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Pino schenkt in einer jener kleinen und unscheinbaren Bars aus, wie sie über ganz Italien verstreut sind. Wo man irgendwann den Betreiber persönlich kennt und auch seine Stammgäste. Pinos Bar wohnt jene Magie inne, die von Lebenslust, engen Freundschaften und lebensklugen Menschen erzählt. Denn Pino und seine Gäste verstehen etwas von dieser rätselhaften, komplizierten Sache, die wir Leben nennen. Pinos Bar ist immer offen. Zu Weihnachten und Neujahr, Ferragosto und am Ostersonntag. Ab sechs Uhr morgens, wenn die ersten Fischer aus der Lagune zurückkommen und der Bäcker von nebenan schon sehnsüchtig auf seinen ersten Kaffee wartet. Bis tief in die Nacht, denn Pinos Gäste erzählen Geschichten über unvergessliche Begegnungen, über Zeit, Geld, Glück und Genuss – und geben uns, humorvoll und wie nebenbei, praktische Lebenslektionen, wie wir die schönsten Seiten dieser Welt entdecken können.Glück und Genuss – und geben uns, humorvoll und wie nebenbei, praktische Lebenslektionen, wie wir die schönsten Seiten dieser Welt entdecken können
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Seitenzahl: 106
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Stefan Maiwald
Meine Bar in Italien
Warum uns der Süden glücklich macht
»Nenn es Clan, nenn es Netzwerk, nenn es Stammlokal, nenn es Familie: Wie auch immer du es nennst, wer auch immer du bist, du brauchst es.«
– Jane Howard
Willkommen in meiner Bar
Das unfertige Ich – meine Anti-Heldenreise
I Arbeiten, anders gedacht
Pino: Verloren in Colón
Roberto und die Objektive
Mit Bruno im Boot
Traumjobs sind eine Falle
Giulios Extrafedern
Alessios baumelndes Glück
Matteo blickt in den Kühlschrank
Marias Segnungen
Eine kleine Anekdote, warum Geld nicht glücklich macht
II Schönes und Köstliches
Giorgias funkelnde Füller
Von Bratkartoffeln bis Boreto
Attilios Weinessig-Tricks
Robys Sommer- und Wintermuscheln
Die perfekte Bolognese, auch wenn sie nicht so heißen darf
Giuseppes Bummeleien
Pino und der Gast aus München
25 Küchenweisheiten, die ich in Italien gelernt habe
III Kreativität und Kunstpausen
Ist das Glück rosa?
Mario, die Säge und das Treibholz
Laura, Beherrscherin des Schreibtischs
Armando bleibt daheim
Dino spaziert, einfach so
Die Quintessenz: Worum es wirklich geht
Finale Grande
25 Dinge, die ich in Italien gelernt habe
»Ich brauche keine Therapie, ich gehe zu Pino.«
Sie gehört mir nicht, aber ich bin täglich dort. Pino sagt, wenn er je zusperrt, würde er mir die Schlüssel geben. Aber die Bar ist immer offen. Auch Weihnachten und Neujahr und Ferragosto und Ostersonntag. Sie ist immer offen, und zwar ab sechs Uhr morgens, wenn die ersten Fischer von der Nachtschicht zurückkommen, und wenn der Bäcker von gegenüber, seit zwei Stunden an den Backöfen, dringend einen ersten Kaffee braucht.
Bevor ich mich hingesetzt habe, steht schon mein Lieblingsgetränk auf dem Tisch. Cappuccino am Morgen, Weißwein am Abend. Denn Marina, die am Morgen hinter der Bar hilft, greift zum Siebträger, sobald ich die Türklinke in der Hand habe. Auf die Idee, dass ich mal etwas anderes als Cappuccino bestellen könnte, kommt sie gar nicht. Und ich auch nicht. Mit Igor ist es am Abend und dem Glas Wein genau das Gleiche.
Erwartet nicht zu viel von dieser Bar, was die Speisen und Getränke angeht. Es gibt belegte Panini und Toasts mit Kochschinken oder Käse und Hauswein vom Fass, serviert auf rot-weiß karierten Tischdecken. Sassicaia und Ornellaia finden sich ebenso wenig auf der Karte wie hausgemachte Tagliolini mit weißen Alba-Trüffeln oder irgendwas mit Schäumchen und Sphären. Es duftet trotzdem (oder gerade deswegen) deftig und appetitlich, nach getoastetem Brot, nach verschüttetem Rotwein, nach Kerzenwachs. Die Portionen auf der kleinen Karte sind riesig, vor allem für italienische Verhältnisse. Aber kaum jemand bestellt je von der Karte, denn meistens hat vorne rechts, wo der Stammtisch ist, jemand gekocht. Dort sitzen die Fischer von Grado und zwei Jäger und einige Köche in Pension. Meistens bringt einer von ihnen etwas mit. Was frisch Gefischtes, was frisch Erlegtes, oft mit Pasta oder Polenta. Und zwar in riesigen Schüsseln, die tatsächlich für alle reichen, die etwas wollen.
Außerdem ist es ziemlich laut. Oft läuft im Fernseher, der oben in der Ecke hängt, ein Fußballspiel, und dann ist es noch lauter, klar. Ein Architekt war definitiv nicht am Werk, als sich die Bar in den verwinkelten Räumlichkeiten ausbreitete, und ein Designer würde auf der Stelle tot umfallen, wenn er den Dekor sehen würde. Denn die Wände sind mit Fotos bepflastert. Wir reden hier nicht von ein paar Bildchen hier und da, sondern von einer soliden, zwei- bis dreilagigen Schicht von Fotos der letzten Jahrzehnte vom Boden bis zur Decke, denn Pinos Bar gibt es schon seit den Sechzigerjahren, und so ziemlich jeden Gast hat er hier verewigt. Es sieht wirklich spektakulär aus, auch wenn sich die Fotos wellen und schnell ausbleichen. Es war einer der stolzesten Momente meines Lebens, als Pino ein Foto von mir und meiner Familie aufhing. Wahrscheinlich hängen inzwischen andere Bilder darüber, denn es ist schon ein paar Jahre her. Aber, hey – irgendwie bin ich immer präsent!
Die Bar befindet sich zufälligerweise in Grado, einem amphibischen, von Lagune und Adria umgebenen Ort zwischen Venedig und Triest, aber die Bar könnte wirklich überall in Italien sein. Und vielleicht sogar überall im Mittelmeerraum.
Pinos Bar ist ein wichtiger Treffpunkt des Ortes. Hier verkehren keine Literaten, Philosophen oder sonstige Koryphäen, denen gewöhnlich genau zugehört wird, wenn sie über das Leben und den tieferen Sinn des Ganzen referieren. Ohnehin drehen sich die Gespräche hier selten um die ganz großen Themen. Wenn ich genauer darüber nachdenke, fällt mir sogar niemand ein, der überhaupt eine Universität besucht hätte.
Dennoch habe ich von den Menschen in dieser Bar fast alles gelernt, was ich im Leben brauche.
Viele Dinge davon sind typisch italienisch, und das weiß ich deswegen so genau, weil ich die eine Hälfte meines erwachsenen Lebens in deutschen Bars und die andere Hälfte in italienischen Bars zugebracht habe. Viele Einblicke, die ich in Italien gewonnen habe, hätten mich schon früher im Leben durchaus weitergebracht.
Ich werde nicht behaupten, dass alle Menschen, die ich euch auf den folgenden Seiten vorstelle, euch genauso helfen, wie sie mir geholfen hatten – mit ihren Vorstellungen, ihren Lebensentwürfen. Kommt einfach mit, bestellt euch ein Glas und trefft die Menschen 1, die diese Bar bevölkern!
1Alle in diesem Buch geschilderten Personen sind wahre Personen und keine fiktionalen Gestalten, so wie auch die »Enoteca Da Pino« eine echte Bar ist (Via Galileo Galilei 13, 34073 Grado, Tel. 0039-0431-824 87, kein Internet, natürlich nicht – aber seit Neuestem immerhin einen Facebook-Auftritt). In einigen Fällen habe ich allerdings Namen und Berufe leicht verfremdet, um die Privatsphäre der geschilderten Personen zu wahren.
Als ich nach Italien kam, war ich 30 Jahre alt. Aber eigentlich wohl eher 18, wenn überhaupt. Ich wusste wenig von der Welt, und das, was ich zu wissen glaubte, war ziemlicher Unsinn. Ich hatte zwar den Schritt in die Selbstständigkeit gewagt, aber auch nur halb. Ich hatte zwar eine Italienerin geheiratet, aber behielt meine Wohnung in Deutschland, denn so richtig loslassen – das ging ja gar nicht. Schon wegen des Berufs. Außerdem komme ich weder aus einer Akademiker- noch aus einer Künstlerfamilie. Die Kündigung einer Festanstellung war etwas, was man doch nicht machte; der Schritt ging innerfamiliär eher mit Entsetzen als mit Ermutigungen einher.
Und wer weiß, ob ich mich voll und ganz auf Italien würde einlassen können? Wollte ich Karriere machen oder war ich zufrieden mit dem, was ich hatte? Ich wusste es einfach nicht, und daher versuchte ich beides. Wo gehörte ich wirklich hin? Ich hatte keine Ahnung. Ich hing in jeder Hinsicht in der Luft und gab mir selbst den Spitznamen Ornella Wankelmuti.
»Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen«, lautet (angeblich) ein afrikanisches Sprichwort. Es passt auch gut zu Italien. Und es passt gut zu mir.
Und das Dorf – das trifft sich jeden Tag in Pinos Bar.
Fangen wir bei Pino selbst an, dem Inhaber der Bar. Er ist 82 Jahre alt, hat volles weißes Haar, sehr breite Schultern und ist beeindruckende einen Meter neunzig groß. Sein Gesicht ist quadratisch, etwa so wie beim alten Herrn vom Disney-Hit »Up!«. Bloß lächelt Pino öfter. Er sperrt die Bar jeden Morgen um sechs Uhr auf, schiebt die Croissants in den Ofen und macht Kaffee für die ersten Kunden. Das Verb aufsperren ist übrigens typisch österreichisch, obwohl ich aus Norddeutschland stamme. Aber hier fangt ihr automatisch an, mit österreichischem Einschlag zu reden.
Grado war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein armer Ort. Mit der Sommerfrische der adligen Wiener Familien hatte es sich nach dem Ersten Weltkrieg erledigt, denn Grado hatte zum k. u. k. Küstenland gehört und fiel danach an Italien. Der Tourismus kam mit Beginn des Zweiten Weltkrieges völlig zum Erliegen. Und auch im Jahr 1953 war die Fischerei für die Jugendlichen die einzig mögliche Einnahmequelle. Wer kein Boot hatte, musste bei einem Bekannten anheuern. Doch dann sah Pino in einer Triestiner Tageszeitung die Anzeige einer Reederei aus Hamburg: Man suchte Matrosen für die Schiffe, denn dort oben war das Wirtschaftswunder in vollem Gang. Er schrieb eine Bewerbung, bekam einen Brief mit einer Fahrkarte, setzte sich in den Zug und stieg 36 Stunden später in Hamburg aus. Mit gerade 16 Jahren bestieg er ein Frachtschiff, das nach Südamerika fuhr. Dann, mitten auf dem Atlantik, rammte sich der Chefkoch versehentlich ein Messer in den Bauch. Der Frachter musste in Madeira anhalten, um ihn in ein Krankenhaus zu bringen. Wer würde jetzt Smutje werden? Pino meldete sich, niemand hatte Einwände. Dass Italiener im Allgemeinen ganz gut kochen können, wusste man auch schon im Jahr 1953. Und so fuhr Pino mehr als zehn Jahre lang pfannenschwenkend zur See. Und lernte die Welt kennen.
Na ja, vor allem lernte er Häfen, Piere, Docks, Kräne und Container kennen, wie er selbst sagt. Aber einmal schleppte ihn ein Offizier ins Nachtleben von Colón. Was genau dann nach dem Besuch in dieser zwielichtigen panamaischen Bar passierte, vor der man sie ausdrücklich gewarnt hatte, konnten sie nicht mehr rekonstruieren, aber am nächsten Tag wachten sie in irgendeiner anderen Kaschemme auf, blickten entsetzt auf die Uhr und stürzten zum Hafen. Zu spät, das Schiff hatte bereits abgelegt. Das war in einer Zeit ohne Mobiltelefone, und selbst Funkkontakt war für Privatleute unmöglich. Es half nichts: Sie nahmen ein Flugzeug, das sie nach Curaçao brachte, dem nächsten Hafen, und für den Flug ging beinahe das Jahresgehalt drauf. Der Offizier wurde degradiert, Pino war zum Glück noch minderjährig, für ihn blieb die verpasste Passage folgenlos, bis auf den teuren Flug. Und wahrscheinlich wollte der Kapitän nicht schon wieder einen Koch verlieren.
Dann kam Pino zurück, hatte gute westdeutsche Mark kassiert und eröffnete die Bar, in der er jetzt gerade, als ich diese Zeilen schreibe, einem Gast einen Toast über den Tresen reicht.
Er hätte sicher mehr aus seinem Leben machen können, würden jetzt viele meinen. Eine Karriere in Deutschland und noch mehr Mark verdienen. Das wäre doch der logische Schritt, oder?
Doch Pino hatte immer nur eines im Sinn: zurück nach Grado kommen und sein eigenes Ding machen. Klein, aber abbezahlt. Seit mehr als 50 Jahren bewirtet er den Ort, natürlich helfen auch seine Töchter mit, und die dritte Generation steht auch schon bereit. Wenn seine Schicht zu Ende ist, setzt er sich zu einem der Tische hinzu und gönnt sich ein Glas Wein. Und dann blickt er auf eine seiner Töchter, groß gewachsen wie er, die immer wieder am Tisch vorbeischaut. Sein Blick drückt nicht nur Stolz aus, das wäre zu einfach gedacht. Nein, es ist der tief befriedigte Blick eines Mannes, der das letzte Stück eines 1000-Teile-Puzzles legt und dann das entstandene Bild bewundert.
Was habe ich von Pino gelernt? Es ist noch keine Lektion fürs Leben, denn wir sind ja erst am Beginn des Buches. Aber vielleicht steckt ja auch in Pinos Bar selbst ein tieferes Geheimnis. Ich mag es, dabei zu sein, aber nicht dazuzugehören. Eher Beobachter als Protagonist zu sein. Ein bisschen Außenseiter – das fühlt sich gar nicht so schlecht an. Deswegen bin ich auch Stammgast in Pinos Bar, aber eben nicht am Stammtisch. Ich genieße die tägliche Theateraufführung. Für meinen Job kann es kaum einen besseren Platz geben. Meine Welt soll nie so ganz bis in den letzten Winkel erobert und verstanden werden, es braucht terra incognita, um den Zauber zu bewahren.
Ich bewundere Pino, weiß aber, dass ich in der Zuschauerrolle besser aufgehoben bin. Hier bin ich Fremder und zugleich willkommen, nicht dabei und doch nicht ausgegrenzt.
Und ihr? Seid ihr wirklich dort, wo ihr hingehört? Passt es bei euch auch?
Ganz schön große Fragen, ich weiß. Aber seht es als Bestandsaufnahme zu Beginn unserer gemeinsamen Reise.
Wenn Roberto, den alle nur Roby nennen, bei Pino auftaucht, fliegen ihm die Ciaos aus wirklich jeder Ecke und von jedem Tisch entgegen. Er ist ein Mensch, den alle gerne um sich haben. Ich glaube, das liegt erstens daran, dass er viele Dinge gut kann, die ihm jede Menge sozialen Kredit einbringen; dazu gleich mehr. Zweitens liegt es daran, dass Roby völlig mit sich im Reinen ist. Mir sagte mal ein Schriftsteller: »Letztlich gehören wir doch alle auf die Couch.« Auf Roby trifft das ganz bestimmt nicht zu. Er bestellt sich einen gespritzten Weißwein und klopft mir auf die Schulter.