One Night Wonder - Kira Licht - E-Book

One Night Wonder E-Book

Kira Licht

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Beschreibung

Die Studentin Lilly ist unzufrieden mit ihrem Freund Mark, der auch im Bett nur noch an sich denkt. Sie macht Schluss und weiß ganz genau: Einen festen Freund möchte sie erst mal nicht. Viel zu gut gefällt ihr die neu gewonnene Freiheit. Sie nimmt sich vor, niemals öfter als ein Mal mit demselben zu schlafen und das Leben in vollen Zügen zu genießen. Um feste Beziehungen macht sie einen großen Bogen. Leider verläuft das Leben selten nach Plan, und zwei Männer verdrehen ihr bald ganz schön den Kopf: Da ist der coole Drummer Lukas, der immer mal wieder bei ihr Station macht, aber auch mit dem etwas arroganten Studenten David knistert es ganz heftig. Aber so leicht lässt sich Lilly nicht wieder einfangen.

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Seitenzahl: 343

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Kira Licht

One Night Wonder

Roman

INHALT

1. Kapitel

Irgendwann ist auch ein Traum zu lange her

»Jede richtige Entscheidung ist auch ein bisschen falsch, und jede falsche Entscheidung ist auch ein bisschen richtig!«

Was soll ich darauf erwidern? »Wo hast du das denn her? Weisheiten für den Tag per SMS?«

Jule neben mir grinst von einem Ohr zum anderen: »Nein, meine ganz eigene Theorie.«

Seit dem von Papi gesponserten professionellen Bleaching haben ihre Zähne einen bläulich phosphoreszierenden Schimmer, fast wie Mondstein. Doch sie kann nichts entstellen.

Jule, die eigentlich Julia heißt, und ich kennen uns schon seit dem Gymnasium. Ich war damals mit meinen Eltern aus Gummersbach ins schicke Düsseldorf gezogen, stand auf dem Pausenhof und wurde gehänselt wegen meiner »komischen Hose«, wie meine Mitschüler aus der fünften Klasse sich damals ungnädig ausdrückten. Fakt war, ich hatte mich in einem vorangegangenen Amerikaurlaub in das Teil verliebt und fand es nicht nur cool, sondern auch ziemlich gangstermäßig. Sie war mehr als baggy, dunkelblau und hatte eine gestickte Blümchenranke um den Bund.

»Ich mag deine Hose«, piepste Jule, damals noch einen Kopf kleiner als ich und mit überdimensionaler Zahnspange. Seit diesem Tag sind wir Freundinnen, und ich will mir gar nicht vorstellen, dass es irgendwann anders sein könnte. Trotzdem blinzle ich gerade leicht geblendet.

»Was ist?«

»Deine Strahlezähnchen …«

»Sie leuchten im Dunkeln.« Jule macht ein todernstes Gesicht, und dann muss ich doch lächeln.

»Ah, sie kann ja doch freundlich gucken!«

»Tss …«

»Na komm!« Jule legt einen Arm um mich und zieht mich an sich. Ich lehne mich an ihre schmale Schulter und bin in diesem Moment mal wieder endlos froh, dass sie meine beste Freundin ist.

»Was meintest du jetzt eigentlich mit deinem weisen Spruch?«, frage ich leise.

Jule streichelt über meine Haare. »Na ja, dass es ganz normal ist, wenn man manchmal zweifelt.«

»Ich zweifle gar nicht. Es war richtig, Schluss zu machen.«

»Ja, aber du warst drei Jahre mit Mark zusammen, so was schüttelt man doch nicht so einfach ab.«

»Ich hatte jetzt fast eineinhalb Jahre Zeit dazu, das ist es nicht.«

»Was ist es dann?«

»Ich weiß nicht genau. Und er hat immer noch Sachen bei mir, das nervt mich.«

»Schick ihm doch eine E-Mail oder schreib ihm über MySpace, dass er sein Zeug abholen soll.«

»Habe ich alles schon.«

»Dann will er vielleicht seinen Kram gar nicht wiederhaben.«

»Wenn er sich diese Woche nicht endlich meldet, bekommt er das ganze Zeug per Post, und dann war es das für mich.«

Jule seufzt zustimmend. »Gute Idee.«

Um uns herum werden die Kommilitonen plötzlich auffallend still. Aha, die Dozentin ist eingetroffen. Ich verbiege meinen Rücken, der bereits wieder schmerzt, und ziehe ein entsprechendes Gesicht dazu. An diese komischen Klappstühle in den Hörsälen habe ich mich auch nach dem dritten Semester noch nicht gewöhnt. Kein Mensch kann darauf wirklich bequem sitzen, aber das ist wohl auch nicht beabsichtigt. Jule bringt meinen leidenden Gesichtsausdruck mit Mark in Verbindung.

»Er meldet sich bestimmt diese Woche.«

»Na klar. Und Wale können fliegen«, ächze ich, krame meine Unterlagen hervor und klappe das ziemlich mitgenommene Holzpult herunter. Mit Edding ist groß darauf geschrieben: »Prof.: An« und darunter »Prof.: Aus«. Daneben sind jeweils zwei große Buttons gemalt. Auf was für Ideen manche Leute kommen!

Dann geht es los. Die Vorlesung trägt den schönen Titel »Architekturgeschichte«, und wir haben vor zwei Wochen mit den Bauwerken der frühchristlichen Epoche begonnen. Jede Stunde versinken wir in den Grundrissen mehrschiffiger Basiliken oder anderer Sakralbauten. Jule und ich sind völlig fasziniert davon und haben uns mit kindlicher Begeisterung für die Fachtermini kleine Vokabelheftchen angelegt.

»Atrium mit Narthex oder nur Narthex?«, raunt Jule mir gerade zu. Ich betrachte den an die Leinwand geworfenen Grundriss.

»Beides, glaube ich«, flüstere ich zurück.

Als könne die Dozentin Gedanken lesen, erläutert sie, dass es sich hierbei um ein Atrium mit Umgang und anschließendem Narthex handelt. Wir schreiben beide eifrig mit.

Jule und ich haben während der gesamten Oberstufe überlegt, was wir werden sollten. Für mich war eine Kombination von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften am wichtigsten. Auf keinen Fall wollte ich etwas studieren, das ohne eindeutige Berufsbezeichnung abschließt. Jule ist eher der Schöngeist von uns beiden und hat zunächst zur Kunstgeschichte tendiert. Aber als sie bei einer Studienberatung erfuhr, dass die Architektur einen Großteil der Kunstgeschichte ausmacht, hat sie sich mir kurzerhand angeschlossen. Man kann sich vorstellen, dass unsere Eltern zunächst skeptisch waren. Beste Freundinnen, die dasselbe studieren ... ob dabei etwas Vernünftiges herauskommt? Doch mittlerweile haben die skeptischen Fragen aufgehört. Als zukünftige Architektinnen schlagen wir uns ganz erfolgreich durch den Universitätsdschungel. Auch wenn wir vermutlich nebeneinander ein wenig seltsam erscheinen: Jule wirkt wie ein wohlgeratenes Mädchen aus gutem Düsseldorfer Hause, was sie auch ist. Ich trage nur Schwarz und leuchtend magentarote Haare, habe also einen leicht exzentrischen Touch. Doch diese Äußerlichkeiten ändern nichts an unserer Zuneigung, die meisten hier wissen ja gar nicht, dass Jule auch mal eine Schwarz-Phase hatte. Sie trug damals sogar rosafarbene Haare! Mittlerweile ist sie aber auf den Pfad der Tugend zurückgekehrt.

Das Ende der Vorlesung bedeutet auch das Ende des Uni-Tages. Für heute haben wir frei. Beim Verlassen des Hörsaals drückt Jule noch mal aufmunternd meinen Arm.

»Wenn dir danach ist, ruf ihn an. Ansonsten verstaue das Zeug einfach im Keller.«

Ich nicke dankbar.

»Wir sehen uns morgen, Süße.« Sie küsst mich herzhaft auf die Wange, dann verschwindet sie Richtung Parkplätze. Eigentlich könnte Madame auch nach Hause laufen oder eine Station mit der Straßenbahn fahren, so nah ist das elterliche Haus an der Uni, aber Jule reist rigoros mit ihrem kleinen Flitzer an. Wenn man sie damit aufzieht, wird sie zickig. Sie sagt, sie hat eine Allergie gegen öffentliche Verkehrsmittel. Was sie allerdings davon abhält, die zehn Minuten zu laufen, hat sich mir bei dieser These noch nicht erschlossen.

Ich selbst besitze eine eigene Wohnung in einem kleinen Ort zwischen Düsseldorf und Köln, da mich die innerstädtischen Mieten entweder in ein abstellkammergroßes Apartment oder in den finanziellen Ruin getrieben hätten. Ich bekomme Geld von meinen Eltern, und sie bezahlen auch die Versicherung für mein altes Auto, das ich von Oma und Opa zum Bestehen des Führerscheins geschenkt bekommen habe. Und zwei- oder dreimal in der Woche arbeite ich als Aushilfe in einer Modeboutique. Zusammen reicht das Geld für die anfallenden Kosten und ein wenig Schnickschnack, ohne den Frauen nicht leben können, auch wenn dann am Ende des Monats meist nichts übrig ist.

Ich erspare mir den Nervenkrieg, an der Düsseldorfer Universität einen Parkplatz zu suchen, und fahre lieber mit meinem Studi-Ticket eine halbe Stunde Zug. Die Reise nach Hause verläuft ereignislos, in Gedanken bin ich immer noch bei den Grundrissen von St. Peter. Von der Haltestelle des Regionalexpresses aus muss ich nur noch zwei Straßen überqueren, und schon bin ich zu Hause. Das Sieben-Parteien-Haus liegt in einer Einbahnstraße, die zusätzlich noch verkehrsberuhigt ist. Hier spielen Kinder auf der Fahrbahn, Spielzeug liegt in den Vorgärten, und die Gehwege sind mit bunter Kreide bemalt. Ich mag Kinder, deswegen macht es mir auch nichts aus, dass von morgens bis abends gelacht, gekreischt und lautstark gespielt wird.

Mein eigenes Reich besteht aus gut geschnittenen zweieinhalb Zimmern mit Balkon auf circa fünfzig Quadratmetern Wohnfläche. Ich habe soeben die Tür aufgeschlossen, da vibriert mein Handy. Sofort denke ich an Mark. Doch er ist es nicht. Das Display signalisiert »Trudi Handy«.

»Hallo, Trudi!«, zwitschere ich und lasse meine schwere Tasche vom Arm auf den Fußboden aus hellem Laminat gleiten.

»Lilly!« Trudi hört sich immer abgehetzt an, egal, ob sie Dauerlauf macht oder gerade entspannt aus der Sauna kommt. »Sag mal, hast du die Aufgaben für morgen schon gemacht?«

»Du meinst Bauphysik?«

»Ja!« Jetzt klingt Trudi noch gehetzter.

»Nö, wollte ich gleich.«

»Oh okay, so ein Mist. Ich hab den Zettel verloren!«

»Den mit den Aufgaben?«

»Ja!« Mittlerweile überschlägt sich ihre Stimme.

Ich überlege kurz. »Ich kann sie dir abschreiben und per Mail schicken.«

»Oh, das wäre super!«

»Kein Problem.«

»Danke!«

Ich lege kopfschüttelnd das Handy auf einen kleinen Beistelltisch im Flur und ziehe mir Jacke und Schuhe aus. Trudi heißt mit vollständigem Namen Gertrud, was sie nicht nur als Strafe, sondern auch als persönliche Beleidigung empfindet. So hieß die Großmutter ihres Vaters, die dieser wohl sehr verehrt haben muss. Anders konnte sich bis jetzt noch niemand erklären, warum man einem Neugeborenen im 20. Jahrhundert so einen Namen verpassen sollte. Bei uns heißt sie aber nur Trudi, seit sie sich in der ersten Oktoberwoche vor zwei Jahren bei Jule und mir so vorgestellt hat. Sie ist zwar etwas verpeilt und ziemlich hektisch, aber dafür schrecklich schlau und ein super Kumpel.

Doch jetzt brauche ich erst mal einen Kaffee. An der Uni hat man die Wahl zwischen trübem Automatengebräu und dem Frischgekochten aus der Cafeteria, der einem ziemliches Herzrasen beschert. Mit einem großen Becher frisch zubereiteten Cappuccinos spaziere ich ins Wohnzimmer.

Ich bin nicht besonders ausgesucht eingerichtet, bei mir regiert die Gemütlichkeit. Die große Couch ist voller bunter Kissen, die meisten Möbel sind secondhand oder Schätze vom Sperrmüll. Lampen, Spiegel und Geschirr stammen von Flohmärkten. Ich mag Gebrauchsgegenstände mit Geschichte. Und ich liebe meine Bücher! Leute halten mich für einen Freak, weil ich Theaterstücke lese. Ich lese natürlich auch normale Sachen, aber Theaterstücke sind für mich etwas Besonderes. Und schaut man sich dann eine Inszenierung an, ist es um ein Vielfaches interessanter, als wenn man sich einfach nur vom Bühnenbild und den Schauspielern einwickeln lässt. Zuletzt habe ich die gesammelten Werke von Sarah Kane gelesen. Das schmale, ganz in Orange und Rot gehaltene Buch macht einen eher harmlosen Eindruck, ganz im Unterschied zu seinem Inhalt. Ich hatte schon von ihr gehört, aber die Brutalität in ihrem ganzen hässlichen Ausmaß schockierte mich dann doch. Trotzdem konnte ich nicht aufhören zu lesen. Dass sie sich 1999 erhängt hat, nachdem sie vorher mit Preisen überhäuft worden war, lässt mich vermuten, dass vieles, was sie so radikal verarbeitet hat, tatsächlich ihr Blick auf die Welt war. Und das macht eher traurig.

Mein Blick fällt auf die Konzertkarte auf meiner Schreibtischunterlage. Sofort bekomme ich Herzklopfen. Vor Vorfreude, aber auch aus Angst. Ich weiß noch nicht, ob ich das packe. Konzerte sind eine wahre Herausforderung für mich, denn ich habe ein bisschen Platzangst. Aber ich muss da hin! Die Jungs sind Newcomer und ein Geheimtipp. Und ihr Drummer ist zum Sterben schön. Auf den wenigen Fotos, die im Internet kursieren, hat er den ultimativen Schlafzimmerblick, und ich finde ihn ziemlich heiß. Entdeckt habe ich ihn und die Band eher durch Zufall. Ich hatte mich »versurft«. So nenne ich es, wenn ich im Internet etwas suche, was ich natürlich nicht finde, dafür aber tausend Dinge entdecke, von denen ich gar nicht wusste, dass es sie gibt. So auch diese Jungs. Sie haben sich bereits ganz erfolgreich durch diverse Uni-Clubs gespielt und äußerst wohlwollende Kritiken erhalten und demnächst spielen sie auch hier in der Stadt. Die Musik finde ich ganz gut, aber das Geld für die Karte habe ich ausgegeben, um den Schlagzeuger zu sehen. Und vielleicht abzuschleppen.

Das mache ich jetzt schon seit einem halben Jahr so. Das Wort »abschleppen« mag ich eigentlich nicht, es klingt so abwertend. Es ist nicht so, dass ich seit Mark alle Männer hassen würde. Oder sie für Marks Fehler büßen ließe. Die Wahrheit ist viel egoistischer: Ich bin jetzt seit eineinhalb Jahren Single. Klar, lerne ich Männer kennen. Viele sind nett, viele sind süß und die meisten gar nicht so übel. Ich bin neugierig, ich möchte Spaß haben. Und ich möchte mich nicht festlegen. Ja, einerseits bin ich rastlos und anderseits unsicher. Etwas in mir sorgt dafür, dass keiner der Männer ein Hoheitsgebiet betritt, von dem ich gar nicht wusste, dass es existiert. Ich lasse sie neben mir laufen, doch kommt die nächste Kurve, habe ich sie schon vergessen.

*

Mark war mein erster fester Freund, und wir waren fast drei Jahre zusammen. Leider haben wir uns »auseinanderentwickelt«, diplomatisch ausgedrückt. Die Wahrheit ist, Mark hat erst sich und dann unsere Beziehung aufgegeben. Das trifft es wohl am besten. Wenn er wüsste, was ich zurzeit so treibe, würde er vermutlich samt Gitarre fassungslos von seinem Lieblingssessel kippen. Denn ich habe seit Mark mit so einigen Männern geschlafen.

Ein Jahr nach der Trennung hatte ich zum ersten Mal wieder Lust auf einen Mann und musste mir eingestehen, dass ich nur wenig Plan hatte, wie man an einen herankommt. Vor allem wenn man nur das Eine will. Also nur einen attraktiven nackten Körper, der danach wieder nach Hause geht, und keine neue Beziehung. Ich wusste nicht, wie man das seinem Gegenüber klarmachen sollte.

Meine ersten Versuche sind so katastrophal verlaufen, dass ich mich bemühe, sie zu verdrängen. Stottern ist ja nun wirklich nicht sexy. Mein »Opfer« war da wohl der gleichen Meinung. Extreme Körperbehaarung allerdings auch nicht. Was zu dem Fazit führt, dass man Männern zwar ins Gesicht sehen kann, selten aber in die buschig behaarten Achselhöhlen, die sich mit einem Langarmshirt gut verstecken lassen. Ich finde das weder exotisch noch retro, sondern einfach nur eklig. Und wer jemals behauptet hat, Sex im Auto wäre kein Problem, hat noch nie in einem Mini gehangen. Mit verknoteter Strumpfhose um die Beine und einem schwitzenden Musikstudenten, der noch in Oberhemd und Pullunder steckt, auf einem drauf! Na ja, man lernt dazu. Ich jedenfalls. Wenn man aber so tut, als wäre das Ansprechen das Normalste der Welt, hat es schon den größten Teil seines Schreckens verloren. Stimmt die Chemie, könnte man auch Aktienkurse zitieren.

Ich schlafe mit den Jungs, mehr aber nicht. Keine Telefonnummern, kein zweites Mal, das ist der Plan. Hinterher muss ich Jule immer Bericht erstatten. Am Anfang fand sie es sehr beunruhigend und hielt mein Vorgehen für eine verrückte Idee, um von Mark loszukommen. Ich habe ihr erklärt, dass ich kein Mark-Trauma habe, sondern mich einfach nur langweile, aber keine neue Beziehung will. Und dass ich auch kein Beziehungstrauma habe, sondern eher das Gefühl, mich nicht wieder direkt auf jemanden so intensiv einlassen zu können. Ich lasse mich treiben, weil ich es nicht eilig habe. Und ich halte erst mal an meinem Plan fest, auch wenn das heißt, dass lediglich die Couch mit mir kuschelt.

Ich glaube, Jule findet es immer noch komisch, aber sie hat wenigstens aufgegeben, es mir ausreden zu wollen. Sie macht sich viel zu viele Sorgen. »Was ist denn, wenn dich jemand entführt oder in seinem Keller einsperrt oder dich sogar umbringt?«, gibt sie zu bedenken. Als würde die ganze Welt nur aus Meuchelmördern bestehen, wenn man als Frau alleine unterwegs ist.

*

Gedankenverloren schiebe ich die Konzertkarte auf dem Schreibtisch hin und her. Lukas heißt er, der Drummer. Im Internet gibt es ein einziges Video von der Band – in schrecklicher Live-Qualität.

Ich habe mit zusammengekniffenen Augen vor dem PC-Bildschirm geklebt und versucht, ihn in all dem Pixelsalat herauszufinden. Es war nicht wirklich zufriedenstellend. Zum Glück sind die Fotos von ihnen etwas besser. Eins davon habe ich als Hintergrundbild auf meinem PC gespeichert. Zuerst war ich mir selber peinlich und habe es wieder gelöscht, doch dann habe ich mir gedacht: Warum denn nicht? Seitdem schmückt der Drummer meinen Bildschirm. Er sieht einfach nur gut aus. Ob er überhaupt mit mir reden wird? Entschlossen schiebe ich die Karte unter meinen Timer.

Es wird Zeit für etwas mehr Produktivität! Zu viel an diesen Lukas zu denken ist sowieso nicht gut. Wenn es nicht klappt, bin ich bodenlos enttäuscht. In dem Papierstapel zu meiner Linken suche ich nach dem Zettel mit den Physik-Hausaufgaben. Wie versprochen, schicke ich Trudi die Aufgaben, dann rutsche ich ein wenig unschlüssig auf meinem Schreibtischstuhl herum.

An meinem Fenster wirbeln bunte Blätter vorbei, was mich auf eine fabelhafte Idee bringt: Ich sollte spazieren gehen! Dabei kann man wunderbar seine Gedanken sortieren, und außerdem tut frische Luft ja bekanntlich generell gut. Also, schnell den Parka und die Docs an und raus. Nicht weit weg von meiner Wohnung gibt es einen kleinen Park, der von der Stadtverwaltung anscheinend vergessen worden ist. Das Gras steht gut einen halben Meter hoch, die alten Bäume mit ihren verwitterten Rinden biegen sich unter dem Laub ihrer Herbstblätter, und die ehemals dunkelroten Aschenwege sind kaum noch als solche zu erkennen. Kinder haben Laub gesammelt und zu hohen Bergen aufgetürmt, in die sie nun hineinspringen.

Meine Füße gehen durch ein buntes Potpourri aus Blättern, Matsch und Abfall. Wer noch weiß, wo sich die Wege befinden, ist klar im Vorteil. Grade als ich auf halber Strecke angekommen bin, fängt es an zu regnen. Das scheint übrigens ein Wettergesetz zu sein: Immer wenn es anfängt zu regnen, ist man gerade am weitesten vom trockenen Heim entfernt. Zum Glück bin ich nicht aus Zucker.

Ich will endlich mit dem Thema Mark abschließen! Von seiner Seite ist sowieso keine Reaktion zu erwarten. Ich werde ihm noch ein letztes Mal simsen und ihm dann seinen Kram kommentarlos zuschicken. Immer mal wieder hatte ich versucht zu rekapitulieren, was in unserer Beziehung eigentlich passiert war, kam aber stets zu demselben Schluss: gar nichts. Rein gar nichts. Na ja, eigentlich war nur mit ihm gar nichts passiert. Seit dem Abitur hatte er sich in einen Kokon der Stagnation verpuppt, an dessen undurchdringlicher Schale ich kontinuierlich abprallte.

Sechs Wochen lang hatte er es an der Uni ausgehalten. Dann wurden die ersten Referats-Themen verteilt, und Mark hatte plötzlich keine Lust mehr. Er fand es dort genau wie in der Schule. Offenbar hatte er ein Diplom fürs Nichtstun erwartet. Nach einem Semester war also Schluss mit seinen Studien. Er brauchte ein weiteres Semester und die Drohungen seiner Eltern, um sich einen Job zu suchen. Schichtdienst an der Tankstelle war ihm nach einem Monat zu anstrengend, kellnern war ihm zu stressig und eine Lehre unter seinem Niveau. Am liebsten hätte er Musik studiert, konnte aber leider keine Noten. Die Bedingungen für die Aufnahmeprüfung ließen ihn blass aussehen, er schimpfte vor sich hin und murmelte etwas von künstlerischer Entwicklung, und die Bewerbungsunterlagen wanderten ins Altpapier. Stattdessen klampfte er lieber ziel- und planlos auf seiner Gitarre herum.

Lange Zeit hat er mir den verkannten Künstler sehr erfolgreich verkauft. Ich fand sein schnoddriges Gehabe niedlich, seine Anti-Einstellung sehr lange ziemlich cool, und dass er gut aussah, war sowieso keine Frage. Vielleicht war er einfach nicht der Typ für eine klassische Karriere. Dass ich Noten lesen konnte und es ihm beibringen wollte, brachte mir übrigens nur ein herablassendes Naserümpfen ein. Mit seinem »absoluten Gehör« könne er eh alles ohne Noten nachspielen. Ich tat mich schwer, die fabrizierten Melodien zu erraten.

Trotzdem hielt ich an ihm fest, vielleicht auch, weil ich glaubte, dass nicht jeder sofort wissen kann, was ihn wirklich interessiert. Ich wollte schließlich auch keine überhebliche Zicke sein, die ihm Vorhaltungen machte. Außerdem vertrat ich die Meinung, dass es Leute gab, die mehr schafften als andere und denen auch alles leichter fiel. Die mehr im »real life« zu Hause waren als die Künstler unter uns.

Manchmal bewunderte ich Mark sogar für seine Gelassenheit. Er machte sich nie Stress! Er war witzig, unterhaltsam, und man konnte wunderbar mit ihm abhängen. Mit meinem Versuch, mich daran zu erinnern, wann diese Metamorphose einsetzte, komme ich zu keinem Ergebnis.

Am schlimmsten wurde es im letzten halben Jahr: Da blieb selbst seine Körperpflege ganz schleichend auf der Strecke. Ich glaube, er dachte, mir würde das gar nicht auffallen. Doch das tat es natürlich. Aber was hätte ich sagen können? »Schatz, du stinkst«, und dabei milde lächeln? Manchmal wusch er sich ein ganzes Wochenende lang nicht, sodass ich seine Haare aus zwei Meter Entfernung roch.

Ich wusste mir nicht anders zu helfen, als mit ihm zusammen zu duschen. Das führte dann allerdings dazu, dass er es als eindeutige Aufforderung ansah. Und anstatt sich zu waschen, ließ er nur das warme Wasser an seinem Körper entlanglaufen. Also schäumte ich ihn ein, was er wiederum noch stärker als Aufforderung auffasste. Ich war ein wenig frustriert.

Wenig später stellte er auch das Rasieren ein. Von diesem Zeitpunkt an befand er sich eindeutig an der Startlinie des berühmten Anfangs vom Ende. Und dann − an einem warmen Sonntagmorgen − war er plötzlich da, der Tag, an dem ich meinen Traum von einer Beziehung mit Mark endgültig aufgab. Es war wie so oft: er auf mir drauf, ich unter ihm drunter, ganz klassisch. Angetörnt war ich eher mäßig, außerdem war Marks Rumgehopse auf mir eher hinderlich als stimulierend. Ich versuchte, mich auf mich selbst zu konzentrieren. Er stöhnte und schwitzte. An sich war das nicht weiter schlimm, aber wenn man selbst nicht so richtig bei der Sache ist, kann das schon ein wenig nervig sein.

»Oh, ich komm gleich«, stöhnte Mark.

»Nein«, sagte ich energisch.

»Was?« Sein glasiger Blick deutete an, dass diese verbale Rückmeldung eher Reflex als bewusste Nachfrage war.

»Nein, jetzt noch nicht!«

»Was nicht?«

»Jetzt noch nicht!«

»Aber ich kann nicht mehr!«

»Reiß dich doch einmal zusammen!«

»Was?«

»Denk an was anderes!«

»Was?«

Man sollte wohl doch vermeiden, Männer beim Sex anzusprechen.

»Geh runter.«

»Was?«

»Runter!«

Mark schien plötzlich wieder klarer im Kopf zu werden. »Sag mal, was hast du denn plötzlich?«

»Ich will nicht mehr.«

»Dann sag das doch vorher!«

»Du hast mich doch nicht mal gefragt!«

»Kriegst du deine Tage?«

»Runter, verdammt!«

Unwillig ließ er sich von mir hinunterrollen. Ich schaute in sein gerötetes Gesicht, ich sah seine verschwitzten Haare, die geröteten Augen und seine offensichtliche Wut, und plötzlich war da nichts mehr. Keine Zuneigung, keine Freundschaft, nicht mal mehr wohlwollende Nachsicht. Meine Geduld war am Ende. In diesem Moment aufgestauten Frusts sagte ich den einen berühmten Satz: »Ich will nicht mehr.«

»Wieso, wir haben doch schon aufgehört«, erwiderte er bissig. Noch hatte er nicht kapiert, was ich meinte.

»Ich will gar nicht mehr.«

»Wie, gar nicht mehr?«

»Ich beende unsere Beziehung.«

Erst jetzt verstand er. »Du bist doch jetzt bloß sauer. Ich geb mir mehr Mühe, okay?«

Nein, darauf würde ich mich nicht mehr einlassen. Das hatte er mir schon zu oft versprochen. Wir hatten Bücher gekauft, Ratgeber für ein befriedigendes Sexleben, für mehr Spaß und Abwechslung im Bett. Doch Mark machte sich nicht die Mühe, sie zu lesen. Ich bot ihm an, ihm selbst ein wenig Nachhilfe zu erteilen. Keine Chance. Mark zeigte an der Gemeinsamkeit des Aktes so viel Begeisterung wie an den Wollmäusen unter seinem Bett. Er quetschte ein wenig an mir herum, und dann hatte es loszugehen. Ohne es abwertend zu meinen: Mark hatte an einem Frauenkörper an sich keinerlei pfadfinderisches Interesse. Und das schon seit dem Beginn unserer Beziehung. Ich würde die Hand dafür ins Feuer legen, dass er nie fremdgegangen ist, mit der einfachen Begründung, dass es ihm schlicht und einfach zu anstrengend gewesen wäre. Mark war sicherlich liebenswert, chaotisch und harmlos, aber ich wollte einfach nicht mehr.

»Nein, brauchst du nicht«, erwiderte ich also.

»Aber ...«, schnaufte er, »das kannst du nicht machen!«

»Und warum nicht?«

»Wir sind doch schon so lange zusammen!«

»So lange ist es nun auch wieder nicht.«

»Du wirfst mich also weg, ja? Wie Abfall?« Seine Stimme überschlug sich.

»Nein, natürlich nicht.« Fast hätte ich doch wieder eingelenkt, weil ich ihm nicht wehtun wollte. Er war nun mal einfach so, wie er war. Sofort nach meiner hektischen Äußerung sah ich, wie er wieder Boden unter den Füßen gewann. Er schaute mich böse an. Ich musste mich jetzt wirklich zwingen, ihm den verbalen Todesstoß zu verpassen.

»Bitte geh jetzt.«

»Was?« Mark schmiss wütend die Decke von sich, er war nur im Unterhemd, ohne Hose.

»Mark, zieh dir was an, nimm deinen Kram und dann geh bitte! Es ist vorbei.«

Mit einem Satz sprang er auf und stand kerzengrade neben dem Bett. »Du spinnst ja!« Dann begann er sich anzuziehen.

Ich antwortete nicht. Als er vollständig bekleidet war, fühlte er sich bereit für einen zweiten Angriff.

»Hast bestimmt ’nen Neuen, ja? Ist er was Tolles? Ist er berühmt? Oder hat er wenigstens viel Geld? Und jetzt mal eben schnell den aktuellen Freund entsorgen.«

Er hatte das langsame und qualvolle Sterben unserer Beziehung nicht bemerkt. Für ihn war bis dato alles okay gewesen. Einerseits schockierte mich so viel Ignoranz, andererseits tat er mir doch auch leid. Und ich musste mich wieder einmal daran erinnern, dass man nicht aus Mitleid mit jemandem zusammen sein sollte.

»Mark, bei uns stimmt doch schon lange nicht mehr viel.«

»Wieso?« Ein ratloser Blick.

»Wir haben doch schon über so vieles geredet …«

»Ja und? Gehört das nicht dazu?«

»Ja, natürlich! Aber es gehört auch dazu, dass man vielleicht irgendwann mal Sachen ändert, die den anderen so sehr stören. Oder sie zumindest so macht, wie man sie am Anfang gemacht hat!« Ich konnte ihm jetzt unmöglich die Geschichte mit der fehlenden Hygiene um die Ohren hauen. Es war fast wie Fremdschämen, es war mir unangenehm. Und er würde vermutlich vollends ausrasten.

»Sachen ändern?«, hakte er nach.

»Na ja, zum Beispiel ...« Okay, das Thema Bartwuchs konnte ich ansprechen, darüber hatten wir auch schon öfter geredet.

»Zum Beispiel das Thema Bartwuchs.«

»Was hast du gegen meinen Bart?«

Herrje, das, was in seinem Gesicht wuchs, konnte man doch nicht Bart nennen! Würde es sich nach drei Tagen in ein homogenes Erscheinungsbild fügen, wäre es ja kein Thema für mich. Aber er hatte geschätzte 15 Stoppeln pro Wange, die nach vier Tagen einfach nur unkoordiniert abstanden. Er sah aus wie ein gerupftes Huhn. So etwas ist kein Bart!

»Das ist mein Dreitagebart«, fügte er noch hinzu.

Na klar, und warum rasierte er auch die anderen Stellen nicht mehr? Gab es so was wie eine Dreißig-Tage-Achsel? Ich wollte es lieber nicht wissen. Ich hatte einfach genug. Und jetzt war ich genervt.

»Okay, Bart oder nicht Bart, es ist aus.«

Er sah mir mit einer Mischung aus Abscheu und Herablassung ins Gesicht.

»Du bist eine arrogante kleine Zicke, die sich schon immer für was Besseres gehalten hat. Ich hoffe, du fällst noch mal so richtig auf die Schnauze damit.«

»Dann wünsch mir Glück«, sagte ich kalt. »Und jetzt hau endlich ab.«

Er raffte seine Sachen zusammen, warf sich den Rucksack über die Schulter und verschwand aus dem Schlafzimmer. Kurz darauf knallte die Haustür zu, und im selben Moment fing ich an zu heulen. Drei Jahre, und dann so ein Ende. Und es war alles meine Schuld! Ich hatte ihn noch nie mit so einem hässlichen Gesichtsausdruck gesehen wie gerade, als er mir die Beleidigungen an den Kopf geworfen hatte. Immer noch heulend krabbelte ich aus dem Bett, verfing mich mit den Füßen in dem Saum meines langen Nachthemds und taumelte wie blind ins Wohnzimmer Richtung Telefon. Jule ahnte sofort, was passiert war. Sie übernachtete die nächsten drei Tage bei mir, weil ich nicht alleine schlafen konnte.

Eine Woche später bekam ich eine SMS von Mark, in der er sich für seine bösen Worte entschuldigte. Wir beschlossen, uns zu treffen, weil er auch noch meinen Wohnungsschlüssel hatte. Als ich ihn wiedersah, stellte ich fest, wie erleichtert er wirkte. Er sah zwar noch verwahrloster aus, aber er wirkte zufrieden. Ein halbes Jahr lang hatte ich keinerlei Interesse an männlichen Bekanntschaften. Wahrscheinlich traf mich die Welle der aufkeimenden Neugier deshalb so heftig, dass sie mich einfach mit sich riss.

*

Ein bedrohliches Grollen beendet meinen gedanklichen Ausflug zu Mark. Es blitzt, und dann öffnet der Himmel seine Schleusen. Das harmlose Tröpfeln verwandelt sich in einen apokalyptischen Sturzbach, das Firmament wird zunehmend schwärzer, graue Wolkenfetzen rasen vorbei. Das hat man vom Träumen! Innerhalb weniger Sekunden ist mein Parka durchnässt, meine Haare tropfen, und die Jeans klebt an meinen Beinen. Ich renne los.

2. Kapitel

Gib mir Ringel, Baby

»Party, Party, lalalala ...«

»Ich kann’s nicht mehr hören.«

»Pahahaharty, lalalala ...«

»Lass es.«

»Party!«, lacht Jule und pustet den Qualm ihrer Zigarette den Leuten am Nebentisch um die Ohren. Und das trotz des nicht zu übersehenden Rauchverbots in der Cafeteria.

»Jule, hör endlich auf!«

»Sag, dass du hinkommst!«

»Ich weiß noch nicht, mir tut mein Hals weh.« Meine unfreiwillige Outdoor-Dusche vor zwei Tagen zeigt noch nicht hundertprozentig klar abzuschätzende Nachwirkungen. Das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann, ist eine Erkältung.

»Party, Party, Party, Party …«

»Okay, hör auf!«, flehe ich sie an. »Ich komme mit, ich will nur nie wieder dieses Wort hören müssen. Zumindest heute nicht.«

»Okay.« Jule guckt wie eine zufriedene Katze. Ich ziehe einen Schmollmund.

»Es kommen bestimmt auch Männer«, tröstet sie mich.

»Noch mehr außer Schatz?«, spiele ich ihr Spiel mit. Jetzt zieht Jule einen Flunsch. Schatz heißt eigentlich Tobias und ist Jules Freund. Beide haben die Benutzung ihrer Vornamen zugunsten von Koseworten aufgegeben. Und weil Schatz Wirtschaftswissenschaften studiert und die Party morgen eine Semester-Opening-Party der Wiwis ist, will er da hin und Jule dann natürlich auch. Und ich muss wohl automatisch mit. Logischer Dreisatz, jedenfalls nach Jules Meinung. Na gut, habe ich mich also überreden lassen. Außerdem ist es ja nicht so, dass ich nicht gerne Zeit mit Jule verbringe. Ich mag auch Tobias. Aber Donnerstags-partys, wenn man freitags Uni hat, sind blöd, weil man sich vornimmt, nichts zu trinken, und dann tut man es doch und hat am nächsten Tag keine Lust zum Aufstehen.

Wobei sich Trinken bei mir auf einen Cocktail oder zwei Sekt beschränkt, ich vertrage nämlich nicht viel. Vielleicht hatte Mark doch recht, und ich bin ein Streber. Andere Leute würden da gar nicht drüber nachdenken!

Vier Stunden später kämme ich meine Haare vor dem Badezimmerspiegel, während ich mich in einem inneren Dialog mit meinen Mandeln befinde: Krank oder nicht krank? Ich entscheide mich für Variante zwei. Wer auf die Couch aufzupassen einer lustigen Studentensause vorzieht, ist entweder über sechzig oder nicht ganz normal im Kopf. Oder krank, aber das bin ich ja nicht.

*

Auf dem Vorplatz des Fakultätsgebäudes ist es brechend voll, und es ist noch nicht ganz 22 Uhr. Schatz und Jule warten auf mich neben dem Eingang.

»Lilly!«, kreischt Jule und hängt sich mir an den Hals wie ein Klammeräffchen.

»Jule!«, sage ich. »Lange nicht gesehen, Süße!«

Jule kichert hysterisch und lässt mich einfach nicht los.

»Was hast du ihr gegeben?«, frage ich Schatz.

»Ich muss fahren«, brummt Tobias, als wenn das alles erklären würde. Jule verträgt auch nichts, wahrscheinlich hat sie vor der Abfahrt mal an einem Piccolo genippt. Ich löse ihre Arme von meinem Hals und nehme stattdessen ihre Hand.

»Party, Party, Party!«, singt Jule und hüpft trotz ihrer Stöckelschuhe auf und ab.

Nachdem wir jeder drei Euro für den Eintritt blechen mussten, stehen wir auf einer Balustrade, weil wir dort den besten Ausblick haben. Es sind erstaunlich viele gut aussehende Typen zugegen. Ich lasse meinen Blick genießerisch über die Menge schweifen. Vielleicht wird die Nacht ja doch ganz nett.

Jule hat Schatz losgeschickt zum Getränkeholen. Sie ist echt schon ein wenig angetrunken, wie sie so neben mir steht, mit ihrem kleinen Hintern wippt und konsequent jedes Lied mitsingt. Ihre dunkelblonden Haare, einstmals zu einem Pferdeschwanz hochgebunden, fallen in langen Strähnen um ihren Kopf. Sie ist auf natürliche Art so liebreizend, dass ich manchmal ein bisschen neidisch bin. Wenn sie sich schminkt, sieht sie zwar noch besser aus, aber nötig hätte sie es eigentlich nicht.

Dann ist Tobias mit den Drinks zurück. Er hat sich ein Bier mitgebracht, Jule bekommt einen Sekt auf Eis, ich fange ganz harmlos mit einem Wasser an. Gemeinsam schauen wir auf die Tanzfläche eine Etage unter uns.

»Wenn man dich im Dunkeln von hinten sieht, könnte man denken, da laufen nur rote Haare herum«, sagt Jule und kichert über ihren eigenen Witz.

Na, danke schön!

Tobias verdreht die Augen und wirft mir über Jules Kopf hinweg einen genervten Blick zu. Ich grinse gerade noch zurück, als Julia mir auf einmal »Da!« ins Ohr schreit. Dann zerrt sie an meinem Arm, als wolle sie mich wachrütteln.

»Mensch Jule, jetzt reiß dich mal zusammen!« Ich reibe mir das schmerzende Ohr.

»Guck mal, wer da ist«, sagt sie betont leise und zeigt mit Sektglas in der Hand Richtung Tanzfläche. Wir drei starren runter auf die vom Kunstnebel eingehüllte wogende Menge. Zuerst sehe ich gar nichts. Ein Pudding aus schwitzenden Körpern. Doch dann: Die Beleuchtung verändert sich, ein neues Lied, der Nebel hebt sich. Oho! Wenn er der ist, für den ich ihn halte, könnte der Abend tatsächlich noch deutlich interessanter werden, als zunächst angenommen.

»Ist das Timo?«

»Ja!«, kichert Jule. Schatz guckt, als wüsste er unsere plötzliche Begeisterung nicht ganz einzuordnen.

Ich werfe einen weiteren Blick übers Geländer. Oh, er sieht gut aus! Und dann dieses ärmellose Ringelshirt! Erwähnte ich bereits, dass ich für Ringel sterbe? Der Typ ist einfach ein verdammt ansehnliches Gesamtpaket. Er ist in unserem Semester, und seit Beginn unseres Studiums hat er bestimmt schon eine Menge Mädels nervös gemacht. Außerdem kommt er immer mit dem Fahrrad. Seine halsbrecherische Fahrweise ist quasi sein Markenzeichen. 190 cm Körpergröße, dunkelblonde Haare, breite Schwimmerschultern und entzückend stramme Waden runden den Augenschmaus ab. Er ist ein wenig exaltiert, kommt auch schon mal barfuß oder mit Kopftuch zur Uni. Rhetorisch ist er wohl nicht der Allergrößte, was im krassen Gegensatz zu seinen akademischen Leistungen steht. Seine Klausuren sind immer unter den besten. Mich betrachtet er mit einer Art distanzierter Neugier, was wohl an den roten Haaren und den ewig schwarzen Klamotten liegt. Ansonsten meidet er mich weitestgehend, freundlich ausgedrückt. Da er allerdings auch kein Interesse an anderen Mädels zeigte, hatten Jule und ich zunächst auf »feste Freundin« getippt. Doch Fehlanzeige, wie Jule dank gezielter Recherche herausfand.

Unter einem Vorwand sprach ich ihn letztes Semester in einem Seminar an. Er wurde knallrot. Das sah ein bisschen blöd aus bei so einem Bild von Kerl. Zum Dank fuhr er mich am nächsten Morgen mit seinem Fahrrad fast um.

Wieder löst sich die Nebelwolke langsam auf. Mein Blick klebt an seinem durchtrainierten Rücken und wandert dann tiefer. Diese leicht gebräunte Haut, diese coole schwarze Röhre, dieser süße Knackarsch, diese Wodkaflasche in seiner Hand! Moment mal: Wodka? Er trinkt? Und wenn überhaupt, hätte ich auf Rotwein getippt. Allerhöchstens. Aber Wodka? So, so. Vielleicht ist er ja zugänglicher, wenn er ein bisschen angeschickert ist. Und heute − dass er hier war, dass ich hier war, das ist kein Zufall. Das ist Schicksal, jawohl. Heute würde ich versuchen, ihn abzuschleppen, ob er mich nun mochte oder nicht. Für das, was ich von ihm wollte, musste er noch nicht mal reden. Er musste einfach nur gut aussehen und sich nicht allzu dämlich anstellen.

»Ich bin mal unten, Mädels«, sage ich und behalte ihn fest im Blick. Julia kichert schon wieder, Tobias fällt so schnell keine Antwort ein, und ich bahne mir meinen Weg durch die klebenden Massen in Richtung Tanzfläche. Wie ein Haifisch nähere ich mich ihm von hinten. Ich höre ihn lachen. Ein dunkles Männerlachen. Dann nimmt er einen Schluck aus der Flasche. Jetzt bin ich unmittelbar hinter ihm. In einer seiner Potaschen steckt ein ziemlich mitgenommenes Reclam-Heftchen. Klar, ich nehme doch auch immer ein Buch mit zu einer Party! Ich atme seinen Duft ein: eine Mischung aus frisch geduscht, einem Hauch Parfum und Mann. Oh, lecker!

Aber der Zeitpunkt ist ungünstig. In Gesellschaft seiner Kumpels ist er zu unberechenbar. Männer separiert man besser von der Herde und lauert ihnen auf, wenn sie allein sind. Meine Chance kommt, als er sich wortreich Richtung Toiletten verabschiedet. Ich tauche gekonnt in der Menge unter und nehme die Verfolgung auf. Als er wieder herauskommt, bin ich plötzlich vor ihm.

»Oh, hi«, sage ich und schenke ihm ein möglichst überraschtes Lächeln. Er erwidert erst mal gar nichts.

Sein Blick sagt: »Du bist ein Dämon, und du hast mir aufgelauert.« Oder meine Fantasie geht gerade mit mir durch. Zur Ablenkung schaue ich auf die Wodkaflasche. Wortlos hält er sie mir hin. Ich nehme einen Schluck. Bah, das mag ich doch gar nicht! Danach setzt er die Flasche an die Lippen. Mit Blick auf seinen hüpfenden Adamsapfel zähle ich vier Schlucke.

»Hallo«, sagt er schließlich.

Also, irgendwie cool ist er ja schon, aber nur, wenn man so ein bisschen auf diesen Psycho-Einschlag steht wie ich.

Und dann: »So weit weg vom Geschehen?« In diesem Moment wird mir klar, dass er mich durchschaut haben muss. Auf dieser Seite gibt es nur die Herrentoiletten, die Damentoiletten liegen gegenüber auf der anderen Seite der Halle. Jeder, der hier studiert, weiß das. An diesem Ort gibt es auch keine Sitzmöglichkeiten. Nix. Keinen Grund, als »Nicht-Kerl« hier herumzulaufen.

Zum Glück bin ich ja nicht auf den Mund gefallen: »Ich spaziere ein wenig durch die Gegend.«

»Hm«, brummt er nur.

Ich bewahre tapfer Haltung. »Und wie findest du es so?«

»Bin gerade erst angekommen.«

»Ach so.«

Ich merke, dass er überlegt. Ein Vermögen für seine Gedanken! Er nimmt noch mal einen Schluck aus der Flasche. So kommen wir nicht weiter.

»Na gut, ich gehe mal wieder zu meinen Leuten, man sieht sich sicher noch.« Ein letztes Lächeln, dann lasse ich ihn stehen. Toll, das war ja mal gar nichts.

»Dämon, Dämon«, flüstert es hinter mir her. Ich bekomme einen Schluckauf. Verdammter Wodka.

Julia erkennt schon an meinem Gesichtsausdruck den temporären Misserfolg.

»Vergiss es einfach, er ist ein Spinner«, sagt sie, wieder einigermaßen ernüchtert.

»Tanzen!«, knurre ich. Sie nickt mitfühlend, klatscht Tobias ihre Handtasche an den Arm und drückt ihm ihr Glas in die Hand. »Wir gehen tanzen, Schatz.«

Schatz sagt wieder nix, er macht lediglich eine Kopfbewegung und lässt die Schultern hängen.

Vorher hole ich mir allerdings noch einen Cocktail. Das Special-Feature der geschäftstüchtigen Wiwi-Fachschaft ist dieses Mal eine Cocktail-Bar. Ich liebe Zucker mit Alkohol und Fruchtsaft. Der Barkeeper meint es gut mit mir, das Ding besteht hauptsächlich aus weißem Rum. My Goodness.

Nach zwei Schlucken stören mich auch die verschwitzten Leute nicht mehr. Der DJ ist der Held des Abends, jedes Lied ist super. Jule und ich verausgaben uns völlig. Nach circa zehn Liedern löst sich meine Frisur auf, ich stopfe die Spangen in meine Tasche und lasse die Haare offen über den Rücken fallen. Mittlerweile schwitze ich genauso wie die anderen. Mein Glas ist noch halb voll, es ist herrlich!

Dann spüre ich Blicke in meinem Rücken. Man kann ja angeheitert sein, wie man will, so etwas merkt man immer. Mit einem Schwung drehe ich mich um. Irgendwo am Rande der Tanzfläche steht Timo mit seinen Leuten. Alle labern, er starrt mich an. Ich drehe mich wieder zu Jule zurück und schwinge Haare und Hüften. Er kann mich mal.

Dann, nach fünf weiteren Liedern, bin ich diejenige, die mal für kleine Königspinguine muss. Jule ist das ganz recht, sie will Schatz mal aus seinem Salzsäulenstatus erlösen. Auf der Damentoilette erschrecke ich mich vor meinem eigenen Spiegelbild. Verschwitzt und glänzend, Make-up war einmal, und meine Haare hängen einfach so herunter. Ich bin dank Neonbeleuchtung noch blasser als sowieso schon. Der schwarze Kajal lässt meine Augen wie dunkel gerahmte Höhlen erscheinen, und das magentarote Haar umgibt meinen Kopf wie ein Kranz aus flüssigem Magma. Ich sehe wirklich aus wie ein Dämon!

Entschlossen, mein höllisches Aussehen zu ignorieren, stiefle ich wieder hinaus. Dann von rechts auf einmal ein Schatten. Eine große Gestalt löst sich aus der Dunkelheit.

»Wir haben wohl beide keinen Orientierungssinn«, sage ich, als ich erkenne, um wen es sich handelt.

Er gibt mir keine Antwort. Ich sage nichts, er wartet. Ich sage immer noch nichts, er bleibt stumm. Sturkopf! Zur Überbrückung der zähen Stille trinke ich einen weiteren Schluck von meinem weißen Rum.

»Und was trinkst du da?«, bricht er endlich das Schweigen. Haha, gewonnen. Zweiter Punkt für mich.

»Es sollte ein Caipi werden. Der Barkeeper hat allerdings die Zutaten vergessen, abgesehen vom Rum.«

Seine Wodkaflasche ist er inzwischen losgeworden, er wirkt jedoch nicht im Mindesten angetrunken. Ganz im Gegensatz zu mir, die sich leicht schwebend fühlt. Er lächelt nicht, er zeigt mehr die Zähne. »Und wo sind deine Leute?« Er betont das Wort »Leute«.

»Keine Ahnung«, gebe ich betont lahm zurück. Er verteilt echt Retourkutschen für alles, wie ein Spiegel.

»Lass uns rausgehen.« Mit diesem Satz habe ich wieder die Oberhand. Ich merke, wie er wieder unsicherer wird. Irgendwie finde ich das süß, obwohl mich diese Unentschlossenheit auch nervt. Ich mache einen kleinen Schritt auf ihn zu, er zuckt leicht zurück, bewegt sich aber keinen Zentimeter.

»Dann lass uns tanzen gehen«, schlage ich als Alternative vor.

Er guckt zwar immer noch, als wolle ich ihn beißen, aber er nickt. Auf dem Weg zur Tanzfläche geht er hinter und nicht neben mir, seltsam. Wir bleiben etwas mehr am Rand, in der Mitte ist es einfach zu voll. Ich stelle mich ganz nah an ihn heran und beginne, mich im Takt der Musik zu bewegen. Ob er schon ahnt, was ich mit ihm vorhabe? Ich kann mich einfach nicht mehr beherrschen und muss ihn anfassen. Mit meiner linken Hand streiche ich langsam seinen nackten Arm hoch. Er bekommt eine Gänsehaut. Dann greift er sich meinen Cocktail und schüttet den ganzen Rest in sich hinein. Ich bin fast ein wenig beleidigt. Doch trotzdem drücke ich mich enger an ihn ran. Sein Kopf beugt sich zu mir herüber, und fast hätte ich gedacht, er würde mich küssen. Doch er legt nur seine Wange an meine. Sein ganzer Körper besteht nur aus sehnigen Muskeln, ich kann es bei jeder Bewegung spüren. Wir tanzen eine Weile eng aneinandergedrückt, ohne uns anzufassen. Seine linke Hand hält mein leeres Cocktailglas, sein Mund ist nah an meinem Ohr.