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Der Soziologe Uwe Schimank erklärt, dass man die an Konflikten nicht arme Ampel-Koalition positiv sehen könnte: nämlich als Ausdruck real existierender Probleme der gesellschaftlichen Integration. Die Chip-Industrie hat die Welt verändert: Wie es dazu kam und wohin es womöglich noch führt, erklärt John Lanchester in einem Rezensionsessay zu Chris Millers großer historischer Studie "Chip Wars". Was es, philosophisch gesehen, heißt, davon zu reden, die Welt zu verändern, analysiert Andreas Dorschel. Aus eigener Anschauung lässt Berthold Franke den Kulturwandel des Goethe-Instituts Revue passieren. In seiner Philosophiekolumne platziert Gunnar Hindrichs die Frage des Krieges im Rahmen von Großtheorien politischer Weltdeutung, von Carl Schmitt bis Robert Kurz. Konstantin Petry geht in seiner Lektüre von Dirk Oschmanns Bestseller "Der Osten: eine westdeutsche Erfindung" dem Verdacht nach, dass das Buch womöglich klüger ist als sein Autor. Alexander Klose und Benjamin Steininger deuten den Ukraine-Krieg in Zeiten des Anthropozän als Kampf der "Geister der Petromoderne". Den Wandel von Begriff und Idee des "Naturschutzes" untersucht Jens Soentgen. Von Kiffern in Käffern und Städten berichtet Leander Steinkopf. In seiner Schlusskolumne schildert David Gugerli, wie es angesichts der Unübersichtlichkeit bestehender informatischer Systeme am CERN zum Siegeszug des Internet-Protokolls kam.
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Seitenzahl: 184
Gegründet 1947 als Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken
Der Merkur ist eine Kulturzeitschrift, wobei der Begriff der Kultur in denkbar weitem Sinne zu verstehen ist. Er erscheint monatlich und wendet sich an ein anspruchsvolles und neugieriges Publikum, das an der bloßen Bestätigung der eigenen Ansichten nicht interessiert ist. Mit kenntnisreichen und pointierten Essays, Kommentaren und Rezensionen hält der Merkur gleichermaßen Distanz zum Feuilleton wie zu Fachzeitschriften. Die Unterzeile »Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken« formulierte bei der Gründung im Jahr 1947 das Bekenntnis zu einer weltanschaulich unabhängigen Form von Publizistik, die über kulturelle und nationale Grenzen hinweg alle intellektuell relevanten Debatten ihrer Zeit aufnehmen wollte. Auch wenn der Horizont für ein solches Unternehmen sich mittlerweile deutlich erweitert hat, trifft das noch immer den Kern des Selbstverständnisses der Zeitschrift.
Heft 890, Juli 2023, 77. Jahrgang
Herausgegeben von ChristianDemand und EkkehardKnörer
Gegründet 1947 von Hans Paeschke und Joachim Moras
Herausgeber 1979–1983 Hans Schwab-Felisch1984–2011 Karl Heinz Bohrer1991–2011 Kurt Scheel
Lektorat / Büro: Ina Andrae
Redaktionsanschrift: Mommsenstr. 27, 10629 Berlin
Telefon: (030) 32 70 94 14 Fax: (030) 32 70 94 15
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Bezugsbedingungen: Der Merkur erscheint monatlich. Preis 15 €; im Abonnement jährlich 152 € / 176 sFr; für Studenten gegen Vorlage einer Bescheinigung 96 € / 114 sFr; alle Preise jeweils zzgl. Versandkosten. · Die elektronische Version dieser Zeitschrift mit der Möglichkeit zum Download von Artikeln und Heften finden Sie unter www.merkur-zeitschrift.de. Der Preis für das elektronische Abonnement (E-Only) beträgt 152 € / 176 sFr; für Studenten und Postdocs gegen Vorlage einer Bescheinigung 48 €; für Privatkunden, die gleichzeitig die gedruckte Version im Abonnement beziehen, 26 € / 36 sFr. Im jeweiligen Preis der elektronischen Abonnements ist der Zugriff auf sämtliche älteren digitalisierten Jahrgänge enthalten. Preise für Bibliotheken und Institutionen auf Anfrage. Alle genannten Preise enthalten die zum Zeitpunkt des Kaufs gültige Mehrwertsteuer. In Drittländern jenseits der Schweiz (und außerhalb der EU) gelten die angegebenen Preise netto. · Die Mindestbezugsdauer beträgt ein Jahr. Erfolgt keine Abbestellung spätestens vier Wochen vor Ende des Bezugszeitraumes, verlängert sich das Abonnement auf unbestimmte Zeit; dieses kann sodann jederzeit mit einer Frist von einem Monat gekündigt werden. Es gelten unsere allgemeinen Bezugsbedingungen für Zeitschriftenabonnements (ABBs).
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(D) 15 € (A) 15,80 € (CH) 18 SFr
ISSN Print 0026-0096 / ISSN Online 2510-4179 www.merkur-zeitschrift.de
ISBN 978-3-608-12174-2
Autorinnen und Autoren
Zu diesem Heft
BEITRÄGE
Uwe Schimank: Die drei Integrationsprobleme moderner Gesellschaften
John Lanchester: Über Mikrochips
Andreas Dorschel: Die Welt verändern
Welt und Welten
Berthold Franke: Lob der Naivität
Über Generationen im Goethe-Institut
KRITIK
Gunnar Hindrichs: Philosophiekolumne
Bedingungen für Krieg
Konstantin Petry: Neues vom edlen Wilden
Über Dirk Oschmanns »Osten«
MARGINALIEN
Alexander Klose; Benjamin Steininger: Geister der Petromoderne
Jens Soentgen: Vom Naturschutz zur Produktion von Natur
Leander Steinkopf: Die Kiffer der Käffer
David Gugerli: Unübersichtlichkeit
Vorschau
UweSchimank, geb. 1955, Professor im Ruhestand für Soziologische Theorie am Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik Socium der Universität Bremen. 2017 erschien Das Regime der Konkurrenz: Gesellschaftliche Ökonomisierungsdynamiken heute (mit Ute Volkmann). [email protected]
JohnLanchester, geb. 1962, Schriftsteller und Publizist. 2019 erschien der Roman Die Mauer. – Der Beitrag erschien am 16. März 2023 unter dem Titel Putting the Silicon in Silicon Valley in der London Review of Books.
AndreasDorschel, geb. 1962, Professor für Ästhetik an der Kunstuniversität Graz. 2021 erschien Wortwechsel. Zehn philosophische Dialoge, 2022 Mit Entsetzen Scherz. Die Zeit des Tragikomischen.
BertholdFranke, geb. 1956, Sozialwissenschaftler, war unter anderem Leiter der Goethe-Institute in Prag, Brüssel und New-Delhi. [email protected]
GunnarHindrichs, geb. 1971, Professor für Philosophie an der Universität Basel. 2017 erschien Philosophie der Revolution; 2020 Zur kritischen Theorie.
KonstantinPetry, geb. 1997, Student. [email protected]
AlexanderKlose, geb. 1969, freiberuflicher Kulturforscher, Publizist und Kurator. 2020 erschien Erdöl – Ein Atlas der Petromoderne (zus. m. Benjamin Steininger). Gemeinsam mit Benjamin Steininger gründete er 2016 das Kollektiv »Beauty of Oil« zur Erforschung der Komplexitäten und Widersprüche der Petromoderne. beauty-of-oil.org
BenjaminSteininger, geb. 1974, Kulturwissenschaftler, Postdoc am Exzellenzcluster UniSysCat der TU Berlin und am MPI für Wissenschaftsgeschichte. 2020 erschien Erdöl – Ein Atlas der Petromoderne (zus. m. Alexander Klose). [email protected]
JensSoentgen, geb. 1967, Philosoph und Chemiker. Leiter des Wissenschaftszentrums Umwelt der Universität Augsburg. 2021 erschien Pakt mit dem Feuer. Philosophie eines weltverändernden Bundes; 2022 Staub. Alles über fast nichts. [email protected]
LeanderSteinkopf, geb. 1985, Schriftsteller. 2021 erschien Neue Schule – Prosa für die nächste Generation (Herausgeber).
DavidGugerli, geb. 1961, seit 1997 Professor für Technikgeschichte an der ETH Zürich.
DOI 10.21706/mr-77-7-3
Die Beiträge dieser Ausgabe beschäftigen sich mit ganz unterschiedlichen Fragestellungen. Das thematische Spektrum reicht von der zunehmenden geopolitischen Bedeutung der Computerchip-Produktion in Taiwan über die Dialektik eines Naturschutzes, der die zu schützende Natur seinerseits erst herstellen muss, bis zum verhängnisvollen Sog der populären Vorstellung, die Welt (im Singular) verändern zu können oder womöglich gar zu müssen.
Was die Texte gleichwohl untereinander verbindet, ist das Bemühen, die Komplexität, Eigenwilligkeit und Widersprüchlichkeit der darin beschriebenen und bewerteten Phänomene herauszuarbeiten, den Widerstand, den sie auch den bündigsten Erklärungsformeln entgegensetzen, also nicht zu ignorieren, sondern ihn in der Hoffnung ernst zu nehmen, dass die Anstrengung zu einem Erkenntnisgewinn führt. So hinterfragt etwa Gunnar Hindrichs die im öffentlichen Diskurs hierzulande fest etablierte Deutungsfigur, der zufolge beim Ukrainekrieg »das Recht auf Selbstbestimmung eines Staates von einem anderen Staat gebrochen« worden sei.
Statt demgegenüber aber nun einfach die bekannte Gegenerzählung stark zu machen, die davon ausgeht, dass dieser Krieg als Antwort auf die legitimen Sicherheitsinteressen Russlands begriffen werden müsse, schlägt Hindrichs vor, die beiden Thesen nicht etwa als einander ausschließende Alternativen zu betrachten, sondern als »Kippfigur«: eine Konstellation widerstreitender Erklärungsansätze, die beide in Kategorien des 19. Jahrhunderts gefangen sind und so den veränderten Rahmenbedingungen der globalisierten Weltverhältnisse der Gegenwart nicht gerecht werden.
CD /EK
Beiträge
DOI 10.21706/mr-77-7-5
Uwe Schimank
Das jüngste Koalitionsgerangel der »Ampel« ist noch nicht lange her. Sie hatte sich vorgenommen, auf längliche Nachtsitzungen des Koalitionsausschusses à la GroKo zu verzichten, und übertraf dann mit einem Dreißig-Stunden-Marathon-Treffen alles Bisherige. Von vielen wurde das als starkes Symptom dafür gewertet, wie fragil der Zusammenschluss von SPD, Grünen und FDP inzwischen ist. Nimmt man sich etwas Zeit, genauer darüber nachzudenken, kommt man allerdings auch noch auf andere, womöglich viel entscheidendere Punkte: Könnte es sein, dass mit der »Ampel« genau jene Konstellation politischer Positionen zusammen zu regieren versucht, die jetzt und in den kommenden Jahrzehnten – sofern wir es schaffen, bis dahin als demokratische Gesellschaft zu überleben – von den objektiven Problemlagen her gefordert ist? Und wenn ja: Liegt die Fragilität einer solchen Koalition dann womöglich weniger an den zumeist dafür als Ursachen herangezogenen kontingenten personellen Besetzungen, tagespolitischen Ereignissen und Pfadabhängigkeiten der deutschen Parteienlandschaft als vielmehr daran, dass die Hyperkomplexität des zu bewältigenden Problemknäuels strukturell fortwährenden Streit über den richtigen Weg generiert?
Ist dieser Streit womöglich gar nicht Ausdruck schlechten Regierens, sondern genau umgekehrt ein Anzeichen dafür, dass hier engagiert um die Lösung der zentralen gesellschaftspolitischen Gestaltungsprobleme gerungen wird? Endlich, könnte man hinzufügen, nach der trügerischen Harmonie der Merkel-Jahre. Die Grünen wären dann keineswegs als Verlierer des Gerangels einzustufen, wie es derzeit zumeist – gerade auch von ihnen selbst – getan wird. Sie müssten im Gegenteil sogar als die heimlichen großen Gewinner gelten. Schließlich ist es ihnen gelungen, ökologische Gesichtspunkte (hoffentlich) unwiderruflich weit oben auf die Agenda politischer Gesellschaftsgestaltung zu setzen. Zugleich aber müssen sie feststellen, dass ihre Koalitionspartner sich die grüne Lesart der politischen Agenda keineswegs völlig zu eigen machen. Zum Glück, denn von einigen harten Öko-Fundamentalisten einmal abgesehen ist wohl allen klar, dass unsere gesellschaftliche Zukunft auch noch von ein paar anderen Dingen abhängt als von einem nachhaltigeren Umgang mit der Natur.
Will man diesen Fragen weiter nachgehen, empfiehlt es sich, geeignete sozialwissenschaftliche Perspektiven und Konzepte heranzuziehen, um Abstand von den häufig blickvernebelnden öffentlichen Statements der Protagonisten des Kräftemessens zwischen den Koalitionspartnern zu gewinnen. Die soziologische Gesellschaftstheorie bietet hierzu ein Verständnis moderner Gesellschaften an, das deren Fortbestand – der Krisenresilienz und die Fähigkeit zum selbstgestalteten Wandel mit beinhaltet – als permanente Bewältigung von drei Grundproblemen gesellschaftlicher Integration begreift.
Das erste dieser Probleme stellt die Sozialintegration dar: Die Mitglieder jeder Gesellschaft müssen sich in deren Ordnung fügen – also vor allem geltende Normen beachten, auch wo es schwerfällt, anstatt um des eigenen Vorteils willen rücksichtslos unmoralisch oder kriminell zu agieren oder gar am Umsturz der gesellschaftlichen Verhältnisse zu arbeiten. Das zweite Problem ist die Systemintegration: Die Teilsysteme oder Sphären der modernen Gesellschaft wie Wissenschaft, Bildung, Gesundheitswesen, Recht und – im Weiteren vor allem von Bedeutung – Wirtschaft müssen in ihren jeweiligen Leistungsproduktionen funktionstüchtig sein und dürfen einander zugleich nicht unabgestimmt in die Quere kommen. Dazu kommt, als drittes Problemfeld, die ökologische Integration. Sie ist dann gegeben, wenn das gesellschaftliche Geschehen sich nachhaltig in die natürliche Umwelt einfügt, anstatt so auf diese einzuwirken, dass der gesellschaftliche Fortbestand etwa durch Umweltverschmutzung oder Übernutzung nicht erneuerbarer Ressourcen gefährdet wird.
Mit diesem zunächst sehr einfachen Sortierschema lassen sich die betrachteten Auseinandersetzungen in der Ampelkoalition wie folgt interpretieren: Es ging und wird weiter um das Kernanliegen der ökologischen Transformation gehen, das – wiewohl mit unterschiedlichen Prioritäten – in seiner gesellschaftspolitischen Zentralität und Dringlichkeit von keiner der drei Parteien und überhaupt von kaum jemandem heute noch ernsthaft angezweifelt wird. Wenn man, Charles Lindblom folgend, politische Akteure generell und Parteien speziell als »watchdogs for values« betrachtet, dann ist klar, wer in der Ampel der Wachhund für Nachhaltigkeit ist: die Grünen. Das heißt nicht, dass dieser Wertbezug zur ökologischen Integration die anderen beiden Parteien völlig kalt lässt – doch es ist nicht ihr Markenkern.
Bereits für sich genommen wirft die ökologische Transformation in ganz vielen Hinsichten, nicht nur wissenschaftlich und technologisch, schwierige und vielfach noch ungelöste Fragen auf. Hinzu kommt, dass die ökologische Integration mit den beiden anderen Integrationsproblemen auf vielfache Weisen verknäuelt ist. Die Situation wird dadurch noch einmal deutlich komplizierter. Man kann schließlich nicht erwarten, dass das, was für Sozialintegration gut oder sogar unumgänglich ist, immer auch der Systemintegration und der ökologischen Integration nützt, und das gilt umgekehrt natürlich genauso. Auch wenn solche Win-win-Situationen gelegentlich vorkommen, wäre es fahrlässig, darauf zu setzen. Realistischer ist es, sich vor Augen zu führen, dass es immer wieder Zielkonflikte zwischen den drei Integrationsdimensionen geben wird, also Nutzen in einer Richtung mit Schaden in anderen Richtungen einhergeht; und das kann bei Gestaltungsmaßnahmen zu schwierigen Abwägungen bis hin zu tragischen Dilemmata führen.
In der Ampel sorgen die Trade-offs für Dauerstreit zwischen den Grünen und den beiden anderen Parteien. Denn diese sind »watchdogs« für die beiden anderen Integrationsdimensionen: die FDP für Systemintegration, hier also vor allem Wirtschaftswachstum, und die SPD immer schon für Sozialintegration – sprich gesellschaftlichen Zusammenhalt. Und auch bei diesen beiden Wertbezügen gilt: SPD und Grüne wissen längst, dass das Geld erst einmal verdient werden muss, das man für den Wohlfahrtsstaat und die ökologische Transformation ausgeben will; und FDP und Grüne haben – noch nicht ganz so lange – erkannt, dass eine funktionstüchtige Wirtschaft und eine ökologisch nachhaltige Gesellschaft nicht dauerhaft auf Kosten gesellschaftlichen Zusammenhalts gesichert werden können.
Um nicht missverstanden zu werden: Natürlich ist die aktuelle Koalitionszusammensetzung nicht per se alternativlos. Die Rollen, die FDP und SPD darin spielen, könnten grundsätzlich ebenso gut von der CDU übernommen werden, die mit ihrem Wirtschaftsflügel auf der einen und ihrem Arbeitnehmerflügel auf der anderen Seite die beiden Bezüge auf System- und Sozialintegration immer schon abgedeckt hat. Allein die Grünen verfügen nach wie vor über ein Alleinstellungsmerkmal: Nur sie verkörpern authentisch einen Fokus auf ökologische Integration, die bei den anderen Parteien lediglich eine inzwischen mit zu bedenkende Randbedingung von System- bzw. Sozialintegration darstellt.
Weil die aktuellen Debatten sich an der ökologischen Integration entzünden, fängt man am besten an, die Dinge von hier aus aufzudröseln. Dabei lassen sich zunächst einige wichtige Merkmale dessen verdeutlichen, was mit gesellschaftlicher Integration überhaupt gemeint ist.
Wer alltagssprachlich etwas als integriert bezeichnet, will damit in aller Regel sagen, dass sich die Bestandteile einer Einheit – also beispielsweise die einzelnen Räume eines Gebäudes – wohlgeordnet und ohne Friktionen zusammenfügen, und diese Feststellung ist fast immer positiv konnotiert. Als erste Annäherung daran, was unter der Integration einer Gesellschaft zu verstehen ist, ist dieses Begriffsverständnis durchaus hilfreich. Eine Gesellschaft ist in der Tat in dem Maße integriert, in dem die verschiedensten in ihr stattfindenden Aktivitäten zusammenpassen und einander nicht in die Quere kommen. Damit wird auch zum Ausdruck gebracht, dass Integration ein graduelles Phänomen ist. Gesellschaften sind nicht entweder integriert oder nicht integriert – sondern sie sind mehr oder weniger integriert.
An einem entscheidenden Punkt führt diese Sprachregelung allerdings in die Irre, denn sie legt eine Dualität von Integration und Desintegration nahe. Integration ist aber nicht der eine Pol eines Spektrums, dessen anderer Pol Desintegration heißt. Die Pole des Spektrums sind vielmehr Des- und Überintegration. Es kann also – bei Gebäuden wie bei Gesellschaften – zu wenig, aber auch zu viel Integration geben. Anders als zumeist unterstellt, ist nicht nur das eine, sondern auch das andere ein Problem, und Integration im positiven Sinn ist die richtige Balance zwischen beidem. Mit anderen Worten, eine wohlintegrierte Gesellschaft weist kein Maximum, sondern ein Optimum an Integration auf.
Was oder wer bestimmt, was als Optimum gilt? Die doppelte Fragerichtung verweist auf eine doppelte Antwort. Einerseits müssen wir davon ausgehen, dass der Fortbestand jeder Gesellschaft an objektive Bedingungen geknüpft ist. Ein triviales Beispiel: Ohne eine hinreichend hohe Geburtenrate, oder auch den Zuzug von Einwanderern, die eine zu niedrige Rate kompensieren, kann eine Gesellschaft die kritische Masse an Arbeitskraft nicht aufbringen, um all ihre Leistungsproduktionen am Laufen zu halten, und gefährdet dadurch ihren Fortbestand. Andererseits kommen zu diesen objektiven Bedingungen kollektiv geteilte Vorstellungen darüber hinzu, wie eine gute Gesellschaft aussehen sollte – auch und nicht zuletzt mit Blick auf Integration. Solche Wünsche hinsichtlich gesellschaftlicher Integration müssen zwar im Rahmen der objektiven Bedingungen bleiben, um erfüllbar zu sein; doch da die meisten dieser Bedingungen allenfalls vage erkennbar sind, was sich wohl auch bei allen künftigen Fortschritten der Sozialwissenschaften so schnell nicht grundlegend ändern wird, gibt es viel Spielraum, um unrealistische Wünsche ins Gespräch zu bringen.
Die Sozialwissenschaften sind bei Integrationsfragen also unweigerlich in einander überlagernde kognitive und normative Diskussionen verstrickt. Sozialwissenschaftler streiten untereinander über die nebulösen objektiven Bedingungen gesellschaftlicher Integration und werfen einander immer wieder vor, eigene Wünsche zu objektiven Erfordernissen zu erklären; in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit wird darüber gestritten, wie eine gut integrierte Gesellschaft auszusehen hätte, und dabei werden die sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse über die objektiven Bedingungen gesellschaftlicher Integration mehr oder weniger zur Kenntnis genommen; und diese Kämpfe über Lesarten guter Integration müssen die Sozialwissenschaften dann auch noch in ihre Analysen gesellschaftlicher Dynamiken einbeziehen, die ja vom handelnden Zusammenwirken aller gesellschaftlichen Kräfte vorangetrieben werden, also auch von Vorstellungen einer guten Gesellschaft.
Sozialwissenschaftliche Gesellschaftsbeobachtung, sobald sie sich an die gesellschaftliche Öffentlichkeit wendet und in deren Debatten einschaltet, kommt aus dieser Gemengelage nicht heraus. Sie liefert nach Objektivität strebende Einschätzungen objektiver Bedingungen und kollektiver Aspirationen; diese Objektivität bleibt kognitiv und normativ angreifbar; und die wissenschaftlichen Einschätzungen können von nichtwissenschaftlichen wie wissenschaftlichen Sprechern instrumentalisiert oder abgelehnt werden.
Auf derzeitige Diskussionen zur ökologischen Transformation übertragen bedeuten diese Überlegungen dreierlei. Erstens: Es gibt eine überwältigende wissenschaftliche Evidenz für die ökologische Desintegration der heutigen Gesellschaft. Das sind zum einen hinlänglich bekannte naturwissenschaftliche Daten. Zum anderen verfügen wir über – deutlich schwächer belegte – sozialwissenschaftliche Beobachtungen dazu, welche Strukturen moderner westlicher Gesellschaften vom Kapitalismus bis zur kulturellen Idee der Naturbeherrschung das Menschengemachte der ökologischen Probleme hervorgebracht haben. Im Einzelnen ist allerdings sehr schwer festzumachen, welches Ausmaß an Desintegration, also Nichtnachhaltigkeit, noch gesellschaftlich aushaltbar ist, mit welchen Kosten und für wie lange – und wann Kipppunkte irreversibel überschritten werden. Hierzu existieren sehr weit auseinandergehende, mehr oder weniger wissenschaftlich abgesicherte kollektive Deutungen – bis hin zur vagen, aber entlastenden Hoffnung, dass am Ende der technische Fortschritt schon alles richten werde. Und sei es durch Wechsel des Planeten.
Zweitens steht politische Gesellschaftsgestaltung trotz der hochgradigen Eindeutigkeit der Lage bei jeder spezifischen Maßnahme vor immensen Entscheidungsunsicherheiten. In zeitlicher Hinsicht geht es darum, dass verlässliche Voraussagen darüber getroffen werden müssen, welche Auswirkungen bestimmte Maßnahmen, etwa die Verlagerung größerer Teile des Gütertransports von der Straße auf die Schiene, langfristig auf verschiedene ökologische Parameter haben werden; in sachlicher Hinsicht sind bislang größtenteils nicht hinreichend durchschaute Wirkungszusammenhänge einer Vielzahl gleichzeitig implementierter Maßnahmen zu berücksichtigen; und in sozialer Hinsicht müssen multiple Betroffenheiten unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen in Rechnung gestellt werden – von den Anrainern der Bahnstrecken bis zu den Mitarbeitern der Transportunternehmen oder der Automobilindustrie. Bei einer derart komplexen Gemengelage, bei der überdies ständig damit gerechnet werden muss, dass auch wohlüberlegte Lösungsversuche mit unbeabsichtigten Nebenfolgen verbunden sein können, ist das Risiko des Scheiterns hoch; jeder Misserfolg wiederum schwächt das Selbstvertrauen der Entscheider und steigert umgekehrt die Bereitschaft all derer, die von den Entscheidungen betroffen sind, dahinter grundsätzlich Inkompetenz zu vermuten.
Misserfolge leiten einerseits Wasser auf die Mühlen der Bremser, provozieren andererseits aber zugleich umgekehrt lautstarke Forderungen nach radikalen ökologischen Integrationsmaßnahmen, wie sie etwa die Aktivisten von Fridays for Future, Extinction Rebellion und Last Generation vertreten. Deren Forderungen zu erfüllen würde bedeuten, die Erfordernisse gesellschaftlicher Sozial- und Systemintegration bis auf weiteres weitgehend von der politischen Agenda zu streichen. Wie riskant und zugleich kontraproduktiv eine solche Überintegration sein kann, zeigt sehr nachdrücklich der Blick zurück in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, als es darum ging, erst einmal nur Sozial- und Systemintegration auszubalancieren.
Gesellschaftliche Sozialintegration ist in dem Maß gewahrt, wie die Gesellschaftsmitglieder Konformität mit den jeweils geltenden Normen – nicht nur Gesetzen – zeigen, und zwar nicht nur, weil sie sich einer entsprechenden Drohmacht fügen oder durch Anreize dazu bewegt werden, sondern weil ein breiter Konsens über die die fraglichen Normen begründenden Werte besteht. Die gesellschaftlichen Ordnungen der westlichen Moderne zeichnen sich diesbezüglich allerdings dadurch aus, dass sie den Gesellschaftsmitgliedern ein hohes Maß an individueller Selbstentfaltung ermöglichen. Entsprechend beruhen sie weniger auf allseitigem Konsens mit enggefassten substantiellen Werten und Normen in Gestalt von Pflichtenkatalogen oder Maximen der Lebensführung, als auf Werten wie der Hochschätzung von persönlicher Einzigartigkeit und Selbstbestimmung oder von Demokratie als kollektivem Entscheidungsmodus, die dem Einzelnen substantiell große Freiheiten lassen.
Genau diese Werte, die sich als sozialintegrative Leitvorstellungen davon, was eine gute Gesellschaft ausmacht, in der Frühmoderne etabliert hatten, wurden durch die Auswirkungen der industriellen Revolution für sehr große Teile der Bevölkerung dementiert, geradezu mit Füßen getreten. Die brutale Ausbeutung des Proletariats – von den Sklaven in den US-amerikanischen Südstaaten und in den Kolonien des heute so genannten Globalen Südens ganz zu schweigen – schuf nicht nur großes materielles Elend, sondern exkludierte die große Mehrheit der Bevölkerung aus der individualisierungsfähigen Menschheit. Diese als illegitim erlebten Exklusionserfahrungen riefen ihrerseits kollektiven Widerstand hervor, aus dem – keineswegs automatisch, sondern abhängig von bestimmten Voraussetzungen – Gegenkräfte wie die Arbeiterbewegung in Gestalt von Gewerkschaften und Parteien entstanden, die so stark werden konnten, dass die etablierten Kräfte ihnen entgegenkommen mussten. Ein Beispiel dafür sind Bismarcks Sozialreformen der 1880er Jahre, die angesichts der Drohkulisse einer möglicherweise revolutionsbereiten Arbeiterschaft als Rettung der Kapitalisten vor den selbstzerstörerischen Folgen der eigenen Profitgier verstanden werden müssen. Seitdem ist der Wohlfahrtsstaat hierzulande enorm ausgebaut worden und hat sich weltweit, wenngleich noch lange nicht flächendeckend verbreitet.
Die sozialpolitischen Eingriffe in die kapitalistische Wirtschaft durften freilich nicht zu weit gehen. Hier kommt die gesellschaftliche Systemintegration ins Spiel – also die Sicherstellung des Funktionierens der kapitalistischen Wirtschaft. Auf der einen Seite wollten die Unternehmen und Kapitaleigentümer ihre Profite realisieren – je höher, desto besser; und dafür wurde Massennachfrage gebraucht. Ohne diesen Impetus hätte es keinen hinreichenden Anreiz für die Überbietungsdynamik im Bereich technologischer Innovationen und die damit verbundene schwindelerregende Steigerung des Wirtschaftswachstums gegeben. Auf der anderen Seite wollten die ausgebeuteten Arbeiter nicht in vorkapitalistische ärmliche Unterdrückungsstrukturen zurückgeworfen werden; sie begrüßten den gesellschaftlichen Fortschritt, vor allem die »ungeheure Warensammlung« (Marx) des Kapitalismus, sobald sie diese erst einmal, und nach und nach mehr davon, bezahlen konnten. Das haben die Frankfurter Salonlinken im »Grand Hotel Abgrund« (Lukács) nie kapieren wollen, sie konnten nur in fassungslosem Dünkel den Kopf darüber schütteln, dass das angeblich historisch auserkorene »revolutionäre Subjekt« der Weltgeschichte sich dieser Rolle verweigerte.
Dennoch gilt weiterhin: Wer wie viel von den Wachstumserträgen des Kapitalismus bekommt, bleibt nicht nur umkämpft; sondern es bleibt auch ein ungleicher Kampf. Zwar gab es das »golden age« (Eric Hobsbawm) von den 1950er Jahren bis Mitte der 1970er, in dem in den meisten westlichen Ländern Arbeitgeber, Arbeitnehmer und der Staat mit der Berücksichtigung der jeweiligen Interessen gleichermaßen zufrieden sein konnten. Im Gegensatz zu heute gab es damals aber auch ein stabiles und starkes Wirtschaftswachstum, das Vollbeschäftigung und steigende Löhne sowie üppige Steuereinnahmen generierte, die den Ausbau des Wohlfahrtsstaats – insbesondere des Bildungssystems – ermöglichten. Seitdem mussten längst nicht nur die Arbeiter, sondern alle abhängig Beschäftigten bis hin zu Staatsbediensteten mit Kündigungsschutz erfahren, wie prekär ihre kollektive Gegenmacht gegen kapitalistische Dynamiken ist, die wieder und wieder Ausbeutungsverhältnisse restituieren oder steigern, ein als sicher errungen geglaubtes »Normalarbeitsverhältnis« mit unbefristeter Festanstellung und Aussichten auf Lohnsteigerungen und Karrierechancen in um sich greifende Prekarität verwandeln. Dennoch ziehen die meisten diese Auspizien aus guten Gründen den Illusionen einer revolutionär errungenen nachkapitalistischen Gesellschaft ebenso vor wie dem Rückfall in vorkapitalistische Verelendung.