18,99 €
Der Dichter Wolf Biermann ist bekannt als politischer Rebell. Es gibt da allerdings noch einen anderen Wolf Biermann, der bislang sehr viel weniger kenntlich war.
Biermanns neues Buch Mensch Gott! versammelt Gedichte und Texte aus fünf Jahrzehnten. Zeugnisse eines Ungläubigen im lebenslangen Disput mit Gott, und – nicht zu vergessen – mit »Gottes Bodenpersonal« aller Glaubensrichtungen.
Biermann steckt »dem Hirten ins Gebetsbuch« sein Gedicht. Er erzählt vom Zweifel am »Kinderglauben« und vom irdischen Sinn der göttlichen Auferstehung. Ein Spottlied vom »armen Teufel« und ein Bekenntnis zum »Phantomschmerz aus dem Paradiese«. Biermann erklärt, warum ausgerechnet die schwarze Madonna den Aufsässigen den Rücken stärkt. Texte voll Ermutigung und Hoffnung, Trost, aber auch Zorn und manchmal fast zärtlichem Sarkasmus. Kein Wunder, daß sein Lied »Ermutigung« es bis ins Gesangbuch der protestantischen Schwedischen Kirche geschafft hat.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 147
Wolf Biermann
Mensch Gott!
Suhrkamp Verlag
Cover
Titel
Widmung
Inhalt
Informationen zum Buch
Impressum
Hinweise zum eBook
Cover
Titel
Widmung
Inhalt
All meine Gläubigkeit
Ermutigung (1966)
Das kann doch nicht alles gewesn sein oder Lied vom donnernden Leben (1975)
Hinter der Mauer (1965)
Kunststück (1964)
Melancholie, meine Hoffnung
Melancholie (Frühjahr 1989)
Wer sich nicht in Gefahr begibt (1969)
Mich wundert (2001)
Confessio (1985)
Große Ermutigung (1966)
Wann ist denn endlich Frieden (1967)
Größe des Menschen (1967)
Gebenedeit
Das Barlach-Lied (1963)
Ich möchte, wenns mich müdet, einen Wein (1975/1994)
Und wir hatten keine Höhle (1975)
Wendungen (2005)
Die Bibel-Ballade (1974)
Durst (1984)
Einsam war ich lange Jahre (1963)
Església Catedral Basilica de Santa Maria (2005)
Großes Gebet der alten Kommunistin Oma Meume in Hamburg (1967)
Totenlied für Jürgen Fuchs (1999)
Bilanzballade im dreißigsten Jahr (1966)
Lied des alten Kommunisten F. (1967)
Bildnis einer jungen Frau (1987)
Pin Parasol (2002)
Heimweh (2006)
Ich glaube an Gott. Die Junge Gemeinde 1953
Von den Menschen (1981)
Es gibt ein Leben vor dem Tod (1975)
Einem Hirten ins Gebetbuch (1993)
Credo (2001)
Berliner Osterlied (2002)
Paradieschen (1996)
Biermanns Ode auf den alten Adam (2014)
Holy Sonnet
XIV
Holy Sonnet
XIV
Gebet eines Roma im Barrio Portugalete (1977)
Ironie reicht nicht aus (1972)
Mein Kreuz (1967)
Mag sein, daß ich irre (1977)
Solidarność
Aus der Traum (1981)
Beichte (1981)
Aber vorher (1981)
Zahlenspielchen mit George Orwell (2020)
Die Auferstehung
Rotgefärbter Tatsachenbericht vom wahren Leben und Tod des Jesus Christus (1975)
Armer Teufel (1989)
Religionsunterricht (2003)
Hanseatischer Kinderkatechismus für Mollie (2006/2021)
Ich hatte viel Bekümmernis Bachkantate No. 21
Kleine Ermutigung (1963)
Und als wir ans Ufer kamen (1976)
Der Hugenottenfriedhof (1969)
Grauer Vogel (1967)
Virginias Lied vom Schlimmsten (1964)
Ballade zur Beachtung der Begleitumstände beim Tode von Despoten (1964)
Pardon (1985)
Winterlandschaft im Lande Angeln (2006)
Cor ne edito (1988)
Regenbogen (1985)
Gendergottloses Glaubensbekenntnis (2020)
Heimat (2006)
Meine Jüdischkajten
Gesang für meine Genossen (1967)
Ost-Westliche Milchstraße (2006)
Die Folgen der Verlesung des Oratoriums »Die Ermittlung« durch prominente Mitglieder der Akademie der Künste am 19. Oktober 1965 im Sitzungssaal der Volkskammer der
DDR
(1965)
Die Rheinfahrt (1998/2011)
Hochwasser in Paris (1983)
Nur wer sich ändert, bleibt sich treu (1991)
David und Goliath (1995)
Abrahams Söhne (2002)
Nach Auschwitz (1979)
Um meinetwillen – Erez Israel (2008)
Fußnoten
Informationen zum Buch
Impressum
Hinweise zum eBook
Kein Ei kann sich das Nest aussuchen, in dem es ausgebrütet wird. Kein Menschenkind wählt den Kinderglauben, mit dem es großgefüttert wurde und dann in die Welt gestoßen. Meine Mutter war strenggläubige Atheistin, das war ihr aufgeklärtes Bildungserlebnis in den zwanziger Jahren, und darauf war sie bannig stolz. Ich wurde in einem roten Nest ausgebrütet, wurde flügge auf einem brennenden Bolschewisten-Baum mitten in der braunen Nazi-Zeit. Noch prekärer: in einer jüdischen Kommunistenfamilie. Unsere gottlose Religion trank ich mit der Muttermilch. Nach dem Kriege wurde ich in der kommunistischen Kirche konfirmiert. Der heilige Karl Marx war unser lieber Gott. Und Stalin war sein Prophet. Mein Vater, der ungebrochene Widerstandskämpfer Dagobert Biermann, blieb mein gebenedeiter Märtyrer.
Der gewiefte Existenzphilosoph Jean-Paul Sartre drechselte uns eine fast hegelianische Sentenz: »Wir beurteilen die Menschen nicht nach dem, was aus ihnen gemacht wurde, sondern danach, was sie aus dem gemacht haben, was aus ihnen gemacht wurde.« Dieser dialektische Zungenbrecher gilt für jedermann, und allemal für einen wie mich.
Ziemlich spät, erst im Jahre 1983, als die Mauer ja noch ewig stand, hatte ich als Mann endlich den Mut, erwachsen zu werden: Ich brach mit meinem eingeborenen Kinderglauben und wurde ein guter Renegat. Erst in den fremdvertrauten Freiheiten der Demokratie begriff ich, daß jeder Versuch, das Himmelreich auf die Erde zu zwingen, die Menschen unentrinnbar in immer tiefere Höllen zwingt.
Für mich war dieser Verrat not-wendig, denn solche Brüche wenden eine Not. Meine radikale Selbstbehauptung tat weh. Der Erkenntnisprozeß war kompliziert und so überschwer, wie meines Vaters Vorbild wog in meinem Herzen. Ihn wollte ich nicht verraten. Er war als Kommunist gefoltert und dann als Jude in Auschwitz ermordet worden. Diesen Toten wollte ich nicht töten.
Auch der Preuße Theodor Fontane kannte wohl dies Problem: »Heldentum ist immer das Produkt einer Zwangslage.« Zum Überlebenskünstler wird man womöglich geboren, aber nicht zum Rebellen gegen die Grundwerte der eigenen Großfamilie.
Ich – der Gutgläubige – protestierte in der DDR in radikaler Manier des revolutionären Reformators Martin Luther. So wie ich an den Kommunismus glaubte, so hatte einst Luther an den gleichen Gott wie sein gottverlassener Ablaß-Großhändler in Rom geglaubt. Der kleine Mönch attackierte das Bodenpersonal Christi mit der Bibel. Und er schimpfte den Papst einen Teufel. Er prügelte Gottes Stellvertreter auf Erden mit Gottes Wort in der Heiligen Schrift. Und mit solch immanenter Kritik prügelten Leute wie ich die machtbesoffenen Bonzen der DDR mit dem Kommunistischen Manifest des Karl Marx. Ohne meinen Glauben an die heilige Kuh Kommunismus hätte ich den Streit mit den Bonzen der Partei kaum durchgehalten. In den elf Jahren meines Totalverbots hat mein Glaube, der eine Illusion war, mich gestärkt. Marx ermutigte mich zum Widerstand gegen unsere Unterdrücker.
Alle Religionen lassen sich im Streit der Welt bei Bedarf reaktionär zweckentfremden. Der Glaube an Gott wird mißbraucht als Machtinstrument der Einschüchterung und Verblendung des Volkes. Immer wieder aber auch echt emanzipatorisch: ein moralischer Halt im Widerstand und Ermutigung zur Rebellion gegen Unterdrückung. Nimm nur die Schwarze Madonna von Tschenstochau! Diese katholische Freiheitsgöttin kämpfte auf Seiten der Gewerkschaft Solidarność in Danzig. Sie stärkte das Volk gegen die dschugaschwilische Monopolbürokratie, als 1980 die Werftarbeiter in Danzig streikten. Und genauso ermutigte der Glaube an Gott auch eine tapfere Schar echter Christen in der DDR zur Insubordination. Solch echte Protestanten und Katholiken wurden von der Partei bevorzugt … verfolgt. Die Wahrscheinlichkeit, daß ein Christenmensch in der DDR zum Menschenschweinehund mutiert, war kleiner als im Westen. Ich erlebte, daß wirklich treue Hirten und echt fromme Schafe – was Wunder! –, daß diese gläubigen Menschen meine natürlichen Verbündeten waren im Kampf gegen den Stalinismus.
An welchen Gott, egal welcher Konfession ein Menschenkind glaubt, das soll mich nicht von ihm trennen. Und wenn ich so einen Frommen treffe, der das Markenzeichen seiner Firma demonstrativ vor sich herträgt, dann argwöhne ich skeptisches Lästermaul automatisch: Hoffentlich glaubt dieser Mensch wirklich an seinen auserwählten Gott! Ich jedenfalls, das gebrannte Kind Karl-Wolf Biermann, kann weder an Gott noch an Götter glauben. Ich werde auch niemals für wahr halten, daß unser Wunderrabbi am Kreuz ein Welterlöser war. Weiß Gott, die Welt sähe anders aus! Aber auch auf den herbeigesehnten Messias der orthodoxen Juden möchte ich Judenkind meine kurze Zeit auf Erden nicht verwarten.
Überhaupt auf jede Spekulation in Richtung eines schlaraffenländischen Narrenparadieses kann ich verzichten, solange die Chance bleibt, daß die närrische Gattung Mensch unsere kleine Erde nicht vollends in eine Hölle verwandelt.
Ein wahres Wort: Das Schicksal des Menschen ist der Mensch. Tja, leider!! So grinsen die klugen Pessimisten. Aber die klügeren Optimisten lächeln: Gottseidank!
Antisemitismus kann niemals ein Menschenrecht sein, und jeglicher Rassismus ist keine Meinung. Was an der sogenannten Cancel Culture Hysterie ist und was Aufklärung, wird sich im Meinungsstreit erweisen. Und gottbewahre!, nicht jeder Humbug ist Glauben.
George Orwell hat es 1948 offenbart: Fakesprech ist noch längst keine Sprache. Und Querdenker sind weder Denker noch im guten Sinne quer. Ich nenne sie beim Namen: Dumpfdünkler.
Die Verschwörungstheoretiker sind keine Theoretiker. Und Endzeitpropheten waren nie Propheten. Die völkische »Identitäre Bewegung« erinnert mich an die Monstruos der Aquatinta-Radierung des Francisco de Goya »Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer«. Die Aufklärung verdorrt. Der Aberglaube blüht. Und die Intoleranz schießt mal wieder ins Kraut. Digitale Giftzwerge schießen mit stumpfsinnigen Wutworten, rechte und linke Terroristen mit scharfen Handfeuerwaffen.
Jetzt, in den Zeiten der Corona-Pandemie, wütet eine noch fatalere Seuche: Die Sozialen Medien erweisen sich als asoziale Gelddruckmaschinen gigantischer Medienkonzerne. In den Innenstädten blüht der Schwachsinn: Klebesticker mit den Codeworten »Pizzagate« und »QAnon«. Paranoide Slogans wie »Gib Gates keine Chance!« oder »Gegen den Impf-Terror der Merkel-Diktatur«. Und das Nazi-Symbol »Schwarze Sonne« der esoterischen Rechtsextremisten, diese drei Hakenkreuze über Kreuz, sie flackern als Menetekel am Internet-Himmel. Zynische Putinversteher und chronische Judenfresser und panische Islam-Feinde kämpfen Seite an Seite für ihre hysterischen Haß-Freiheiten.
Ich DDR-Deutscher habe es am eigenen Leibe erlebt: Wer sich des eigenen Verstandes bedient, ist immer die schlimmste Bedrohung für jede Diktatur. Aber jetzt, in der freien Welt des Rechtsstaates, erkenne ich, daß für jede Demokratie nicht etwa das Denken, sondern die Gedankenlosigkeit die allergrößte Gefahr ist.
Der atheistische Dichter und Meister des Aphorismus, der polnische Jude Stanisław Jerzy Lec, entschied alle Maulschlachten im Religionsdisput: »Ob ich gläubig bin, das weiß nur Gott allein!«
Ich habe inzwischen begriffen, daß mein Glaube sich von dem der Gläubigen eigentlich nur in einer einzigen und zudem nichtigen Wichtigkeit unterscheidet. Christen, Juden und Moslems wissen sicher, daß Gott den Menschen gemacht hat – aber ich glaube fest daran: Der Mensch macht sich selbst. Ja, ich glaube an den Menschen und weiß sehr wohl: das ist noch verrückter und läßt sich – nebbich! – noch schlechter begründen.
Als der Mensch sich Gott erschuf, nach seinem Ebenbilde, da projizierte er in dieses Kunstwerk alle Elemente erlesener Schönheit, wechselnde Werte der Humanität und der Heiterkeit auch im Leiden. In diesem Selbstportrait stecken unsere schmerzlichsten Erfahrungen und kühnsten Hoffnungen. Schon deshalb habe ich niemals versucht, einem gläubigen Menschen seinen Glauben auszureden.
Gott soll uns schützen gegen die immer raffinierteren Technologien der Selbstverhäßlichung und Selbstvernichtung. So vergewissert der Mensch sich seiner selbst.
Wie einst Sonne und Sternbilder dem Seefahrer auf den Weltmeeren die Orientierung erleichterten, so hilft dem Gläubigen auch heute beim Navigieren durchs Leben sein Gott als ethischer Sextant. Aber ein GPS für bequemeren Fortschritt, für eine total sichere Expedition in die menschengemachte Zukunft, wird es nie geben.
Und ob uns so etwas wie ein Leben nach dem Tode blüht, das ist mir egal – solange es ein lebendiges Leben gibt: vor dem Tod!
Peter Huchel gewidmet
Du, laß dich nicht verhärten
In dieser harten Zeit
Die all zu hart sind, brechen
Die all zu spitz sind, stechen
Und brechen ab sogleich
Du, laß dich nicht verbittern
In dieser bittren Zeit
Die Herrschenden erzittern
– sitzt du erst hinter Gittern –
Doch nicht vor deinem Leid
Du, laß dich nicht erschrecken
In dieser Schreckenszeit
Das wolln sie doch bezwecken
Daß wir die Waffen strecken
Schon vor dem großen Streit
Du, laß dich nicht verbrauchen
Gebrauche deine Zeit
Du kannst nicht untertauchen
Du brauchst uns, und wir brauchen
Grad deine Heiterkeit
Wir wolln es nicht verschweigen
In dieser Schweigezeit
Das Grün bricht aus den Zweigen
Wir wolln das allen zeigen
Dann wissen sie Bescheid
Das kann doch nicht alles gewesn sein
Das bißchen Sonntag und Kinderschrein
das muß doch noch irgendwo hin gehn
hin gehn!
Die Überstundn, das bißchen Kies
Und aabns inner Glotze das Paradies
da in kann ich doch keinen Sinn sehn
Sinn sehn!
Das kann doch nich alles gewesn sein
Da muß doch noch irgendwas kommen! nein
da muß doch noch Leebn ins Leebn
eebn!
He, Kumpel, wo bleibt da im Ernst mein Spaß?
Nur Schaffn und Raffn und Hustn und Haß
und dann noch den Löffl abgebn
gebn!
Das soll nun alles gewesn sein
Das bißchen Fußball und Führerschein
das war nun das donnernde Leebn
Leebn!
Ich will noch 'n bißchen was Blaues sehn
Und will noch paar eckige Rundn drehn
und dann erst den Löffel abgebn
eebn!
Ach Freund geht es nicht auch dir so?
Ich kann nur lieben
was ich die Freiheit habe
auch zu verlassen:
Dieses Land
diese Stadt
diese Frau
dieses Leben
Eben darum lieben ja
Wenige ein Land
Manche eine Stadt
Viele eine Frau
aber das Leben: Alle!
Wenn ich mal heiß bin
Wenn ich Werweiß bin
Hol ich mir 'ne Wolke runter
Und wring sie über mir aus
– kalte Dusche: Kunststück!
Wenn ich mal kalt bin
Wenn ich mal alt bin
Hol ich mir die Sonne runter
Und steck sie mir ins Jackett
– kleiner Ofen: Kunststück!
Wenn ich bei Dir bin
Wenn ich Dein Tier bin
Schwimmen Wolken mit uns runter
Rollt die Sonne gleich mit
– das ist Liebe: Kunststück!
Wenn ich verrückt bin
Wenn ich bedrückt bin
Hol ich mir den Lieben Gott runter
Und ER singt mir was vor
– so gehn Lieder: Kunststück!
Wenn ich mal blau bin
Wenn ich mal schlau bin
Steig ich kurz zum Teufel runter
Und spendier Stalin ein Bier
– armer Mörder: nebbich!
Wenn ich mal tot bin
Wenn ich im Lot bin
Werd ich Grenzer und bewache
Die Grenz zwischen Himmel und Höll
– Ausweis bitte!! – Kunststück!
Es gibt ein berühmtes Bild von Paul Klee, die feine Zeichnung eines Engels, des Angelus Novus, wie der Maler ihn taufte. Er meinte also einen Cherub, einen der Grenzwächter Gottes im Paradiese. Den Philosophen Walter Benjamin inspirierte dieses Bild zu einer eindrucksvollen Metapher. Er schrieb im Exil 1940: »Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.«
Wie der Angelus Novus, so blickte auch meine Mutter auf ihr Leben zurück, und sie sah einen Trümmerhaufen. Emma wurde 90 Jahre alt. Die Maschinenstrickerin war seit ihrer frühen Jugend in der Kommunistischen Partei organisiert. Sie kämpfte gegen den Nationalsozialismus, und sie verlor dabei ihren Mann und viele ihrer liebsten Menschen. Sie durchlitt große Bekümmernisse. In dunklen Stunden haderte sie mit ihrem Leben, dann kam es ihr vor, als habe sie falsch gelebt, umsonst gebebt und gelitten und gekämpft. Manchmal klagte sie: »Weißt du, ich beneide diese Christen. Die können sich wenigstens an ihren Gott klammern. Wir nicht. Wir haben keinen Trost. Mein Junge, woran klammert sich unsereins in der Seelennot? Wenn wir kaputtgehn, haben wir keinen Heiland in Reserve.«
Recht hat sie. Wir Gottlosen sind hochmütiger und elender. Wenn unsereins im Knast sitzt – kein Engel schwebt durch die schwedischen Gardinen mit einem Stück Seelenbrot. Wenn wir verzweifeln – kein netter alter Mann reckt sich durch die Wolken herab und leckt mit langer Zunge hier unten auf Erden unsere Wunden.
Aber auch Christen haben ihren lieben Gott nicht immer sicher im Rücken. Gott stirbt am Gift der vernünftigen Gottesbeweise, denn er will geglaubt sein und nicht bewiesen.
»Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken, daß er meines Angesichtes Hilfe und mein Gott ist«, heißt es im Psalm 42:12.
Warum aber eigentlich nicht traurig sein? Es ist ja grad die Traurigkeit, die uns in die Hoffnung treibt.
»Was mich treibt, ist nicht so sehr der unbrechbare Wille zur Hoffnung als vielmehr die kategorische Ablehnung der Mutlosigkeit, somit der Widerstand gegen die Resignation«, das schrieb der Schriftsteller und Sozialpsychologe Manès Sperber.
Mit einem Freund Sperbers, dem Philosophen Emil Cioran, geriet ich in einen wohltemperierten Streit über die Lieblingskategorie seines Kollegen Ernst Bloch, des Predigers des Prinzips Hoffnung. Wenn Cioran das Wort Hoffnung hörte, sträubten sich ihm die Haare. Hoffnung war eine Kategorie, die für einen waschechten Nietzscheaner ein Brechmittel war. Ihn empörte die Perspektive einer Weltsicht, in der die Kategorie Hoffnung als zentraler Fluchtpunkt verwendet wird. Das Prinzip Hoffnung war für ihn die dumpfduselige Beleidigung für sein eigenes Denkmodell einer illusionslosen Verzweiflung über die Welt, skeptisch in der rationalen Tradition von Montaigne und Spinoza, Pascal und Nietzsche. Emil Cioran war ein radikaler Negativist, also ein luzider Alles-schwarz-Seher und schrieb hellsichtige Bücher darüber, wie gut es ist, daß der Mensch dieses eine Privileg vor allen Tieren hat: Er kann sich selbst töten.
Ja, dieser böse Denker propagierte lebensfroh den Selbstmord. Und seine Schriften verbreiteten sich auch unter Studenten. Cioran war 1937 aus Rumänien nach Paris gezogen, noch war er ein Bewunderer Hitlers und ein strammer Antisemit – wofür er sich später entschuldigte. Dieser Mensch lebte, wie es sich für einen steilen Philosophen gehört, allein in einer Wohnung unterm Dach im sechsten Stock im Quartier Latin. Der Alte dachte nicht daran, in ein Haus umzuziehen, das über einen Fahrstuhl verfügt. Der alte Cioran erklomm stur jeden Tag mehrfach die zwölf Treppen ins sechste Stockwerke.