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"Memoiren, gefunden in der Badewanne ist eine satirische Farce, eine surrealistische Anti-Utopie und eine Schmähschrift auf die absolute Bürokratie und den totalen Polizeistaat, in dem alles und jeder gelenkt, einem geheimen Zweck untergeordnet und von Spitzeln überwacht wird. Das »Gebäude«, eine Spionagezentrale, ist »unbesiegbar«; im Verlauf seiner Entwicklung ständig gewachsen, steht es im unaufhörlichen Kampf mit einem Antigebäude, einer gegnerischen Spionagezentrale, die es durchdrungen hat und von der es ebenso durchdrungen worden ist. Ob es die beiden »Gebäude« wirklich gibt oder ob der Widerstreit bloß eine gedankliche Konstruktion ist, das weiß kein Mensch mehr so genau. Auf jeden Fall sind Chaos und Ordnung, Zufall und Notwendigkeit, Sinn und Unsinn nicht zu unterscheiden - Memoiren, gefunden in der Badewanne: ein Zukunftsalptraum."
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Seitenzahl: 367
Stanisław Lem wurde am 12. September 1921 im polnischen Lwów (Lemberg) geboren, lebte zuletzt in Krakau, wo er am 27. März 2006 starb. Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete er als Übersetzer und freier Schriftsteller. Er wandte sich früh dem Genre Science-fiction zu, verfaßte aber auch gewichtige theoretische Abhandlungen und Essays zur Kybernetik, Literaturtheorie und Futurologie. Stanisław Lem zählt zu den bekanntesten und meistübersetzten Autoren Polens. Viele seiner Werke wurden verfilmt.
»Memoiren, gefunden in der Badewanne« ist alles vorausgeplant und vorausbestimmt, aber das Endergebnis ist ungefähr dasselbe, denn möglicherweise funktioniert die ganze hypertrophierte Staatsmaschinerie schon längst nach Zufallsprinzipien, wie das ganze Universum. Chaos und Ordnung, Zufall und Notwendigkeit, Sinn und Unsinn fallen zusammen und sind prinzipiell unterscheidbar.
Das »Gebäude«, eine Spionagezentrale, ist »unbesiegbar«; im Verlaufe seiner Entwicklung ständig gewachsen, steht es im unaufhörlichen Kampf mit einem Antigebäude, einer gegnerischen Spionagezentrale, die es durchdrungen hat und von der es ebenso durchdrungen worden ist; aber ob es gegnerische Organisationen und jenes andere »Gebäude« gibt oder je gegeben hat, weiß niemand. Möglicherweise ist es nur eine Konstruktion, ein projiziertes Feindbild, wie jener Staatsfeind Goldstein in George Orwells »1984«.
Stanisław Lem
Memoiren, gefunden in der Badewanne
Mit einer Einleitung des Autors
Phantastische Bibliothek
Suhrkamp
Titel der polnischen Originalausgabe:
Pamiętnik znaleziony w wannie. Kraków: Wydawnictwo Literackie 1961
Aus dem Polnischen von Walter Tiel
Autorisierte Übersetzung
Einleitung aus dem Polnischen von Klaus Staemmler
Autorisierte Übersetzung
Umschlagfoto: Jerry Bauer
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013
© 1961 by Stanisław Lem
Alle Rechte an der deutschen Ausgabe Insel Verlag, Frankfurt am Main 1974
Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung des Insel Verlags, Frankfurt am Main
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski
eISBN 978-3-518-74327-0
www.suhrkamp.de
Die Aufzeichnungen eines Menschen des Neogen sind eines der wertvollsten Relikte aus der weit zurückliegenden Vergangenheit der Erde. Sie stammen aus der letzten Phase der prächaotischen Kultur, die dem Großen Zerfall vorausging. Es ist ein ironisches Paradoxon der Geschichte, daß wir von den Zivilisationen des frühen Neogen, von den Urkulturen Assyriens, Ägyptens und Griechenlands mehr wissen als von den Zeiten der Uratomistik und der ursprünglichen Astrogation. Die archaischen Kulturen hinterließen allerdings dauerhafte Zeugnisse aus Knochen, Stein, Schiefer und Bronze, während im mittleren und späten Neogen zur Aufzeichnung allen Wissens das sogenannte Papyr diente.
Dieses Zellulosederivat, eine zarte, fast weiße Substanz, walzte man aus und schnitt sie zu rechteckigen Bögen, auf die mit dunkler Farbe alle Arten von Information gepreßt wurden, worauf man sie falzte und auf besondere Weise zusammennähte.
Um zu begreifen, wie es zu dem Großen Zerfall kam, zu jener Katastrophe, die im Laufe weniger Wochen die Errungenschaften von Jahrhunderten vernichtete, muß man sich um dreitausend Jahre zurückversetzen. Damals gab es weder die Metamnestik noch die Technik der Informations-Kristallisierung. Alle Funktionen der Mnemoren und Gnostronen von heute erfüllt das Papyr. Es gab zwar schon die Anfänge eines mechanischen Gedächtnisses, doch handelte es sich um riesengroße und schwer zu bedienende Maschinen, die im übrigen zu speziellen, eng begrenzten Zwecken verwendet wurden. Man nannte sie »elektrische Gehirne«. Das ist eine nur aus der historischen Distanz heraus verständliche Übertreibung, ebenso wie die Behauptung der Baumeister Vorderasiens, der Turm des Tempels Baa-Bel reiche bis in den Himmel. Wir wissen nicht genau, wann und wo die Epidemie der Papyrolyse ausbrach. Wahrscheinlich erfolgte das in den südlichen, wüstenhaften Regionen des damaligen Staates Ammer-Ku, wo die ersten kosmischen Landestellen erbaut wurden. Die Zeitgenossen begriffen die ihnen drohende Gefahr zunächst nicht. Es fällt uns schwer, das von vielen späteren Historikern ausgesprochene strenge Urteil über ihre Leichtfertigkeit zu teilen. Das Papyr zeichnete sich in der Tat nicht durch besondere Haltbarkeit aus, doch kann man die prächaotische Kultur nicht dafür verantwortlich machen, daß sie die Existenz des Katafaktors RV, auch bekannt als Hartius-Faktor, nicht voraussah. Die wirkliche Natur dieses Faktors entdeckte schließlich erst der Prodoktor Folses VI. in der galaktischen Epoche, als er festgestellt hatte, daß dessen Wiege der dritte Uranusmond war. Von einer der frühorbitalen Entdeckungsexpeditionen (nach dem Prognostor Phaa-Waak war es die achte malaldische Expedition) versehentlich auf die Erde verschleppt, rief der Hartius-Faktor einen lawinenartig fortschreitenden Zerfall des Papyrs auf dem ganzen Globus hervor. Die Einzelheiten der Katastrophe kennen wir nicht. Nach mündlichen, erst im vierten Galaktium kristallisierten Überlieferungen waren große Sammelstellen wissensträchtiger Papyre, sogenannte Bao-Blyo-Theken, die Zentren der Epidemie. Die Reaktion erfolgte fast momentan. Aus den unschätzbaren Lagerstätten des kollektiven Gedächtnisses wurden Haufen grauen Staubs, leicht wie Asche. Die prächaotischen Wissenschaftler meinten, sie hätten es mit einem das Papyr befallenden Infekt zu tun, und verloren viel Zeit mit vergeblichem Suchen. Man kann die Richtigkeit einer bitteren Bemerkung des vierten Tauridischen Histognostors schwerlich bestreiten, wonach ihre Verdienste um die Menschheit größer gewesen wären, wenn sie ihre Zeit benutzt hätten, die zerfallenden Texte in Stein zu meißeln.
Das späte Neogen, die Zeit der Katastrophe, kannte weder die Gravitronik noch die Kyberkonomik oder die Synthephysik. Die Wirtschaft der einzelnen ethnischen Gruppen, Nationen genannt, trug relativ autonomen Charakter. Sie war absolut vom Papyrumlauf abhängig. Das betraf auch die Kontinuität der Lieferungen zum Mars, wo sich Tiberis Syrtica im ersten Baustadium befand. Die Papyrolyse ruinierte nicht nur das wirtschaftliche Leben. Man nennt diese Zeiten mit gutem Grund die Epoche der Papyrokratie. Das Papyr regelte und koordinierte alle kollektiven Tätigkeiten der Menschen und bestimmte darüber hinaus auf eine für uns schwer verständliche Weise (als sogenanntes »Personalpapyr«) das Schicksal der einzelnen. Im übrigen sind die Nutzungs- und Ritualbedeutungen des Papyrs im damaligen Folklore (die Katastrophe fiel in die Blütezeit der Kultur des prächaotischen Neogen) bislang nicht vollständig katalogisiert worden. Wir kennen die Bedeutung bestimmter Arten, von anderen sind nur leere Namen auf uns gekommen (Pa-Klate, Kasa-Zette, Baun-Knoote, Doku-Mente u. a.). In jener Zeit konnte man ohne Vermittlung des Papyrs weder geboren werden noch aufwachsen, sich bilden, arbeiten, reisen oder den Lebensunterhalt erwerben. In diesem Licht betrachtet, wird das Ausmaß der Katastrophe klar, die über die Erde kam. Alle Gegenmittel wie Quarantäne, Isolierung ganzer Städte und Kontinente oder der Bau hermetisch verschlossener Schutzräume enttäuschten. Die Wissenschaft der Zeit war ratlos angesichts der subatomaren Struktur des Katafaktors, der im Verlauf der anabiotischen Evolution entstanden war. Zum ersten Mal in der Geschichte drohte den sozialen Bindungen vollständiger Zerfall. Ein anonymer Sänger der Katastrophe hat es in die Wand eines Badezimmers der Ausgrabungsstätte von Fri-Sco (eine der besterhaltenen Städte des südlichen Ammer-Ku) geritzt: »Wolken zerfallenen Papyrs verdunkelten den Himmel, dann fiel vierzig Tage und Nächte lang ein schmutziger Regen, und so spülten Wind und Schlammfluten die Geschichte der Menschheit von der Erde hinweg.«
In der Tat, es war ein furchtbarer Schlag für den Stolz der Menschen des späten Neogen, die bereits nach den Sternen zu greifen glaubten. Der Alptraum der Papyrolyse verschlang alle Lebensgebiete. In den Städten brach Panik aus, die ihrer Individualität beraubten Leute verloren den Verstand, die Warenzustellung brach zusammen, es kam zu Gewaltakten; Technik, Wissenschaft und Schulwesen zerfielen und gingen zugrunde. Wenn die energetischen Zentralen stillstanden, konnte man sie nicht reparieren, weil die Pläne fehlten. Das elektrische Licht erlosch, und die Flammen großer Brände erhellten die entstandene Finsternis.
So trat das Neogen in die chaotischen Zeiten ein. Die sollten über zweihundert Jahre dauern. Aus dem ersten Vierteljahrhundert des Großen Zerfalls gibt es keine geschriebenen Chroniken – verständlicherweise. Wir können also nur ahnen, unter welchen Bedingungen die Regierung der ein halbes Jahrhundert zuvor entstandenen Weltföderation dem Zerfall der Gesellschaft vorzubeugen trachtete. Je höher eine Zivilisation steht, desto lebenswichtiger wird es für sie, den Informationskreislauf aufrechtzuerhalten, desto empfindlicher reagiert sie auf jede Störung desselben.
Dieser soziale Blutaustausch hörte auf. Die einzige Schatzkammer des Wissens war nunmehr das Gedächtnis der Fachleute, dieses hätte man vor allem fixieren müssen. Das anscheinend einfache Problem erwies sich als unlösbar. Das Wissen des späten Neogen war so aufgegliedert, daß kein Spezialist sein Gesamtgebiet beherrschte. Zur Wiederherstellung war also eine langwierige und mühselige Zusammenarbeit von Spezialistengruppen erforderlich. Hätte man sie sofort in Angriff genommen, so behauptet Laa Bar, der achte Polygnostor der Bermandischen Historischen Schule, wäre die Zivilisation des Neogen schnell rekonstruiert worden. Man muß dem hervorragenden Schöpfer einer chronologischen Systematik des Neogen antworten, das von ihm postulierte Vorgehen hätte vielleicht zu einer Ansammlung von Wissensbergen geführt, nur hätte, nachdem die Aufgabe erfüllt war, niemand sie nutzen können. Die Nomadenhorden, die die Ruinen der zerstörten Städte verließen, wären dazu nicht imstande gewesen, und ihre verwilderten Kinder kannten die Kunst des Lesens und Schreibens nicht mehr. Man mußte die Zivilisation in dem Augenblick retten, als die Industrie sich auflöste, die Bautätigkeit aufhörte, das Transportwesen stillstand, als die hungernden Massen auf den verschiedenen Kontinenten und die ohne Nachschub bleibenden, in ihrer Existenz bedrohten Kolonien auf dem Mars um Hilfe riefen. Die Spezialisten konnten die Menschheit nicht ihrem Schicksal überlassen, um in der Zurückgezogenheit neue Aufzeichnungstechniken zu schaffen.
Man unternahm verzweifelte Anstrengungen. Die Gesamtproduktion bestimmter Zweige der Unterhaltungsindustrie, z. B. die sogenannten Filme, wurden für das vorübergehende Notieren der eingehenden Informationen über die Bewegung der Raumschiffe und Raketen verwendet, denn die Katastrophen häuften sich. Die aus dem Gedächtnis rekonstruierten Pläne der energetischen Netze wurden in Textilien abgedruckt. Alle zum Beschreiben verwendbaren Kunststoffe wurden an die Schulen verteilt. Gelehrte Physiker beaufsichtigten die Atommeiler, die zu explodieren drohten. Fachkundige Rettungsmannschaften hetzten von einem Punkt des Globus zum andern. Doch das waren alles nur Bröckchen von Ordnung, Atome von Organisation, die im Ozean des sich ausbreitenden Chaos untergingen. Man darf die von unablässigen Erschütterungen geplagte, in ständigem Kampf gegen die Überschwemmung durch Analphabetismus, Ignoranz und Retardierung stehende chaotische Kultur nicht danach beurteilen, was sie vom Erbe der Geschichte vergeudet, sondern danach, was sie trotz allem zu retten vermocht hat. Die erste Welle des Zerfalls aufzuhalten, forderte die meisten Opfer. Man rettete die irdischen Brückenköpfe auf dem Mars und rekonstruierte die Technologie, dieses Rückgrat der Zivilisation. Bandotheken und Mikrophone ersetzten die Lagerstätten des vernichteten Papyrs. Auf anderen Gebieten waren die Verluste leider entsetzlich. Da die Produktion neuer Aufzeichnungsmittel nicht einmal den dringendsten Bedarf deckte, gab man, um die Grundlagen der Zivilisation zu retten, alles preis, was ihnen nicht unmittelbar zugute kam. Die schwersten Einbußen erlitten die Geisteswissenschaften. Man überlieferte das Wissen mündlich, in Form von Vorträgen, und die Zuhörer wurden später zu Erziehern der nächsten Generation. Dies war eine der verblüffenden Primitivitäten der chaotischen Kultur; sie bewirkten, daß die Erde aus der Katastrophe wieder auftauchte, allerdings unter nicht wiedergutzumachenden Verlusten im Bereich der Geschichte, der Geschichtsschreibung, der Paläologie und Paläoästhetik. Gerettet wurde nur ein geringer Bruchteil des literarischen Erbes. In Staub verwandelt waren Millionen Bände historischer Chroniken, die unbezahlbaren Relikte des mittleren und späten Neogen.
Gegen Ende des chaotischen Abschnitts kam es schließlich zu einem höchst paradoxen Zustand, als die Menschheit bei relativ gut entwickelter Technik und angesichts der Anfänge der Gravitronik und der Technobiotik, trotz großer Erfolge im cisgalaktischen Massentransport von der eigenen Vergangenheit nichts oder fast nichts wußte. Was vom ungeheuren Kulturgut des Neogen bis in unsere Tage überdauert hat, sind nur verstreute Überreste, bis zur Unverständlichkeit verstümmelte Tatsachenberichte, die durch vielfache Weitergabe in mündlicher Tradierung verunstaltet wurden. Eine derartige Geschichte mit einer bis heute auch für die wichtigsten Ereignisse unsicheren Chronologie, voll von Lücken und weißen Flecken auf den Erkenntniskristallen, ist unser Erbe geworden. Man kann nur mit dem Subgnostor Nappro Leise sagen, daß die Papyrolyse sich in ihren Folgen als Historiolyse erwiesen hat. Erst vor diesem Hintergrund wird in seinen wahren Proportionen das Werk des Prognostors Wid-Wiß erkennbar, der in einsamer Arbeit und im Widerspruch zur offiziellen Historiographie die Aufzeichnungen einesMenschen des Neogen entdeckte. Über den Abgrund der Jahrhunderte hinweg spricht zu uns die Stimme eines der letzten Einwohner des verschollenen Staates Ammer-Ku. Dieses Zeugnis ist von um so größerem Gewicht, als es nichts Gleichartiges gibt, denn es läßt sich nicht mit den Papyrfunden vergleichen, die von der archäologischen Expedition des Paläognostors Mnemonita Bradrah Syrticus aus den Mergeltonschichten des unteren Präneogen hervorgeholt worden sind. Sie beziehen sich auf die Glaubensvorstellungen, die in Ammer-Ku zur Zeit der VIII. Dynastie herrschten. Es ist dort die Rede von allerlei Gefahren wie der Schwarzen, der Roten oder der Gelben. Wahrscheinlich handelt es sich um Beschwörungen der damaligen Kabbalistik in Zusammenhang mit der rätselhaften Gottheit Ras-Sa, der angeblich Menschenopfer dargebracht wurden. Doch diese Interpretation ist strittig zwischen der Transadenischen Schule, der Großsyrtischen Schule und den Schülern des bedeutenden God-Waad. Der überwiegende Teil der Geschichte des Neogen wird – so muß man befürchten – für immer geheimnisvoll bleiben, denn nicht einmal die Methode der Chronotraktion vermag uns wesentliche Einzelheiten über das gesellschaftliche Leben zu liefern. Für die Darstellung des teilweise rekonstruierten Geschichtsfragments ist in dieser Einleitung kein Platz. Wir beschränken uns auf eine Handvoll Bemerkungen, die in das Wesen der Aufzeichnungen einführen. Die Entwicklung der antiken Glaubensvorstellungen verlief zweigliedrig. Im ersten Abschnitt (Archäocredon) gab es verschiedene Religionen, die auf der Anerkennung eines übernatürlichen, nicht materiellen, alles Existierende verursachenden Elements beruhten. Aus dem Archäocredon sind als fortdauernde Denkmäler die Pyramiden (frühes Neogen) und einige mesogene Ausgrabungsfunde (die spitzbogigen Tempel Lafranziens) übriggeblieben. Im zweiten Abschnitt, dem Neocredon, nahm der Glaube einen anderen Charakter an. Das metaphysische Element verkörperte sich gewissermaßen in der materiellen, irdischen Welt. Damals herrschte der besonders wichtige Kult der Gottheit Kap-Eh-Thaal (oder Kappi-Thaa in der Transskription der Notizen auf dem Palimpsest von Cremona). Diese Gottheit wurde auf dem gesamten Gebiet von Ammer-Ku verehrt, darüber hinaus umfaßte der Kult Australoindien und einen Teil der europäischen Halbinsel. Ein Zusammenhang der auf dem Gebiet von Ammer-Ku gefundenen Elefanten- und Esel-Nachbildungen mit dem Kap-Eh-Thaal-Kult scheint fraglich. Der Name Kap-Eh-Thaal selbst durfte nicht ausgesprochen werden (ein Verbot ähnlich denen in Is-Rael), in Ammer-Ku nannte man die Gottheit hauptsächlich Thoo-Llar. Sie hatte übrigens noch viele andere liturgische Namen, mit deren jeweiliger Wertung sich besondere Orden beschäftigten (z. B. die Makk-Ler). Die Marktschwankungen des Werts einzelner Namen (oder auch Eigenschaften?) der Gottheit Kap-Eh-Thaal sind bis heute ein Rätsel geblieben. Die Schwierigkeit, den Sinn dieser letzten prächaotischen Religion zu verstehen, beruht darauf, daß man Kap-Eh-Thaal ein übernatürliches Dasein absprach, es war also kein Geist, man hielt es auch nicht für ein lebendiges Wesen (das hätte totemistische Züge dieses Kults bezeugt, was in einer Ära weit entwickelter Naturwissenschaften ungewöhnlich ist) und identifizierte es, mindestens im praktischen Tun, mit den beweglichen und unbeweglichen materiellen Gütern. Dennoch ist nachgewiesen, daß man ihm Opfer von der Zuckerrohr-, Kaffee- und Getreideernte darbrachte, und zwar in Zeiten wirtschaftlichen Niedergangs, als wollte man die grausame Gottheit um Verzeihung bitten. Den oben erwähnten Widerspruch vertieft noch die Tatsache, daß es im Kap-Eh-Thaal-Kult Elemente der Offenbarung gab; dementsprechend basierte die Welt auf dem sogenannten Vat-Eigentum. Versuche, dieses Dogma anzutasten, wurden streng bestraft.
Bekanntlich gingen der Epoche der globalen Kyberkonomik gegen Ende des Neogen die Ursprünge der Soziostase voraus; je mehr irdische Territorien der in komplizierten korporativen Ritualen und Zeremonien organisierte Kap-Eh-Thaal-Kult mit der Zeit an die der weltlichen soziostatischen Wirtschaft verlor, desto mehr verschärfte sich der Konflikt zwischen dem Herrschaftsbereich dieses überlebten Glaubens und der übrigen Welt. Zentrum des fanatischsten Glaubens blieb bis zum Schluß, d. h. bis zur Entstehung der Weltföderation, der Staat Ammer-Ku, der von aufeinander folgenden Präsiniden-Dynastien regiert wurde. Sie waren keine Priester des Kap-Eh-Thaal im genauen Wortsinn. Die Präsiniden (oder Press-Denn-Thiden nach dem Wortgebrauch der Tharrischen Schule) erbauten zur Zeit der XIX. Dynastie das Pentagon. Was war dieser erste einer Reihe steinerner Giganten des ausgehenden Neogen? Die Prähistoriker der Aquilinischen Schule hielten sie analog zu den Pyramiden zunächst für die Grabmäler der Präsiniden. Diese Hypothese entfiel jedoch im Licht späterer Entdeckungen. Auch entfielen die Annahmen, es habe sich um Kap-Eh-Thaal-Tempel gehandelt, in denen die Kreuzzüge gegen die Ungläubigen und die Strategien für deren erfolgreiche Bekehrung geplant wurden.
Wegen des Fehlens grundlegender Fakten, die es erlaubt hätten, dieses unzweifelhafte Schlüsselproblem zum Verständnis der letzten Phase, der Regierung der XXIV. und XXV. Dynastie, zu entscheiden, wandten sich die Historiker um Hilfe an das Institut für Temporistik. Angesichts der Bereitwilligkeit des Instituts war es möglich, die neuesten technischen Erfindungen aus dem Bereich der Chronotraktion für die Klärung des Rätsels der Pentagone zu nutzen. Das Institut nahm zweihundertneunzig Sondierungen in die Tiefe der Vergangenheit vor und verbrauchte 17 Trillionen Erg von der in den satellitären Zeitraffern des Mondes gespeicherten Arbeit. Wie die Theorie der Chronotraktion besagt, kann man sich nur fern von den großen Materiemassen in der Zeit zurückbewegen, da die Annäherung an solche ungeheure Energiemengen verschlingt. Deshalb wurden die Vergangenheitsbeobachtungen von hoch in der Stratosphäre angeordneten Sonden durchgeführt. Ihr unverhofftes Erscheinen am Himmel und ihr ebenso unverhofftes Verschwinden muß für die Menschen des Neogen kein geringes Rätsel gewesen sein. Wie der Prodoktor Sturlprans II. behauptet, hat die Mündung einer retrochronalen Sonde in der Vergangenheit ähnlich ausgesehen wie ein gewölbter Diskus, der an zwei zusammengelegte, sich frei im Raum bewegende Teller erinnert.
Die rückwärts orientierten Chronosonden erbrachten reichhaltiges Material, u. a. erhielten wir mit ihrer Hilfe authentische Photographien des Ersten Pentagons während seiner Erbauung. Dieses Gebäude in Form eines regulären Fünfecks mit einer Seitenlänge von 460 inf war ein wahres Labyrinth aus Stein und Beton. Die Länge seiner Korridore berechnet der Histognostor Ser Een auf 17 bis 18 damalige Meilen. Die Eingänge zu dem Gebäude wurden Tag und Nacht von zweihundert niederen Priestern bewacht. Chroniken, die in den Ruinen von Was-En-Ton ausgegraben wurden, gestatteten – nach weiteren Zeitbohrungen – die Entdeckung eines Zweiten Pentagons, weniger ansehnlich als das erste, da ein bedeutender Teil davon in die Erde eingelassen war. Bestimmte Stellen der bereits erwähnten Chroniken weisen auf die Existenz eines Dritten Pentagons hin, ein angeblich vollständig unabhängiges Objekt, gewissermaßen ein Staat im Staate mit spezieller Tarnung und riesigen Vorräten an Lebensmitteln, Wasser und Sauerstoff. Als jedoch systematische chronaxiale Sondierungen über dem Gesamtterritorium Ammer-Kus im 20. Jahrhundert keine Spur dieses Gebäudes fanden, neigte die Mehrheit der Historiker zu der These, in den ausgegrabenen Chroniken sei von einem Dritten Pentagon nur in übertragenem Sinn die Rede, dieses Gebäude sei – als Werk des Glaubens, der Imagination – in den Köpfen der Bekenner errichtet worden und die Verbreitung von Gerüchten über seine Existenz hätte zur Stärkung der Herzen bei der schwindenden Zahl der Kap-Eh-Thaal-Gläubigen gedient.
Dies war die offizielle Version der irdischen Historiographie, als der damals noch junge Prognostor Wid-Wiß seine archäologische Tätigkeit aufnahm.
Nachdem er aufgrund einer eigenen Methode alle zugänglichen Materialien studiert hatte, veröffentlichte er eine Arbeit, in der er behauptete, die Präsiniden hätten, als ihre Macht schwand und ihr Territorium schrumpfte, den Bau eines neuen Machtzentrums fern von den Wohnsitzen der Menschen, in einer abgelegenen Berggegend Ammer-Kus begonnen, und zwar tief unter den Felsen, um diese letzte Zuflucht der Gottheit für die Nichteingeweihten unzugänglich zu machen. Wid-Wiß war der Ansicht, das hypothetische Pentagon der Letzten Dynastie sei eine Art von kollektivem Kriegshirn gewesen; es habe die Aufgabe gehabt, sowohl über den reinen Glauben an Kap-Eh-Thaal zu wachen als auch jene Nationen zu bekehren, die diesen Glauben verlassen haben.
Wid-Wiß’ Hypothese wurde in Fachkreisen kühl aufgenommen, weil sie der Mehrzahl der bekannten Tatsachen widersprach. Besonders Kritiker wie die Supergnostoren Yoo Na Waka, Quirlsto und Pisuovo von der Marsianischen Schule für vergleichende Paläographie zeigten innere Widersprüche in dem von Wid-Wiß postulierten chronologischen System der Ereignisse auf. Entscheidend ist, daß nach Wid-Wiß’ Analyse das Letzte Pentagon nur wenige Jahrzehnte vor der Papyrkatastrophe erbaut wurde. Falls, hob die Kritik hervor, ein Drittes Pentagon wirklich existierte, hätten die dort versteckten Präsiniden sich ohne Zweifel bemüht, die anarchischen Zustände, die nach der Katastrophe herrschten, zu nutzen; sie hätten ganz zu Beginn der chaotischen Zeiten nach der Macht über die Erde gegriffen. Auch wenn dieser Anschlag auf die Herrschaft der Föderation unterdrückt worden wäre, hätte sich doch eine Spur in den mündlichen Überlieferungen erhalten. Doch habe die Historiographie nichts dergleichen notiert.
Wid-Wiß verteidigte seine These mit der Behauptung, als die Bevölkerung des Staates Ammer-Ku auf die Seite der »Ungläubigen« übergegangen sei und sich mit der Föderation vereint habe, hätten die Beherrscher des Letzten Pentagons seine vollständige Abschließung befohlen. Der unterirdische Moloch, der sich so von der gesamten Menschheit abtrennte, habe bis zur Papyrkatastrophe und zur chaotischen Zeit fortgedauert, ohne irgendwelchen Kontakt mit dem zu besitzen, was auf der Erdoberfläche vor sich ging. Wid-Wiß räumte ein, eine so vollkommene, hermetische Selbst-Abriegelung der hypothetischen Gemeinschaft aus Priestern und Kriegsdienern des Kap-Eh-Thaal von der Außenwelt wirke unwahrscheinlich. Er ging bis zu der Behauptung, das Letzte Pentagon habe Methoden gekannt, um zu beobachten, was auf der Erde vor sich ging, doch sei das kollektive Kriegshirn der Letzten Dynastie weder zu Invasionshandlungen noch zu Sabotageakten imstande gewesen. Es habe keinen Angriff oder Anschlag auf die Föderation unternehmen können, weil es sich, einmal unter den Felsen vergraben und von der weiteren Entwicklung der Geschichte abgeschnitten, nicht nur durch Mauern, sondern auch durch das System seiner inneren Verhältnisse eingekapselt habe; jetzt habe es nur noch vom Mythos gelebt, von der reinen Legende über die einstige Macht Kap-Eh-Thaals, es habe die Häresie in sich selbst erforscht, kontrolliert und bekämpft.
Diese letzten Thesen von Wid-Wiß überging die Historiographie mit Stillschweigen. Doch der Forscher gab sich nicht geschlagen. Siebenundzwanzig Jahre lang unternahm er mit einer Handvoll treuer Anhänger systematische Suchaktionen entlang der gesamten Kette des Felsen-Gebirges. Seine Hartnäckigkeit triumphierte schließlich, als man ihn fast vergessen hatte. Am 28. Maa 3146 der galaktischen Epoche stand die Spitzengruppe der Archäologen, nachdem sie viele Hundert Tonnen Felsgeröll zu Füßen des Haar-Vurda-Berges weggeräumt hatte, vor einem durch Tarnfarben maskierten, vorzüglich erhaltenen, gewölbten Metallschild, dem Eingang zum Letzten Pentagon. Die Erforschung des unterirdischen Gebäudes erwies sich als ein Unternehmen, das ungewöhnliche Kräfte und Mittel benötigte, denn zweiundsiebzig Jahre nach seiner Abschließung von der Welt war das Pentagon der Letzten Dynastie von einer Naturkatastrophe heimgesucht worden. Infolge einer unbedeutenden Verschiebung im Granitkern des Hauptbergmassivs platzte die Bodenschicht, und es entstand eine unmittelbare Verbindung mit dem tiefer liegenden Magma. Die in die Felsen eingefügte Schutzschale aus Beton hielt dem Druck nicht stand. Flüssige Lava drang in das Gebäude und füllte es von unten bis oben; so verwandelte sich der Ameisenhaufen jener unterirdischen, rätselhaften Tätigkeit der letzten Präsiniden in eine tote Versteinerung, die tausendsechshundertachtzig Jahre lang auf ihren Entdecker wartete.
Es ist nicht unsere Sache, den unendlichen Reichtum der Ausgrabungen im Dritten Pentagon darzustellen. Wir verweisen den Leser auf diesbezügliche Spezialarbeiten. Anzufügen sind nur noch einige Bemerkungen zur Einführung in die Lektüre der Aufzeichnungen.
Entdeckt wurden sie im dritten Ausgrabungsjahr auf einem Stockwerk vierten Ranges, im System der inneren Korridore, wo sich die Baderäume befinden. In einem davon, der wie alle anderen mit versteinerter Lava angefüllt war, fand man Teile zweier menschlicher Skelette und unter ihnen ein Papyrkonvolut, das Original der Aufzeichnungen.
Wie sich der Leser überzeugen wird, erwiesen sich die kühnen Vermutungen des Histognostors Wid-Wiß ganz überwiegend als richtig. Die Aufzeichnungen stellen das Schicksal einer unter der Erde eingeschlossenen Gemeinschaft dar, die, ohne das Wissen um die wirklichen Vorgänge an sich heranzulassen, so tat, als ob sie Hirn und Stab einer sich in die fernsten Galaxien erstreckenden Großmacht wäre, bis das So-tun-als-ob zum Glauben wurde und der Glaube zur Gewißheit. Der Leser wird zum Zeugen dessen, wie die fanatischen Diener des Kap-Eh-Thaal den Mythos eines sogenannten »Antigebäudes« geschaffen, wie sie das Leben durchsetzt haben mit gegenseitiger heimlicher Beobachtung, mit Untersuchungen der Rechtgläubigkeit und Hingabe an die legendäre »Mission«, selbst dann noch, als der letzte Anschein von Realität jener Mission sich bereits aus ihren Köpfen verflüchtigt hatte, so daß ihnen allein das immer tiefere Versinken in den Abgrund kollektiver Besessenheit geblieben ist. Die Geschichtswissenschaft hat das letzte Wort über die Aufzeichnungen nicht gesprochen, die man wegen des Fundorts auch Memoiren, gefunden in der Badewanne, nennt. Ferner besteht keine Einigkeit über die Entstehungszeit der einzelnen Manuskriptteile – die Hyberiadischen Gnostoren sehen die ersten elf Seiten als ein späteres Apokryph an. Für den Leser sind diese Spezialistenstreitigkeiten nicht wesentlich, und für uns ist es an der Zeit zu verstummen, damit die letzte, auf uns gekommene Überlieferung aus der neogenen Papyrepoche mit eigener Stimme sprechen kann.
Stanisław Lem
... das Zimmer mit der Nummer, auf die der Passierschein lautete, konnte ich nicht finden. Ich traf zuerst auf die Abteilung für Veristik, dann auf die Abteilung für Desinformation, wo mir irgendein Beamter der Hochdruck-Sektion empfahl, mich in die achte Etage zu begeben, doch dort wollte niemand auch nur mit mir sprechen. Ich irrte inmitten einer Menge von Chargen umher, jeder Korridor war voller energischer Schritte, Türknallen und lauter Absatztritte, und in diese martialischen Geräusche mischte sich mit gläserner Musik der Klang ferner Glöckchen wie von Schlitten-Janitscharen. Von Zeit zu Zeit trugen Bürodiener dampfende Teekessel hin und her, ich geriet aus Versehen in Toilettenräume, in denen sich Sekretärinnen eilig puderten und schminkten; als Liftboys verkleidete Agenten knüpften Gespräche mit mir an – einer, mit einer Invaliden-Prothese, hatte mich schon so oft von Etage zu Etage gefahren, daß er mir bereits von weitem zunickte und sogar schon aufgehört hatte, mich mit einem Apparat zu photographieren, der als Nelke in seinem Knopfloch steckte. Gegen Mittag begann er bereits, mich zu duzen und zeigte mir sein Hobby – ein unter dem Fußboden des Fahrstuhls verborgenes Magnetophon – doch bei immer schlechterer Laune hatte ich keinen Sinn dafür.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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