mit der Idee des Embodiments vereinbaren. Im Unterschied zur evangelischen Pastorin hat er seine Glaubensgewissheit mit einem anderen psychischen Funktionssystem erfahren. Er hat dazu sein Selbst benutzt. Und das Selbst ist aufs Engste mit dem Körpergeschehen gekoppelt. Darüber werden wir im weiteren Verlauf des Buchs noch sprechen. Für den Moment genügt es nachzuvollziehen, dass der Körper offenbar eine Art sichere Basis bildet, mit der ein Mensch spirituelle Gewissheit erlangen kann. Man fühlt diese Gewissheit, man denkt sie nicht.
Wir haben dieses Buch geschrieben, weil wir der Ansicht sind, dass es höchste Zeit ist, die Kraft des Körpers in die spirituelle Praxis einzubinden. Wir tun dies aus verschiedenen Perspektiven und zeigen dadurch die Vielfalt der Einsatzmöglichkeiten von spirituellem Embodiment auf.
Stefan Klöckner kommt von der Kirchenmusik beziehungsweise der Theologie her. Er spürt den gesungenen Gebeten (vor allem den Gesängen des Gregorianischen Chorals) nach, die – schon wenn man zuhört, mehr aber noch, wenn man selbst singt – unter die Haut gehen, ins Herz sinken und so eine intensive körperliche und psychische Wirkung entfalten. Aber noch mehr: Schon die Texte dieser Gesänge aus der Heiligen Schrift zeugen von einer engen Leib-Psyche-Verbindung im Sinne eines spirituellen Embodiments.
Die Psychologin und Körperforscherin Eva Maria Jäger beschreibt anhand eines Selbsttests, wie man die eigenen zentralen Bedürfnisse herausfinden kann, und stellt dazu passgenau eine Reihe von Embodiment-Übungen vor, die sich auf Psalmen beziehen.
Maja Storch, Psychologin und Psychoanalytikerin, erörtert anhand von verschiedenen Fallbeispielen, wie in persönlichen Krisensituationen auf höchst individuelle Art und Weise der Kontakt mit dem Heiligen über Embodiment gelungen ist. Es wird deutlich, dass spirituelles Embodiment den Zugang zum inneren Frieden, zu Gelassenheit und manchmal sogar zu Hoffnung und Optimismus freilegen kann, auch wenn außen herum alles verloren scheint.
Es geht hier nicht um die Rezeptur eines einfachen Erfolgs, sondern um den Hinweis darauf, dass durch den Einbezug von Körper und Stimme eine physisch-psychische Balance wiederhergestellt wird, die ganz natürlich ist, weil jeder Mensch sie mit auf die Welt gebracht hat – als sein elementares Recht: Das Heilige wohnt schon lange in mir. Es hat sich mit all seinen Kräften schon längst mir zugewandt; ich muss es nur bemerken und die Verbindung aufnehmen.
Das Prinzip unserer Überlegungen lässt sich in einer ganz einfachen Regel zusammenfassen: Wer einen Körper hat und auf der Suche nach dem wahren Selbst und dem Heiligen ist, kann Embodiment praktizieren. Dies gilt übrigens auch für Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen. Wer in der Lage ist, auch nur noch einen einzigen Muskel zu bewegen, kann diesen Muskel im Embodiment einsetzen. Eigentlich ganz einfach, oder nicht?
Mit dieser Überlegung können wir uns der nächsten Frage zuwenden: Was ist denn das Selbst? Und was ist überhaupt das »wahre Selbst«? Wie wird man zu einem Menschen, der in sich ruht, der einfach ganz er selbst ist und dies auch ausstrahlt? Gibt es hilfreiche Maßnahmen, um dieses hohe Ziel zu erreichen? Unsere Antwort lautet: Ja, diese Maßnahmen gibt es, und sie haben mit dem Körper und mit der Stimme zu tun. In der Psychologie lassen sich gute Modelle dafür finden, was in der menschlichen Psyche vor sich geht, wenn jemand Kontakt zum eigenen Selbst aufnimmt.
Hören wir dazu Regina, eine alleinerziehende Mutter mit drei halb erwachsenen Kindern: »Ich habe lange darüber nachgegrübelt, ob ich meinen sicheren Arbeitsplatz als Verwaltungsangestellte beim schulärztlichen Dienst verlassen soll, um Theaterpädagogik zu lernen. Aber das ist nicht so einfach zu entscheiden, denn ich bin einerseits auf ein regelmäßiges Einkommen angewiesen. Wegen der Kinder, der Vater zahlt nicht immer verlässlich. Andererseits habe ich jetzt so viele Jahre nicht das gemacht, was ich in meinem Leben eigentlich tun wollte und immer noch will. Ich habe bisher immer für andere gelebt. Wann ist die richtige Zeit für den Aufbruch und für den Mut zum Risiko?«
Regina ist ein grundsätzlich spiritueller Mensch, sie hat in ihrer Wohnung einen kleinen Hausaltar eingerichtet. Dort stehen immer frische Blumen, Bilder von lieben Menschen und eine Kerze. Oft sitzt sie davor und meditiert. Seit sie mit ihrer Entscheidung schwanger geht, bittet sie das Universum fast täglich um einen Fingerzeig für den richtigen Weg.
Eines Nachts träumte sie von einer Piratin, die über die Weltmeere segelte. »Und als ich aufgewacht bin, wusste ich, dass es Zeit für den Aufbruch war. Fragen Sie mich nicht, woher dieses Wissen kam. Es war ein ruhiges Gefühl, angekommen zu sein. Irgendwie klärte sich einfach alles, und ich weiß jetzt, dass ich Theaterpädagogin werde, auch wenn die finanzielle Seite dabei nicht die sicherste ist. Das Positive daran ist, dass ich mit meinem guten, ruhigen Gefühl auch in der Lage bin, Menschen gegenüber standzuhalten, die mich als verantwortungslos bezeichnen. Weil ich jetzt einfach ein ganz sicheres Gespür für meinen Weg habe und für meine Aufgabe in dieser Welt.«
Diese innere Sicherheit, von der Regina erzählt, die kommt aus dem Selbst. Sie kann nicht mit dem Verstand erworben werden, man braucht ein anderes psychisches Organ dafür. Mittlerweile kann man in der Psychologie die Funktionsweise dieses »Selbst-Organs« gut beschreiben und auch experimentell zuverlässig und seriös erforschen.
Das Selbst kann nicht nur bei Entscheidungen helfen. Es kann noch viel mehr, wie das folgende Beispiel Martins verdeutlicht.
»Ich komme ursprünglich aus einer Freikirche«, erzählt Martin. »Ich wuchs auf mit der Angst vor der Hölle, dem Teufel und der ewigen Verdammnis. Ich fühlte mich immer als Sünder, nie war ich gut genug. Diese dauernde Angst, das ist etwas Zermürbendes und Schreckliches. Manchmal half mir nur der Alkohol, diese permanente Drohung zu vergessen. Man kann sich das gar nicht vorstellen, wie tief mir das in den Knochen saß, das Versagen, die Selbstvorwürfe, die dauernde Unruhe, das Getriebensein.
Ich beschäftigte mich dann mit dem Katholizismus und entdeckte die Frohe Botschaft Christi für mich. Dass Jesus alle seine Schäflein liebt und dass auch ich angenommen werde, so, wie ich bin. Mit allen Fehlern und Unzulänglichkeiten. Diese Botschaft tat mir gut. Aber trotzdem hatte ich immer noch Probleme mit meinen Angstgefühlen, die waren nicht verschwunden.
In den Ferien fuhren wir dann einmal nach Rom, und ich wanderte durch die Stadt. An einer Piazza lag eine kleine Kirche, vor der ein alter Mönch mit weißem Bart, brauner Kutte und Sandalen an den nackten Füßen saß. Er saß in der Sonne und betrachtete die Vorbeigehenden. Unsere Blicke trafen sich. ›Vuole confessare?‹, fragte er mich. (›Wollen Sie beichten?‹)
Von seinem Blick und seiner körperlichen Präsenz strahlte so viel milde Güte aus, dass ich mich zutiefst angenommen fühlte. Ich ging mit ihm in das dunkle, kühle Innere der kleinen Kirche und beichtete ihm alles, dessen ich mich schämte. Und nach dieser Beichte hatte ich zum ersten Mal in meinem Leben das Gefühl, nach Hause gekommen zu sein. Ich spürte es, dass Gott mich liebt. Ich wusste es nicht nur intellektuell, sondern ich erfuhr es leiblich. Seitdem ich dieses Gefühl erlebt habe, stehe ich fest im Glauben. Ich bin in Gottes Gegenwart geborgen und angenommen.«
Auch ein Erlebnis wie das von Martin kommt aus dem Selbst. Professor Julius Kuhl, ein Persönlichkeitspsychologe, der sich große Verdienste auf diesem Gebiet erwarb, hat über die Rolle des Selbst für die Erfahrung des Heiligen ein Buch geschrieben mit dem bezeichnenden Titel Spirituelle Intelligenz.3 Wie arbeitet dieser Teil der menschlichen Psyche, der solche Erlebnisse ermöglicht?
Der Mensch verfügt in seiner Psyche über zwei unterschiedliche Systeme, die ganz verschieden arbeiten. Für diese beiden Systeme gibt es eine Vielfalt an Begrifflichkeiten, die man bei Interesse zum Beispiel zusammenfassend in dem Buch Selbstmanagement – ressourcenorientiert4 nachlesen kann. Hier nennen wir die beiden Systeme »bewusster Verstand« und »unbewusstes Selbst«. Die wichtigsten Unterschiede sind in der Tabelle dargestellt.
Bewusster Verstand und unbewusstes Selbst
Unterschied hinsichtlich
Der bewusste Verstand
Das unbewusste Selbst
Verarbeitungsmodus
bewusst
unbewusst
Arbeitstempo
langsam
schnell
Kommunikationsmittel
Sprache
somatische Marker
(diffuse Gefühle)
Informationsverarbeitung
seriell
parallel
Bewertungskriterium
richtig/falsch
mag ich/mag ich nicht
Mit dem Verstand kann man Aufgaben planen, zeitliche Abläufe berechnen und Vor- und Nachteile eines Verhaltens abschätzen. Haben wir mit dem Verstand etwas begriffen, so sind wir in der Lage, darüber mittels Sprache Auskunft zu geben, denn der Sachverhalt ist dem Bewusstsein zugänglich. Man kann dann begründen: »Ich habe mich dafür oder dagegen entschieden, weil …« Bis die Bewertung des Verstandes zu einer Thematik erfolgt oder ein Vorschlag für eine Entscheidung ausgearbeitet wird, kann jedoch einige Zeit vergehen. Der Verstand arbeitet langsam. Im schnellsten Fall braucht es 900 Millisekunden, bis er etwas begriffen hat. Es kann aber auch Stunden, Tage oder Wochen dauern, bis klar ist, wie der durchdachte Vorschlag des Verstandes lautet.
Die Informationsverarbeitung dieses Systems ist seriell; das heißt, dass der Verstand immer nur eins nach dem anderen verarbeiten kann. Die serielle Verarbeitungsweise des Verstandes wird gut nachvollziehbar, wenn man versucht, gleichzeitig zwei Gedanken zu denken. Das geht nicht. Im Prinzip funktioniert der Verstand diesbezüglich ähnlich wie die Kassenschlange im Supermarkt: Es passt immer nur eine Person in das Nadelöhr, man muss geduldig warten, bis man an der Reihe ist.
Die Bewertung des Verstandes erfolgt nach dem sachlichen Kriterium »Was ist richtig, und was ist falsch?«. Hierbei spielen soziale und gesellschaftliche Normen und auch die Erziehung eine wichtige Rolle.
Das andere System, das beim psychischen Geschehen mitwirkt, ist das unbewusste Selbst. Dieses System erledigt seine Aufgaben im Verborgenen, sodass der Verstand davon kaum etwas mitbekommt. Das Unbewusste arbeitet sehr schnell. Innerhalb von 200 Millisekunden nach einem Ereignis ist die Bewertung aus diesem System vorhanden. Diese rasche Reaktionszeit konnte in wissenschaftlichen Studien nachgewiesen werden. Im unmittelbaren Moment ihres Auftauchens kann diese Bewertung allerdings noch nicht in Sprache gefasst werden.
Die Bewertungen des Unbewussten äußern sich über sogenannte somatische Marker (gr. sõma, Gen. Sōmatos [Körper]). Dieser Begriff stammt von dem portugiesisch-amerikanischen Hirnforscher António Damásio.5 Somatische Marker sind diffuse Gefühle und/oder Körperempfindungen. Sie werden beispielsweise als mulmiges Gefühl im Bauch, Freude im Herzen oder Kloß im Hals wahrgenommen. Seine Bewertung generiert das Unbewusste aus sämtlichen Erfahrungen, die ein Mensch im Leben zu dem betreffenden Thema gesammelt hat. Damásio unterscheidet zwischen positiven und negativen somatischen Markern.
Somatische Marker
Die Informationsverarbeitung des Unbewussten verläuft parallel, das bedeutet, dass gleichzeitig sehr viele Informationen gesichtet und daraus Bewertungen gebildet werden können. Der Neurowissenschaftler Eric R. Kandel, der im Jahr 2000 den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin erhielt, drückt diesen Sachverhalt folgendermaßen aus: »Die bewusste Aktivität kann sich nur auf einen begrenzten Bereich konzentrieren. Sie wählt jeweils einen einzelnen Gegenstand aus und sendet ihn an viele Teile des Gehirns weiter. Die unbewusste Informationsverarbeitung dagegen kann in vielen Rindenarealen gleichzeitig stattfinden.«6
Die Bewertung des unbewussten Selbst erfolgt im Hinblick auf das Wohlbefinden des Gesamtorganismus: Was ist zuträglich für das individuelle Wohlbefinden, und was ist gefährlich? Das unbewusste Selbst hat evolutionsbiologisch die wichtige Aufgabe, Menschen möglichst sicher und wohlbehalten durchs Leben zu führen und dabei das momentane individuelle Wohlbefinden im Auge zu halten.
Neurologisch betrachtet sitzt der bewusste Verstand im Cortex, direkt hinter der Stirn. »Der Cortex gilt als Entstehungsort von allem, was nach üblicher Meinung uns Menschen zu Menschen macht, nämlich Bewusstsein, Denken, Vorstellen, Erinnern, Handlungsplanung und Sprache.«7 Ist Aktivität im Cortex zu verzeichnen, so sind diese Aktivitäten bewusstseinsfähig. Die Person kann dann Auskunft über ihre Gedanken und Gefühle geben.
Das unbewusste Selbst wird neurologisch in einem aus Sicht der Evolution sehr alten Hirnareal lokalisiert, das Menschen mit den Tieren gemeinsam haben. Es handelt sich um ein ausgedehntes Netzwerk von kleineren und größeren Arealen, die für Gefühle zuständig sind und die wissenschaftlich als limbisches System bezeichnet werden. Das limbische System ist »der Entstehungsort von Affekten, Gefühlen, Motiven, Handlungszielen, Gewissen, Empathie, Moral und Ethik und damit diejenige Instanz, die weitgehend unsere Persönlichkeit bestimmt, einschließlich unseres individuell-egoistischen und sozialen Handelns«.8
Der bewusste Verstand hat wenige direkte neurologische Verbindungen zum unbewussten Selbst, der Weg in dieser Richtung ist nur dürftig »verkabelt«. Umgekehrt kontrolliert und beeinflusst das Unbewusste die bewusste Ebene jedoch stark, hier haben wir einen »Breitbandanschluss«! Dies erklärt, warum vernünftige Einsichten allein meistens nicht ausreichen, um Menschen nachhaltig zu beeinflussen, während die Gefühle, besonders auch in Form von Stress, Angst und Schmerz, eine starke Wirkung auf das menschliche Denken und Handeln haben können.
Was haben nun die beiden Systeme, die wir vorgestellt haben, mit »Spiritualität« zu tun? Wir verbinden mit dieser Frage ein psychologisches Thema mit einem spirituellen. Deshalb wollen wir das Verhältnis von Psychologie, Neurobiologie und Spiritualität bei der Untersuchung dieser Fragestellung kurz klären.
Heutzutage forscht man in der Neurobiologie mit bildgebenden Verfahren, um die Aktivität des Gehirns zu untersuchen. Der Neugier und dem Forschungsdrang sind hierbei offenbar keine Grenzen gesetzt; man begibt sich auch in Gefilde, die früher ausschließlich theologischen Fachpersonen oder spirituellen Kreisen vorbehalten waren. Es gibt Forschungsteams, die buddhistische Mönche im fMRI – die Abkürzung für »functional Magnetic Resonance Imaging«, im Volksmund »die Röhre« genannt – meditieren lassen und beobachten, was sich im Gehirn abspielt, wenn ein Mönch von einem spirituellen Erleben berichtet. Man weiß jetzt, dass für das sogenannte »ozeanische Einheitserleben«, das sich entwickeln kann, wenn man meditiert, ganz bestimmte, klar identifizierbare Hirnareale verantwortlich sind. Ein Mensch, der nach intensiven Gebeten, in meditativer Versenkung oder in mystischer Schau davon spricht, dass die Grenzen des eigenen Ichs sich mental auflösen und dass man in ein universelles Gefühl der Beziehung zum Heiligen eintauchen kann, gibt diese Auskunft auf einer Grundlage, die mit den bildgebenden Verfahren der Neurobiologie beobachtet werden kann.9
Wir befinden uns darum erstmalig in der glücklichen Lage, spirituelle, psychologische und neurobiologische Fragestellungen in Verbindung bringen zu können. Diese vorsichtige Kontaktaufnahme soll allerdings nicht in triviale Erklärungsversuche münden wie zum Beispiel: »Ach, Nahtoderlebnisse sind also doch nichts weiter als ein Neuronengewitter in einer Überlastungssituation.« Das Heilige enthält immer noch einen großen Anteil Unerklärliches, das den beschränkten menschlichen Geist übersteigt und auch durch modernste Technik nicht erfassbar ist. Diese Thematik ist die Domäne der Spiritualität, der Theologie. Aber mit einem neuen Miteinander können alle drei Disziplinen ihren Horizont erweitern.
Julius Kuhl schreibt in seinem Buch Spirituelle Intelligenz darüber, wie er sich diesen Austausch vorstellt:
»Die neue Aufgabe der Theologie ist die Auseinandersetzung mit dem durch die Psychologie und die Neurobiologie veränderten Verständnis des Seelenlebens. […] Es geht um die naturwissenschaftliche Erklärung vieler seelischer Phänomene, die seit langem überwiegend durch die Religion thematisiert wurden und die von der experimentellen Psychologie lange Zeit weitgehend ignoriert wurden. Neu wäre dieser Diskurs in der Tat auch für die experimentelle Psychologie, da sich die bisherigen wissenschaftlichen Erklärungsansätze zwar methodisch radikal von der Theologie absetzen, durch den Einsatz relativ primitiver (reduktionistischer) Methoden aber keine ernst zu nehmende Erklärung komplexer seelischer Phänomene anzubieten hatten.«10
In einer ganz bestimmten Hinsicht erweist sich diese neue Partnerschaft als besonders hilfreich, dann nämlich, wenn man nach Möglichkeiten sucht, Menschen in schweren Krisen und Nöten seelsorgerisch-psychologisch beizustehen.
Die faszinierenden Erlebnisse des Heiligen, von denen bisher die Rede war, sind nämlich ohne das unbewusste Selbst nicht möglich; das isolierte Nachdenken mit dem Verstand stößt an Grenzen. Wer nach Antworten aus spirituellen Sphären strebt, muss das Selbst auf jeden Fall einbinden.
Man muss bei der Arbeit mit dem Selbst jedoch in Kauf nehmen, dass die Erfahrungen, die man dabei macht, mit der Verstandessprache nur schwer zu greifen sind. Dies liegt zum Ersten daran, dass das unbewusste Selbst nicht über Sprache verfügt, sondern dass Sprache immer erst als ein Ergebnis eines oftmals langwierigen Dolmetscherprozesses auftaucht, den der Verstand im Dialog mit dem Selbst durchführt. Zum Zweiten ist das Erleben des Spirituellen eine völlig individuelle Erfahrung. Die Worte, die eine Person dafür findet, können bei einer anderen Person Kopfschütteln und Befremden auslösen. Das muss man wissen! Der Zugang zum Spirituellen ist immer und unter allen Umständen im wahrsten Wortsinn eigenartig.
Doris Wagner weist eindringlich auf diese Eigenschaft des spirituellen Erlebens hin: »Interessanterweise ist Sinnhaftigkeit etwas ausgesprochen Subjektives. Denn sie liegt in unserer Persönlichkeit und unseren Erfahrungen begründet und – auch wenn manche das denken mögen – nicht in einer scheinbar objektiven Richtigkeit.«11 Während nach Wagner die religiösen Interpretationen von Sinnhaftigkeit feststehende Angebote im Rahmen der jeweils vertretenen Konfession vermitteln, bleibt das Erleben eines spirituellen Moments immer etwas, was als intimer Moment auftritt. Darum kann es auch nur unvollständig in Worte gefasst werden. Ein Zitat soll illustrieren, wie sich der ungarische Essayist und Literaturkritiker Lászlo F. Földényi sprachlich an das Erleben dieses besonderen Augenblicks herantastet (»Der Zauber des Augenblicks«):
»Es fällt dem Menschen schwer, Rechenschaft über den Moment abzugeben, in dem er die Mitte entdeckt zu haben glaubt. Nicht weil dieser Moment vergänglich oder flüchtig wäre; im Gegenteil, man hat sich noch nie so gesammelt gefühlt, sein eigenes Wesen als so gewichtig, so endgültig empfunden. Nein, dieser Moment ist deswegen so schwer in Begriffe zu fassen, weil er zu gewichtig ist: Das Sein lastet auf ihm. Erst jetzt, da sich alles in seiner Nacktheit an-deutet und der Schleier, mit dem die Welt des Seienden, des ›Ist‹, das Sein verhüllt, abfällt, wird dieser zugänglich. In solchen Momenten zeigt sich, dass der Mensch sein Dasein etwas verdankt, von dem nichts gewusst werden kann, aus dem nie etwas Greifbares sich herauskristallisiert, von dem nicht einmal gesprochen werden kann: Es kann nicht einmal als ›das‹ angesprochen werden. […] In solchen Momenten manifestiert sich das Universum durch den Menschen.«12
Der Stand unserer Überlegungen lässt sich an dieser Stelle folgendermaßen zusammenfassen: Spiritualität ist nicht an ein bestimmtes Bekenntnis gebunden; sie kann aber bei religiös geprägten Menschen die jeweilige Glaubenspraxis als wichtige Ressource nutzen. Spirituelle Erlebnisse sind nicht allein vom bewussten Verstand vermittelbar, sondern sie benötigen zusätzlich einen Bereich der menschlichen Psyche, das unbewusste Selbst. Der Teil, der spirituelle Erlebnisse ermöglicht, ist also nicht der Verstand allein, sondern der Verstand, der in Kontakt mit dem Selbst steht und die Geschehnisse, die durch das Selbst ausgelöst werden, bewusst wahrnimmt und behutsam in Sprache kleidet.
Am Ende dieser Einleitung muss unbedingt noch eine Frage beantwortet werden: Gibt es das denn, ein wahres Selbst? Földényi erwähnt ein amüsantes Zitat seines Kollegen Czesław Miłosz, der in der Mitte des 20. Jahrhunderts darüber schrieb, wie seit der Romantik die Erschütterung des Glaubens an die traditionelle Gottesvorstellung dazu führte, dass auch das vermeintlich göttliche Ich-Bild als Trugvorstellung entlarvt wurde: »Die menschliche Person, die stolz mit dem Finger auf sich selbst zeigt: ›ich‹, erwies sich […] als Täuschung, denn sie ist lediglich ein von ein und derselben Epidermis zusammengehaltenes Bündel von Reflexen.«13
In der Tat: Zwischen der Vorstellung von einem wahren Selbst und der Idee des Menschen als einem Bündel von Reflexen, das von der äußeren Zellschicht der Haut zusammengehalten wird, klafft eine weite Distanz. Was ist die Position dieses Buches? Am ehesten ließe sich der eingeschlagene Weg mit einem Sowohl-als-auch beschreiben. Die Annahme, dass eine bewusste Instanz in der menschlichen Psyche fixiert ist, die die oberste Herrschaft im psychischen System als direktes Abbild des Göttlichen innehat, ist überwunden und lässt sich lange schon nicht mehr halten. Doch ist die Vorstellung, es gäbe stattdessen im Unbewussten eine Art eigentliches und einzigartiges Selbst im Sinne des »wahren Kerns«, der in jedem Menschen wohnt, heutzutage ebenfalls nicht mehr guten Gewissens zu vertreten.
Wie bitte? Es gibt kein wahres Selbst? Von was ist denn dann im Titel zu diesem Buch die Rede? Die Sachlage ist leider etwas kompliziert, das macht aber nichts.
Psychologisch gesehen gibt es keinen einzigen wahren Kern, sondern eine Vielfalt von Strebungen, die unterschiedlich in den Vordergrund oder in den Hintergrund der Wahrnehmung treten können. Ein relativ »einfacher« Fall ist sicher vielen unter dem Begriff »Ambivalenz« bekannt. Man fühlt dann zwei Strebungen in sich, die beide gleichberechtigt und gleich stark nebeneinander existieren und beide Einfluss auf die Handlungssteuerung nehmen können. Hält solch ein Zustand der Ambivalenz über längere Zeit hinweg an, wird das oft als sehr quälend erlebt. Viele Entscheidungssituationen, in denen Menschen seelsorgerischen Rat oder psychologische Beratung aufsuchen, haben als Vorläufer lange Episoden von zermürbender Ambivalenz, die den Menschen die Stimmung verunreinigt und den Schlaf raubt.
Soll man kündigen oder im Job aushalten wegen der Sicherheit? Soll man sich scheiden lassen oder der Ehe noch einmal eine Chance geben? Soll man der Karriere wegen in eine fremde Stadt ziehen und alle Freunde verlassen oder lieber in der Heimat bleiben ohne beruflichen Aufstieg? Die Mutter ins Heim geben oder selbst pflegen, sich einer Chemotherapie unterziehen oder sich auf das Sterben einstellen?
Wer jemals in einer solchen Ambivalenz gefangen war, weiß, wie mühselig und belastet das Leben dadurch wird. Psychologisch gesehen, gibt es jedoch nicht nur das Abwägen von zwei möglichen Strebungen, es gibt auch drei Möglichkeiten, die zur Debatte stehen, vier Möglichkeiten oder fünf. Der Anzahl konkurrierender Teile in der menschlichen Psyche ist nach oben eigentlich keine Grenze gesetzt. Hat es in solchen Fällen Sinn, von einem wahren Kern zu sprechen, den man nur finden muss? Definitiv nicht. Der Weg, den es hier zu beschreiten gilt, besteht darin, zunächst die Vielfalt als solche bestehen zu lassen und dann über Methoden zu verfügen, mit denen aus der Vielfalt allmählich ein neues Muster entstehen kann, in welche Richtung ein möglicher Weg wohl führen würde.
Wissenschaftlich gesehen wird dieser Vorgang »Emergenz« genannt. Es geht hierbei um die Entstehung von neuen Mustern ohne eine oberste planende Instanz. »Selbstorganisation« heißt das Prinzip, mit dem viele Teilelemente sich zu neuen Einheiten bilden, die wie aus dem Nichts heraus entstehen. Selbstorganisierend eben. Niemand ist die Chefin in einem Ameisenhaufen. Niemand ist der Boss in einem Heringsschwarm. In Zeiten des Internets finden sich Menschen spontan zu Flashmobs zusammen, ohne dass jemand zu finden wäre, der das Kommando übernommen hätte. Die Gruppe hat sich selbst organisiert. Genau dasselbe Prinzip lässt sich auf die Vielfalt menschlicher Strebungen in der Psyche anwenden.
Solche Themen müssen durch Kontakt mit dem Selbst gelöst werden. Der Verstand kriegt das wie gesagt nicht allein hin.
Damit nähern wir uns wieder dem Thema »Spiritualität«. Dem Verstand muss es nämlich wie ein Wunder erscheinen, wenn ihm auf einmal, aus heiterem Himmel (was für ein herrlicher Ausdruck!), eine Lösung für ein Problem in den Sinn kommt, an dem er sich seit Wochen erfolglos abarbeitete. Woher kommt die neue Idee? Eine mögliche Erklärung hierfür lautet: Sie kommt von dem, was wir »Gott«, »das Universum« oder ähnlich nennen. Der Verstand hat die Lösung nicht allein hingekriegt, das eigene Versagen ist dem Verstand schmerzlich und kränkend bewusst. Auf einmal, morgens in der Dusche, beim Waldspaziergang oder nachts im Traum, erscheint die Lösung. Sie muss aus einer überirdischen Quelle stammen.
Kann man sich diesen Vorgang mithilfe der zeitgenössischen Psychologie erklären? Julius Kuhl hat dazu geforscht. Er hat herausgefunden, dass das unbewusste Selbst zu arbeiten beginnt, wenn sich der Mensch in einer ruhigen Affektlage befindet. Mit anderen Worten: wenn man zur Ruhe kommt und wenn negative Gefühle herunterreguliert werden können. Diesen Vorgang der Beruhigung hat man sich immer im engsten Zusammenhang mit Veränderungen im körperlichen Befinden vorzustellen, er wird auf gar keinen Fall allein durch Denktätigkeit hervorgerufen.
Und damit sind wir beim Thema »Embodiment« angelangt. Kuhl schreibt: »Das Selbst ist eine Schnittstelle zwischen Körper und Geist. Es benötigt Körpersignale als Wegweiser zur Orientierung in seinen unendlichen Weiten und es kann auf Körperprozesse einschließlich der in vielen Körperreaktionen verankerten Emotionen Einfluss nehmen.«14 Als eine solche Schnittstelle zwischen Körper und Geist, Erde und Atem wird auch der Begriff »Seele« vor dem Hintergrund jüdisch-christlicher Spiritualität verstanden, wie ihn Eva Maria Jäger im anschließenden Beitrag zu den Körpergebeten einführt.
Selbst und Körper sind miteinander verbunden. Genauso, wie das Selbst die Signale des Körpers zur Orientierung benötigt, kann der Körper wiederum das Selbst aktivieren. Und von dieser Aktivierung des Selbst durch körperliche Vorgänge handelt dieses Buch. Sei es, dass ein Mensch das Gebet körperlich auf sich wirken lässt, indem er dazu passende Bewegungen oder körpernahe Imaginationen entwickelt. Sei es, dass er im Gesang oder in der musikalischen Gestaltung eines Psalms oder eines spirituell bedeutsamen Textes die reine Sprachebene um den körperlichen Aspekt erweitert oder dass er in der Atmosphäre eines sakralen Raumes auf die Gerüche achtet und das Farbenspiel der Kirchenfenster in sich aufnimmt, wenn die Morgensonne darin tanzt. Die Aktivierung des Körpers ist ein beeindruckendes und wirksames Mittel, um mit dem Selbst in Kontakt zu kommen.
Das Ziel sollte sein, Verstand und Selbst miteinander zu verbinden. »Spirituelle Intelligenz, d. h., die Fähigkeit, umfassende existenzielle Erfahrungen jenseits des bewussten Verstandes zu integrieren, beginnt dort, wo der Glaube sich von einer Kraft leiten lässt, die zwischen analytischem Verstand […] und Selbst vermittelt.«15
Nun lässt sich auch die Frage beantworten, ob es so etwas wie einen inneren Kern im Menschen gibt. Das Gefühl, man habe es mit einem wahren Selbst zu tun, ist nicht so zu verstehen, als habe man ein Osterei gefunden. Wenn das unbewusste Selbst und der Körper aktiviert sind, dann erlebt ein Mensch sich als Einheit. Das Einheitsgefühl rührt daher, dass man nur einen einzigen Körper hat, er dient als Resonanzboden für sämtliche psychischen Vorgänge. Wenn der Selbstzugang gebahnt wird, dann findet Einheitserleben statt. Man fühlt sich mit sich selbst verbunden und steht in der eigenen Mitte. Ein Mensch, der auf diese Weise in sich selbst ruht, strahlt dies auch unmittelbar auf andere aus. Das bedeutet nicht, dass solch ein Mensch nie einen inneren Zwiespalt erlebt oder sich nicht in tiefer Not befinden kann. Er hat jedoch in sich Kontakt zu einer Art Urgrund, einem Wachstumshumus, der nie verloren gehen kann, egal, wie schwierig sich die äußeren Verhältnisse auch gestalten mögen. Wissenschaftlich ist mittlerweile gut belegt, dass praktizierte Religiosität in engem Zusammenhang mit Resilienz steht, also der psychischen Widerstandskraft, dem wichtigsten Faktor für psychische Gesundheit.
Das mag das Beispiel einer 65-jährige Frau illustrieren, die sich eines Tages in ihrer gesamten Existenz einem Scherbenhaufen gegenübersah. Es hatte sich nämlich herausgestellt, dass ihr Mann das elterliche Geschäft, eine alteingesessene Schreinerei, mit seiner Spielsucht über die Jahre hinweg komplett verzockt und dies vor ihr geheim gehalten hat. Er unterhielt außerdem eine dreißig Jahre jüngere Geliebte, mit der er ein uneheliches Kind hatte. Die Welt der Ehefrau lag von einem Tag auf den anderen in Trümmern. In dieser Situation erlitt sie zunächst einen kompletten Zusammenbruch und wurde suizidgefährdet in die Akutstation der Psychiatrie eingewiesen.
Sie war tiefgläubig. Und im Lauf der Zeit gewann sie wieder Boden unter den Füßen. »Was mich letztendlich aus dieser tiefen Not gerettet hat«, sagte sie, »war der Rosenkranz. Ich habe ihn mit in die Klinik genommen und täglich gebetet. Die heilige Jungfrau Maria hat ihre schützende Hand über mich gehalten, und ich habe tief in mir drinnen gewusst, dass ich nicht allein bin, sondern dass sie beim Herrn für mich bittet.«
Schon während ihrer Klinikzeit, nachdem sie die geschlossene Abteilung verlassen durfte, begab sie sich zur Vesper jeden Tag in ein nahegelegenes Kloster. Nach ihrer Entlassung fuhr sie weiterhin täglich dorthin zum Rosenkranz.
Diese Frau, die ihr Leben lang eine eingeübte Gebetspraxis hatte, konnte neurobiologisch auf gut gebahnte neuronale Netze zugreifen, die zuverlässig aktiviert werden konnten, weil sie stark und gut gebahnt waren. Wer weiß, was aus ihr geworden wäre, wenn sie nicht ihren Glauben als Ressource zuverlässig abrufbar zur Verfügung gehabt hätte. Vielen Menschen hätte eine solche umfassende Lebenserschütterung den Boden unter den Füßen weggezogen. Wer Kontakt zum Selbst hat, steht jedoch immer auf starkem Grund, auch im schlimmsten Fall.
1.Embodied Prayers
Eva Maria Jäger
Während der letzten Jahre habe ich mich in meiner Praxis für Seelsorge und Psychotherapie oft gefragt, was heilsame Spiritualität ist. Mittlerweile denke ich, dass sie auf einer tiefen Ebene zum Menschen »passen« sollte, zu seinem bewussten Verstand, seinem unbewussten Selbst und seinem Körper: dass sie eine unergründliche Weisheit darüber in sich birgt, damit ein Mensch, je mehr er in die Spiritualität hineinwächst, gesünder und heiler werden kann.
Gesünder werden kann, aber nicht muss – das ist wichtig! Spiritualität »nur der Gesundheit« wegen kann nicht Spiritualität sein. Und umgekehrt ist Gesundheit keine Voraussetzung für eine spirituelle Erfahrung.
Krankheiten können unheilbar sein, Schäden irreversibel, genetische Ausstattung kann schmerzhafte Grenzen setzen. Wie viel Gegenwind für einen Menschen bläst, ist auf den ersten Blick und auch auf den zweiten nicht einzuschätzen. Diesem Geheimnis kann ich nur mit Achtung gegenübertreten. Nie werde ich wissen, was mein Gegenüber wirklich zu tragen hat. Ich weiß es ja oft noch nicht einmal in eigener Sache …
Morgens stocksteif wach zu werden ist kein Vergnügen. Und das nicht nur einmal, sondern Morgen für Morgen für Morgen. Es machte mich ratlos – da kann man noch so offiziell Fachfrau in den Augen anderer sein. Ich wurde mir zum Rätsel, dessen Lösung buchstäblich jedenfalls nicht über Nacht zu finden war. Doch das schöne Sprichwort »Not macht erfinderisch« gewann an Gültigkeit. Vieles wird erst in der Not gesucht und gefunden. Wobei ich mir eingestehen musste, dass mir noch gar nicht recht klar war, was mir fehlte. Doch so nach und nach wurde mir bewusster, was ich suchte. Unter anderem, und davon soll mein Beitrag handeln, waren es gute Worte für den Körper – glaubwürdige heilsame Worte, die der Körper aufnehmen kann.
Ich halte viel vom »Wort«. Es kann auch in Situationen gültig bleiben, in denen vieles andere zusammenbricht oder verloren geht. Worte können wie Anker sein, wie Rettungsseile, an denen wir uns festhalten und hochziehen. Worte können Seele und Leib nähren. Dennoch bleiben sie auch oft auf dem Weg in den Körper »stecken«. Sie stellen sich quer, lösen sich auf oder passen nicht. Es gibt schlaue Worte, die den Intellekt füllen – doch Augenblicke später möchte man beim Joggen den Kopf schon wieder »leer bekommen«. Ein Gottesdienst kann geistreich und wortgesättigt sein, und doch melden sich gleich nach dem Heimweg in der Küche überdimensionale Hungergefühle. Diese Brüche beschäftigten mich, seit ich in meiner therapeutischen Praxis über nachhaltige, auch sprachliche Hilfestellung nachdenke, über Texte, die diese Brücke schlagen können, und Worte, die auch dem Körper etwas zu »sagen« haben.
Ich wünschte mir diese Verbindung von Geist und Körper, wenigstens eine Schnittmenge zwischen dem, was heute mit mind and body beschrieben wird: ein nahrhaftes Wort für den Körper.
Um in meinem Fall noch genauer zu sein: Ich suchte nach einem spirituellen, einem biblischen Wort, das heilt. Ein Wort, das in den Körper sinken kann, bis in die Zellen hinein.
Durch eine Umbruchzeit in meinem Leben kippte vieles, nicht zuletzt gesundheitlich: Der Darm zeigte deutlich, dass ihm ein Umzug in die Stadt überhaupt nicht passte. Ich hatte Angst vor einer endlosen Arztpraxen-Odyssee. Und ich war mir unsicher, ob es überhaupt klassische schulmedizinische oder pharmazeutische Hilfestellung dafür gab. Wenn ich mich selbst nicht verstand, wie könnte das ein Arzt besser schaffen? Es musste etwas anderes geben, was die drohende Autoimmunstörung und die kippende Stoffwechselsituation wieder ins Gleichgewicht bringen könnte. Auch unter schwierigeren Bedingungen.
Doch was?
Die Körpergebete, die ich danach über Jahre hinweg entwickelte, ausprobierte und prüfte, wurden echte »Über-Lebens-Übungen«. Und dann zeigte sich, dass sie nicht nur zum Über-Leben, sondern auch zum Leben taugen, dass in den Überlebensübungen Lebensübungen steckten. Auf diesem Weg kamen Wort und Körper zusammen, Bibeltexte, die vor 2500 Jahren aufgeschrieben wurden, und Körperübungen fernöstlicher Provenienz, die eine 2500 Jahre alte Tradition haben.
Es ist nicht neu, den Körper bei Stresserkrankungen ins Spiel zu bringen, und es ist auch nicht neu, Gebetsworte zu wiederholen, wie es sich schon für die Wüstenväter und ersten Christen bewährte. Aber es ist meines Wissens neu, Worte und Körper in Beziehung zu bringen, Worte in den Körper sinken zu lassen, sodass sie »Hand und Fuß« bekommen. Nicht nur leere Worte zu denken oder geistlose Körperübungen abzuarbeiten, sondern gerade die Verbindung zwischen ihnen zu stärken. Um es mit einem lateinischen Wort zu sagen: eine incarnatio zu ermöglichen, damit das Wort einen Weg »ins Fleisch« findet, dass etwas zusammenwächst und dabei etwas ganz Neues entsteht.
Auf vielen Fortbildungen traf ich Kollegen, denen auf ihrer spirituellen Suche keine Reise zu weit war. Ja, sie nahmen regelmäßige Auszeiten in Kauf, um Retreats in Tibet zu besuchen. Einige erzählten mir, dass ihnen dort, in der Ferne des Himalaja, ans Herz gelegt wurde, sich doch in ihrer Heimat den Wurzeln ihrer eigenen Spiritualität zuzuwenden. Zum Beispiel im Kirchenchor mitzusingen, stille Kirchenräume aufzusuchen, sich Zeit für das Anhören einer Passion von Johann Sebastian Bach zu nehmen oder Psalmworte auswendig zu lernen. Vielleicht zu entdecken, was Friedrich Hölderlin (1770–1843) in seinem Gedicht »Brod und Wein« andeutete: Das Eigene zu erkennen ist in Wirklichkeit genau so schwierig, wie das Fremde zu entdecken. Das Eigene ist das andere vom anderen. Mittlerweile ist für manche christliche Spiritualität wieder so fremd geworden, dass sie unbelastet ist und Interesse weckt. Es kann ein Vorteil sein, sie so neu und taufrisch zu entdecken.
Ich persönlich finde auch, dass es keine weite Reise braucht, um spirituelle Entdeckungen zu machen.
In meinem Beitrag möchte ich als Christin und Psychotherapeutin dazu einladen, einen neuen Weg zu Texten der jüdisch-christlichen Spiritualität des Abendlandes zu gehen und sich dabei überraschen zu lassen, was gerade sie zu körperlichen Themen beizutragen hat.
Es deutet vieles darauf hin, dass ich – als erwachsener Mensch – mit dem Frieden bei mir selbst anfangen muss. Und nicht darauf warte, bis sich eine günstigere Gelegenheit ergibt. Ich brauche dafür keine teuren Kurse zu bezahlen, denn ich habe einen Übungspartner für »Friedensarbeit«, der mir 24 Stunden am Tag zur Verfügung steht: Es ist der Körper.
Der heilige Bruder Franziskus (ca. 1181–1226) alias Franz von Assisi hat ihn liebevoll seinen »Bruder Esel« genannt. Natürlich könnte er auch als »Schwester Schaf« gut durchgehen. In jedem Fall aber muss er mit, auf jedem Lebensschritt. Manchmal mehr oder weniger willig, manchmal sogar quietschvergnügt. Doch in Reaktion auf bedrohliche Situationen können diese »Schafe und Esel« auch mit Flucht, Kampf oder Erstarrung reagieren. Wenn die Bedrohung klein ist (zum Beispiel eine Katze), lohnt es sich zu kämpfen. Ist sie größer (zum Beispiel ein Bär), wird es zu riskant, sich auf einen Kampf einzulassen; und sein Heil in der Flucht zu suchen ist wesentlich sinnvoller, vor allem wenn man schneller ist als der Angreifer. Wenn jedoch auch die Flucht nicht mehr geht (zum Beispiel angesichts einer gefährlichen Raubkatze), bleibt noch die Option, sich totzustellen, die Erstarrung – in der Hoffnung, dass der Angreifer sein Interesse verliert.
Was in der Tierwelt gilt, hat auch Bedeutung für menschliche Stressreaktionen: Die drei wesentlichen Antworten auf Stress beschrieb bereits im Jahr 1915 der amerikanische Physiologe Walter Cannon (1871–1945) als »Fight-, Flight- und Freeze-Reaktionen«. Tiere können sich nach einem »Freeze«-Zustand schütteln und die Erstarrungsphase hinter sich lassen. Das gelingt Menschen oft nicht so ohne Weiteres.16 Wenn ihr Körper, wie das auch Klienten meiner Praxis berichten, starr und steif bleibt und in einen Schmerzkreislauf hineingerät, der auch noch oft durch Medikation »verschlimmbessert« wird. Wie kann ein Kreislauf der Erstarrung, Anspannung und des Schmerzes einen anderen Verlauf nehmen?
Es muss einmal einen wichtigen, vielleicht sogar überlebenswichtigen Grund für die Stocksteifigkeit gegeben haben, den es auch zu würdigen gilt. Doch wie kann dieser Körper in der sicheren Gegenwart wieder eingeladen werden, weicher und beweglicher zu werden? Auf eine freundliche und eine ganzheitliche Art? In der Sprache der drei »F« Fight, Flight und Freeze gefragt: Gibt es ein weiteres, ein lösendes F?
Es muss nicht gleich der Flow sein … Doch, dem Reim zuliebe, etwas mehr »Fließ« täte hier gut.
Oder ein weiteres F wie »Frieden«. Wenn sich innerer Friede einstellt, kann sich auch immer mehr Geborgenheit einstellen. Physiologisch würde man vom Umschalten auf das vagale, also das autonome parasympathische Nervensystem sprechen, welches die »hauseigene Apotheke« und die Tür zu den genialen, körpereigenen Reparaturhilfen öffnet. Das erlaubt, sich zu »regenerieren«, also wieder man selbst zu werden, seiner Art (lateinisch genus) gerecht zu werden, »artgerecht« zu leben. Auch wieder so zu schlafen, wie man als Kind schlafen konnte.
Heute kann ich die Körpergebete machen. Und ich habe es noch nie bereut, sie gemacht zu haben. Eher bereue ich, dass ich nicht immer merke, wann ich sie machen könnte und besser gemacht hätte.
In dieses Üben zu gehen ist, wie anzukommen, wie heimzukommen. Mitten im Unfrieden, im Unerfüllten und Unerreichten fehlt auf einmal nichts mehr. Das Gefühl von Mangel und Verlust löst sich auf, Wogen und Falten glätten sich. Es stellt sich der Eindruck ein, wesentlich reicher und satter zu sein, als man es noch kurz vorher (in seiner Verzweiflung) gedacht hatte. Und es stellt sich die Sicherheit ein, alles bei sich zu haben, was nötig ist. Als Schwäbin würde ich es als ein »seelisches Handtäschle« beschreiben, das ich stets bei mir tragen kann.
Für sich selbst auch in Gesundheitsangelegenheiten ein guter Partner zu werden wird in der Psychologie als »Selbstwirksamkeit« und »Selbstregulation« beschrieben: zu erleben, dass man nicht machtlos ist, was das eigene Wohlergehen betrifft, sondern etwas »drehen« kann. Das darf sich auch in vielen verschiedenen Situationen gut anfühlen, in denen man bisher eher hilflos oder unerfüllt war. Wenn ich mir zum Beispiel die Frage stelle: Wohin mit mir – und was kann ich mit mir anfangen –, wenn ich
in einem ziemlich anonymen Hotelzimmer gelandet bin, mich fremd und leer fühle,auf einer Pilgerwanderung eine Pause mache und diese Zeit vertiefen will,ein wichtiges Gespräch vor mir habe und mir beim Warten darauf die letzten fünf Minuten sehr ungemütlich werden,eine ungerechte Behandlung erlebt habe, meinen Ärger jedoch zurückhalte (Respekt!), aber es doch noch ordentlich grummelt im Bauch,eine Durststrecke in einer Beziehung habe, die ich aber nicht aufgeben möchte,längere Zeit keine Freunde umarmen kann und mir Körperkontakt fehlt,einen Verlust verdauen muss oder Schiffbruch erlitten habe,allgemein die Grundlage für meine Lebenszufriedenheit unterstützen möchte, um nicht auf äußere Veränderungen zu warten oder von ihnen abhängig zu sein (im Sinne von »Wenn X oder Y geschähe, dann hätte ich Frieden«), sondern in Sachen »Frieden« selbstwirksam werde,an einem wunderschönen Ort, einer »Tankstelle« in der Natur, in meiner Waldeinsamkeit gelandet bin und diesen Moment noch feierlicher begehen möchte?In den Gebeten, die ich im Folgenden vorstellen werde, geht es also darum, nicht nur, aber auch in solchen Situationen Gottes ruhige Freundlichkeit in sich und damit den Körper einkehren zu lassen. Verdichtet formuliert, geht es um Regeneration, Selbstverantwortung, Frieden, Geduld, Trost, Verbundenheit und Schönheit. Um »das Ganze«.
Manchmal, wenn ich in der Natur Embodied Prayers (EP) mache, kommt etwas sehr Angenehmes dazu, für das ein altes Wort passt: »Seligkeit«. Da gibt es dann keinen Unterschied mehr zwischen innen und außen, es ist ein weiter, tiefer und ruhiger Zustand, einfach und selbstverständlich.
Hätte ich etwas Befriedigendes bei meiner Suche nach Körpergebeten vorgefunden, wäre dieses Buch nicht entstanden. So aber habe ich diese Übungen und Texte auch für mich entwickelt als Hilfestellungen und Anregungen, die mir bisher fehlten.
Embodied Prayers sind Körpergebete. Embodied kann im Deutschen mit »verkörpert« oder »verleiblicht« übersetzt werden und steht auch durch diesen Begriff in direktem inhaltlichem Bezug zur Idee des »Embodiment«. Wie wichtig der body ist, drückt sich besonders deutlich im Englischen aus: Somebody ist »jemand«. Body hat ein großes Bedeutungsspektrum, das von »Inhalt« über »Fleisch« und mehr bis zu »Leichnam« reicht.
Das deutsche Wort »Körper« tauchte im 13. Jahrhundert als Lehnwort des lateinischen corpus