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Neue Mitbewohner für die WG suchen, vier Hausarbeiten schreiben und im Buchladen der Tante aushelfen – das Leben der ruhigen Studentin Louise wird plötzlich turbulent. Und dann noch diese Neuigkeit: Jerôme, Star der Daily Soap Sturmherzen, kommt für eine Autogrammstunde in die Stadt! Louise ist absolut verschossen in ihn und glaubt fest an eine Seelenverwandtschaft. Leider lassen ihr die beiden neuen Mitbewohnerinnen Sandy und Isabelle kaum noch Zeit für solche Träumereien, denn für sie sind Partys und Männer wichtiger als Louises Hang zu Seifenopern. Schon bald steckt Louise in der Zwickmühle: Einerseits will sie gar nicht feiern gehen, sondern ihre Hausarbeiten beenden und sich für Jerôme aufsparen. Andererseits lassen es die beiden Mädels ziemlich krachen, Louise hat einen spontanen One-Night-Stand und als sie durch Isabelle auch noch Hannes kennenlernt, fahren ihre Gefühle Achterbahn.
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Seitenzahl: 391
Kira Licht
»Wir lieben uns.« Irgendwo im Haus knallte eine Tür zu. Der Wind trug die Geräusche der Straße durch das weit geöffnete Küchenfenster, blähte die Vorhänge und raschelte durch das gestapelte Altpapier. Aus dem undichten Wasserhahn tropfte es so monoton, dass es fast klang wie das Ticken einer Uhr. Zwei strahlende Gesichter sahen mich an und irgendwo drehte jemand das Radio lauter.
»Louise?«
»Ja?«
Meine verbale Rückmeldung war eher ein zittriges Hauchen als entschlossenes Sprechen, doch es war mir egal. Ich hatte ein Recht darauf, fassungslos zu sein.
»Stefan hat dieses Engagement bekommen, in Berlin, weißt du. Das ist eine Riesenchance für ihn. Und ich werde mit ihm gehen.«
»Ach wirklich?«, flüsterte ich in Stefans Richtung. »Das freut mich für dich.«
Stefan lächelte über den Küchentisch zu mir herüber.
»Ich freu mich auch total. Der Job im Callcenter hat mich schon lange genervt. Und es sollte ja sowieso nur ’ne Übergangslösung sein.«
»Und ihr beide … ?«, begann ich ungläubig.
»Ja!«, strahlte Stefan. »Es ist einfach so passiert. Wir wollten es dir eigentlich schon seit Längerem erzählen, aber du weißt ja, wie schnell die Zeit vergeht!«
Mit diesen Worten legte er den Arm um Felix, lehnte sich zu ihm hinüber und küsste ihn zärtlich aufs Ohr.
1. Kapitel
»Weißt du«, sagte ich zu Jerôme, »manchmal habe ich das Gefühl, ich bekomme nicht so viel mit wie andere. Vielleicht fehlt mir da ein Stückchen Gehirn oder so. Glaubst du, irgendjemand anderem außer mir wäre nicht aufgefallen, dass seine beiden Mitbewohner erstens schwul und zweitens plötzlich ein Pärchen sind? Ich wette mit dir: niemandem!« Ich sah in Jerômes braune Augen und schüttelte traurig den Kopf. »Du würdest mir nie so etwas vormachen, das weiß ich.«
Mit diesen Worten stand ich auf und küsste ihn kurz. Das kalte Glas des Monitors berührte meine Lippen und schnell wandte ich mich ab. Bildschirme zu küssen ist nicht so freakig, wie es sich anhören mag. Erstens: Es ist sehr hygienisch, es gibt keine fiesen Bakterien, kein Herpes, keine kratzenden Bartstoppeln. Zweitens: Man kann es machen, sooft man will und egal wann man es will. Drittens: Das betreffende Hintergrundbild sieht immer gleichbleibend gut aus, hinterlässt keine Haare im Waschbecken oder geht lieber Fußball gucken, anstatt mit dir zu kuscheln. Ich warf einen letzten liebevollen Blick auf Jerômes Foto und ging dann in die Küche, um mir einen Tee zu kochen. Was für ein Mann!
Jerôme hieß mit vollem Namen Jerôme Matzcinzky und war Schauspieler. Er war nie auf einer richtigen Schauspielschule gewesen, aber seine Biografie im Internet besagte, dass er ganz viel Privatunterricht bei Leuten mit ziemlich wohlklingenden Namen gehabt hatte. Außerdem hatte er mal in Köln einen Workshop zum Thema »Camera-Acting« besucht und war dort vom Fleck weg engagiert worden. Wahrscheinlich war er einfach schon zu gut für die Schauspielschulen gewesen. Seitdem spielte er bei Sturmherzen – einer Daily Soap um ein Hotel auf Sylt – den Juniorchef Konstantin von Hewordt.
Schon in der ersten Folge war ich ihm mit Haut und Haaren verfallen. Und somit gab es für mich an jedem Werktag einen festen Termin, nämlich dann, wenn im Fernsehen Sturmherzen lief. Glücklicherweise besuchte ich weder einen Sportclub noch hatte ich andere zeitraubende Hobbys oder Aktivitäten auf meinem Wochenplan. Ich studierte leidenschaftlich und mit sehr viel Disziplin. Außerdem hatte ich einen Nebenjob im Buchladen meiner Tante. Ich besuchte regelmäßig meine Eltern und meine leicht verrückte Oma, doch die Abende verbrachte ich mit Jerôme. An den Wochenenden arbeitete ich an Referaten oder bereitete meine Vorlesungsnotizen auf.
Stefan und Felix hatten zwar so manches Mal die Köpfe über mich geschüttelt und mich liebevoll als »Langweiler« bezeichnet, doch das hatte mich nicht wirklich gestört. Mein ruhiges Leben gefiel mir genau so, wie es war. Ich dachte fast stündlich an Jerôme und fühlte mich sicher, denn er würde jeden Abend pünktlich »erscheinen«. So übersah ich komplett, dass mein ganzes Leben nur noch aus der Schwärmerei für den Protagonisten einer Vorabendserie bestand.
*
Als der Tee endlich fertig war, setzte ich mich an den Küchentisch, auf dem immer noch ein leeres Blatt Papier und ein Kuli lagen, und starrte durch das Fenster auf die gegenüberliegende Häuserzeile. So langsam musste ich dringend mal einen Plan machen. Stefan und Felix waren Hals über Kopf ausgezogen, bezahlten die Miete für diesen Monat allerdings noch. Und bis zum nächsten musste ich neue Mitbewohner gefunden haben, wenn ich die Miete nicht komplett alleine zahlen wollte.
Ärgerlich tippte ich mit den Fingern auf der Holzplatte herum. Ich hasste nichts mehr als überflüssige Aufregung. Und dabei hatte ich doch Arbeit genug mit diesen vier Hausarbeiten! Es half nichts, ich würde handeln müssen. Ich nahm meinen Tee, zog um an meinen Rechner und gab Anzeigen bei diversen Studenten- und WG-Portalen auf.
Da ich erst mal keine Lust auf Männer hatte, kreuzte ich an: »nur Frauen«. Das schien allerdings niemand zu lesen, denn innerhalb der nächsten drei Tage bekam ich nur Antworten von männlichen Bewerbern. Weil ich Panik hatte, niemanden für die Zimmer zu finden und am Ende des Monats die komplette Miete selbst berappen zu dürfen, lud ich fünf von ihnen ein. Drei der Typen kamen erst gar nicht. Einer erschien eine Stunde zu früh, als ich gerade Sturmherzen schaute – ein Umstand, der meine Laune nicht unbedingt verbesserte. Und als sich auch noch herausstellte, dass er ziemlich bekifft war, warf ich ihn schnell wieder zur Tür hinaus. Der andere war pünktlich und eigentlich war auch gar nichts an ihm auszusetzen, doch irgendwie sprang der Funke zwischen uns nicht über. Im Gegenteil: Je länger ich mit ihm redete, desto mehr war ich von seiner bloßen Anwesenheit genervt. In der nächsten Woche löschte ich die Zuschriften von männlichen Bewerbern direkt.
Sechs Anfragen waren von Frauen und zwei davon sortierte ich gleich aus. Die eine schrieb, sie sei Studentin, würde aber nebenbei als Tabledancerin arbeiten, und fragte, ob ich damit ein Problem hätte. Die andere klang ganz passabel – bis zu dem Abschnitt, in dem sie erwähnte, dass sie militante Veganerin war und auch nur mit ihren zwei behinderten Katzen einziehen würde. Übrig blieben also eine Sandy, eine Nina, eine Vivien und eine Isabelle, die eigentlich ganz sympathisch klangen.
Nina sagte ihren Besichtigungstermin fünf Minuten vorher ab, weil sie sich für ein anderes Zimmer entschieden hatte. Vivien kam am Mittwoch vorbei, doch sie wollte das Zimmer erst in einem halben Jahr mieten. So erledigte sich auch diese Option, denn ich brauchte so schnell wie möglich neue Mieter. Sandy rief während Viviens Besuch an und hatte noch am nächsten Tag Zeit, also lud ich sie zu einer kleinen Besichtigung ein. Isabelle hatte sich nach der Adresse und meiner Handynummer erkundigt, aber noch keinen festen Termin ausgemacht.
*
Als es um Punkt 12 Uhr klingelte, riss ich neugierig die Wohnungstür auf, während ich den Öffner für die Haustür drückte. Unten im Hausflur hörte ich es rascheln, dann ratterte jemand in einem Affenzahn die Treppe hoch. Ich dachte noch: Meine Güte, die ist aber schnell, da sprang mich schon ein kleiner, drahtiger Hund an, wedelte und hüpfte dann wie ein Flummi auf und ab.
»Huch!«, rief ich erschrocken, als das Tier direkt auf meinen Arm sprang.
Ich konnte es gerade noch auffangen und zum Dank leckte es mir quer übers Gesicht. Iiiihhh! Hundebazillen!! Hatte mal jemand ein Glas Toilettenreiniger zum Gurgeln?
Der Hund sprang von meinem Arm und schoss die halbe Treppe wieder hinunter. Dann endlich erschien eine menschliche Gestalt, dicht gefolgt von dem felligen Flummi mit Sabberzunge.
»Hi! Ich bin Sandy!«, sagte die große Blonde und streckte mir lächelnd eine Hand entgegen. Ihr Händedruck war kräftig, ihr Lächeln echt und sehr sympathisch und um ihre langen Haare beneidete ich sie sofort.
»Freut mich! Ich bin Louise«, sagte ich etwas atemlos, obwohl ich ja nicht einmal die Treppen hochgelaufen war.
»Und das ist Hektor!«, sagte Sandy und zeigte auf den struppigen Hund, der sich soeben auf der Fußmatte niedergelassen hatte.
»Hektor? Wie der Heerführer Trojas im Trojanischen Krieg?«
»Wer?«
»Der Sohn von Priamos und Hekabe.«
»Nie gehört. Ich dachte immer, der Name sei schwedisch, weil er so ähnlich klingt wie der Name eines Sessels, den ich von Ikea habe.«
»Ähm, nein, eigentlich stammt er aus Homers Ilias.«
»Trainierst du für Wer wird Millionär? oder … ?«
»Nein … Ich studiere Geschichte.«
Sandy sah mich kurz an und nickte dann, als würde diese Info so einiges erklären. Ich verstand ihren Blick jedenfalls nicht so ganz.
»Hättest du etwas gegen Hektor?«
»Hm?«
»Meinen Hund? Weil, wenn du sowieso keine Tiere in der WG willst, dann muss ich mir die Wohnung ja gar nicht anschauen.«
Ich sah hinunter zu dem kleinen Hund, der mich mit seinen dunkelbraunen Augen aufmerksam beobachtete.
»Er ist absolut stubenrein, sehr intelligent und sogar ein Wachhund.«
»Wirklich?«, fragte ich mit einem Blick auf Hektors zierliche Gestalt.
»Ja, in ihm steckt der Mut eines Löwen.«
»So wie in Hektor auch«, murmelte ich versonnen.
»Ich rede doch von Hektor!«
»Nein, ich meine Homers Hektor. Er hatte auch den Mut eines Löwen, er führte eine ganze Armee an.«
»Ah ja«, erwiderte Sandy und guckte schon wieder so komisch. »Können wir trotzdem reinkommen?«
»Ach so, klar! Und ich habe auch nichts gegen Tiere. Solange er stubenrein ist und nicht die Teppiche frisst …«
»Das würde er niemals tun.«
»Na dann!« Ich trat mit einer einladenden Geste zur Seite und sofort stürmte Hektor durch bis in den Flur. »Kommt doch rein!«
Ich führte Sandy zuerst ins Bad, während Hektor sich wie an einem unsichtbaren Leitstrahl entlang direkt bis in die Küche schnüffelte. Dort trafen wir wenig später wieder mit ihm zusammen, als er gerade dabei war, seine lange Zunge in den Spalt zwischen Küchenzeile und Laminat zu schieben, um vermutlich nach Krümeln zu suchen. Sandy tat das Ganze mit einem Kopfschütteln ab, ich lächelte etwas überfordert.
Dann zeigte ich ihr beide Zimmer, weil sie recht unterschiedlich waren und Sandy als erste Bewerberin noch die volle Auswahl hatte. Sie tendierte sofort zu dem sehr viel kleineren, das auch keinen Balkon hatte. Es war deshalb deutlich billiger als meines und das andere freie.
»Reichen dir denn zehn Quadratmeter?«, fragte ich. Bei einem Mann hätte ich mir nicht so viele Gedanken gemacht, aber hatten Frauen nicht immer gerne viel Platz?
»Mir gefällt das Zimmer«, erwiderte Sandy. »Und es ist nicht so teuer. Außerdem liegt es direkt an der Wohnungstür und das Badezimmer ist genau gegenüber. Das heißt, wenn ich zum Sport gehe und abends mal spät wiederkomme, störe ich euch kaum, weil eure Zimmer nach hinten raus liegen und dazwischen noch der Flur und die Küche sind. Ich bin ziemlich viel unterwegs«, erklärte sie lächelnd. »Aber ich habe so eine selbst gebaute Uhr. Statt Ziffern steht dort zum Beispiel: »Bin zu Hause«, »Bin beim Sport«, »Bin zur Uni«, »Bitte nicht stören« und so weiter. Die hänge ich dann an meine Zimmertür, so wisst ihr immer Bescheid.«
»Wie praktisch! Du hast erwähnt, dass du Sport studierst – das finde ich bewundernswert! Ich bin total unsportlich.«
»Ja, ich bin über die DLRG zum Sportstudium gekommen. Ich habe schon während der Schulzeit meine Rettungsschwimmer-Abzeichen gemacht und war auch sonst immer sehr sportbegeistert. Und so bot sich das dann irgendwie an. Die Aufnahmeprüfung war zum Glück gar kein Problem für mich und jetzt bin ich total happy damit, hab meinen Nebenjob bei der DLRG und es läuft alles super.«
»Darf ich fragen, warum du aus deiner anderen WG ausziehst? Oder hast du noch zu Hause gewohnt?«
»Ich habe mit meinem Freund zusammengewohnt. Er hat mich mit meiner besten Freundin betrogen, auf einer Party. Ich habe sie in flagranti erwischt.«
»Oh, das tut mir leid«, sagte ich.
Sandys Gesichtsausdruck war plötzlich seltsam starr.
»Schon gut. Jetzt ziehe ich ja einen Schlussstrich. Deshalb brauche ich das Zimmer auch sofort, am besten ab heute. Geht das?«
»Von mir aus geht das klar. Du müsstest dann nur noch zu unserem Vermieter wegen des Vertrags, aber er ist wirklich sehr nett, da wird es keine Probleme geben. Das kannst du auch machen, wenn du deine Sachen hergeholt hast.«
»Wäre es in Ordnung, wenn ich heute schon die ersten Kisten hole? Mein Vater hat mir seinen Kombi geliehen.«
»Nein, kein Problem.«
»Wenn du mir die Bankverbindung gibst, überweise ich auch morgen gleich die Zimmermiete.«
Ich fand ihren Vorschlag sehr gut, denn so könnte ich Felix und Stefan, die beide nur wenig Geld hatten, zumindest einen Teil der Monatsmiete zurücküberweisen. Überhaupt fand ich Sandy total sympathisch. Sie wirkte so aufrichtig und offen und ihre unkomplizierte Art ließ mich sofort Vertrauen zu ihr fassen.
»Die Bankverbindung schreibe ich dir nachher auf, okay?«
»Super, danke dir! Könnte ich Hektor für den Moment hierlassen?«
Ich schaute hinunter zu dem kleinen Hund, der sich in einer Ecke des Flurs zusammengerollt hatte. Er wirkte friedlich und umgänglich; ich hatte nicht das Gefühl, dass er zu einem dreiköpfigen Höllenhund mutieren würde, kaum dass sein Frauchen das Haus verließ.
»Ja sicher«, erwiderte ich also.
»Danke!«
Sandy rauschte zur Tür hinaus. Ich hörte ihre Schritte auf der Treppe, da klingelte mein Handy.
»Hi! Hier ist Isabelle, wir hatten wegen des WG-Zimmers telefoniert.«
»Hi Isabelle!«
»Sag mal, könnte ich die Zimmer heute besichtigen? Ich bin zufällig in der Gegend; es wäre super, wenn es klappen würde.«
»Das eine Zimmer habe ich gerade schon vermietet, es ist also nur noch ein Zimmer frei.«
Für einen kurzen Moment war es still in der Leitung.
»Und welches Zimmer ist nun weg? Das größere oder das kleinere?«, kam es schließlich.
»Das kleinere.«
»Ach, dann ist doch alles gut!«, lachte Isabelle. »Ich bin in einer Viertelstunde da. Bye-bye!«
»Ciao«, sagte ich gerade noch, da klickte es schon in der Leitung.
So sehr ich auch versuchte, mir Isabelle vorzustellen, ich schaffte es nicht.
*
Zehn Minuten später klingelte es. Ich prellte mir das Knie am Küchentisch, als ich aufsprang, und im Flur gab Hektor ein leises Knurren von sich.
»Schon gut, Hektor«, sagte ich im Vorbeihumpeln und drückte dann den Türöffner.
Als ich die Wohnungstür öffnete, knurrte Hektor schon wieder.
»Pscht!«, machte ich und drehte mich tadelnd zu ihm um. Auf der Treppe hörte ich Schritte.
»Hallo!«, trällerte jemand und ich drehte mich wieder zurück.
Das Mädel mir gegenüber hatte meine Größe. Aber auch nur wegen der schwindelerregend hohen geflochtenen Plateausandaletten, wie ich auf den zweiten Blick bemerkte. Sie hatte schulterlange braune Haare und lange Ponyfransen fielen ihr bis auf die Nase. Ihre schlanken Beine steckten in Röhrenjeans, dazu trug sie eine weiße Tunika und ziemlich große Ohrringe. An ihrem Ausschnitt hing eine überdimensional große Sonnenbrille.
»Ich bin Isabelle.«
»Hi, ich bin Louise.«
»Schön, dich kennenzulernen!« Sie umarmte mich stürmisch und ich bekam eine Wolke ihres blumigen Parfüms zu riechen. Hektor sprang begeistert an ihr hoch und sie lachte. »Du hast einen Hund, das ist ja super!«
»Er ist Sandys Hund.«
»Ach, egal!«, lachte sie.
»Sandy ist die, die das kleinere Zimmer gemietet hat«, erklärte ich. »Sie holt gerade ein paar ihrer Sachen aus der alten Wohnung.«
»Ich bin ja so gespannt auf das Zimmer!«, sagte Isabelle und strahlte mich an.
»Komm mit, ich zeige es dir!«, sagte ich lächelnd.
Isabelle war von dem Zimmer sehr angetan. Sie war entzückt von dem kleinen Balkon, der nach hinten auf den Hof hinausging, und auch von dem großen Einbauschrank war sie sichtlich begeistert.
»Tolles Zimmer!«, sagte sie anerkennend. »Ich war gerade noch in zwei anderen Wohnungen, aber das ging so gar nicht …« Sie zog angewidert die Nase kraus.
Ich zeigte ihr noch die anderen Zimmer und sie schien immer noch begeistert. Als ich ihr den nicht gerade günstigen Mietpreis nannte, zuckte sie nicht mit der Wimper.
»Mein Vater zahlt die Miete«, erklärte sie. »Brauchst du eine Anzahlung als Reservierung?«
Bevor ich verneinen konnte, hatte sie ihr ziemlich großes Portemonnaie gezückt und mir zwei nagelneue Hunderter in die Hand gedrückt.
»Das ist nicht nötig«, sagte ich.
»Ich bekomme es von meinem Vater wieder«, meinte sie abwehrend. »Er hat permanent ein schlechtes Gewissen. Seine neue Freundin ist nur zwei Jahre älter als ich. Meine Mutter ist fast ausgeflippt, als sie das gehört hat.«
»Deine Eltern sind getrennt?«
»Genau. Meine Mutter ist Hautärztin, mein Vater Orthopäde. Er leitet eine private orthopädische Klinik. Hat Geld zum Umfallen.«
»Na dann«, erwiderte ich vage.
»Lass uns nicht mehr drüber sprechen!«, sagte Isabelle und strahlte schon wieder.
»Und was studierst du?«
»Modemanagement. Ich habe vorher Design studiert, aber dann haben mir die wenigen BWL-Kurse so gut gefallen, dass ich jetzt gewechselt habe. Und du?«
»Geschichte.«
»Hm. In Geschichte war ich immer schlecht. Im Abi hatte ich eine Vier.«
Ich schmunzelte. Isabelle war wirklich interessant. Mir gefielen ihr Temperament und ihre Begeisterungsfähigkeit. Außerdem fand ich es klasse, dass sie Hektor mochte, und sicherlich würde sie auch gut mit Sandy auskommen.
»Ich hatte im Abi auch nur ’ne Drei. Aber an der Uni ist Geschichte tausendmal interessanter.«
Wir wollten uns gerade in der Küche niederlassen, um noch einen Tee beziehungsweise Kaffee zu trinken, da klingelte es erneut.
»Das wird Sandy sein«, sagte ich. »Das ist ja praktisch, dann lernst du sie gleich mal kennen.«
»Super!«, strahlte Isabelle.
Ich öffnete Sandy die Tür und stellte die beiden einander vor. Sie schienen sich auf Anhieb super zu verstehen. Isabelle bot sofort an, Sandy beim Kistenschleppen zu helfen, doch die lehnte dankend ab, da sie gleich noch eine Fuhre holen wollte. Ich hatte das gute Gefühl, eine ganz brauchbare WG gefunden zu haben.
Isabelle verabschiedete sich und gab uns beiden ihre Handynummer. Da sie die Uni gewechselt hatte und neu in Bochum war, hatte Sandy ihr angeboten, sie partytechnisch ein wenig einzuweisen. Wir verabredeten, dass sie sich wegen des Umzugs telefonisch bei mir melden würde.
Als sie weg war, nickte Sandy zustimmend.
»Ich glaube, sie ist nett.«
»Das glaube ich auch.«
»Etwas überdreht, aber nett.«
Ich lachte.
»Na gut, dafür bin ich nicht so temperamentvoll, so gleicht sich das wieder aus.«
»Stimmt!«
Dann schaute ich auf meine Uhr.
»Ich wollte gleich meine Oma besuchen. Kommst du allein klar?«
»Hättest du vielleicht einen zweiten Schlüssel? Dann könnte ich noch ein paar Sachen holen.«
»Ach, richtig!«
Ich ging in mein Zimmer und holte ihr Stefans Schlüssel. Dann machte ich mich per Bahn auf den Weg zu Oma. Kurz vor meiner Zielhaltestelle klingelte mein Handy. Es war Rebecca.
»Ich bin nur noch am Arbeiten! Ich weiß gar nicht, wie ich das alles schaffen soll«, stöhnte sie.
Rebecca und ich kannten uns seit der Schulzeit. Sie war eine kapriziöse Rothaarige, die in Heidelberg Medizin studierte und auf Männer stand, die mindestens doppelt so alt waren wie sie. Ich weiß nicht, warum sie damals in der Neunten entschieden hatte, dass ausgerechnet ich ihre Freundin werden sollte. Ich weiß nur, dass ich mich geschmeichelt gefühlt hatte. Zu der Zeit machte sie ihre erste Famulatur und glaubte man ihren Ausführungen, dann leitete sie die Kardiologie bereits ganz allein.
»Ich muss alle Anamnesen machen!«
»Machen das die Ärzte nicht immer?«, fragte ich.
»Ja, aber außer mir kriegt das ja wieder keiner hin. Die komischen PJler sind so unfähig!«
»Und was macht man da?«
»Einen Fragebogen durchgehen.«
Aha. Wenn ich das richtig verstand, las sie Fragen vor und schrieb dann die Antworten der Patienten in die entsprechenden Felder.
»Und das ist so kompliziert?«
»Ach Louise, das verstehst du doch nicht!«, erwiderte Rebecca nachsichtig. »Ihr Geschichtler sitzt in euren staubigen Bibliotheken und verbringt den Tag damit, von der Vergangenheit zu träumen. Hier im Krankenhaus, hier tobt das Leben! Hier ist man jede Minute gefragt und muss voll da sein! Entscheidungen treffen! Und das innerhalb von Sekunden!«
Ich fragte mich ernsthaft, was für Aufgaben die Assistenz- und Chefärzte hatten, wenn schon die Famulanten die ganze Verantwortung trugen.
»Wir lesen nicht nur«, sagte ich.
»Ja, du weißt doch, wie ich das meine. Und wie läufts bei dir?« Ihre Stimme klang bereits wieder ungeduldig.
»Gut«, sagte ich deshalb. Das sagte ich meistens, weil sie sowieso am liebsten über sich redete.
»Mein Chef ist so süß«, erwiderte sie prompt. »Und er ist noch total gut in Form. Ich habe ihn mal im Unterhemd gesehen, als er sich ein frisches Oberhemd angezogen hat und ich in sein Büro reingeplatzt bin.« Sie kicherte. »Er hat früher Rugby gespielt und war in England im Internat.«
»Verheiratet?«, fragte ich routiniert, weil ich über ihr Beuteschema natürlich bestens im Bilde war.
»Ja klar«, antwortete sie, und das ohne jeden Skrupel. »Aber schon ewig.«
Sie wusste, was ich von ihrer Einstellung hielt, deshalb brauchte ich dazu nichts zu sagen.
»Wir haben aber nix miteinander.«
Die Bahn ruckelte und an der nächsten Haltestelle musste ich raus. Ich stand auf und lief durch den schaukelnden Waggon bis zur nächsten Tür.
»Aber du würdest wollen, wenn er wollte?«
»Ich weiß nicht. So unter Kollegen, auf derselben Station, was da die Schwestern wieder tratschen …«
Rebecca tat so, als würde sie sich zieren, so wie immer. Doch ich war mir sicher, dass sie ihre Netze bereits ausgeworfen hatte.
»Ich muss wieder rein. Melde dich mal, okay!«, zwitscherte sie.
»Mach ich! Bis dann«, erwiderte ich, doch sie hatte schon aufgelegt.
*
Omas Wohnung war eine Mischung aus Gruselkabinett und Kitschpalast. In jeder Ecke stand ein aufdringlich lächelndes Figürchen, alles passte farblich nicht hundertprozentig zusammen und unter jeder Vase, jedem Konfektschälchen und jedem Kerzenleuchter lag ein selbst gehäkeltes Spitzendeckchen. Trotzdem besuchte ich sie gern, weil sie ein bisschen verrückt, aber auch sehr liebenswert war. Sie war klein und rund und hatte eine ziemlich grelle Haarfarbe. Sie sagte, ihre Haare seien grau; ihr Friseur nannte es »silbergrau«; ich sagte, sie waren lila. Das fand Oma nicht so toll, denn erstens war Lila eine vulgäre Farbe und zweitens deutete es auf Depressionen hin. Beide Weisheiten hatte sie aus einem ihrer Revolverblättchen, die allwöchentlich die pikantesten News aus den Adelshäusern abdruckten.
Eigentlich traute man es Oma so gar nicht zu, dass sie der Kopf einer innerhäuslich agierenden Mineralwasser-Mafia war. Nachdem Opa gestorben war, hatte sich plötzlich das Problem ergeben, dass Oma nicht mehr wusste, wie sie das lebensnotwendige Nass in ihre Wohnung bekommen sollte. Also wurde ich beauftragt, ihr, wann immer sie wollte, Wasser zu liefern. Zuerst hatte ich gedacht, sie trinke einfach sehr viel. Doch irgendwann war es mir komisch vorgekommen. Intensive Recherchen meinerseits hatten schließlich ans Licht gebracht, dass Oma das Mineralwasser innerhalb des Hauses an andere Parteien im Rentenalter zu saftigen Preisen weiterverkauft hatte. Ich hatte daraufhin den Dienst verweigert und Oma musste seitdem einen Getränkehandel bemühen, der auch nach Hause lieferte. Natürlich hatten wir uns deswegen ein bisschen gestritten, uns aber auch relativ schnell wieder vertragen.
Als ich an diesem Tag vor ihrer Tür stand, kam mir von drinnen schon der verlockende Duft frisch gebackenen Kuchens entgegen.
»Diese neuen Tabletten bringen wirklich gar nichts«, sagte Oma, als sie mir öffnete, und schüttelte bekräftigend den Kopf. »Frau Doktor Schöller hat mir eine halbe täglich verordnet. Mittlerweile nehme ich zwei Stück und merke immer noch nichts.«
»Du nimmst einfach die vierfache Dosis?«
»Bringt ja nichts!«, sagte sie und schaute mich an, als sei ich geistig nicht ganz auf der Höhe.
»Und was sind das für Tabletten?«
»Gegen Bluthochdruck.«
Aha. Ich nickte verständnisvoll.
»Na, komm mal her, mein Kind, und sag mir richtig Hallo!« Sie zog mich in ihre Arme und drückte mich. »Geht es dir gut?«
»Mir geht es gut. Und dir?«
»Ach, der Blutdruck …«, erwiderte sie, zog mich in die Küche und riss einen großen Schrank auf.
Oma besaß eine Tablettensammlung, die jedes Provinz-Krankenhaus neidisch machen könnte. Jeden Morgen, jeden Mittag und jeden Abend suchte sie sich eine bunte Mischung kleiner Pillen zusammen, die sie wie eine Handvoll Liebesperlen auf ihrem Platzdeckchen drapierte und dann einnahm – »Immer zum Essen, das ist besser für den Magen«.
»Da«, sagte sie und hielt mir die Tablettenschachtel hin, als könnte ich damit etwas anfangen. »Die sehen doch komisch aus, oder? Schau mal nach, ob die noch gut sind. Irgendetwas stimmt damit nicht.«
Ich drehte die Packung suchend in meinen Händen.
»Hier steht, dass sie noch bis 2015 haltbar sind.«
»Was für ein Quatsch, das erlebe ich doch sowieso nicht mehr.«
»Oma!« – »Hm?« – »So etwas will ich nicht hören.«
Sie machte eine abwehrende Handbewegung und brummte: »Stimmt doch«, allerdings sehr leise. Ich tat, als hätte ich nichts gehört.
»Schluss damit«, lächelte sie dann und hob ein Küchentuch hoch, unter dem ein sehr appetitlich aussehender Marmorkuchen stand. »Jetzt trinken wir erst mal Kaffee und essen ein Stückchen hiervon. Ich habe im Wohnzimmer schon den Tisch gedeckt. Nimmst du bitte die Thermoskanne mit dem Kaffee mit?«
»Klar!«
Ich folgte ihr durch den Flur und vermied bewusst einen Blick ins Schlafzimmer. Oma hatte für sehr viel Wirbel gesorgt, als sie kurz nach Opas Tod bei einem Homeshopping-Sender eine komplett neue Schlafzimmereinrichtung in grellem Pink gekauft hatte. Neben einem Himmelbett mit Spitzengardine war auch die Bettwäsche mit inbegriffen. Meine Mutter hatte fast keine Luft mehr bekommen, als sie bemerkt hatte, dass jede Kante mit einer kitschigen Rüsche gesäumt war.
»Mutter, was soll das?«, hatte sie gekeucht. »Das Zimmer sieht ja schlimmer aus als … Es sieht schlimmer aus als jedes …«
»Lupanar?«, hatte ich souffliert.
»Richtig. Wo auch immer das liegt.«
»Ein Lupanar war ein gewöhnliches Bordell im alten Rom, wobei sich der Begriff von ›Lupa‹, lateinisch für ›Wölfin‹, ableitet.«
»Bist du dir sicher, dass die schon pink lackierte Nachttischchen hatten?«, hatte mein Vater kritisch eingeworfen und einen ziemlich giftigen Blick von meiner Mutter kassiert.
Oma hingegen hatte jegliche Kritik mit einem trotzigen Blick an sich abprallen lassen und stattdessen mit einem heimlichen Lächeln eine imaginäre Falte auf der glänzenden Bettdecke aus Polyester glatt gestrichen.
»Ich fühle mich gar nicht gut«, sagte Oma, während ich noch in Erinnerungen schwelgte, und nahm sich zwei Stückchen Kuchen.
Ich goss ihr Kaffee ein und sie kippte einen halben Liter Sahne hinterher.
»Morgen habe ich endlich den Termin beim Neurologen. Darauf habe ich nur 13 Tage lang gewartet!«
Hierzu musste man wissen, dass Omas Freundeskreis sich in einem ständigen Wettbewerb befand, wer am schnellsten einen Termin bei einem Facharzt bekam. Sie trafen sich einmal in der Woche in ihrem Stamm-Café und bevor sie sich begrüßten, sagte einer: »Drei Wochen für den Nephrologen.«
Und ein anderer: »Termin beim Kardiologen. 16 Tage musste ich warten.«
Und schließlich: »Dermatologe, neun Tage!«
Dann seufzten alle anderen und der Gewinner durfte sich den besten Platz aussuchen.
Oma rührte klappernd in ihrer Kaffeetasse herum und ich strich gedankenverloren über eines der vielen Zierkissen. Opa hatte zeitlebens mit viel Leidenschaft Kaninchen gezüchtet. Dementsprechend groß war wohl auch der Überfluss an Fellen gewesen, denn jedes der vielen selbst genähten Zierkissen auf Omas Sofas hatte auf der Rückseite Kaninchenfell. Manch einer mochte sich da komisch fühlen, für mich war es völlig normal.
»Louise, streichle nicht den toten Hasen, nimm dir Kuchen!«
»Entschuldige.« Ich nahm ebenfalls zwei Stückchen.
»Hat dein Vater nicht bald Geburtstag?«
»Ja, am 16.«
»Gehen wir wieder gemeinsam essen?«
»Das weiß ich noch nicht. Hast du schon mit Mama telefoniert?«
»Mich ruft ja so selten jemand an, wahrscheinlich erfahre ich es wieder als Letzte.«
»Ich sage dir einfach Bescheid, sobald ich Genaueres weiß, okay?«
Oma nickte hoheitsvoll. Schweigsam kauten wir eine Weile unseren Kuchen und ich dachte dabei ein klein wenig an Jerôme. Er würde Oma auch mögen, da war ich mir sicher.
»Wärst du böse, wenn ich dich nach dem Kaffeetrinken wieder nach Hause schicke? Ich möchte noch baden und um 18 Uhr beginnt schon meine Serie.«
Ich dachte sofort daran, dass ich dann Sandy noch beim Umzug helfen konnte, und nickte zustimmend.
»Kein Problem!«
*
Als ich kurz nach 17 Uhr meine Wohnungstür aufschloss, fiel drinnen gerade etwas laut polternd um.
Vorsichtig machte ich einen Schritt nach vorn und sah Hektor, der verdrießlich guckend im Flur lag. Er wedelte kurz, als er mich sah. Dann hörte ich auch schon Sandys erboste Stimme aus ihrem Zimmer.
»Du bist so ein mieser Lügner!«
»Baby, es tut mir leid, okay?«
Wieder fiel etwas um, gerade als ich die Tür hinter mir schloss.
»Verschwinde, ich lege keinen Wert darauf, dass du mir beim Ausräumen hilfst.«
»Aber ich bin doch eh hier, da kann ich doch mit anpacken.«
»Mit anpacken?« Sandys Stimme hatte einen schrillen Tonfall angenommen. »Ja, das kannst du gut, schließlich hast du meine ehemals beste Freundin auch angepackt!«
»Baby, so war das nicht. Ich war betrunken und sie war scharf auf mich. Mir hat es nichts bedeutet!«
»Ach, hör doch mit der Jammerlappen-Nummer auf! Das glaubt dir sowieso niemand.«
»Haben wir uns nicht schon genug gestritten?«
»Nein!«
»Gut, wie du willst!«
»Ach, jetzt bin ich schuld?«, keifte Sandy.
Ich schlich etwas näher. Die Tür war einen Spaltbreit geöffnet. Überall standen Kartons herum, auf einem halb aufgebauten Schreibtisch hing eine Tagesdecke, das Bett war unbezogen und mit Klamotten beladen. Rechts sah ich Sandy, links einen gut aussehenden Typen Marke »Rettungsschwimmer bei Baywatch«: breites Kreuz, rotes Shirt, kräftige Waden, die aus Khaki-Bermudas herausschauten. Dazu trug er etwas ausgelatschte Flip-Flops. Seine lockigen blonden Haare hatte er mit einem elastischen Band am Kopf fixiert.
»Hast du mal überlegt, wie du mir damit wehtust?!«, brüllte der Typ gerade.
»Ich tue dir weh? Habe ich mit deinem besten Freund geschlafen oder war es andersherum?«
»Ich bin dir ja nie gut genug – das Gefühl gibst du mir immer. Ich mache dies falsch, ich mache das falsch. Ich räume meine Socken nicht in den Wäschekorb, ich spiele zu viel Computer, ich mache nie die Zahnpasta zu! So etwas zerrt am Ego!«
»Ach, und da musste dein Ego mal kurz ’ne andere Frau flachlegen?«
Darauf schien der Typ nichts mehr erwidern zu können.
»Verschwinde«, zischte Sandy. »Den Rest hole ich morgen. Sei also zu Hause.«
»Baby, nein …« Er griff nach ihrem Arm.
»Lass mich los«, erwiderte sie und versuchte halbherzig, sich loszureißen.
Aber er zog sie nur noch näher an sich heran. Ich sah, wie Sandy sich wehren wollte, doch dann änderte sich etwas an ihrer Körpersprache. Der Typ drückte sein Becken vor und legte seinen Arm um ihren Rücken. Sie keuchte und sah ihn aus glühenden Augen an. Ich war mir nicht sicher, ob es tatsächlich Wut war.
»Hau ab, du Mistkerl!«, sagte sie und kratzte seinen rechten Arm hinunter.
Seine Knöchel traten weiß hervor, als er sie noch enger an sich presste. Ob sie Hilfe brauchte? Belästigte er sie? Unentschlossen schaute ich von einem zum anderen, immer auf dem Sprung, mich selbstlos dazwischen zu werfen, um die Streithähne zu trennen.
»Mistkerl!«, zischte Sandy erneut. Dann zog sie seinen Kopf zu sich und küsste ihn leidenschaftlich.
Ich kam nicht mehr ganz mit. Er hatte sie betrogen, sie hatte die gemeinsame Wohnung verlassen und nun küsste sie ihn. Ich sah hinab zu Hektor, der so unbeeindruckt guckte, als sei er dieses Schauspiel bereits gewohnt. In diesem Moment stöhnte der Typ und ich schaute zurück ins Zimmer. Sandy hatte ihm sein Shirt ausgezogen und zerrte nun an seiner Hose.
»Du elender Scheißkerl«, knurrte sie, als er nur noch in Shorts dastand.
Mir wurde schlagartig klar, worauf das hinauslief. Eigentlich hätte ich mich dringend verziehen sollen – eine Runde um den Block spazieren und dann mit lautem Gepolter wiederkommen. Doch ich blieb mit klopfendem Herzen stehen und beobachtete die beiden weiter.
Gerade schob der Typ beide Hände unter Sandys Sommerkleid. Sie küsste ihn erneut, während er ihre Pobacken knetete. Dann zog er an etwas und ein Hauch von Nichts, der wohl Sandys Höschen sein sollte, rutschte auf ihre Füße. Sie hob die Arme, er zog ihr das Kleid über den Kopf und öffnete mit gekonntem Griff ihren BH. Der schmale Streifen Schambehaarung war so goldig hell wie die Haare auf ihrem Kopf. Ihre Brüste waren klein und fest, sodass sie eigentlich keinen BH benötigte.
Der Typ zog sie erneut an sich und unter dem dünnen Stoff seiner Shorts zeichnete sich etwas sehr deutlich ab. Ich senkte verschämt den Blick, doch als Sandy ihm die Shorts auszog, sah ich wieder hin. Er war komplett rasiert. Sein bestes Stück stand im rechten Winkel von seinem Unterkörper ab und Sandy griff nicht unbedingt zärtlich danach. Er stöhnte, dann fegte er mit der freien Hand die Klamotten vom Bett und drängte sie an den Rand. Sie ließ sich fallen und spreizte die Beine. Ich stand direkt davor. Natürlich hatte ich mich selbst schon im Spiegel betrachtet, doch bei einer anderen Frau hatte ich diesen Ausblick noch nicht gehabt.
Sandys Ex ließ sich zwischen ihren Beinen nieder und senkte den Kopf. Ich hörte, wie er sie leckte, während er mir seinen nackten Hintern entgegenstreckte. Dann verschwand ich hinter der Tür, weil er sich plötzlich aufrichtete. Plötzlich hörte ich das Bett quietschen. Als ich wieder hinsah, kniete Sandy mit gespreizten Beinen über ihm. Die Spitze seiner Eichel berührte sie und sie kreiste genießerisch darauf. Er stöhnte auf; sein Gesicht war hinter ihrem gebräunten Rücken verschwunden. Dann ließ sie sich tiefer sinken. Ich sah, wie sein Schwanz in ihr verschwand. Nun stöhnten sie beide. Er legte seine Hände auf ihre Hüften, um sie noch enger auf sich zu pressen, doch sie schob sie weg. Dann begann sie sich zu bewegen: zwei Mal halb rein, ein Mal ganz rein und dann wieder von vorn in diesem Rhythmus. Der Typ krallte sich in die unbezogene Matratze.
»Baby …«, flüsterte er.
Sandy behielt ihren Rhythmus bei und legte eine Hand auf ihren Unterleib. Ich sah an ihrem Ellbogen, dass sie die Hand dort bewegte. Die andere hatte sie auf seiner Seite abgestützt. Als sie schneller wurde, begann das Bett zu quietschen. Immer noch beobachtete ich, wie sein Schwanz rhythmisch zwischen ihren Beinen auftauchte. Ich musste mich zwingen wegzuschauen.
Entschlossen zog ich mich von der Tür zurück. Hektor lag in einer Ecke des Flurs und schien zu dösen. Vorsichtig ging ich die zwei Schritte zurück zur Wohnungstür und drückte langsam die Klinke herunter. Das Geräusch des quietschenden Bettgestells drang bis in den Hausflur. Ich zählte im Takt mit, zog beim nächsten Quietschen die Tür zu und lief die Treppe hinunter.
Draußen auf dem Gehweg hielt ich etwas desorientiert an. Was nun? Wieder hatte ich die Bilder vor Augen. Irrte ich mich oder hatte ich gerade einem Pärchen live beim Sex zugeschaut? Etwas in mir kribbelte. Ich dachte an den Schwanz des Typen und wie es ausgesehen hatte, als Sandy sich auf ihn gesetzt hatte. Gleichzeitig schämte ich mich ein wenig. Wäre es nicht angemessen gewesen, so früh wie möglich zu verschwinden? Stattdessen hatte ich die beiden beobachtet wie ein Spanner. Und das Schlimmste war: Obwohl der Typ überhaupt nicht mein Geschmack war, hatte ich mir vorgestellt, wie es wäre, wenn ich auf ihm sitzen würde.
Mit glühenden Wangen stürzte ich in den nächstbesten Supermarkt und irrte ein wenig orientierungslos herum. Als mein Handy mahnend piepste, fiel mir auf, dass ich soeben dabei war, meine allabendliche Folge von Sturmherzen zu verpassen. Na super! In meiner Wohnung vernaschte meine neue Mitbewohnerin ihren Ex, ich hatte ihr dabei zugeschaut und nun schlug ich die Zeit in einem Supermarkt tot und verpasste dabei meine Lieblings-Soap. Missmutig griff ich mir ein paar Puddings aus dem Kühlregal.
Als ich eine halbe Stunde später in die Wohnung zurückkehrte, machte ich schon auf der Treppe Krach wie eine Horde Wildpferde. Sandys Zimmertür stand weit offen, Musik dröhnte aus den Lautsprechern ihres Rechners und sie war wieder vollständig bekleidet. Von dem Typen war nichts zu sehen.
»Hallöli!«, flötete sie und schien außerordentlich guter Laune zu sein.
Bedeutete das nun, dass sie sich mit ihrem Ex versöhnt hatte und ich mir schneller als erwartet wieder eine neue Mitbewohnerin suchen musste?
»Na, alles klar?«, fragte ich deshalb. »Kommst du gut voran? Soll ich dir vielleicht ein bisschen helfen?«
»Nein, nicht nötig. Aber lieb, dass du fragst. Ich bin fast fertig.«
»Fast fertig« erschien mir in Anbetracht des Karton-Hügels in ihrer Zimmermitte etwas übertrieben, doch sie schien definitiv nicht ausziehen zu wollen, und das reichte mir schon als Info. Ich räumte meine Puddings in den Kühlschrank und ließ mich in meinem Zimmer aufs Bett fallen. Sturmherzen war fünf Minuten zuvor zu Ende gegangen und ich hatte nun keine Lust mehr, den Fernseher einzuschalten, nur um wahllos irgendetwas zu schauen. Draußen war es immer noch sehr warm und schwül, obwohl es bereits kurz vor 19 Uhr war.
Wenig später klopfte Sandy an den Türrahmen.
»Isabelle und ich gehen noch auf eine Party – hast du Lust mitzukommen?«
»Nein danke«, sagte ich, ohne zu überlegen.
Ich war kein Mensch für Partys. Zu viele fremde Leute, zu viel Trubel, zu viel Alkohol. Und Männer, die Jerôme sowieso nicht das Wasser reichen konnten, was sie allerdings nicht davon abhielt, einen ungefragt anzugraben. Nein danke! Stattdessen beschloss ich, mich weiter in die Themen meiner Hausarbeiten einzulesen.
»Was machst du denn?«, hakte Sandy nach. »Bist du noch verabredet?«
»Ich werde was für die Uni tun«, erwiderte ich.
»Bei diesem Wetter?«, fragte sie und zeigte Richtung Fenster.
»Ja klar.«
Sandy schaute zuerst ungläubig, dann wandte sie sich zum Gehen.
»Wie du willst«, sagte sie und schüttelte den Kopf.
Wenig später hörte ich sie telefonieren und kichern, dann schaute sie kurz bei mir vorbei, um sich zu verabschieden. Das blaue Kleid, das sie trug, stand ihr ausgezeichnet. Goldene Armreifen baumelten um ihre Handgelenke und passten hervorragend zu ihrer gebräunten Haut.
»Ich gehe jetzt noch eine Runde mit Hektor und dann bin ich weg«, sagte sie.
»In Ordnung.« Ich saß bereits am Schreibtisch und hatte meine Vorlesungsnotizen vor mir ausgebreitet. »Viel Spaß!«
»Danke.« Sie musterte mich und meine Jogginghose kurz, dann verschwand sie.
Als sie später Hektor wieder in die Wohnung ließ, war ich schon sehr gut vorangekommen. Deshalb kam mir auch gar nicht der Gedanke, es schade zu finden, dass meine beiden Mitbewohnerinnen sich vermutlich gut amüsierten, während ich in Schlabberklamotten zu Hause saß.
Irgendwann in den frühen Morgenstunden bekam ich mit, wie jemand die Tür aufschloss. Als ich Sandy kichern hörte, ahnte ich nichts Gutes. Wenig später begann das Bett erneut zu quietschen. Ich presste mir ein Kissen auf die Ohren und schloss energisch die Augen.
2. Kapitel
Tante Gisela könnte man als letzten Hippie der Stadt bezeichnen. Sie war die Schwester meines Vaters und deshalb war auch sofort klar gewesen, dass ich bei ihr arbeiten würde, sollte ich zum Studium nach Bochum ziehen.
»Damit das Geld in der Familie bleibt«, hatte mein Vater damals gesagt und dann über seinen eigenen Witz gekichert.
Gisela trug wallende Röcke und selbst gehäkelte Oberteile, und das ohne jeden Skrupel. Sie hatte längere Zeit auf Ibiza gelebt – damals, als es dort noch keinen Strom gegeben hatte. Ihr Laden war ein als Buchhandlung getarnter Esoterik-Tempel. Öffnete man die Eingangstür, empfing einen der süßliche Geruch von Räucherwerk, es war immer ein wenig zu dunkel, um wirklich lesen zu können, und die Wände zierten bunte Batiktücher. Zwischen den Regalen standen Tische mit Tarotkarten, Mondrhythmus-Taschenkalendern oder Körbchen mit Halbedelsteinen jeglicher Größe. Titel wie Vegan als Esoteriker, Moderner Schamanismus oder Erkenne die Kraft der Steine, die meine Tante gerne als »Top-Titel« auf einem wackligen Sideboard aus Holz mitten im Laden ausstellte, sprachen für sich.
Unwissende Neukunden bremste meist schon die Räucherwolke am Eingang aus, doch der spirituelle Teil der Bevölkerung schien etwas härter im Nehmen zu sein. Ich hatte in der ersten Woche permanent gehustet, danach brannten mir nur noch die Augen ein wenig. Mittlerweile fand ich alles im Laden, allerdings nur, weil ich auch wusste, wo es stand.
An dem Tag trug meine Tante einen bodenlangen gestuften Rock aus gekreppter Baumwolle, dessen Farbverlauf von Orange zu Violett nur deshalb nicht blind machte, weil es im Laden so schummrig war. An einem Lederband um ihren Hals hing ein monströs großer Bergkristall, mit dem sie vermutlich keine zu hastigen Bewegungen machen konnte, da er ihr schon allein durch sein Gewicht ein paar Rippen brechen würde.
»Louiiiiiiiiise«, rief sie, als das Glöckchen an der Tür verriet, dass jemand den Laden betreten hatte. Das sagte sie immer so. Ich hatte versucht, sie zu korrigieren, doch leider ohne Erfolg. Sie blieb an dem »i« hängen wie eine CD mit Sprung.
»Hi Gisi«, antwortete ich, obwohl sie diese Koseform nicht mochte.
Als sie mir zu Beginn unserer Zusammenarbeit hatte klarmachen wollen, dass sie sich im Laden »Giselle« statt »Gisela« nannte, hatte ich mich geweigert und wir hatten uns auf »Gisi« geeinigt. Die Bezeichnung »Tante« sollte ebenfalls tabu sein, doch meist hielt ich mich nicht daran.
»Bodo muss mal!«, sagte Gisi mit der für sie typischen Dramatik.
Ich wollte spontan wieder umdrehen und nach Hause verschwinden. Bodo war Tante Gisis Hund. Und er war nicht irgendein Hund, sondern ein riesengroßer Boxer mit senfgelbem Fell, dem Gemüt eines Kälbchens und dem Aussehen eines Höllenhunds. Seine Markenzeichen waren sein Dickkopf und die langen Sabberfäden, die ihm den ganzen Tag über von seinen Lefzen hingen. Bodo war Tante Gisi zugelaufen – so erzählte sie es zumindest ihren sensiblen Kunden, die meist ein wenig irritiert auf seine martialische Präsenz reagierten. In Wahrheit war er das Einzige, was einer ihrer verflossenen Liebhaber zurückgelassen hatte, nachdem er mit ihrem Ersparten und einem Großteil der Möbel aus ihrer Wohnung verschwunden war.
»Sternchen, die Leine hängt an der Tür. Und bring uns doch ein paar Kastaniencreme-Kekse mit!« Tante Gisi schwebte heran und drückte mir einen Zehneuroschein in die Hand. »Na los, Sternchen, Bodo wartet nicht gern.«
»Sternchen« war mein Spitzname, da Gisi darauf bestanden hatte, mir ebenfalls ein Kosewort anzuhängen, nachdem ich mich bei »Giselle« so hartnäckig geweigert hatte. Hätte ich vorher gewusst, worauf ich mich in Sachen »Hundebetreuung« eingelassen hatte, wären wir vermutlich gar nicht erst bis zu dem Problem der Spitznamen gekommen.
»Bodolein«, flötete Gisi.
Als Antwort erklang ein Schmatzen und dann bebte der Boden ein bisschen, als Bodo gemächlichen Schrittes auf uns zutrottete.
»Ja schau mal, wer da ist!«
Bodo guckte kurz hoch zu mir, seine kupierte Rute wedelte ein Mal, ich nickte ihm zu, und das war es schon mit der Begrüßung. Wir waren beide nicht die Temperamentvollsten – ganz im Gegensatz zu Gisi, die uns schwungvoll zur Tür hinausschob. Ich schaffte es gerade noch, die Hundeleine mitzunehmen.
Draußen auf dem Gehweg seufzte ich und Bodo schnaufte zustimmend. Dann schob ich den Zehner in meine Hosentasche.
»Auf gehts«, murmelte ich und legte dem Hund die Leine an.
Zum Bäcker würde ich erst am Ende der Runde kommen, da nicht ich mit Bodo spazieren ging, sondern er mit mir. Wie zur Bestätigung hängte er sich in die Leine und los ging es. Ich ließ mich von ihm ziehen, denn ich wusste sowieso, wohin er wollte.
Bodo liebte Enten. Nicht im Hundefutter und auch nicht als Spielzeug, sondern als Objekt stiller Bewunderung. So sah es zumindest aus, wenn er in gebührendem Abstand und mit andächtigem Blick wie zu einer Statue erstarrt dem quakenden Federvieh beim Putzen und Baden zuschaute. Schon so manch misstrauischer Spaziergänger hatte sich zu einer spitzen Bemerkung hinreißen lassen, besorgt um das Wohl der Enten in Anbetracht von Bodos muskulösem Körper und seinem starren Blick, den Unwissende leicht als »lauernd« einstuften. Doch Bodo hätte den Enten nie etwas getan, geschweige denn Jagd auf sie gemacht.
Einmal hatte ein offensichtlich toter Enterich am Seerand gelegen. Bodo hatte ihn eine ganze Weile beobachtet und mich dann entschlossen hinter sich hergezogen, hinab zum Seeufer, dicht heran an den verdrehten, leblosen Körper. Er hatte ihn angesehen und dann mit seinen kleinen, blutunterlaufenen Augen zu mir hochgeschaut.
»Tut mir leid«, hatte ich geflüstert, weil er so niedergeschlagen geguckt hatte. Die darauffolgenden zwei Tage hatte Bodo kaum etwas gefressen.
Als wir an dem Tag im Stadtpark ankamen, waren zum Glück alle Enten munter und wohlauf. Bodo zerrte mich auf seinen gewohnten Beobachtungsposten. Die Enten nahmen von ihm Notiz, ohne beunruhigt zu wirken. Ich stand wie üblich neben ihm und langweilte mich. Nachdem er genug hatte, drehte er sich um und zog mich zurück auf den Kiesweg, um seine Runde fortzusetzen.
Als wir den Park verließen, wirkte Bodo so zufrieden, dass ich es wagte, die Führung zu übernehmen. Vor dem Bioladen war bereits ein Vertreter seiner Art angebunden, allerdings eine Miniausgabe. Der kleine Pekinese musterte Bodo mit einem herablassenden Blick, dann zeigte er drohend seine gelbbraunen Stummelzähne. Bodo wich pikiert zurück und guckte so beleidigt, wie es eben nur ging.
»Ich bin doch gleich wieder da!«, sagte ich und tätschelte seinen großen Kopf.
Bodo schielte auf den wilden Pekinesen und drückte sich an mein Knie.
»Er tut dir nichts. Schau nur, wie klein er ist!«
Bodo schnaufte missbilligend und der Fellball spielte sich immer noch so albern auf.
»So, jetzt ist es aber mal gut!«, sagte ich streng.
Der Pekinese sah erschrocken zu mir hoch, seine übergroßen Augen quollen noch ein Stückchen aus dem Kopf hervor und er machte brav Platz.
»So ist es fein«, lobte ich, band den widerstrebenden Bodo neben ihm an und betrachtete dann das ungleiche Duo. »Schön lieb sein!«, sagte ich zu den beiden.
Als die Lage stabil schien, betrat ich den Laden. So ein Bioladen war ja ein Mikrokosmos für sich. Da trafen Hardcore-Ökos mit schicken Jungmüttern zusammen, nur da gab es Obst, das seltsam verbeult, aber dafür drei Mal so teuer wie auf dem Markt war, und wer in der Backecke Waren aus weißem Mehl verlangte, hätte auch ebenso gut Hamster verschlucken und sich offen zum Satanismus bekennen können. Über den Kosmetikregalen hingen unsichtbare Schilder mit Slogans wie »Umverpackung ist teuflisch« oder »Nur weil es Kosmetik ist, muss es noch lange nicht hübsch aussehen«. Das Regal mit den Brotaufstrichen war so groß wie andernorts das mit den Dosensuppen und es wurde alles püriert und kombiniert, was die ökologische Landwirtschaft so hergab. Die Sorte »Aubergine-Walnuss-Avocado« führte meiner Meinung nach die Hitparade an, dicht gefolgt von »Bärlauch-Karotte-Dinkel« und »Cranberry-Sanddorn-Fenchel«. In den Kühlregalen standen Joghurts aus Ziegenmilch, die vom Preis her problemlos mit Gold aufgewogen werden konnten, und wer an der Kasse nach einer Tüte fragte, bekam stattdessen einen »Das nächste Mal hast du Hausverbot«-Blick, der einen sofort zum Schweigen brachte.
Ich lief direkt durch bis zum Backeck, um Gisi die Kekse zu besorgen. Dort war es zum Glück leer, sodass ich sofort drankam. Ich steckte das Wechselgeld in meine Hosentasche und eilte zurück nach draußen. Irgendwie traute ich diesem kleinen Randalierer am Fahrradständer nicht so ganz. Und richtig: Er hatte Bodo in die äußerste Ecke gedrängt und sich dann so platziert, dass Bodos Leine permanent auf Spannung war und er sich kaum rühren konnte. Ich löste die Leine vom Halsband, damit er wieder mehr Luft bekam. Bodo schnaufte erleichtert und der Pekinese blinzelte unschuldig, als ich ihn böse ansah.
Kaum hatte ich Bodo wieder angeleint, begann er zu ziehen wie ein Wilder. Ich stolperte hinter ihm her, bis wir endlich wieder vor der Ladentür angekommen waren.
»Na, habt ihr euch gut amüsiert, ihr zwei Hübschen?«, flötete Gisi.
»Total!«, erwiderte ich atemlos und gab ihr die Kekse und das Wechselgeld. Bodo verschwand in seiner Ecke.
»Was hat er denn?«
»Ein Pekinese hat ihn geärgert.«
»Ach herrje. Und dabei ist er so sensibel.«
»Das Vieh war aber auch frech!«
»Ja, ja, die Kleinen«, murmelte Gisi und schob sich einen Kastaniencreme-Keks in den Mund. »Das sind die Schlimmsten.«
Ich nickte mitfühlend.
*
Am Nachmittag begann Tante Gisi plötzlich, hektisch in ihrem Terminkalender zu blättern.