Die Kraft aus dem Selbst - Maja Storch - E-Book

Die Kraft aus dem Selbst E-Book

Maja Storch

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Beschreibung

Manchmal findet man die Lösung für ein schwieriges Problem über Nacht im Traum. Manchmal hat man bei einer Entscheidung ein Bauchgefühl, das in eine ganz bestimmte Richtung weist. Diesen Phänomenen ist gemeinsam, dass der bewusste Verstand scheinbar nicht daran beteiligt ist. Sie wurden vom Selbst hervorgebracht. Dieses Buch behandelt anhand der PSI-Theorie von Julius Kuhl die Eigenschaften des Selbst und vermittelt einen fundierten Einblick in die Funktionsweise unbewusster psychischer Vorgänge.

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Seitenzahl: 308

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Die Kraft aus dem Selbst

Die Kraft aus dem Selbst

Maja Storch, Julius Kuhl

Maja Storch

Julius Kuhl

Die Kraft aus dem Selbst

Sieben PsychoGyms für das Unbewusste

3., unveränderte Auflage

Maja Storch, Dr.

Institut für Selbstmanagement und Motivation Zürich ISMZ

Scheuchzerstrasse 21

8006 Zürich

Schweiz

[email protected]

Julius Kuhl, Prof. Dr.

Institut für Psychologie

Universität Osnabrück

49069 Osnabrück

Deutschland

[email protected]

Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar.

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Kopien und Vervielfältigungen zu Lehr- und Unterrichtszwecken, Übersetzungen, Mikroverfilmungen sowie die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Anregungen und Zuschriften bitte an:

Hogrefe AG

Lektorat Psychologie

Länggass-Strasse 76

3000 Bern 9

Schweiz

Tel: +41 31 300 45 00

E-Mail: [email protected]

Internet: http://www.hogrefe.ch

Lektorat: Susanne Lauri

Bearbeitung: Maria Schorpp, Konstanz

Herstellung: Daniel Berger

Gesamtgestaltung und Satz: Claude Borer, Riehen

Druck und buchbinderische Verarbeitung: Finidr s.r.o., Český Těšín

Printed in Czech Republic

3., unveränderte Auflage 2017

© 2011/2013 Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern

© 2017 Hogrefe Verlag, Bern

(E-Book-ISBN_PDF 978-3-456-95775-3)

(E-Book-ISBN_EPUB 978-3-456-75775-9)

ISBN 978-3-456-85775-6

http://doi.org/10.1024/85775-000

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Diese Bestimmungen gelten gegebenenfalls auch für zum E-Book gehörende Audiodateien.

Anmerkung:

Sofern der Printausgabe eine CD-ROM beigefügt ist, sind die Materialien/Arbeitsblätter, die sich darauf ­befinden, bereits Bestandteil dieses E-Books.

Inhalt

Einleitung

Wie dieses Buch benutzt werden soll

Die PSI-Theorie

Vier typische Vertreter der Teilsysteme

Die Intuitive Verhaltenssteuerung

Der Verstand

Der Fehler-Zoom

Das Selbst

Wie Gefühle psychische Systeme aktivieren

Das Selbst

Was ist das Selbst?

Die sieben Funktionsmerkmale des Selbst

Innere Sicherheit

Körper- und Gefühlseinbindung

Parallelverarbeitung

Feedbackverwertung

Unbewusste Steuerung

Wachsamkeit

Affektregulation

Ist Willensfreiheit möglich?

Die sieben PsychoGyms

Das PsychoGym für die innere Sicherheit

Das Bedürfnisbild

Steckbrief: Das Bedürfnisbild

Der Vertrauensaufbau

Steckbrief: Der Vertrauensaufbau

Das PsychoGym für die Körper- und Gefühlseinbindung

Das Somatogramm

Steckbrief: Das Somatogramm

Das PsychoGym für die Feedbackverwertung

Die Affektbilanz

Einführung in die Affektbilanz

Affekte differenzieren mit der Affektbilanz

Integration der Affektbilanz ins Selbst

Folgen des eigenen Verhaltens wahrnehmen

Steckbrief: Die Affektbilanz

Das PsychoGym für die Parallelverarbeitung

Das Wunderrad

Der Affektlagen-Check mit dem Wunderrad

Live-Anwendung des Wunderrades

Steckbrief: Das Wunderrad

Das PsychoGym für die unbewusste Steuerung

Förderung der unbewussten Steuerung

Steckbrief: Förderung der unbewussten Steuerung

Das PsychoGym für die Wachsamkeit

Die Kongruenzprüfung

Affektziel festlegen

Wunschelement suchen

Motto-Ziel bilden

Erinnerungshilfen platzieren

Erfolgsspeicher führen

Steckbrief: Wunschelemente und Motto-Ziel

Das PsychoGym für die Selbstregulation von Affekten

Selbstberuhigung für Sabine Chorsteg

Selbstkonfrontation für Olaf Mendel

Selbstmotivierung für Roland Kramer

Selbstbremsung für Tina Fischer

Steckbrief: Affektregulationshilfen

Protagonist Nummer fünf

Adressen im Internet

Anmerkungen

Die Autoren

Einleitung

Die Kraft aus dem Selbst kann sich auf viele Arten äußern. Es gibt Menschen, die betreten den Raum und haben eine Ausstrahlung, die sich sofort bemerkbar macht. Sie tun nichts Besonderes, sie sprechen nicht laut, sie machen keine Witze und brillieren nicht mit geistreichen Bemerkungen. Sie sind einfach nur da. Und das genügt. Es ist eine Form der Kraft aus dem Selbst.

Eine andere Form der Kraft aus dem Selbst findet man bei Personen, die sehr entscheidungssicher sind. Ein Vorschlag ist zu begutachten, und diese Personen wissen sofort, welche Variante für sie passt und welche nicht. Diese Fähigkeit ist überall zu beobachten. Bei der Auswahl aus der Speisekarte im Restaurant zum Beispiel. Ich habe schon längst entschieden, dass ich Penne all’arrabbiata nehme, ich habe richtig Hunger. Mit meiner Freundin muss ich jedoch gefühlte zwei Stunden über den Angeboten brüten, bevor sie endlich zu Potte kommt. «Spaghetti vongole? Oh ja, das hört sich gut an. Aber hier, sieh mal, Perlhuhnbrüstchen auf Kürbisrisotto. Das wäre natürlich auch was. Oder soll ich lieber den gratinierten Hummer… oder ganz einfach eine Pizza mit Salat… Hmmmmmm, was meinst du denn?» Mir geht das Zögern auf die Nerven. Aber weil mir bekannt ist, was wir in diesem Buch niedergeschrieben haben, kann ich mir gut vorstellen, was in der Psyche meiner Freundin gerade vor sich geht. Und das erleichtert mir das Warten. Außerdem beschließe ich im Stillen, dass ich ihr die sieben PsychoGyms zum Üben vorschlagen werde, die wir hier vorstellen. Aber erst beim Espresso zum Dessert.

Vielleicht kennen Sie jemanden, der eine dritte Variante der Kraft ausdem Selbst beherrscht. Oder Sie selbst beherrschen sie schon. Wie reagierenSie, wenn Sie vor einem schwierigen Problem sitzen, für das es im Moment keine Lösung zu geben scheint? Geraten Sie in Panik, und arbeiten Sie die Nacht durch ohne richtiges Ergebnis? Oder lassen Sie alles liegen und stehen und brüten erst mal drüber? Brüten kann man auf verschiedene Arten, das hängt auch davon ab, was die jeweilige Situation erlaubt. Der eine schläft eine Nacht drüber. Wenn man im Büro ist, kann es sein, dass der einzige Freiraum darin besteht, auf die Toilette zu gehen und einige Minuten auf dem stillen Örtchen zu verbringen. Zu Hause geht man mit dem Hund spielen. Oder nimmt ein Wannenbad. Manche backen einen Kuchen in einer solchen Situation. Was haben alle diese Tätigkeiten gemeinsam? Sie stoppen das Denken. Und damit ermöglichen sie dem Selbst, im Unbewussten, ohne dass wir dafür bewusste Anstrengung mobilisieren, nach Lösungen zu suchen. Unermüdlich spielt das Selbst verschiedene Variantendurch und gleicht sie mit dem privaten Erfahrungsschatz des Eigentümers auf Machbarkeit und Erfolgswahrscheinlichkeit hin ab. Und wenn eine Variante diese Checks besteht, wird diese Variante bewusst. DerVerstand kann sie dann mit Logik und bewusster Analyse weiterbearbeiten.

Das Selbst wird oft unterschätzt, gerade weil die Arbeit mit ihm so mühelos aussieht. Wenn ich einfach nur schlafen gehe, dann kann das doch keine ernsthafte Problemlösung sein! Wenn ich schnell und klar «aus dem Bauch heraus» entscheide, wo bleibt denn da der Verstand? Kann ich mich auf solch eine Entscheidung verlassen? Weil die Tätigkeit des Selbst außerhalb des Bewusstseins stattfindet, ist vielen Menschen dieses Vorgehen nicht ganz geheuer. Für manche hat die gezielte Arbeit mit unbewussten Vorgängen des psychischen Systems auch einen Beigeschmack von Hokuspokus.

Mit diesem Buch wollen wir zeigen, dass viele der Eigenschaften des Selbst und seiner unbewussten Tätigkeit wissenschaftlich inzwischen sehr gut erforscht sind. Mehr noch: Wir zeigen, wie man das eigene Selbst quasi ins Fitnessstudio schickt. Hier kommen die PsychoGyms ins Spiel. Wie ich meinen Körper durch Gymnastik gesund und gelenkig machen kann, genauso kann ich auch das eigene Selbst trainieren. Und last but not least: Wir erklären auch, was mit diesem Begriff eigentlich gemeint ist: Was ist das Selbst? Es wird sich zeigen, dass vieles von dem, was irgendwie «von selbst» zu gehen scheint, tatsächlich durch ein psychisches System, das «Selbst», erklärt werden kann, dessen Funktionsweise durch die Fortschritte der experimentellen Psychologie und der Hirnforschung heute schon sehr detailliert beschrieben wird.

Wie dieses Buch benutzt werden soll

In diesem Buch nimmt die PSI-Theorie von Julius Kuhl, einem von uns beiden Autoren, eine zentrale Rolle ein, eine psychologische Theorie, die das Zusammenspiel von einzelnen Teilen der menschlichen Psyche beschreibt. Um zu wissen, wie man die Kraft aus dem Selbst richtig nutzen kann, ist es wichtig, sich ein Grundverständnis darüber zu verschaffen, aus welchen Teilen die Psyche aufgebaut ist. Es ist außerdem nützlich zu wissen, welche Eigenschaften diese verschiedenen Teile haben und wie sie zusammenarbeiten. Das alles ist kein Stoff, der sich lesen lässt wie ein Reisekrimi. Die Autoren legen dessen ungeachtet Wert darauf, ein Buch vorzulegen, dem die Leserschaft gut folgen kann, ohne sich im Dickicht wissenschaftlicher Fachausdrücke zu verlieren.

Wir verzichten darum im Text weitgehend auf wissenschaftliche Fachausdrücke. Für die wichtigen Begriffe haben wir nach Ausdrücken gesucht, die sich an die Alltagssprache anlehnen. Diejenigen unter der Leserschaft, die sich für die wissenschaftlichen Hintergründe interessieren, finden in den Anmerkungen weiterführende Darlegungen und Literaturhinweise. Auf diese Weise soll der Text gut lesbar bleiben. Gleichzeitig wollen wir die Möglichkeit vertiefender Erkenntnis eröffnen.

Wir empfehlen, das Buch zunächst in einem Rutsch durchzulesen, auch wenn während des ersten Lesens noch nicht alle Details verstanden werden. Man gewinnt dadurch jedoch eine intuitive Übersicht über das gesamte Thema. In einem zweiten Durchgang kann man sich die Stellen dann gründlich erschließen, die noch nicht ganz sitzen.

Alle Arbeitsblätter und Tests, die im Text dargestellt sind, stehen im Internet zum kostenlosen Download zur Verfügung. Die hierfür gültige Webadresse findet man gegen Ende des Buches. Für die Affektbilanz ab Seite 130 existiert ein App, das unter dem Stichwort «Affektbilanz» bei iTunes erworben werden kann.

Wir sind überzeugt, dass es lohnt, sich die Zeit zu nehmen, um mit diesem Buch im Alltag zu arbeiten. Der Lohn wird ein solides Grundlagenverständnis darüber sein, wie das eigene Innenleben funktioniert und nach welchen Gesetzmäßigkeiten man sein Handeln, Entscheiden und die eigene Motivation fördern kann. Natürlich kann man das gewonnene Wissen über sich selbst in einem zweiten Schritt auch auf andere Personen anwenden. Was die Regeln betrifft, die die PSI-Theorie beschreibt, arbeitet die Psyche bei allen Menschen gleich.

Und nun wünschen wir einen guten Start!

Maja Storch und Julius Kuhl

Die PSI-Theorie

Vier typische Vertreter der Teilsysteme

Wir wollen die PSI-Theorie mit vier Fallbeispielen aus dem Alltag einführen. Dazu machen wir Sie bekannt mit:

Frau Tina Fischer, Kindergärtnerin, 23 JahreHerrn Roland Kramer, EDV-Beauftragter bei einer Versicherung, 35JahreFrau Sabine Chorsteg, Buchhalterin in einem Möbelhaus, 55 JahreHerrn Olaf Mendel, Allgemeinarzt, 42 Jahre

Anhand dieser vier Personen stellen wir vier Teilsysteme vor, die – so sagt es die PSI-Theorie – in ihrem Zusammenspiel dafür verantwortlich sind, wie ein Mensch die Welt wahrnimmt, in welcher Gefühlslage er sich meistens befindet und wie er seine Handlungen ausführt.

Diese vier Teilsysteme sind:

die Intuitive Verhaltenssteuerungder Verstand der Fehler-Zoomdas Selbst

Jeder Mensch verfügt über alle vier Teilsysteme. Meistens jedoch arbeitet man «von Hause aus» bevorzugt nur mit einem. Optimales Ziel für jeden sollte sein, auf alle vier Teilsysteme gleichermaßen schnellen und zuverlässigen Zugriff zu haben. Dies ist von Natur aus oft nicht der Fall. Genetik und Lernerfahrungen aus der frühen Kindheit machen Menschen zu Spezialisten für eines der vier Systeme. Die Lebensaufgabe heißt somit: Übung in der Benutzung gerade derjenigen Teilsysteme zu erlangen, die bislang nicht so prächtig funktionierten. Dies erfordert die Fähigkeit, von einem System ins andere zu wechseln. Wir werden diesen Vorgang anhand von Fallbeispielen erklären. Zunächst lernen wir Tina Fischer und Roland Kramer kennen.

So etwas könnte Roland Kramer nie passieren.

Tina Fischer und Roland Kramer bevorzugen beide verschiedene Systeme, um ihren Alltag zu meistern. Tina Fischer ist Spezialistin für Intuitive Verhaltenssteuerung, Roland Kramer ist Experte beim Einsatz des Verstandes.

Die Intuitive Verhaltenssteuerung

Bei Tina Fischer übernimmt ein System besonders gern die Regie, das das spontane Handeln steuert: die Intuitive Verhaltenssteuerung, die sich ganz früh in der Kindheit entwickelt.1 Dort gespeicherte Abläufe können auch im Erwachsenenalter intuitiv und schnell ausgeführt werden. Die Intuitive Verhaltenssteuerung ist weitgehend unabhängig von bewusster Planung, sie verläuft im Gegenteil unbewusst und baut auf Automatismen auf.2 Dieser Prozess wurde anhand intuitiver Verhaltensprogramme von Eltern untersucht. So lässt sich zum Beispiel beobachten, dass eine Mutter auf das Weinen ihres Babys schnell und rein instinktiv mit einer hohen, beschwichtigenden Stimmlage reagiert, ohne dass sie das vorher erst lange geplant hätte.3

Intuitives Verhalten in der sozialen Interaktion läuft sowieso viel zu schnell ab, tatsächlich in Bruchteilen von Sekunden, als dass man hier mit Planen und bewussten Absichten viel erreichen könnte. Das ist auch der Grund, warum intuitive Verhaltensabläufe häufig im Smalltalk zum Einsatz kommen. Wenn ein Gesprächspartner nicht mit der Intuitiven Verhaltenssteuerung, sondern einseitig mit dem Verstand arbeitet, bekommt sein Gegenüber schnell das mulmige Gefühl: «Der führt was im Schilde» oder «Die ist irgendwie nicht ehrlich und echt». Darum brauchen wir besonders in der Interaktion mit anderen Menschen viele intuitive Verhaltensautomatismen. Dass schon minimale Verzögerungen in der Reaktion des Interaktionspartners auf ein Lächeln, einen Blickkontakt oder eine Bemerkung registriert werden und das Interaktionsgeschehen stören können, wurde sogar bei Säuglingen nachgewiesen. Wenn dem Kind das Gesicht der Mutter über einen Bildschirm gezeigt wurde, verlief die Interaktion zunächst ganz reibungslos: gegenseitiger Blickkontakt, Lächeln usw. Wurde dem Baby aber das Videobild der Mutter um Bruchteile von Sekunden verzögert gezeigt, reagierte das Baby unruhig oder sogar verstört.4 Aus solchen Beobachtungen lässt sich ermessen, wie tief im Gehirn die intuitiven Programme verankert sind, die die soziale Interaktion steuern, und wie sie auf Millisekunden genau auf das Timing des Partners abgestimmt sind.

Die Intuitive Verhaltenssteuerung ist nicht nur wichtig bei der Ausführung automatisierter Verhaltensroutinen. Auch wenn jemand eine Absicht wirklich umsetzen will, muss er irgendwie Zugang zur Verhaltenssteuerung bekommen, will er nicht auf seinen guten Absichten sitzen bleiben. Menschen, die die Ausführung ihrer Absichten oft aufschieben, sagen dann etwa: «Ich kriege einfach den Dreh nicht.» Aus der experimentellen Psychologie und der Hirnforschung wissen wir: Um zumHandeln zu kommen, muss «Handlungsenergie» fließen. Es gibt Hinweise darauf, dass diese Energie durch einen positiven Affekt erzeugt wird, dessen verhaltensbahnende Wirkung der Botenstoff Dopamin vermittelt. Wird bei Tieren die Dopaminkonzentration in stammesgeschichtlich alten Strukturen des Belohnungssystems durch die Injektion einer entsprechenden Substanz erhöht, so werden automatisierte Verhaltensroutinen schneller und häufiger ausgeführt. Der amerikanische Motivationsforscher David McClelland hat bereits vor einigen Jahrzehnten nachgewiesen, dass bei Menschen, denen gute Beziehungen besonders wichtig sind, die Dopaminausschüttung ansteigt, wenn sie einen Liebesfilm sehen.5Wer diese Energie nach Belieben zur Verfügung hat, versteht womöglich gar nicht, dass es Menschen gibt, bei denen diese Ressource nicht immer fließt. Ein Osnabrücker Forscherteam konnte kürzlich nachweisen, dass solche Menschen die bei ihnen normalerweise unter Stress beobachtete starke Erhöhung des Stresshormons Cortisol nicht mehr zeigen, wenn sie vorab eine minimale Dosis des Antistresshormons Oxytocin erhalten.6 Oxytocin aktiviert viele psychische Funktionen, die für die Pflege guter Beziehungen wichtig sind.

Bei Menschen, bei denen handlungsbahnende Energie ohne Schwierigkeiten fließt, läuft die eigentliche Ausführung der Handlung weitgehend intuitiv ab: Jemand, der sich vornimmt, ein Fenster zu öffnen, denkt während des Fensteröffnens nicht über jede Muskelbewegung nach, die er dazu braucht. Wenn man Vorsätze nicht nur bilden, sondern auch in der Lage sein will, sie umzusetzen, muss das (gleich im nächsten Absatz erklärte) Absichtsgedächtnis gut mit der Intuitiven Verhaltenssteuerung zusammenarbeiten. Sind die Absichten zu einseitig vom Verstand dominiert, kann es sein, dass nur wenige von ihnen umgesetzt werden. Und sind die Handlungen immer nur intuitiv, kann es schwierig werden, wenn eine Aufgabe einmal nicht mit den intuitiv verfügbaren Handlungsmöglichkeiten zu bewältigen ist.

Den Nachteil, den ein zu häufiger Gebrauch der Intuitiven Verhaltenssteuerung haben kann, sehen wir bei Tina Fischer. Ihr würde es guttun, ab und zu eine Pause einzuschalten, bevor sie ihre Aktivitäten startet. Sie bräuchte mehr von dem, was Roland Kramer kann.

Der Verstand

Was wir mit dem Verstand bearbeiten, das können wir bewusst erfahren und in Sprache fassen. Der Verstand arbeitet sequentiell, das heißt: Schritt für Schritt. Er ist zuständig für analytische Prozesse wie das Denken und das Planen. Der Verstand hat Zugriff auf das Absichtsgedächtnis, in der Psychologie auch Intentionsgedächtnis genannt. Dabei handelt es sich um einen Gedächtnistyp, der zuständig ist für die Aufrechterhaltung von bewusst gebildeten Absichten. Solch ein Gedächtnis ist besonders dann wichtig, wenn Absichten nicht sofort in Verhalten umgesetzt werden können, weil möglicherweise eine passende Gelegenheit fehlt oder erst ein Problem gelöst werden muss. Die Konfrontation mit Schwierigkeiten, Hindernissen oder Zielkonflikten führt zu einer Aktivierung dieses Absichtsgedächtnisses, weil sich Schwierigkeiten in entsprechenden Fällen schlecht überwinden lassen, wenn man das Ziel oder die Absicht aus den Augen verliert, bevor eine Lösung oder eine passende Gelegenheit gefunden ist.

In solchen Fällen muss erst geplant und nachgedacht werden, bevor gehandelt werden kann. Tatsächlich ist es im Gehirn so eingerichtet, dass die Intuitive Verhaltenssteuerung automatisch gehemmt wird, sobald der Verstand mit einer Absicht aktiviert wird. Funktioniert diese Hemmung nicht, wird das Verhalten zu impulsiv und unüberlegt. Dies ist bei hyperaktiven Kindern zu beobachten. Gesunde Menschen zeigen dann, wenn sie eine Absicht nicht sofort ausführen können, eine Aktivierung dieser Absicht im Gedächtnis. Das ist zum Beispiel daran zu erkennen, dass sie im Experiment auf Wörter, die sich auf die auszuführende Absicht beziehen, schneller aufmerksam werden als auf Wörter, die eine anderweitige Absicht bezeichnen. So wird das Wort «Teller» schneller erkannt, wenn sich jemand vorgenommen hat, den Tisch zu decken.7 Sogar bei Affen sind Neuronenverbände in der Steuerzentrale des vorderen Teils des Gehirns entdeckt worden, die darauf spezialisiert sind, nicht sofort ausführbare Handlungen nicht zu vergessen. In diesem Fall ging es um eine Banane in einer Dose, die erst geöffnet werden konnte, als der Versuchsleiter ein Trenngitter entfernte.8

Sind der Verstand und das Absichtsgedächtnis aktiviert, weil Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Absicht überwunden werden müssen, geht die Aktivierung der Intuitiven Verhaltenssteuerung zurück. Damit ist garantiert, dass nicht vorschnell gehandelt, sondern dass erst überlegt und abgewartet wird. Hyperaktive Kinder mit ADHS haben Schwierigkeiten, diese Hemmung aufrechtzuerhalten. Das Absichtsgedächtnis funktioniert jedoch nicht ohne diese Hemmungskomponente. Umgekehrt sind Verstand und Absichtsgedächtnis nicht aktiv, also gehemmt, wenn eine Handlung gar nicht geplant oder aufgeschoben werden muss, weil fertige und automatisierte Verhaltensprogramme sofort anwendbar sind. Wenn ich mir die Hände waschen will, brauche ich meist erst gar nicht meine Absicht ins Absichtsgedächtnis zu laden, weil das sofort und intuitiv, ohne viel Überlegen machbar ist.

Intuitive Verhaltenssteuerung und Verstand sind zwei der vier Teilsysteme, die laut PSI-Theorie für die menschliche Psyche besonders wichtig sind. Von ihrer fein abgestimmten Interaktion hängt das ab, was in der PSI-Theorie Willensbahnung genannt wird. Damit ist die im beruflichen wie im privaten Alltag so wichtige Fähigkeit gemeint, Absichten in die Tat umzusetzen. Die nächsten beiden Teilsysteme stellen wir anhand von Sabine Chorsteg und Olaf Mendel vor.

Olaf Mendel hingegen ist bezüglich Stress völlig anders gestrickt als Sabine Chorsteg.

Sabine Chorsteg und Olaf Mendel bevorzugen von Hause aus entsprechend der PSI-Theorie unterschiedliche Teilsysteme, das wird deutlich. BeiSabine Chorsteg ist der Fehler-Zoom in Daueraktion. Olaf Mendel hingegen hat sein Selbst als bevorzugtes System, um den Alltag zu meistern.

Der Fehler-Zoom

Der Fehler-Zoom ermöglicht das bewusste Registrieren einzelner Sinneseindrücke. In der Psychologie nennt man eine Einzelheit, die aus dem Gesamtzusammenhang herausgelöst wird, ein Objekt. Das Wahrnehmungssystem, das Einzelheiten herauslöst, heißt entsprechend die Objekterkennung. Die Beachtung von Einzelheiten ist besonders wichtig, wenn es gilt, eine Fehler- oder Gefahrenquelle zu identifizieren, um sie auch in anderen Zusammenhängen wiederzuerkennen. Wer das nicht kann, macht unter Umständen denselben Fehler immer wieder, selbst wenn er sich vorgenommen hat, beim nächsten Mal besser aufzupassen. Der Fehler-Zoom rückt, ein wenig wie bei der Zoom-Funktion einer Kamera, einzelne Aspekte der Innen- oder Außenwelt in den Vordergrund der Wahrnehmung und lenkt die Aufmerksamkeit von Sabine Chorsteg besonders auf Neuartiges, Unerwartetes – oder eben auf Fehler. Das Herauslösen einer Einzelheit aus dem Gesamtzusammenhang ist manchmal für die Umgebung lästig. Wenn Patrick sein Motorrad besonders gewienert hat für den Besuch beim Vater und der als Erstes bemerkt «Aber den Reifendruck, den hast du wohl nicht geprüft», dann kann das wirklich frustrieren.

Es gibt Hinweise darauf, dass das Erkennen von einzelnen Objekten wie auch das Klassifizieren von Objekten in begriffliche Kategorien durch die linke Hemisphäre des Gehirns unterstützt wird.9Wichtig und hilfreich ist die Aktivierung des Fehler-Zooms immer dann, wenn die Aufmerksamkeit auf gefährliche Dinge gelenkt werden soll, die auch später in ganz anderen Zusammenhängen wiedererkannt werden sollen. Deshalb ist der Fehler-Zoom gern mit der besonderen Beachtung von Einzelheiten gekoppelt, die Gefahren signalisieren oder irgendwie unerwartet oder unstimmig sind. Wenn dieses System bei jemandem besonders häufig aktiviert wird, kann diese Person geradezu zum Unstimmigkeitsexperten werden. Sie bemerkt jeden Fehler und findet jedes Haar in der Suppe. Menschen, die auf Einzelheiten und Fehler genau achten, sind in gewisser Weise durchaus objektiv. Sie neigen nicht zum Beschönigen und übersehen keine Einzelheiten, etwa nur weil sie ihnen oder anderen unangenehm sind. In einem anderen Sinn ist die Objekterkennung jedoch gar nicht so objektiv: Optische Täuschungen wie die berühmte Ebbinghaus-Täuschung entstehen wahrscheinlich durch das einseitige Beachten von Einzelheiten. Im Fall der Ebbinghaus-Täuschung erscheinendie beiden Innenkreise in der Abbildung fälschlicherweise verschieden groß.

Ebbinghaus-Täuschung

Das gilt aber nur, solange man die Kreise als einzelne anschaut: Die Objekterkennung verstärkt dann zum Beispiel den Kontrast zwischen dem Kranz aus kleinen Kreisen und dem Innenkreis, sodass er größer aussieht, als wenn er von großen Kreisen umgeben ist. Diese Wahrnehmungstäuschung verschwindet, wenn man Versuchspersonen bittet, die inneren Kreise (die als Scheiben gezeigt werden) zu greifen: Dann öffnen sich Daumen und Zeigefinger auf beiden Seiten gleich weit.10Halten wir also fest: Die so objektiv erscheinende Objekterkennung mit dem Fehler-Zoom kann durchaus die Wirklichkeit verzerren. Im Extremfall kann das zu Übertreibungen, zu Schwarz-Weiß-Denken oder gar zu fundamentalistischen Ansichten führen. Solche Kontrastbildungen lassen sich am besten vermeiden, wenn man immer mal wieder den inneren Überblick heranzieht, der durch das im Folgenden zu besprechende System ermöglicht wird.

Das Selbst

Das Selbst hat eine zentrale Stellung unter den psychischen Teilsystemen, weil es Informationen parallel und ganzheitlich verarbeitet und das auf einem sehr hohen Integrationsniveau. Das heißt: Das Selbst kann mehrere Aspekte einer Erfahrung gleichzeitig «auf dem Bildschirm» haben. Das alles läuft weitgehend unbewusst ab. Bei der Umsetzung von Zielen oder in Drucksituationen ermöglicht diese Art der Informationsverarbeitung, immer den Überblick zu behalten. Über die Art und Weise, wie das Selbst mit Problemen umgeht, werden wir in später noch ausführlich sprechen, an dieser Stelle gibt es daher nur einen kurzen Überblick.

Das Selbst ist Teil eines ganz besonderen Gedächtnistyps, des ganzheitlichen Erfahrungsgedächtnisses. Dieses Gedächtnis ist ein Hochleistungswunder. Es liefert Zugang zu sämtlichen Lebenserfahrungen, die in einer Situation relevant sein könnten. Als Selbst gilt in der PSI-Theorie derAnteil des Erfahrungsgedächtnisses, der sich auf die eigene Person bezieht, mitsamt all ihren Bedürfnissen, Ängsten, Vorlieben, Werten und bisherigen Erfahrungen. Das ganzheitliche Erfahrungsgedächtnis basiert auf einem ausgedehnten Netzwerk von Handlungsmöglichkeiten, eigenen Gefühlen und selbst erlebten Situationen. Seine parallele und ganzheitliche Verarbeitungsform ermöglicht die gleichzeitige Berücksichtigung vieler Einzelaspekte, die für komplexe Entscheidungen, für kreatives Problemlösen und für das gegenseitige Verstehen von Menschen relevant sein können. Wahrscheinlich hat sich dieses System in der Menschheitsgeschichte speziell für den Umgang mit Menschen – einschließlich sich selbst – entwickelt.

Es bringt also viele Vorteile mit sich, einen guten Zugang zum Selbst zu haben. Ein Beispiel ist die Bewältigung von Stress und leidvollen Erfahrungen. Menschen, die ein differenziertes Selbst herausgebildet haben, können mit Stress besser umgehen und negative Gefühle rascher und nachhaltiger bewältigen.11, 12Aber auch das hat zwei Seiten. Wer einseitig auf eine gelassene Stimmung des Selbst festgelegt ist, was heute als «Coolness» schon fast ein Ideal westlicher Kulturen darstellt, der wird zwar selbstbewusst auftreten können, steht aber in Gefahr, ein nur oberflächliches Selbst auszubilden. Dieses Selbst kann schmerzliche Erfahrungen nicht aushalten und auch nicht nachhaltig bewältigen. Dazu ist es erforderlich, dass man leidvollen Erfahrungen nicht immer nur ausweicht, sondern sie in einem geeigneten Moment auch einmal an «sich», an sein Selbst, heranlässt. Im Fall von Olaf Mendel wäre es wichtig, dass er sich mit dem Thema der Vergänglichkeit aktiv auseinandersetzt, anstatt es von sich wegzuschieben.

Was wollen wir am Beispiel von Tina Fischer, Roland Kramer, Sabine Chorsteg und Olaf Mendel illustrieren? Jeder bräuchte zusätzliche Fähigkeiten, um die eigene Art, mit dem Alltag umzugehen, sinnvoll zu ergänzen. Tina Fischer könnte sich viel Ärger ersparen, wenn sie rechtzeitig von der Intuitiven Verhaltenssteuerung in den analytischen Verstand wechseln und sich einen Plan machen könnte, bevor sie aktiv wird. Roland Kramer hingegen kann mit Sicherheit besser flirten, wenn er weiß, wie er direkten Zugang zur Intuitiven Verhaltenssteuerung bekommt. Olaf Mendel könnte profitieren, wenn er ab und zu vom Selbst in den Fehler-Zoom wechseln würde. Und Sabine Chorsteg hätte mit Garantie ein besseres Leben, wenn wie wüsste, wie sie vom Fehler-Zoom ins Selbst gelangt.

Die PSI-Theorie unterscheidet sich von anderen Persönlichkeitstheorien darin, dass sie nicht einzelne Teilsysteme hervorhebt – entweder die Intuitive Verhaltenssteuerung oder den Verstand oder den Fehler-Zoom oder das Selbst –, sondern die Interaktionen zwischen allen Teilsystemen: PSI steht für «Persönlichkeits-System-Interaktionen». Es ist zwar richtig, dass verschiedene Menschen unterschiedliche Stile haben, die sich mit der Dominanz verschiedener Systeme erklären lassen. Trotzdem kann jeder Mensch das, was in ihm steckt, am besten entwickeln, wenn er den flexiblen Wechsel zwischen den verschiedenen psychischen Systemen pflegt. Das heißt, sich analytisch mit dem Verstand und dem Fehler-Zoom auf Unstimmigkeiten zu konzentrieren, wenn es um eine Aufgabe geht, bei der Fehler nicht passieren dürfen. Oder sich selbstbewusst auf das Erfahrungswissen des Selbst zu verlassen und blitzschnell die Intuitive Verhaltenssteuerung zu aktivieren, wenn die Situation rasches Handeln erfordert. Wie man diesen Wechsel von einem System ins andere steuern kann, besprechen wir im nächsten Kapitel.

Wie Gefühle psychische Systeme aktivieren

Wie kann es gelingen, ganz gezielt ein psychisches System meiner Wahl anzusteuern? Die vier erwähnten Systeme melden sich oft ganz von selbst. Wir lernen schon in der Kindheit, bei Aufgaben, die Nachdenken erfordern, innezuhalten und den Verstand einzuschalten. Um dann, wenn es auf rasches Reagieren auf und spontane Anpassung des Verhaltens an dynamische Veränderungen ankommt, die Intuitive Verhaltenssteuerung zu aktivieren, ob beim Flirten, beim Tanzen oder beim Tennisspielen. Meist meldet sich das System ganz von selbst, das mit der aktuellen Situation am schnellsten oder am besten umgehen kann. In vielen Situationen funktioniert der Wechsel ins richtige System aber nicht so einfach. Die PSI-Theorie beschreibt, wie dann Gefühle helfen können, das richtige System einzuschalten. Affekte, Emotionen und Stimmungen können sowohl die Aktivierung psychischer Systeme als auch den Informationsaustausch zwischen ihnen beeinflussen.

Bevor wir genauer darauf eingehen, wie das funktioniert, wollen wir erklären, was diese so wichtigen Begriffe bedeuten: Mit dem Wort «Gefühl» wird in der Psychologie oft das bezeichnet, was an Affekten, Emotionen oder Stimmungen bewusst erlebt wird. Wir verwenden in unserem Buch den Begriff «Gefühl» aber als Oberbegriff für Affekte, Emotionen und Stimmungen, egal ob sie bewusst werden oder nicht. «Affekte» sind die einfachsten Gefühlsregungen. Sie sind auf einer Ebene des Gehirns angesiedelt, auf der nur zwischen positiven und negativen Gefühlen unterschieden wird. Viele Autoren beschreiben diese Ebene des Gehirns auch mit denBegriffen «Belohnungs- und Bestrafungssystem». Auf dieser Ebene könnenschon einfache Organismen sehr rasch unterscheiden, ob ihnen ein Objekt guttut oder nicht, ob sie es also aufsuchen oder meiden sollten. Dazu bedarf es gar keiner Überlegungen oder sonstiger höherer Erkenntnisse.

Sobald höhere Erkenntnisprozesse ins Spiel kommen, differenziert sich die Welt der Gefühle. Wir sprechen dann von «Emotionen». Das sind Gefühle, die schon bewusste oder auch unbewusste «Überlegungen» – man spricht von «Kognitionen» – beinhalten. Die Emotion Stolz bedeutet mehr als nur einen positiven Affekt. Sie setzt voraus, dass jemand bewusst oder unbewusst ein positives Gefühl erlebt, weil er ein gutes Handlungsergebnis auf seine eigene Fähigkeit zurückführt. Stolz erfordert also eine recht aufwändige kognitive Verarbeitung, auch wenn wir das oft gar nicht merken, weil uns die relevanten «Gedanken» nicht bewusst werden. Dass ich einen Erfolg auf meine eigene Fähigkeit zurückführe, wird mir vielleicht gar nicht bewusst – solange mich niemand danach fragt. Ein Beispiel kann dies veranschaulichen: Die meisten Menschen sind nicht stolz, wenn sie zufällig einen Geldschein auf der Straße finden. Sie sind jedoch stolz, wenn sie die Summe selbst verdient haben. Wenn ich Geld auf der Straße finde, schreibe ich das nicht meiner eigenen Anstrengung zu. Wenn ich das Geld selbst verdient habe, dann schon eher. Auch die Emotion Ärger erfordert schon bestimmte kognitive Erkenntnisse: Sie kann die Überzeugung beinhalten, dass mich jemand behindert hat, dass also nicht ich, sondern jemand anders die Schuld an meiner Frustration trägt.

Die dritte Variante von Gefühlen sind die «Stimmungen». Das sind Gefühle, die über längere Zeit anhalten und die sich oft gar nicht genau an einem einzelnen Erlebnis festmachen lassen. Passieren beispielsweise mehrere unangenehme Ereignisse, kann meine Stimmung allmählich immer mehr absinken.

Gemäß der PSI-Theorie beeinflusst die affektive Tönung von Gefühlen die Aktivierung und die Kommunikation der vier psychischen Systeme. Negative Affekte, Emotionen oder Stimmungen hemmen den Selbstzugang und verstärken den Blick für Einzelheiten, der Fehler-Zoom tritt in Aktion. Zum Beispiel verliert man den Überblick – wie Sabine Chorsteg –, wenn man unter Stress steht und noch dazu eine ängstliche oder traurige Stimmung in einem vorherrscht. Und oft ist es so, dass man noch so gute Absichten unmöglich umsetzen kann, wenn man im analytischen Denken bleibt und es nicht schafft, sich in eine positive Stimmung zu versetzen. Denn die Intuitive Verhaltenssteuerung wird durch positive Affekte ausgelöst. Diese Problematik hält Roland Kramer vom Flirten ab. Weil Gefühle Treibstoff für den Motor der psychischen Teilsysteme sind, ist es so wichtig, dass Menschen möglichst schon in ihrer Kindheit lernen, mit ihren Gefühlen umzugehen. Wer seine Gefühle regulieren kann, wer seine Wut oder seine Angst beruhigen kann und seine Mutlosigkeit oder Lustlosigkeit überwinden kann, der fühlt sich nicht nur besser, sondern kann immer das psychische System einschalten, das er gerade braucht. Das soll im Folgenden näher erklärt werden.

Die Kernaussage der PSI-Theorie besagt, dass das flexible und situationsangepasste Wechseln zwischen den vier psychischen Systemen die Fähigkeit verlangt, zwischen verschiedenen Affektlagen zu wechseln. Der Affektwechsel ist wichtig, weil die vier Systeme in einem Wechselwirkungszusammenhang stehen, der durch Affekte beeinflusst wird. Das heißt: Wenn ein bestimmtes System aktiv ist, hat das Auswirkungen auf den Gefühlshaushalt. Umgekehrt gilt dieser Zusammenhang aber auch. Wer sich in einer bestimmten Affektlage befindet, der aktiviert dadurch ein bestimmtes psychisches Teilsystem und nimmt die Welt dann so wahr, wie dieses Teilsystem eben arbeitet. Gefühle sind also nicht Schall und Rauch. Gefühle steuern unsere Wahrnehmung, unsere Informationsverarbeitung und unsere Handlungen.

Wer nur immer fröhlich ist, ist in Situationen überfordert, in denen vorausschauend geplant werden muss. So ergeht es Tina Fischer. Wer immer nur gelassen, cool und selbstbewusst ist, kann Schwierigkeiten dabei haben, alarmierende Situationen wahrzunehmen. Das kann Olaf Mendel passieren. Der Umgang mit Gefühlen spielt also für das Gleichgewicht aller psychischen Systeme eine wesentliche Rolle. Der Begriff Selbststeuerung bezeichnet diesen aktiven Umgang mit Gefühlen. Ist dieser Umgang an bestimmten Stellen beeinträchtigt, kommt es zu Einseitigkeiten, die das flexible Wechselspiel der psychischen Teilsysteme stören und sich in verschiedenen Beeinträchtigungen bemerkbar machen.

Im Folgenden wollen wir uns diese Wechselwirkungen genauer betrachten. Was die meisten Menschen nicht wissen: Im Gehirn werden positive Affekte einerseits und negative Affekte andererseits durch unterschiedliche Quellen erzeugt. Darum sollte man positive und negative Affekte immer getrennt voneinander betrachten. Bei negativen Affekten spielt die Amygdala (deutsch: Mandelkern) eine große Rolle,13 bei positiven Affekten hat der Nucleus accumbens, ein Teil des Belohnungssystems, eine wichtige Aufgabe.14Die PSI-Theorie unterscheidet zwischen zwei Ausprägungen von Affekten: Affekte sind entweder stark oder gedämpft.

Schauen wir uns zunächst die positiven Affekte an. Wie oben erklärt sprechen wir von Affekten, wenn wir ausschließlich auf die Unterscheidung zwischen positiv und negativ achten. Das kann die «reinen» Affektebetreffen, die ohne kognitive Erkenntnisse auskommen, kann sich darüber hinaus aber auch auf Emotionen und Stimmungen beziehen. Einmal gibt es die starken positiven Affekte, hierfür benutzen wir in diesem Buch das Zeichen A+. Und es gibt die gedämpften guten Gefühle, hierfür benutzen wir das Zeichen A(+). Die Klammer um das Pluszeichen soll symbolisieren, dass die positiven Affekte gehemmt sind. Ein Mensch, der sich überwiegend in der Affektlage A+ befindet, wirkt wie Tina Fischer. Ein Mensch, der sich überwiegend in der Affektlage A(+) aufhält, ist der nüchterne und auf seinen Verstand fixierte EDV-Beauftragte Roland Kramer.

Die Intuitive Verhaltenssteuerung, das bevorzugte System von Tina Fischer, wird durch positive Affekte aktiviert. Wenn man sich gut und sicher fühlt, dann handelt man einfach spontan und intuitiv, ohne viel nachzudenken und zu planen.15Dann fließt die Unterhaltung, ohne dass man ständig überlegt, was man damit erreichen will oder was man als nächstes sagen soll. Anders sieht es mit der Wirkung von gedämpften positiven Affekten aus. Sie aktivieren den Verstand und das an den Verstand gekoppelte Absichtsgedächtnis. Menschen, die aus der Dämpfung des positiven Affekts nicht leicht wieder herauskommen, die zum Beispiel Handlungsenergie verlieren, wenn sie sich zu viel vornehmen, sind zwar nicht so leicht handlungsbereit.16Sie haben aber ein gut funktionierendes Absichtsgedächtnis: Sie denken oft daran, was noch zu erledigen ist.17 Dass die Dämpfung positiver Affekte das Absichtsgedächtnis aktiviert, ist sinnvoll. Denn positive Affekte werden meist dann gedämpft, wenn etwas nicht ganz einfach ist, also nicht spontan gelingt. Dann ist es sinnvoll, den Verstand einzuschalten und auch das Absichtsgedächtnis, damit nicht vergessen wird, was man tun und erreichen will. Sonst wüsste der Verstand gar nicht, wofür er eine Lösung suchen soll. Will ich aber nicht ständig nur über unerledigte Absichten oder unerreichbare Ideale nachgrübeln, sondern auch etwas Geeignetes tun, dann muss ich im richtigen Moment die Dämpfung des positiven Affekts wieder aufheben und positive Affekte generieren. Wenn ich eine schwierige Absicht mit mir im Absichtsgedächtnis herumtrage, dann brauche ich positive Affekte, um die Absicht im geeigneten Moment in die Intuitive Verhaltenssteuerung zu schicken. Nur so kann ich die Absicht dann auch wirklich ausführen. Das ist die Lernaufgabe von Roland Kramer.

Auch bei negativen Affekten unterscheidet die PSI-Theorie zwischen aktivierten und gedämpften Affekten. Aktivierte negative Affekte werdenmit dem Symbol A– gekennzeichnet, gedämpfte negative Affekte werden als A(–) markiert. Wenn negative Affekte aktiviert sind, bestimmt der Fehler-Zoom die Wahrnehmung. Negative Affekte verstärken die ganz spezielle Art der Aufmerksamkeit des Fehler-Zooms, die sich auf Einzelheiten richtet, die aus ihrem Zusammenhang herausgelöst sind.18 Das gilt besonders für Unstimmigkeiten und Fehler.19Man sieht dann nur noch das, was nicht passt oder ungute Gefühle auslöst. Die anderen vielen Einzelheiten und positiven Erfahrungen, die das gerade im Fokus der Aufmerksamkeit stehende negative Detail relativieren könnten, werden übersehen.

Diese Sicht auf die Welt macht Sabine Chorsteg einerseits so perfekt in der Buchhaltung, andererseits wird sie von ihren Kolleginnen als überkritisch wahrgenommen. Die negative Affektlage, die der Fehler-Zoom mit sich bringt, wird dann als schlechte Laune oder als Humorlosigkeit ausgelegt. Wenn es Sabine Chorsteg gelingt, ihre negativen Affekte zu dämpfen, kann auch ihr der ausgedehnte Überblick über die vielen Erfahrungen, Handlungsmöglichkeiten, kreativen Einfälle und sinnstiftenden Einsichten gelingen, die das Selbst anzubieten hat. Weil negative Affekte die Aufmerksamkeit für Einzelheiten intensivieren, erschweren sie den Blick für das Ganze und alle psychischen Funktionen, die ganzheitlich arbeiten.20Das ganzheitliche Selbst wird leichter aktiviert, wenn ich mich in einer ruhigen Stimmung befinde, wenn also negative Affekte gedämpft wurden. Menschen, die gelernt haben, die Ruhe der Meditationzu nutzen, um den inneren Überblick zu erlangen, ohne an irgendwelchen Einzelheiten hängen zu bleiben, wissen das seit Jahrtausenden. Der coole Olaf Mendel beherrscht diese Kunst bestens. Für sein persönliches Wachstum ist es jedoch von entscheidender Bedeutung, dass er den Fehler-Zoom einzuschalten lernt, um die verschiedenfarbigen Strümpfe seiner Mutter zu bemerken. Es kann also wichtig sein, sich mit Absicht in eine negative Affektlage zu begeben. Persönlichkeitsreife bedeutet nicht, nur die positiven Gefühle anzustreben!

Als Fazit können wir festhalten: Persönlichkeitsentwicklung funktioniert umso besser, je besser gerade diejenigen psychischen Systeme zusammenarbeiten, die sich auf den ersten Blick zu bekämpfen scheinen.Und die Zusammenarbeit zwischen zwei solchen Systemen funktioniert am effektivsten, wenn ich zwischen gegensätzlichen Gefühlen hin- und herwechseln kann. Wenn jemand auf eine nüchterne Stimmung festgelegt ist, also Freude und andere positive Gefühle nicht stark zulässt, kann er zwar viele anspruchsvolle Absichten bilden und mag auch hehren Idealen verpflichtet sein, aber sein Verstand kriegt die Intuitive Verhaltenssteuerung selten dazu, seine Absichten auszuführen. Dazu müsste er aus der nüchternen oder gedämpften Stimmung A(+) ab und zu in eine positive Stimmung A+ wechseln können. Wer andererseits nur auf positive Stimmung festgelegt ist – wie das bei sehr extravertierten Menschen sein kann –, muss allen Schwierigkeiten ausweichen und wird zum Experten in Sachen Delegieren. Er gibt alle unangenehmen und anstrengenden Aufgaben an andere weiter, weil er es nicht schafft, den Verstand und das daran gekoppelte Absichtsgedächtnis dauerhaft zu aktivieren.