Monsieur Malaussène - Daniel Pennac - E-Book

Monsieur Malaussène E-Book

Daniel Pennac

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Beschreibung

"Ein glänzender Regisseur, ein Meister des überraschenden Drehs" Literaturen Mitten in Belleville liegt das alte Kino Zèbre, Treffpunkt der Malaussènes und ihrer Freunde. Dort wird gefeiert und eine einmalige Filmvorführung geplant. Dort heckt man Hilfsaktionen für in Not geratene Nachbarn aus, dort entsteht ein Theaterstück. Nun soll das Zèbre abgerissen werden. Das ist nicht der einzige Schlag für Belleville, denn zugleich bringt eine Serie grauenhafter Morde die Bewohner in Rage. Und Benjamin Malaussène in Gefahr. Er, der geborene Sündenbock, gilt als der Hauptverdächtige und wandert ins Gefängnis. Adieu Geschwisterschar und chaotischer Kramwarenladen. Adieu Julie, die ein Kind von Benjamin erwartet. Diese von ihm freudig begrüßte Schwangerschaft nimmt jedoch einen alles andere als konventionellen Verlauf. Doch dank einer Pennacschen Volte wird Benjamin gerettet und glücklicher Vater von Monsieur Malaussène.

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Seitenzahl: 652

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Daniel Pennac

Monsieur Malaussène

Roman

Aus dem Französischen von Eveline Passet

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Daniel Pennac

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Personen

Widmung

Motto

Dank

I Dem Leben zu Ehren

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

II Cissou la neige

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

Ill Der Sohn Jobs

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

IV Suzanne und die Cinephilen

12. Kapitel

13. Kapitel

V Die Höhle der Epilepsie

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

VI Barnabooth

17. Kapitel

18. Kapitel

VII Gervaise

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

VIII Das Gesetz des Schlimmsten

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

IX Pause

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

X Die Pause ist zu Ende

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

XI Die Rückkehr des Sündenbocks

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

XII Im Gefängnis (In der Gegenwart)

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

XIII Der ganze Friedhof spricht davon

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

64. Kapitel

XIV Monsieur Malaussène

65. Kapitel

66. Kapitel

67. Kapitel

68. Kapitel

69. Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Voilà – die Malaussènes und ihre nicht immer freundlichen Bekannten
Maman

mit ihrem spontanen Herzen und großzügigen Schoß Mutter des Stammes

Benjamin

wie immer der Sündenbock vom Dienst, zurzeit in einer Schwangerschaftskrise; als ältester Sohn verantwortlich für seine Halbgeschwister

Thérèse

die Hellseherin der Familie

Clara

mit der samtenen Stimme und dem stets schussbereiten Fotoapparat, Mutter von

C’est Un Ange

Mamans erstem Enkel

Jérémy

Wortkünstler und vielversprechender Nachwuchsautor

le Petit

der Kleine mit der rosa Brille, begabter Nachwuchsschauspieler

Verdun

die Jüngste der Familie mit donnender Stimme

Julie

kämpferische Journalistin und Benjamins große Liebe

Julius der Hund

ungewöhnliches Vieh und hellsichtiger Epileptiker

Professor Berthold

Chirurg, in beruflichem Dauerzwist mit

Professor Marty

Leibarzt der Malaussènes

Matthias Fraenkhel

Geburtshelfer mit lodernd weißer Mähne und Sohn von

lob und Liesl

lebenslänglich begeisterte Filmfanatiker, Großeltern von

Barnabé / Barnabooth

Verschwindenskünstler

Suzanne O’Zyeux bleus

Pächterin des Zèbre, des letzten Kinos von Belleville

Der König der lebenden Leichen

Suzannes Ex-Geliebter, Schauspieler und Produzent

Ronald de Florentis

Freund von Job und Liesl, Filmverleiher und Produzent

Clément Clément

Filme erzählender Freund der Malaussènes, Muttersöhnchen aus gutem Haus

Commissaire divisionaire Coudrier

Kriminalkommissar mit Sinn für Napoleonisches

Commissaire divisionaire Legendre

methodischer Schwiegersohn und Nachfolger Coudriers

Caregga, Titus und Silistri

Polizeiinspektoren

Maître La Herse

Gerichtsvollzieher

Cissou la Neige

wendiger Schlosser im Dienste des Staates und Bellevilles

Gervaise Van Thian

zum Polizisten konvertierte Nonne und Leiterin einer besonderen Besserungsanstalt

Postel-Wagner

Gerichtsmediziner mit Vorliebe für Lebendiges

Sainclair

Chefredakteur der medizinischen Fachzeitschrift »Äskulap«

Reine Zabo

Benjamins Chefin in den Editions du Talion und vertrocknetes altes Mädchen

Amar Ben Tayeb

Restaurantbesitzer und väterlicher Freund Benjamins

und viele, viele mehr

Inhaltsverzeichnis

Für Odile Lagay-Préaux

und Christian Mounier.

 

Belleville zugedacht

(dem, was davon geblieben ist).

 

In Robert Doisneaus Lächeln,

das über den Dächern entschwunden ist.

Inhaltsverzeichnis

Faites vos yeux, rien ne voit plus.

Christian Mounier

Inhaltsverzeichnis

Ein Dankesregen soll über Françoise Dousset und Jean-Philippe Postel niedergehen; wenn sie nicht wissen warum, der Autor weiß es. Und Roger Grenier, Jean-Marie Laclavetine und Didier Lamaison sei zutiefst gedankt für ihre enooooooorme Geduld.

Inhaltsverzeichnis

IDem Leben zu Ehren

Können Sie schreiben, Malaussène? Nein, was? Natürlich nicht … Dann machen Sie doch wenigstens was Dralles mit Hand und Fuß, ein Baby zum Beispiel, das wär doch was, ein hübsches Baby!

1

Wie ein Unglücksvogel hing der Knirps an der Tür. Seine Vollmondaugen glupschten eulenhaft.

Sie waren zu siebt, sie stürmten die Treppe hinauf, und selbstverständlich wussten sie nicht, dass man ihnen diesmal ein Kind an die Tür genagelt hatte. Sie meinten, schon alles erlebt zu haben, und so liefen sie ihrem blauen Wunder entgegen. Noch zwei Treppen, und ein sechs- oder siebenjähriger kleiner Jesus würde ihnen den Weg versperren. Ein Gott-Baby, lebendig an eine Tür geschlagen. Wer kann sich so etwas vorstellen?

Belleville hatte ihnen schon alles geboten, was sollte da noch kommen? Sie waren mit faulem Fleisch und Gemüseabfällen empfangen worden, Horden von Frauen hatten ihnen unter Juhugeschrei das Gesicht zerkratzt, einmal hatten sie sogar eine Schafherde fortschaffen müssen, über sechs Etagen nichts als läufige Weibchen und eifersüchtig auf ihre Polygamie bedachte Böcke, ein andermal fanden sie das Haus menschenleer, nachdem Bewohner um Bewohner, ein ganzes Heer, in geordnetem Rückzug sich seines Innersten flächendeckend auf die Stufen entleert hatte. Dieser Ehrenteppich war eine Abwechslung gewesen zu der Scheiße, die sonst im Morgengrauen aus heiterem Himmel direkt auf ihre wackeren Vollstreckerköpfe fiel.

Alles, Belleville hatte ihnen alles geboten, aber nie – kein einziges Mal! – waren sie abgezogen, ohne die Tür geöffnet zu haben, die zu öffnen sie gekommen waren, ohne die Möbel beschlagnahmt zu haben, die zu beschlagnahmen sie gekommen waren, oder die Wohnung geräumt zu haben, deren Räumung ihr Auftrag war. Sie waren zu siebt und scheiterten nie. Sie hatten das Recht mit großem R auf ihrer Seite. Besser noch, sie waren das Recht mit großem R, die Scheinärmchen des Gesetzes, die Ritter des staatlichen Vorkaufsrechts, die heiligen Hüter der Toleranzschwelle. Zu diesem Behuf hatten sie lange studiert, ihren Geist gebildet und gelernt, ihre Gefühle zu beherrschen. Gefechte zur Verteidigung der Ehre kümmerten sie wenig, das war eine Erfindung der Verzweiflung. Trotzdem hatten sie eine Seele. Und solide Muskeln um dieselbe. Sie verteilten Schläge und tröstende Worte, je nach Wunsch der Klientel, aber was getan werden musste, das taten sie, immer. Alles in allem waren sie menschlich, prächtige soziale Tiere.

Sie hatten sogar Namen. Der Gerichtsvollzieher hieß La Herse, Herse wie die Egge, Maître La Herse aus der Rue Saint-Maur. Sein studentischer Praktikant hörte auf den Vornamen Clément, und auch die vier Möbelpacker hatten ihren Namen, insbesondere der Schlosser – der hatte einen Spitznamen, den man in Belleville nie aussprach, ohne dabei auf den Boden zu spucken: Cissou la Neige. Cissou la Neige, das Sesamöffnedich der Zwangsvollstreckung, der Dietrich der Zwangsräumung, der bevorzugte Generalschlüssel der Anwaltspraxis La Herse.

Die Frage, wie Cissou, der ihm bei jeder Zwangsräumung zur Hand ging, unbeschadet in Belleville leben konnte, ging Maître La Herse bisweilen durch den Kopf, doch ohne sich je dort festzusetzen. Es gab immer einen Flic, der sich verarschen, einen Pauker, der sich auf die Schippe nehmen, einen Tenor, der sich auspfeifen ließ, und einen Gerichtsvollzieher, der den Hass genoss, den man ihm entgegenbrachte. Warum also nicht ein schlossernder Rausschmeißer auf dem Pflaster der Obdachlosen? Was den Nervenkitzel betraf, kam Cissou gewiss auf seine Kosten. So schlussfolgerte Maître La Herse, Herse wie die Egge, in seinem wohltemperierten Realismus.

Sie stürmten also dem kleinen Gekreuzigten friedvollen Herzens und wachen Geistes entgegen. Die Stille hätte sie beunruhigen müssen, aber in den Wohnblocks von Belleville begann stets alles in aller Stille. Sie waren gewohnt, zusammenzuhalten, und verließen sich auf ihre Reflexe. Der Sturmangriff war ihr Markenzeichen. Sie arbeiteten schnell und zauderten nie. Vorneweg lief der Student Clément, ihm hinterher sein Chef und die vier Möbelpacker, zuletzt Cissou, der, obwohl beladen mit sechzig schandtätlichen Jahren, ebenfalls rannte.

Was Maître La Herse zunächst sah, war nicht das Kind, sondern das Gesicht des studentischen Praktikanten Clément.

Der auf dem Treppenabsatz der vierten Etage erstarrte.

Der mit einem Ruck herumflog. Der zusammenklappte wie ein Boxer nach einem Leberhaken.

Dessen Augen Richtung Antipoden davonklappten.

Dessen Mund klaffte wie ein Krater.

Aus welchem plötzlich und in hohem Bogen eine mächtige Fontäne hervorschoss, eine Götterspeise von außerordentlich bitterem Aroma und erstaunlichem Nährwert.

Ebenso wenig wie der junge Mann den Ausbruch des Geysirs hatte verhindern können, kam Maître La Herse darauf, in Deckung zu gehen. Sein eigenes Frühstückscroissant drängte an die Oberfläche, desgleichen die acht Kaffee-Calva, die die vier Kuckucksmöbelpacker sich spendiert hatten, ehe die gesetzlich genehmigte Stunde der Zwangsräumung schlug.

Einzig der Schlosser entging diesem Sperrfeuer.

»Und was soll dieses Gesaue, bitte schön?«

Mehr fiel ihm bei seinem angeborenen Sinn für Mitgefühl nicht ein. Cissou la Neige, dem jeder Fluchtgedanke fern lag, bahnte sich einen Weg durch all die konvulsivischen Zuckungen. Der Gerichtsvollzieherpraktikant kauerte inzwischen am Boden, sein Hauptziel, das er mit kurzen Salven belegte, waren jetzt die Schuhe seines Chefs.

Schließlich entdeckte Cissou das Kind.

»Allmächtiger Gott!«

Er wandte sich um.

»Habt ihr das gesehen?« Er zeigte hinter sich.

Doch die Art, wie Maître La Herse dreinblickte, legte die Vermutung nahe, dass er gar nichts anderes mehr sah als das. Seine Miene war die leibhaftige Offenbarung. Auch die Gesichter der Kuckucksmöbelpacker hatten einen seraphischen Ausdruck angenommen. Mittelalterliche Engel, die angesichts der Kehrseite der Dinge erschauderten.

Sie betrachteten jetzt alle das Kind. Kein schöner Anblick, nicht einmal durch die verschmierten Finger des jungen Praktikanten hindurch. Die dicken Nägel mit pyramidenförmigem Kopf- nach Hollywoodkanon absolut bibelauthentisch – mussten die Knochen zersplittert haben; das Fleisch war in alle Himmelsrichtungen gespritzt. Als ob das Kind nicht angenagelt worden wäre, sondern angeklatscht, von der Kraft eines anderen Zeitalters gegen diese Tür geschleudert.

»Das Zeug pappt ja überall.«

So spricht man von Toten, über die unser Leben uns sagt, dass sie nur noch stofflich sind. Besagter Stoff zierte, blutig und klumpig, den Treppenabsatz noch weit jenseits der Tür.

»Sie haben ihm nicht mal die Brille abgenommen.«

Ja, und wie so oft machte dieses nebensächliche Detail das Grauenvolle noch um ein Vielfaches entsetzlicher.

Die geweiteten Augen des Kindes starrten die Truppe durch die beiden Kreise seiner rosa Brille an. Es war der Blick einer hingeopferten Eule.

»Wie … wie konnten …?«

Maître La Herse spürte plötzlich, dass er jede Form von Gewalt verabscheute.

»Seht doch! Er atmet noch.«

Wenn man dieses Zischeln von verspritzter Lunge, wenn man diesen rosigen Schaum, der auf den Lippen des Kindes perlte, noch atmen nennen konnte.

»Die Hände … die Füße …«

Nichts da von wegen Hände und Füße … vermutlich waren sie in den Ärmeln der Dschellaba von den gigantischen Nägeln zerschrotet worden. Das war das Allerschlimmste, diese vierfach amputierte Dschellaba, die einstmals weiß gewesen war.

»Polizei, ruft sofort die Polizei!«

Der da in den Raum gesprochen hatte, war Maître La Herse, der seinen Blick nicht von dem gemarterten Kind zu lösen vermochte.

»Keine Polizei!«

Darüber würde Cissou la Neige nicht mit sich verhandeln lassen.

»Seit wann holen wir die Polizei?«

In der Tat eins ihrer Prinzipien: keine Ordnungshüter, nie. Seit wann brauchte ein kompetenter, rechtmäßig vereidigter und perfekt flankierter Staatsdiener die Hilfe der öffentlichen Ordnungsmacht?

In aller Seelenrahe nahm der alte Schlosser das Gesicht des kleinen Märtyrers in Augenschein.

Woraufhin das Kind zu sprechen anhob. Klar und deutlich, doch als schwebe seine Seele bereits himmelwärts.

Also sprach es:

»Ihr werdet nicht hineingehen.«

Cissou zog die Stirn kraus.

»Darf man wissen, weshalb?«

Also sprach das Kind:

»Drinnen ist es noch viel schlimmer.«

Eine abschreckendere Antwort konnte man sich schwerlich vorstellen. Den Schlosser indes rührte sie nicht. Er ließ seinen Blick ruhig über die blutige Masse gleiten und fragte schließlich:

»Darf ich?«

Und ohne die Erlaubnis abzuwarten, tauchte er seinen Zeigefinger tief in jene Wunde an der rechten Körperhälfte des Kindes, wo die Dschellaba zerfetzt war, schleckte ihn sodann sorgfältig ab, schnalzte mit der Zunge und konstatierte:

»Harissa.«

Den Blick gen Himmel gerichtet, versuchte er, Nuancen herauszuschmecken.

»Harissa … und Ketchup …«

Er leckte sich die Lippen wie ein echter Kenner.

»Und ein Hauch Erdbeerkonfitüre …«

Als hätte er schon immer Märtyrer gefrühstückt.

»Aber warum die Zwiebeln?«

»Wegen der Haut«, antwortete der Kleine spontan, »die Hautfetzen an der Tür, das sieht ziemlich echt aus …«

Cissou betrachtete ihn zärtlich.

»Du kleiner Idiot du …«

Dann tauchte seine Stimme tief in den Bauch:

»Dir werd ich eine schöne Kreuzabnahme bereiten, das versprech ich dir.«

Er lächelte jetzt nicht mehr, er knurrte, er brüllte sogar. Herrgott, er würde diesem kleinen Scheißer schneller die Nägel ziehen, als man sich zum wahren Glauben bekennen kann! Er tobte und hob plötzlich zwei Krallenhände auf, gekrümmt wie die Rache.

Da geschah das Wunder.

Die Hände des Schlossers schlugen in eine Dschellaba ein, die soeben ihre Seele ausgehaucht hatte.

Das Kind war nicht mehr da.

Im ersten Moment begriff der Rest der Truppe nicht, warum Cissou seinen Bauch am Boden platt drückte, und ebenso wenig erkannten sie in dem glänzenden rosa Etwas, das mit einem Schrei über den Leib des studentischen Praktikanten Clément hinwegsetzte und die Treppe hinunterfegte, ohne auf ihrem Morgenmahl auszugleiten, ein nacktes Kind. Als sie endlich begriffen, dass die Seele Basketballschuhe trug und die beiden hüpfenden Aprikosen der nackte Po eines mehr als lebendigen Kindes waren, da war es zu spät: Da ward einen Treppenabsatz tiefer bereits unter Gejohle die Tür aufgetan und der wiederauferstandene kleine Gott von einer multikoloren Menge in Empfang genommen.

2

»Und weiter? Und weiter? Die Fortsetzung! Erzähl, wie sie dann in die Wohnung rein sind!«

»Aber das hab ich euch doch schon hundertmal erzählt. Nichts mehr von wegen Schlosser, sie haben die Tür eingetreten, um ihre Wut abzureagieren.«

»Hausfriedensbruch! Einbruch! Und das von einem vereidigten Gerichtsvollzieher! Ein feiner Kerl, dieser La Herse!«

»Und dann! Und dann!«

»Dann sind sie ein zweites Mal erstarrt, zwangsläufig, wegen des Geruchs.«

»2 667 Windeln! Nourdine, Leila und ich haben gesammelt, und ganz Belleville hat gespendet: 2 667 randvolle Windeln!«

»Habt ihr sie über alle Zimmer verteilt?«

»Eine sogar in die Butterdose.«

»Mann, stell dir vor, ein Scheißebrötchen in der Butterdose von Witwe Griffard!«

»Aber das war noch längst nicht das Schlimmste …«

»Was war das Schlimmste, erzähl, Cissou!«

»Cissou, Cissou, erzähl, was das Schlimmste war!«

 

Tut mir leid, aber es wird höchste Zeit, dass ich, Benjamin Malaussène, hochverantwortlicher Familienbruder, die Schilderung unterbreche und feierlich erkläre, dass ich mit diesem Coup, den meine Brüder und Schwestern eingefädelt haben, um den Gerichtsvollzieher La Herse zu einem schweren beruflichen Fehler zu treiben, nicht einverstanden bin.

Was für ein beruflicher Fehler?

Sehr einfach: Die Wohnung, deren Möbel der Gerichtsvollzieher La Herse beschlagnahmen sollte, war keineswegs die Wohnung, an deren Tür mein jüngster Bruder einen auf Gekreuzigten machte, sondern die darüber gelegene. Jawohl, die darüber gelegene. Die Tür, von der herab der rosabebrillte Minimärtyrer weissagte, war jene der Witwe Griffard, Eigentümerin des Hauses. Weshalb also in seiner emotionalen Erregung der Herr Gerichtsvollzieher das Mobiliar der klagenden Partei abtransportieren ließ, im guten Glauben, er beschlagnahme jenes der Mietpartei, welche besagte Eigentümerin dem Arm der Gerechtigkeit angezeigt hatte. Desgleichen zertrümmerte seine Truppe mit Fußtritten die Tür der Hauseigentümerin, und Maître La Herse ließ, was am schwersten wog, einen Sparschwein-Grinsebuddha in seine unbestechliche Tasche gleiten, in der Annahme, es handele sich um Geld, welches der vermeintliche Mieter, der von sich behauptete, mittellos zu sein, unlautererweise darin verborgen habe. In Anbetracht dieses bestürzenden Dossiers lege ich, Benjamin Malaussène, feierlich Widerspruch ein gegen …

 

»Hör auf, eine Schnute zu ziehen, Ben! Willst du nicht, dass Cissou das Schlimmste erzählt?«

Ob ich will oder nicht, das Schlimme ist geschehen und meine Autorität über alle Berge.

»Erzählen Sie, Cissou, erzählen Sie, aber geben Sie mir vorher den Sidi-Brahim rüber. Wie ich merke, komme ich nicht mehr vor.«

Das Ganze spielt sich im Zèbre ab, dem letzten Kino von Belleville, der Tisch ist auf der Bühne gedeckt, wir sitzen zu achtzehnt um Yasminas Couscous. Mein ganzer Stamm: Clara, Thérèse, Louna, Jérémy, der Kleine, Verdun, C’Est Un Ange, Julius mein Hund und Julie, meine Julie, hinzu kommen noch: selbstverständlich Cissou la Neige, dann unsere alte Freundin Suzanne, Pächterin des Zèbre, und die vollzählige Sippe von Ben Tayeb, die, wenn alles seinen gesetzlichen Lauf genommen hätte, heute Abend in einer möbellosen Wohnung schlafen würde. Achtzehn Mitmenschen, die bis zum Halse in der Scheiße stecken und sich wahrscheinlich gerade im letzten lebenden Kino von Belleville ihr letztes Couscous in Freiheit einverleiben.

»Das Schlimmste …«, beginnt Cissou la Neige.

(Über diesen Mitmenschen hätte ich zwei besondere Wörtchen zu sagen …)

»Das Schlimmste waren die Fliegen. Wir wollen doch mal sehen, wies bei euch mit dem Kopfrechnen steht. 2667 Windeln mit einem Durchschnittsinhalt von 300 Gramm. Das macht wie viel?«

»Achthundert Kilogramm Scheiße!«, brüllt Jérémy.

»Jérémy, wir essen«, knurrt Thérèse und lässt ihre volle Gabel sinken.

»Richtig! Achthundert Kilo und hundert Gramm extra in der Butterdose.«

 

Nein wirklich, Thérèse hat recht, eine ekelerregende Geschmacklosigkeit. Nichts gegen eine arglose Gesetzesübertretung von Zeit zu Zeit, aber die Grenzen des guten Geschmacks verletzen, ein solcher Akt der Zivilisationsverweigerung kommt mir nicht infrage! Ausgeschlossen also, Cissou la Neige bei seiner endlosen Rechnerei zu folgen, wie viele Myriaden von Gemeinen Hausfliegen herauskommen, wenn alle sechs Stunden jedes Gramm Scheiße einen ganzen Schwarm erzeugt, das Ganze hochgerechnet auf achthundert Kilogramm besagter Materie, die drei hundsföttisch heiße Juliwochen lang in einer Wohnung von Belleville (geschlossene Fenster, Sonnenseite) zwischenlagern. Eine Rechenaufgabe, die jeden Rechenkünstler an den Rand der Verzweiflung bringt – ausgenommen, er berechnet, wie viel Zentimeter dieser lebende Teppich dick ist, mit dem Boden, Decke und Wände ausgekleidet sind.

Der kleine Prophet hatte recht: Drinnen war es noch viel schlimmer.

»Na siehst du, du amüsierst dich trotzdem, Benjamin!«

»Aber nicht über das Erzählte, sondern über den Erzähler. Was ein leichter Unterschied ist.«

»Den man ›Stil‹ nennt«, erläutert Suzanne, die schon immer einen rosigen Teint und das treffende Wort hatte.

»Wissen wir«, träten die Kinder, »wissen wir … Seit wir Babys waren, liegt er uns mit dem Stil in den Ohren!«

(Keine Autorität mehr, nicht den kleinsten Einfluss auf ihre Bildung … ich habe meine Leutchen nicht mehr im Griff. Wird Zeit, dass ich meinen Platz dem Leben räume …)

»Aber … eine Fliege, die erwacht«, fährt Cissou la Neige fort, »fliegt auf und davon, und ihr liebes Schwesterchen auch.«

»Sind sie alle auf einmal auf und davon?«

»Als die Muskelprotze die Läden aufmachten, ja!«

»Und dann?«

»Dann haben die anderen gezeigt, dass in ihrem Magen noch etwas drin war.«

»Haben sie wieder überall hingekotzt?«

»Jérémy, mein Gott, wir essen!«

 

Diese Schilderung ist umso erschütternder, als sie praktisch keinen Bezug zu dem hat, was folgen wird. Aber Tatsache ist, dass das plötzliche Eindringen der Sonne, dieses kurzen Lebensstrahls, in die Wohnung der Witwe Griffard den wimmelnden Teppich aufweckte, weshalb es sogleich wieder schwärzeste Nacht wurde, Nacht am helllichten Tage, paradoxe Nacht, schwarzvelourige, beflügelte Nacht, behaarte und kreisende Nacht, die Nacht der tausend Augen, die Nacht der brüllenden Höllen, in welcher der Gerichtsvollzieher La Herse, Herse wie die Egge, teuer für ein Leben bezahlte, in welchem er Recht und Einschüchterung, Pflicht und Folter, Moral und Gesetz wissentlich vertauscht hatte.

Amen.

 

»Die Fortsetzung!«

»Die Fortsetzung! Cissou, die Fortsetzung!«

Cissou betrachtet mich mit abdriftendem Blick.

»Die Fortsetzung … die Fortsetzung … Das Drama mit diesen Bälgern ist, dass sie meinen, alles müsse eine Fortsetzung haben …«

Ecce Cissou la Neige: Man schreibt ihm eine säurefeste Stimmung und eine lustige Seele zu, glaubt, dass er von jeher dazu bestimmt sei, die Polente zu vergackeiern, aber plötzlich gibt es einen Riss, »das unergründliche Unglück«, wie man so schön in den schönen Büchern sagt.

»Hat der arme Thian vielleicht eine Fortsetzung gehabt, Benjamin, kannst du mir das sagen? Und Stojil, ob sie ihm da oben mit einer hübschen Fortsetzung aufgewartet haben?«

Es war auf der Beerdigung des alten Thian, dass wir Cissou zum ersten Mal sahen. Und mit ihm Suzanne. Offenbar Stadtteilkumpel, Thian, Suzanne und Cissou, Altersgenossen, die kaum noch an eine Fortsetzung glaubten. Cissou kam als Vertretung für Gervaise zu Thians Beerdigung, Schwester Gervaise, die Tochter des alten Thian, die allzu sehr mit dem Loskauf ihrer Huren befasst war, um eine Blume in das Grab ihres Vaters zu werfen. »Gervaise, du verhätschelst deine Nutten so sehr, dass du deinen armen Papa vernachlässigst.« »Würde es mein armer Papa vorziehen, dass ich meine Nutten vernachlässige?«

Drei Monate später tauchten Suzanne und Cissou wieder auf, diesmal, um Stojil zu begraben, denn auch Stojil war gestorben, ja, und zwar ohne seine Übersetzung von Vergil ins Serbokroatische abgeschlossen zu haben … Aus dem Staub gemacht, der Onkel Stojilković, kurz bevor die Serben, Kroaten und Moslems anfingen, sich gegenseitig abzumurksen.

Nach Stojils Beerdigung bot Suzanne uns eine Gratisfilmvorführung an und verfrachtete uns allesamt ins Zèbre: Stojil hatte mit seinem prächtigen Einfallsreichtum einen vorsintflutlichen Doppeldeckerbus organisiert und alte Damen von Belleville durch die Gegend kutschiert, und Suzanne hatte darüber einen kleinen Streifen gedreht.

Damals im Zèbre taufte Jérémy sie »Suzanne O’Zyeux bleus« …

»Ah?«, hatte Thérèse gefragt.

»Nein, O!« Die Schreibweise – insbesondere das große O und der Apostroph – huldige, so Jérémy weiter, erstens der unbeirrbaren und illusionslosen Freude, welche Suzannes tiefblaue Augen ausstrahlten – »Etwas sehr Irisches« –, und zweitens jenem Fels: Suzannes Charakter. Zum Abschluss sagte er noch: »Sie hat nicht einfach Augen, die sehen, sondern Augen, die zeigen.«

»Die Fortsetzung …«, stöhnte Cissou la Neige. »Erzähl du.«

 

Was meine Fortsetzung betrifft, so beinhaltet sie nicht La Herses Bestürzung, als er in einer Wohnung von Belleville unter einer Schicht verkoteter Windeln eine echte Goldgrube antiker Möbel entdeckte … Nein, meine Fortsetzung, die Fortsetzung von mir, Benjamin Malaussène, ist hier zu finden, hier und jetzt, auf der Bühne des Zèbre, an dem Tisch, um den wir sitzen, im Scheinwerferlicht und mit Blick in den dunklen Saal, meine ganz persönliche Fortsetzung ist dieses andere kleine Ich, das in Julies Schoß meine Ablösung vorbereitet. Wie schön ist eine Frau in diesen ersten Monaten, wenn sie einem die Ehre erweist, gleich zwei Menschen auf einmal zu sein! Aber, Teufel, Julie, glaubst du, das ist vernünftig? Glaubst du wirklich Julie? Ehrlich … hm? Und du, kleiner Dummkopf, glaubst du wirklich, das sei die richtige Welt, die richtige Familie, die richtige Zeit für eine Landung? Noch nicht angekommen und schon in schlechter Gesellschaft! Wohl so wenig Grütze im Kopf wie deine Mutter, diese »Journalistin der Wirklichkeit« …

 

Aber, machen wir uns keine düsteren Gedanken, machen wir uns keine düsteren Gedanken. Im Moment ist Lachen angesagt. Und wie immer in solchen Momenten besteht die Fortsetzung in der Erinnerung an den Anfang: Amar und Yasmina, wie sie vergangene Woche mit dem Wisch des Gerichtsvollziehers bei uns auftauchen, ihre Verzweiflung, Cissou, der sofort Widerstand vorschlägt, Jérémy, der sich im Eifer des Gefechts gleich eine Inszenierung ausdenkt, das allnachmittägliche Training des Kleinen, der noch jetzt Watschelfüße hat, auf der Bühne des Zèbre (»Vier Minuten, nicht mehr, und wenn Cissou die Hände hebt, machst du die Flatter, kapiert, Kleiner, hast du kapiert? Wir schmieren dich mit Olivenöl ein, damit sie dich nicht zu fassen kriegen«), Suzanne O’Zyeux bleus, die aus der Erinnerung an ihre Zeit beim Film die Requisiten zusammenstellt, Yasmina und Clara, die mit ihrem kulinarischen Genie die menschliche Grütze mixen, und der Zweifel, der Zweifel, und die Ermahnungen zu Optimismus:

»Das klappt, Scheiße noch mal«, brüllte Jérémy, »das kann gar nicht anders als klappen!«

»Die wissen doch genau, dass meine Wohnung im fünften liegt!«

»Der psychologische Schock, Amar, denk an den psychologischen Schock! Thérèse, erklär ihm, was der psychologische Schock ist!«

Thérèses Erläuterung ist wie immer psychobiblisch:

»Sie werden diese Tür öffnen, Amar, da es die verbotene Tür ist.«

Als Nächstes besteht die Fortsetzung in Jérémy. Er erhebt sich mit senatorischer Würde, steigt auf seinen Stuhl und hält einen Fingerhut Sidi-Brahim in die Höhe.

»Sehr geehrte Damen und Herren, Brüder und Schwestern, Julius der Hund, liebe Freunde, ich bitte um einen Moment der Ruhe. Du auch, Benjamin, hör auf, mit Cissou stille Messen zu zelebrieren, und halt die Klappe.«

Also: Stille. Und Feierlichkeit.

»Geliebte Familie, teure Freunde. Es liegt mir am Herzen, ganz besonders zwei Menschen zu ehren, ohne die unser Sieg nicht wäre …«

»Konjunktiv II!«, schreit der Kleine hinter seiner rosa Brille hervor. »Konjunktiv II: Ausdruck des nur Vorgestellten, der Irrealität, hier verwendet im Konditionalsatz. Man spricht auch von einem ›irrealen Konditionalgefüge‹!«

»… unser Sieg nicht wäre, was er ist. Es sind dies …«

(Der Redner wendet sich den beiden Babys zu, die am Ende der Tafel zwischen Julie und Clara thronen, das eine engelsgleich in seiner strahlenden Blondheit, das andere in seinem angeborenen Zorn absolut biestig.)

»Es sind dies Verdun und C’Est Un Ange, die von allen Bellevillern ihrer Generation, welche an diesem Gefecht teilgenommen haben, mit Abstand die verschissensten, stinkendsten und an Fliegenlarven reichhaltigsten …«

Die Fortsetzung: Thérèse, die aufspringt.

»Jérémy!«

Das Umkippen von Thérèses Stuhl.

»Jérémy, hör auf!«

Das helle Lachen von Suzanne.

»Dieser Kotzbrocken bringt uns noch alle zum Reihern!«

Und das Wummern gegen die Tür des Zèbre.

Fortsetzung und Ende.

Das Wummern.

Ein entsetzlicher Anblick, so ein Lachen, das im Halse stecken bleibt … all diese aufgesperrten Münder … Zweites Wummern. Suzanne richtet die Scheinwerfer auf die ferne Tür am anderen Ende des Saales, wir gaffen die Tür an wie im Kino, ja, genau wie im Kino … Keiner rührt sich: eine Schar wilder Gänse, die den Holzweg eingeschlagen hat. Und das mitten im Jagdgebiet. Kein Rückwärts, kein Raus.

Drittes Wummern.

So hartnäckig sind nur Bullen und Versicherungsvertreter. Und die Letzteren haben gelernt, den Umgang mit uns zu meiden.

Klagemänner und Klagefrauen, ja, ihr habt recht, das Ende vom Lied ist immer ein dickes, insbesondere bei Siegen.

Jetzt aber mal halblang und Ruhe bewahrt: Was riskieren wir schon? Hausfriedensbruch, vorsätzliche Sachbeschädigung, Behinderung der Justiz, Anstiftung eines Minderjährigen zur Kreuzigung …Was soll da schon groß bei rumkommen?

Während unsere Köpfe in stummer Überschlagsrechnung rauchen, denkt niemand daran, den Saal zu durchqueren und diese verdammte Tür zu öffnen, die schließlich von allein aufgeht, diese Tür des Zèbre, diese Tür des letzten lebenden Kinos von Belleville.

Und im Türrahmen erscheint Maman.

3

Und im Türrahmen erschien deine künftige Großmutter. Die ich dir ebenfalls vorstellen muss. Deine künftige Großmutter hat ein spontanes Herz und einen großherzigen Schoß. Ich, Benjamin höchstselbst, Louna, Thérèse, Jérémy, der Kleine, Verdun, wir alle sind diesem Schoß entsprungen. Und selbst Julius der Hund schenkt ihr Sprösslingsblicke.

Was sagst du dazu, der du die Frucht langer Zeugungsfürundwider bist: »Darf man in diese Welt, wie sie ist, Kinder setzen? Hat es Gott-Parano verdient, dass wir sein Werk fortsetzen? Habe ich das Recht, ein Schicksal auszulösen? Weiß ich etwa nicht, dass ein Leben in Gang setzen heißt, ihm den Tod an die Fersen zu heften? Was tauge ich als Vater, und was taugt Julie als Mutter? Können wir das Risiko eingehen, dass du uns ähnlich siehst? …«

Glaubst du, deine Großmutter hätte sich je solche Fragen gestellt? Pustekuchen! Eine Liebe, ein Kind, so läuft es immer bei ihr. Jeder neue Anlauf eine neue Fleischwerdung, und die Erinnerung an den Papa verliert sich beizeiten.

Manch einer mag dir sagen, deine Großmutter sei eine Hure. Aber ich sage dir, aus ihnen spricht die Niedertracht. Deine Großmutter ist eine ewige Jungfrau, was etwas ganz anderes ist. Jede Liebe eine abgeschlossene Ewigkeit, nicht mehr und nicht weniger, und wir sind die Summe dieser Ewigkeitsaugenblicke.

Aus denen sie so jungfräulich heraustritt als wie zuvor.

Wie sie so an jenem Abend in der Tür stand, im Kranz des Scheinwerferlichts – mal ehrlich: Sieht so eine Hure aus?

Ich frage dich: Sieht so eine Hure aus? Ja, sieht so eine Großmutter aus? Kann das, was da paillettenübersät und mit einem Jungmädchenkoffer in der Hand auf uns zukam, eine Vorfahrin mit schlechtem Lebenswandel sein? Aber du in deiner opalenen Wohnstatt kannst das ja gar nicht beurteilen … offenbar fehlt es euch an Weitblick, angeblich liegt dort alles in milchigblauem Dämmer. Glückskind, du … Das Einzige, was ich dir bis ans Lebensende neiden werde: deinen neunmonatigen Untermietvertrag in Julies Bauch.

Vielleicht hast du aber wenigstens die Art unseres Schweigens wahrgenommen? Hast du bemerkt, wie sich unser Schweigen veränderte? Ein Schweigen zusammengekniffener Arschbacken, das plötzlich in eines höchster Euphorie umkippt. Deine Großmutter kommt nicht herein, wenn die Tür aufgeht, nein, sie erscheint. Auch morgens nach dem Aufstehen tapert deine Großmutter nicht triefäugig in die Küche, nein, sie erscheint. Deine Großmutter ist nicht einfach eine Frau, und sie begnügt sich auch nicht damit, eine Erscheinung zu sein, deine Großmutter ist die Erscheinung der Frau. (Klingt idiotisch, aber du wirst es sehen und wirst begreifen, dass man mit der Sprache an Grenzen stößt.)

 

Maman erschien also im lichtgebadeten Türrahmen des Zèbre. »Wir sind im Zèbre« hatte Jérémy bei uns an die Tür gepinnt. Was er seit achtundzwanzig Monaten machte, für den Fall, dass Maman in den Schoß der Familie zurückkehrte und das Haus leer vorfände.

Achtundzwanzig Monate.

Achtundzwanzig lange Monate ohne Maman, ohne »Guten Abend«, ohne »Ich bins«, ohne »Hallihallo«, ohne »Wie gehts?« … Sie kletterte auf die Bühne und entdeckte sofort C’Est Un Ange, sie sagte:

»Ah! Wir haben Zuwachs gekriegt?«

Sie stellte ihren Koffer ab und steuerte auf C’Est Un Ange zu. Und während sie Verdun auf den Arm nahm und dem Kleinen durchs Haar fuhr, sagte sie:

»Das ist ein Engel!«

Dann sah sie Clara an.

»Hast du uns diesen blonden Schatz ins Haus gebracht?«

C’Est Un Ange glich wie immer seinem Namen: war ein Engel und lächelte; Verdun zog eine etwas weniger herbe Schnute, der Kleine erklomm Maman von der anderen Seite, Jérémy stand noch immer mit dem Glas in der Hand auf seinem Stuhl und kriegte den Mund nicht wieder zu, Julius der Hund trat sich auf die Zunge, Lounas Blick fand unsere Mutter mehr als lebensecht, Claras Gesicht hellte sich zum ersten Mal seit Saint-Hivers Tod auf, und Thérèse sah mich an.

Wie immer spiegelte Thérèses Blick etwas Wahres.

Irgendetwas war nicht ganz koscher.

Es war Maman und auch wieder nicht.

Es war Maman, aber ausgehöhlt.

Normalerweise taucht Maman nie allein auf.

Ihr voran schreitet normalerweise stets ihr Bauch … und kündigt Maman mit der Botschaft einer unmittelbar bevorstehenden Niederkunft an.

Diesmal null Bauch.

Achtundzwanzig Monate fort, durchgebrannt mit dem Inspektor Pastor und bei der Rückkehr leer.

No future.

Nur die nackten Beine von Verdun und dem Kleinen, die ihre schmale Taille umschmiegten, um besser auf ihren Hüften sitzen zu können.

Thérèse sah mich an. Es war das erste Mal, dass wir Maman ihre Kinder außen tragen sahen.

Woraufhin wir das Gesicht unserer Mutter betrachteten. Thérèse schaute weg, ich glaube, in ihren Augen glänzte eine Träne.

Thérèse, Thérèse … warum denkt Thérèse immer einen Tick schneller als die anderen?

 

Hat keinen Sinn, dir die Hucke vollzulügen, mein Kind, Thérèses Tränen muss man ernst nehmen. Um dir die Wahrheit zu sagen: Deine Familie ist mit dem Tragischen unzertrennlich liiert. Im Übrigen, was da auf dich zukommt, ist weniger eine Familie als ein Blutbad. Deine künftige Großmutter hat sich eine Liebschaft mit dem Bullen Pastor genehmigt, einem charmanten Killer, der mehr als einen kaltgemacht hat, und kehrt leer nach Hause zurück. Deine Tante Clara wurde vor ihrer Ehe zur Witwe und C’Est Un Ange vor seiner Geburt zum Waisen: Es war Mord. Verdun ist genau in der Sekunde auf die Welt gekommen, als ihr Großvater, der andere Verdun (benannt nach der Schlacht) von der Traurigkeit hinweggerafft wurde. C’Est Un Ange erschien laut Thérèse, weil Thian abtreten musste. Onkel Stojil hat sich einbuchten lassen, weil er Belleville gegen die bösen Drogenhändler und die ehrbaren Speck-Kulanten verteidigen wollte, und ist in seiner Zelle gestorben. Bei der Geschichte wäre Julie, deine eigene Mutter, beinahe draufgegangen; man versuchte sie zu ertränken und hat Zigaretten auf ihrer Haut ausgedrückt, man hat dir eine Leopardenmutter gemacht. Im nächsten Band hat man mir eine Kugel in den Kopf gejagt. Ja, mein Kind, dein Vater klingt hohl: ein Hirnkasten aus Eisen und untendrunter nichts als Zweifel.

Deshalb, unvorsichtiger Sohn des Sündenbocks und der Leopardin, wenn du Lust kriegen solltest, dich noch vor der Landung auszuklinken, könnte ich dir wirklich nicht böse sein. Was Julie angeht, würde sie sich mit einer geballten Ladung Wirklichkeit darüber hinwegtrösten. Das ist nämlich ihr Ding, die Wirklichkeit. Eine Menge Wirklichkeit angereichert mit mir tauber Nuss. Sie hat immer ein Stückchen Wirklichkeit auf dem Feuer, deine Mutter.

»Aber Vater mein«, wirst du mir sagen, »weshalb hast du, da du von solch höchst pessimistischem Naturell zu sein scheinst und selbst einer tragischen Verkettung nur mit Müh und Not entkommen bist – womöglich nur auf Zeit –, weshalb, mein Vater, hast du dem kleinen Sperma und seinem genetischen Bündel grünes Licht gegeben?«

Was soll ich dir darauf antworten? Die ganze Welt ruht in dieser Frage. Wahrscheinlich siegt in Daseinsangelegenheiten der Optimismus stets über die Weisheit des Nichts. Das ist eines der Geheimnisse unserer Gattung, obwohl wir mehr draufhaben als sonst irgendeine. Und außerdem … außerdem entscheiden wir niemals allein. Du kannst dir nicht vorstellen, wer beim großen Rat des Lebens alles die Stimme erhebt! Julie, deine Mutter, natürlich, die Augen deiner Mutter, der Appetit in den Augen deiner Mutter, als ich dem kleinen Tod von der Schippe gesprungen war, auf die mich diese 22-Millimeter-Kugel mit hoher Durchschlagskraft katapultiert hatte. Dann das Votum der Familie, unisono, angeführt von Jérémy und dem Kleinen: »Ein Brüderchen, ein Brüderchen! Ein Schwesterchen, ein Schwesterchen! Ein Baby, ein Baby!« Und das Gutzureden der Freunde: von Amar, Yasmina, Loussa, Théo, Marty, Cissou … und, bitte schön, auf Französisch, Chinesisch, Arabisch: »Wáwa, wáwa!« R adae, r adae!« Man könnte meinen, du wärst das Ergebnis eines multinationalen Verwaltungsrats! Alle Geschlechter und Richtungen haben, wie man heute sagt, »sich eingebracht«. Sogar die Königin Zabo, ihres Zeichens meine Chefin in den Editions du Talion und ein ausgetrocknetes Mädchen, hat ihren Senf dazugegeben: »Können Sie schreiben, Malaussène? Nein, was? Natürlich nicht … Dann machen Sie doch wenigstens was Dralles mit Hand und Fuß, ein Baby zum Beispiel, das wär doch was, ein hübsches Baby!« Und Théo, unser Freund Théo, der stets die Blonden bevorzugt: »Benjamin, du müsstest wissen, was Tunte ist und Tante spielt, nicht eines Nachts zur Mutter wird. Komm, sei ein Bruder, mach mir einen kleinen Neffen.« Und Berthold, der Chirurg, dem ich mein zweites Leben verdanke: »Ich habe Sie von den Toten auferweckt, Malaussène, Scheiße, dafür schulden Sie mir einen Volltreffer! Los, an die Arbeit! Sie haben lange genug einen auf Blindgänger gemacht! Kommen Sie endlich zum Schuss!« Aber den Vogel schoss Stojil ab, dein Onkel Stojilković, den du nie kennenlernen wirst – was das erste Unglück in deinem künftigen Dasein ist.

Ich habe ihn zwei Tage vor seinem Tod in der Zelle besucht. Er sah etwas mager aus, aber ich dachte, es läge an Vergil … dieses ständige Hin und Her zwischen Latein und Kyrillisch … Er hatte eingefallene Wangen und überall Wörterbücher herumstehen. Er gönnte sich eine Pause. Wir klappten unser Schachbrett auseinander, stellten die Figuren auf … Er zog Weiß, wir fingen an zu spielen. Hier unsere Unterhaltung im vollen Wortlaut.

Er: … (e2 – e4)

Ich: … (e7 – e5)

Er: … (greift nach der Schachtel mit der Zigeunerin drauf und steckt sich eine an)

Ich: Julie will ein Kind …

Er: … (Springer f3)

Ich: … (Springer c7)

Er: Gefällt dir Australien?

Ich: Australien?

Er: … (Läufer auf c4)

Ich: … (stütze das Kinn in die Hand)

Er: Der australische Urwald, die australische Wüstenei, zieht dich das an?

Ich: Kenn ich nicht.

Er: Dann schlag mal schnell nach. Nicht einmal der australische Busch ist tief genug, um einer Frau zu entkommen, die ein Kind von dir will.

Ich: … (f7 – f6)

Er: … (überlegt)

Ich: … (denke nach)

Er: Und die Sierra Madre nicht steil genug.

So ist es: Du wirst auf die Welt kommen, und ich werde nie mehr Stojilkovićs Stimme hören. Ungeheuer tief, die Stimme von Onkel Stojil, Big Ben in unserem täglichen Nebel. Ein akustischer Leuchtturm. Ein Nebelhorn im Stimmungstief. Sie kam von so tief unten und füllte unseren Raum so vollkommen aus, dass wir keine Angst mehr vor unseren Schatten hatten …

Kein Stojil mehr.

Er sagte mir:

»Ich geb dir einen Rat, meinen letzten. Hör auf Julie.«

Woraufhin er mir ohne Überleitung ankündigte, dass er den Löffel abgeben werde.

»Die Lungen.«

Als ihm der Doktor nach der fatalen Röntgenaufnahme das Rauchen verbot (du wirst sehen, der Tod kündigt sich von fern durch diese kleinen Lebensverbote an), antwortete er ihm nur:

»Doktor, warum willst du, dass ich das meinen Zigeunerinnen antue?«

Und dann hat er sich sachte ans Sterben gemacht, mit der Gitane im Mund, vor seinen Wörterbüchern.

»Onkel Stojil«, sagte ich ziemlich idiotisch zu ihm, »Stojil, Stojil, aber du hast mir doch geschworen, dass du unsterblich bist!«

Er: Stimmt, aber ich habe dir nicht geschworen, dass ich unfehlbar bin.

Ich: …

Er: …

Ich: …

Er: Im Übrigen sterbe ich nicht, ich rochiere.

 

Du bist also nicht das Ergebnis eines unaufhaltsamen Samens und eines unersättlichen Eis, sondern bist hervorgegangen aus diesem letzten Besuch bei meinem Onkel Stojil.

Der dem Leben alle Ehre machte.

Inhaltsverzeichnis

IICissou la neige

Polizei? Seit wann holen wir die Polizei?

4

Der Gerichtsvollzieherpraktikant Clément blickte nicht auf, sein Kuli machte keine Pause. Er war in einen Brief versunken. Blau und unaufgeregt, mit einer wohlkalkulierten Spontaneität floss seine Schrift aufs Papier.

21. Juli meines ersten Studienjahrs

 

Liebe Eltern,

 

ich habe Euch zwei Neuigkeiten mitzuteilen: eine gute und eine ausgezeichnete. Zunächst die gute: Meine Scheine in Verfassungsrecht, Statistik und Buchführung habe ich mit links gemacht. Nun zur ausgezeichneten: Ich hänge das Verfassungsrecht, die Statistik und die Buchführung an den Nagel. Und insgesamt alle Hoffnungen, die Ihr seit dem Tag meiner Geburt in meinem Namen gehegt habt.

Gewiss werdet Ihr finden, dass ich ein wenig zu direkt bin. Aber es wurde langsam Zeit, immerhin rede ich ja schon seit dreiundzwanzig Jahren um meinen Brei herum.

Aus gegebenem Anlass melde ich mich selbstverständlich auch bei Eurem Freund La Herse ab. Vater hatte recht mit seiner Idee, dass ein Julipraktikum bei dem guten Mann lehrreich für mich sein würde. Das war es in der Tat. Dem väterlichen Rat folgend habe ich »einen Blick auf die Realität getan« und »die Dinge gesehen, wie sie sind«. Ein kleiner rosabebrillter Regisseur von sieben oder acht Jahren hat mir dabei ziemlich geholfen. Hieraus erklärt sich auch das vorliegende Schreiben.

Apropos Regie, um meine Zukunft braucht ihr euch keine Sorgen zu machen: die widme ich dem Kino. Als was? Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Alles interessiert mich: Drehbuchautor, Regisseur, Cutter, Schauspieler, Toningenieur, Requisiteur, Geräuschemacher, Archivar, Theoretiker, Platzanweiserin, Kritiker. Ich glaube, ich könnte mich sogar splitternackt vor die Kamera stellen, einen Steifen kriegen wie ein Esel und eine junge Beamtin vögeln, bis es mir kommt und es endlich ein bisschen Frieden gibt.

Vulgär. Ich weiß.

Aber ich nutze diese Zeilen, um Euch (neben dem Schlüssel für Eure Wohnung und meiner Stellung als Mustersöhnchen) die drei einzigen Wörter zurückzugeben, die auf Eurem Erziehungsplan als kritischer Apparat zur Verfügung standen: »vulgär«, »zweitklassig« und »beachtlich«.

So, jetzt schulde ich Euch nichts mehr, außer meinem Leben – doch war ich nie so taktlos, Euch dafür Vorwürfe zu machen.

Clement

Ohne den Brief noch einmal durchzulesen, steckte Clément ihn zusammen mit seinem Sparbuch in einen Umschlag und schickt, nach Verlassen der väterlichen Wohnung den flachen Schlüssel hinterher, klebte alles zu, frankierte es und ging zügigen Schritts Richtung Métro Châtelet. Gegen seine Hüfte schlug, treu wie eine Dienstwaffe, eine Super-8-Kamera.

Richtung Porte des Lilas.

Auf dem Postamt von Belleville und nirgendwo sonst wollte er diese seine abgelaufene Existenz einliefern.

Belleville, wo gestern ein rosabebrillter Liliputaner ihn ohne Vorwarnung in einen Tod-Browning-Film katapultiert und so einen neuen Menschen aus ihm gemacht hatte. Als die kleine nackte Seele mit einem Kampfruf über ihn hinwegsprang, wusste der Gerichtsvollzieherpraktikant Clément sofort, dass er dreiundzwanzig Jahre Angst und Unterordnung ausgekotzt hatte. Was er die Treppe runterrennen sah, war kein Kind, sondern ein verrückter Zwerg von Tod Browning. Und als aus der Tür im Stockwerk darunter der Rest der Truppe geflitzt kam, wollte Clément nur noch eins: sich ihnen anschließen, ein Teil von ihnen werden, einer dieser verrückten Gnome, deren wilde Einbildungskraft allein der Wirklichkeit ihre Farben zurückgeben konnte. (Alles Sätze der vergangenen, schlaflos verbrachten Nacht, ein bisschen hochtrabend und abgedroschen, weil er so überdreht war.)

Er war nicht mit den anderen in die Wohnung gegangen. Der Zwerg hatte sie gewarnt, dass es drinnen noch weitaus schlimmer aussähe. Er hatte ihm aufs Wort geglaubt. Hinter der verbotenen Tür musste das Phantom von Lon Chaney auf die Kuckucksmöbelpacker lauern. Clément setzte stattdessen den wahnsinnigen Puppen von Tod Browning nach, rutschte in der Soße der zerlaufenen Frühstücke aus und bäuchlings die Treppe runter. Als er wieder festen Boden unter den Füßen hatte, standen vor ihm ein schwarzer Riese und ein treppenhausbreiter Rotschopf. Das war zu schön, um wahr zu sein.

Der Schwarze:

»Wohin des Weges, junger Mann?«

»Zu denen da! Zu denen da unten!«

Der Rotschopf lächelte. Der Wind pfiff ihm durch die Schneidezähne – das Gebiss des Propheten.

»Ach, du gehörst hier zum Klub?«

Zwei Hände drehten ihn um.

»Geh wieder schön nach oben, mit den Großen spielen.«

Ein Tritt in seinen Hintern – ein Kick, dass er die halbe Treppe auf einmal nahm.

Oben tobte sich das Phantom von Lon Chaney nach Herzenslust aus. Ganze Arbeit: für den Film hatte Tod Browning alle Fliegen der Schöpfung domestiziert.

Als Clément schließlich ging, war das Treppenhaus leer, das Gebäude still.

 

Jetzt lief er durch Belleville. Sein Kopf saß wieder fest auf beiden Schultern. Er suchte keine Zwerge, die einem verrückten Zirkus entsprungen waren, sondern Kinder. Und zwar in erster Linie einen sieben- oder achtjährigen rosabebrillten Jungen. Und wenn er sein ganzes Leben damit verbrächte. Der Knirps mochte erwachsen und Großvater werden, er würde ihn am Ende finden. Seines Briefes hatte er sich auf dem Postamt in der Rue Ramponeau entledigt; er fühlte sich zum Schweben leicht. Geld hatte er keines, aber gegen seine Hüfte schlug die Filmkamera. Eine Kamera und drei Kassetten zum Wechseln. Die Gerüche von Belleville trugen ihn. Es war das allererste Mal, dass er Belleville wirklich roch. Er fühlte sich zu Hause, spürte eine neue Existenz unter den Füßen. Ein Schicksal, endlich ein Schicksal! Eine eigene Welt und ein Schicksal! Er lachte keineswegs, während er diesen Blödsinn vor sich hin brabbelte.

Er bot dem Auge seiner Kamera eine Orgie von Paprikaschoten, Datteln, Melonen, Chilis und Auberginen. Er hätte am liebsten den Geruch des Korianders und das Gebrutzel der Merguez gefilmt.

Zeigefinger tippten sich an die Stirn.

Allgemein fand man, dass er sein Filmmaterial vergeudete.

Sich von Lebensmittelläden zu Eisenwarenhändlern, von glasierten Enten zu 30-Francs-Klamotten vorwärtsfilmend, landete er schließlich auf dem Boulevard de Belleville.

Wo er ihn sah.

Direkt vor seiner Nase, keine zwanzig Meter weg.

Den Jungen mit der rosa Brille.

Er kam aus diesem Kino, dessen Wahrzeichen ein Zebra ist.

Zusammen mit einem anderen Dreikäsehoch. Und einem Mädchen.

Clément zückte seine Kamera und begann zu filmen. Im Rückwärtsgang.

Die Kinder besetzten das Trottoir in seiner ganzen Breite.

Sie gingen mit ausgestellten Füßen und vorgewölbtem Bauch in seine Richtung.

Sie lachten, das Kinn vorgestreckt, die Halsmuskeln gespannt.

Als sie merkten, dass sie gefilmt wurden, drückten sie die Brust noch weiter heraus und verstärkten ihren Mastentengang.

Man hätte wetten können, dass sie im achten Monat waren.

5

O Sie, mit den Spekuliereisen des Vorurteils auf der Nase, die Sie stets zu verordnetem Entzücken und bestellter Empörung bereit sind, wenn Sie drei magere Kinder sehen (wovon das eine rosabebrillt ist), die, Brust vorgewölbt, Füße entenwatschelig, Hände ins Kreuz gestemmt, kurz: die in der Haltung schwangerschaftsverhärmter Frauen den Boulevard de Belleville hinunterzockeln, so glauben Sie nicht, Belleville schwängere seine Jugend.

O nein!

Werfen Sie lieber einen Blick auf die andere Straßenseite.

Sie äffen mich nach, diese kleinen Blödmänner.

Machen sich lustig über mich.

Wenn ich die erwische …

 

Tatsächlich war Benjamin Malaussène, der eisenschädelige Sündenbock, schon seit den ersten Wochen von Julies Schwangerschaft nicht mehr ganz bei sich. Bauch voran, Füße nach außen, bewegte er sich fern seiner ersten Person. Leila, Nourdine und der Kleine äfften ihn nach, Julius der Hund schien nichts mehr zu begreifen.

Julie lachte:

»Eine empathiebedingte Krise, Benjamin?«

Ein schwangerer Malaussène; arbeitsunfähig. Er blockierte die Editions du Talion mit diesem künftigen Leben. Er sprach sogar mit den Autoren darüber, die das ihre verschlissen, um die Manuskripte zu schreiben, die er dann ablehnte. Er fragte sich laut, ob nicht Kunsterzeugung vergebliche Liebesmüh und Kinderzeugung ein krimineller Akt waren. Er fand tausenderlei erschwerende Umstände.

»Sündenböcken müsste man die Eier abschneiden.«

Unter anderem hatte er sich folgende Idee in den Kopf gesetzt:

»So ein Pech ist bestimmt erblich … wer weiß, was man meinem Nachwuchs anhängt, sobald er die Nase in die Welt steckt.«

Er strapazierte selbst seine treuesten Freunde.

»Du übertreibst, Benjamin.«

»Wenn du sagst, ich übertreibe, Loussa, sagst du auch, dass ein Stückchen Wahrheit dahintersteckt. Danke. Sehr aufmunternd. Wirklich, die Aussichten sind finsterer, als ich dachte.«

Zum ersten Mal in seinem Leben trat er als Ankläger auf:

»Ihr seid schuld, Majestät! Ihr, verschanzt hinter Eurer Jungfräulichkeit, habt mich zum Kindermachen abkommandiert.«

Die Königin Zabo bestätigte:

»Genau das ist mein Job, die Leute ins Feuer zu schicken.«

Er suchte andere Gesprächspartner.

»Und Sie, Mâcon, wie gehts, wie stehts?«

Die Sekretärin hatte Erbarmen mit ihm:

»Ich habe meine Bilanz aufgestellt, Monsieur Malaussène, Posten für Posten. Der Saldo, tja, dass ich nicht einen Moment im Leben glücklich war. Nicht einen.«

Calignac, der Geschäftsführer, griff ein:

»Untergrabe nicht die Stimmung unserer Mâcon, Benjamin, du gehst uns langsam auf die Nerven.«

»Und du hast einen Rugbyball anstelle eines Herzens, Calignac, außen Leder, innen Luft.«

Er machte die Leute auf eine Weise depressiv, dass sie sich fragten, wie sie die Kraft aufgebracht hatten, überhaupt auf die Welt zu kommen.

Es kam zu Krankschreibungen.

Im Verlag kriselte es.

Schließlich sprach die Königin Zabo ein Machtwort:

»In Ordnung, Malaussène, ich schicke Sie in Mutterschaftsurlaub. Neun Monate bei vollem Lohnausgleich, zufrieden?«

 

Kaum von seinen beruflichen Pflichten befreit, fiel Malaussène über die Medizin her. Er ging zu Marty, ihrem Haus- und Leibarzt, der jedem von ihnen bestimmt schon zwei- oder dreimal das Leben gerettet hatte, und stieg ihm aufs Dach. Von dem Kind, das unterwegs war, kein Wort. Alles, was er tat, war, Marty anzupöbeln.

»Den Leuten das Leben retten, das Leben retten, Scheiße noch mal, aber echt, vielleicht könnten Sie ja auch mal an die Zukunft denken!«

Professor Marty ließ Malaussène das Thema vertiefen. Professor Marty riss nie der Geduldsfaden, wenn seine Patienten ihm Patiencen legten. Aber nicht aus Spieltrieb, sondern weil er Geduld für das Nadelöhr zur Anamnese hielt. Er fragte sich, ob man vielleicht klammheimlich seinem Sündenbock noch einmal in den Kopf geschossen hatte, verwarf die Hypothese sogleich, suchte in einer anderen Richtung und meldete sich erst zu Wort, als seine Diagnose feststand:

»Sagen Sie, Malaussène, ist es möglich, dass Sie hier Stunk machen, weil Sie im Begriff sind, Papa zu werden?«

»Ja.«

»Gut. Vermutlich sind gerade fünfhundert Millionen Hindus in der gleichen Lage wie Sie. Was genau wollen Sie also von mir?«

»Den Namen des besten Geburtshelfers der Welt. Der Welt, Doktor! Dass wir uns nicht missverstehen.«

»Fraenkhel.«

»Nie gehört.«

»Weil er nicht nur der beste, sondern auch noch der zurückhaltendste ist. Ihn werden Sie nie im Fernsehen sehen, das ist kein Berthold. Dennoch hat er mehr Stars, Monarchen und sonstige VIPs entbunden, als Sie seit Beginn von Julies Schwangerschaft Blödsinn geredet haben.«

»Fraenkhel?«

»Matthias Fraenkhel.«

 

Am selben Abend kam Malaussène nach Hause, als wäre ihm eine Meute Bluthunde auf den Fersen, er schnappte Julie am Arm, und sie verschwanden so schnell nach oben in ihr Kabuff, als ob sie gleich zwei Paar Zwillinge produzieren wollten.

»Julie«, sagte er, »Julie, lass deinen Gynäkologen sausen, und such den Doktor Fraenkhel auf.«

»Ich tue, was ich für richtig halte, Benjamin. Aber in dem Fall sind wir einer Meinung: Fraenkhel kümmert sich seit meiner ersten Regel um mich.«

»Du kennst ihn?«

»Du auch. Erinnerst du dich an die Konferenz der Anti-Abtreibungs-Liga vor ein paar Jahren, wo dieses Ungeheuer von Léonard auftrat, der am liebsten allen den Kopf abreißt? Ich sollte was darüber schreiben. Du bist mit mir hingegegangen, an dem Tag sind wir zum ersten Mal zusammen unterwegs gewesen … Fraenkhel trat auch auf.«

Malaussène ließ Julie los, als hätte er eine gewischt bekommen. Er sah Fraenkhel vor sich, ja, und gestochen scharf, wie er am Konferenztisch saß: ein Gerüst, eine menschliche Bauruine, nichts als Sehnen und Knochen; eine Mähne wie explodierende Feuerwerkskörper und ein irrer Blick, als wäre er die Inkarnation des Heiligen Geistes persönlich. Aber Malaussène sah ihn nicht nur vor sich, sondern er hörte ihn auch. Malaussène glaubte, seinem Gedächtnis nicht zu trauen.

»Und du, Julie, erinnerst du dich, was dieser Typ auf der Konferenz zu sagen wagte?«

Julie war der Inbegriff des journalistischen Gedächtnisses.

»Absolut. Wie all diese Herren war er gegen die Abtreibung, er hat einen der Kirchenväter zitiert, ich glaube, Thomas von Aquin: »Lieber siech und missgestalt, denn nicht geboren.« Woraufhin er von einem fetten Mädchen unterbrochen wurde, das ihm ein Stück blutiges vergammeltes Fleisch ins Gesicht warf und kreischte, dass das ihr Fötus sei. Stimmts?«

Malaussène sog langsam die Luft des ganzen Zimmers ein.

»Und ›so was‹ vertraust du unsere Geburt an?«

»Hat dir Marty nicht gesagt, dass er der beste ist?«

»Der beste? Ein umgepolter Kopfabreißer! Ein Typ, der es fertigbringt, noch sechsköpfige Gören auf die Welt zu holen!«

»Am besten, du suchst Matthias auf, Benjamin, und redest mit ihm.«

»Matthias? Du nennst ihn beim Vornamen?«

Wer Julie kannte, der wusste, dass die Antwort, die sie ihm nun gab, höchst sonderlich klang:

»Wir sind, was man gemeinhin Freunde zu nennen pflegt.«

 

Er bekam also einen Termin bei Matthias Fraenkhel, dem Geburtshelfer von Stars und Monarchen.

Dementsprechend: riesige Praxis im 16. Arrondissement, mit Aubussonteppichen (wieder 16., aber diesmal Jahrhundert) an den Wänden. Über den Köpfen der Patienten: Der hl. Georg durchbohrt den Drachen, Anfang des 16. Jh., Carpaccio. Und selbst Fraenkhels Kopf stammte aus dem 16.: ein Gesicht wie tote Rinde à la Grünewald. Hager wie die Inquisition. Im Blick etwas Brennendes, um Scheiterhaufen damit zu entfachen. Und um den ausgemergelten Schädel eine Lohe aus weißen Haaren.

»Habe ich richtig gehört? Haben Sie das vom Stapel gelassen, dieses Zitat des heiligen Thomas?«

»Es ist wohl leider so, ja … doch … Ein alter Disput zwischen Ihrer Frau und mir.«

(Meine Frau? Welche Frau? Was heißt hier Frau? Julie ist nicht »meine Frau«, mein lieber Herr, aber wie soll einer seine Frau nennen, wenn sie gar nicht seine Frau ist und er die Ersatzausdrücke der Verliebtensprache ablehnt?)

»Verzeihen Sie … ich vergaß, dass Julie und Sie … in Sünde leben … meine armen Kinder …«

Eine Physiognomie wie ein wurzelessender Einsiedler, und dann, hopp, Bildwechsel: das Lächeln von Marx (Harpo)!

»Im Ernst, Monsieur Malaussène, glauben Sie wirklich, von mir haben Sie ein Kind mit sechs Köpfen zu erwarten? Zwölf, wenn es Zwillinge werden?«

»Das war Ihre Äußerung, auf der Konferenz!«

»Die Äußerung stammt vom heiligen Thomas … Ich … was mich betrifft … mir wurde von einem Stück blutiger Kalbslunge das Wort abgeschnitten … Ich hatte noch etwas hinzufügen wollen.«

Fraenkhel verstummte. Wie jemand, der von langem Reden ausruht. Er sprach stoßartig. Asthmatisch abgehackt. Er betrachtete seine Handrücken. Er entschuldigte sich:

»Ich war stets sehr langsam … Nicht einmal reden kann ich, ohne mir vorher Notizen zu machen … Ich suchte nach Worten, als diese junge Frau mir ihr … ihr Argument … an den Kopf warf …Was ich noch hatte sagen wollen … Ich wollte noch sagen …«

Sehr, sehr langsam, in der Tat. Wie Salamanderbeinchen, die sich nur äußerst behutsam, Zentimeter für Zentimeter, in die Zukunft tasten. Das Lächeln zweiflerisch.

»Ich hatte sagen wollen … dass ich mir die Worte des heiligen Thomas zu eigen gemacht habe, doch … dass es auf jeden Fall eine Frage des eigenen Gewissens sein müsse … denn es gibt kein größeres Verbrechen, als sich an die Stelle des Gewissens eines anderen zu setzen.«

(Ziemlich einverstanden.)

»Das ist, meiner Auffassung nach, die einzige Lehre, die wir aus der Geschichte zu ziehen haben.«

(Erläutern Sie …)

»Dieser Wahn, anderen seine Ansicht aufzwingen zu wollen … wie viele Tote, in jedem Jahrhundert, finden Sie nicht auch? … All diese mörderischen Überzeugungen, mörderischen Identitäten … Oder nicht?«

Doch … doch, doch. Es hat sogar den Anschein, als gebe es da in letzter Zeit ein Wachstum. Alles in allem begann er mir zu gefallen, dieser Fraenkhel. Worte waren zweifellos nicht das Einzige, wonach er suchte.

Ein Lächeln.

»Mit anderen Worten, Monsieur Malaussène … in ein paar Wochen wird Julie absolut alles über den kleinen Gast wissen, den sie beherbergt: Anzahl der Köpfe und Beine … Geschlecht … Gewicht … Rhesusfaktor … und es wird ihre Entscheidung sein, ob sie ihn behalten möchte oder nicht.«

Gut.

»Im Übrigen, wer hätte Julie je etwas aufzwingen können?«

Sehr wahr.

Es folgte eine lange Pause, in der ich begriff, dass dieser Typ mit der Asthmatikerstimme und den sanften Händen dabei war, mir in meine Haut zurückzuverhelfen. Ich spürte ein beachtliches Absinken des Angstpegels.

Er sagte noch:

»Julie schätzt mich, weil sie sich für alles interessiert … und ich auf dem Gebiet der Geburtshilfe alles weiß … alles, was seit unvordenklichen Zeiten ersonnen wurde, um zu gebären oder nicht zu gebären … alles, was heute eingefädelt wird … alles, was morgen erfunden wird … und glauben Sie mir, der heilige Thomas war nicht der bescheuerteste von all diesen Herren.«

»Aber Sie, warum interessieren Sie sich für Julie?«

Das entfuhr mir so.

Ihm die Antwort auch:

»Hat sie es Ihnen nicht gesagt? Ich habe sie auf die Welt geholt, Monsieur Malaussène.«

(Ach so! Ach so …! Ach … so …)

Wie das Leben so spielt … Da panzerst du dich mit Prinzipien, als wolltest du mit Torquemada persönlich die Klingen kreuzen, ehe du bei diesem Geburtshelfer für Monstren antrabst, wie du glaubst, und dann sitzt dir der Typ gegenüber, dem du das Glück deines Lebens verdankst.

»Der Gouverneur, ihr Vater und ich, wir waren befreundet … In den Ferien spielten unsere Kinder zusammen, oben im Vercors … Dort kam Ihre Julie auf die Welt. Und zwar auf dem Hof der Rochas’, noch genauer, auf deren Küchentisch … ein sehr großer Tisch … der Tisch eines Bauernhofs eben.«

Er sah mich an, er war ein wenig außer Atem, ein wenig erstaunt, dass er so viel geredet hatte, vielleicht auch ein wenig verlegen.

Um auf seinem Terrain zu bleiben, fragte ich:

»Und wie viele Kinder haben Sie?«

»Einen Sohn. Barnabé. Er lebt heute in England.«

Er erhob sich.

Es dauerte schier endlos, bis er seinen sehnigen, borkigen Körper aufgerichtet hatte.

Als er schließlich stand, hinter seinem Schreibtisch, schien er über etwas nachzudenken. Ein Wort in jeder Schale seiner Waage:

»Toleranz, Monsieur Malaussène … heißt … wie soll ich sagen? … heißt … die Vorsicht zu einer Metaphysik erheben.«

Er arbeitete sich auf meine Schreibtischseite vor. Sein Gang hatte etwas Krüppeliges. Ein langer rheumakranker Rebstock.

»Ich habe auch einen alten Vater, Monsieur Malaussène, der noch lebt … Julie kennt ihn sehr gut … einen sehr alten Vater, der nicht zur Ruhe kommt … sehr viel frischer als ich … Produzent von Filmmaterial für das Kino … (daher meine Kundschaft) … Er reist unablässig … hat aber eine Höllenangst vor dem Fliegen.«

Seine Hand auf meinem Arm, unsere Schritte Richtung Tür.

»Jedes Mal, wenn er fliegen muss, betet er einen Rosenkranz in der katholischen und einen Psalm in der evangelischen Kirche, dann liest er eine kleine Sure in der Moschee, zuletzt sucht er noch die Synagoge auf …«

Seine Hand auf dem Türknauf.

»Und wissen Sie, was er dann macht?«

Ich wusste es nicht.

»Ruft bei der Fluggesellschaft an und vergewissert sich, dass der Pilot nicht an Gott glaubt!«

Schüchternes Lächeln, ausgestreckte Hand, Öffnen der Tür.

»Auf Wiedersehen, Monsieur Malaussène, Sie hatten recht, mich aufzusuchen. Man überantwortet sein Baby nicht blind einem Flugkapitän, der an die Ewigkeit glaubt.«

 

Ja, dieser Typ hat mir wieder in die Schuhe geholfen. Keine Spur von Angst mehr, was die Schwangerschaft angeht. Julie ist in guten Händen. Bleibt nur die Frage nach dem Hinterher – nach dem, was man das Leben nennt …

Darüber dachte ich, Füße unbewusst ausgestellt, Bauch empathiemäßig gebaucht, auf dem Boulevard de Belleville nach, als plötzlich Mo der Mossi und Simon der Kabyle vor mir auftauchten. Der schwarze Riese und sein rotschopfiger Schatten. Die verdammten Seelen meines Freundes Hadouch Ben Tayeb.

»Hör auf zu brüten, Ben, das hat noch nie verhindert, dass das Küken am Ende schlüpft.«

»Komm lieber mit, wir haben dir was zu zeigen.«

»Was Wichtiges.«

6

Das Waswichtiges befand sich im Keller des Koutoubia, Amars Restaurant, wo Cissou gerade bei einer Partie Domino mit dem Patron seinen Pastis zischte. (»Guten Tag, mein Sohn Benjamin, wie gehts?« »Es geht, Amar, und dir?« »Es geht, Gott sei Dank, und deiner Mutter, wie gehts ihr seit gestern?« »Es geht, Amar, sie lebt sich wieder ein, und wie gehts Yasmina?« »Es geht, mein Kleiner, im Keller ist was für dich …«)

Das Was hockte gefesselt zwischen den Kisten voller Sidi-Brahim und wirkte ziemlich kleinlaut. Ein junger Typ, der in seinem mausgrauen Anzug steckte wie die Wurst in der Pelle. Ein Student aus gutem Hause, der ganz zerknittert aussah. Als ob man ihn mitten im Orkan ausgesetzt hätte.

»Wir haben ihn erwischt, wie er den Kleinen filmte.«

»Damit.«

Hadouch reicht mir eine Super-8-Kamera.

Meine hübsche Stirn legt sich in Falten.

»Und? Ist er vielleicht nicht filmogen, unser Kleiner?«

Hadouch, Mo und Simon schicken einen Dreiecksblick auf die Reise.

»Ihr habt ihn gestern an eurer Tür Theater spielen lassen, warum sollte er da nicht heute auf der Straße in einem Film auftreten!«

(Das nur, um sie daran zu erinnern, dass ich von dieser Kreuzigung in Rot nicht sonderlich angetan war. Es gibt Symbole, mit denen man nicht scherzt.)

»Alles eine Frage des Kameramanns, Ben.«

Mit der Spitze seines Zeigefingers zieht Simon den Studenten hoch und pflanzt ihn mir vor die Nase.

»Der Stift von La Herse.«

»Kleiner Gerichtsvollzocker …«

(Der Name wird an ihm kleben bleiben, denke ich, sofern er das Abenteuer hier überlebt.)

»Er war gestern Morgen hier, mit der ganzen Truppe.«

»Er wollte gestern schon hinter den Kindern her, aber wir habens ihm ausgeredet.«

»Indem wir ihm den Arsch in Bewegung gesetzt haben.«

»Offenbar hat das nicht gereicht.«

»Ein ganz Zäher.«

Der »ganz Zähe« hing an Simons ausgestrecktem Finger wie ein nasser Lappen, getränkt mit allen Tränen der Welt, und wagte kaum zu blinzeln. Er hätte gern etwas gesagt, aber auf seinem Wortschatz hockte ein dickes, fettes Entsetzen.

»Fragt sich bloß, was wir jetzt mit ihm machen.«

»Freiheitsberaubung. An einer Amtsperson. Ist vermutlich kein Pappenstiel vor Gericht.«

»Zwanzig Jahre Bau wegen einem Gerichtsvollzocker lohnen sich nicht.«

Simon zieht seinen Zeigefinger zurück, und Klein-Gerichtsvollzocker plumpst zurück zwischen die Weinflaschen, auf den Hintern.

Mo lächelt. Ein Aufblitzen von weißen Zähnen.

»Vielleicht weiß er nicht, was die Couscous-Fresser von Belleville essen?«

Simon kauert sich auf die Fersen und stellt die Frage auf seine Weise:

»Hör mal, Klein-Gerichtsvollzocker, weißt du, woraus die Araber ihre Merguez machen?«

Einem Unbeteiligten mag das ja ein bisschen übertrieben erscheinen, aber angesichts von Mos blinkenden Hauern, Simons hungrigem Blick und der stillen Reserviertheit Hadouchs, der sich mit der Spitze seines Messers die Fingernägel säuberte – das Ganze in der Abgeschiedenheit eines Kellers –, konnte die Mitteilung über arabische Essgewohnheiten in Belleville in der Vorstellung eines Sohnes aus gutem Hause realistische Konturen gewinnen.

»Alles kommt in die Merguez – Rind, Hammel und Weißnasen.«

»Danach bleibt nichts mehr übrig.«

»Und die Weißnase von heute lässt sich die verwurstete Weißnase von gestern schmecken.«

Ich weiß, ich weiß, ich hätte vorher eingreifen müssen, aber ich war neugierig, wie klein sie ihn kriegen würden. Benjamin Malaussène, Vermesser in Sachen Leichtgläubigkeit, Höhlenforscher des Schreckens … Nicht gerade sehr fein … aber auch ich hege keine übermäßige Sympathie für Gerichtsvollzieher.

»Was meinst du, Ben?«

»Habt ihr den Film rausgenommen?«

»Nein, wir wollten ihn Clara zum Entwickeln geben. Wer weiß, was der Idiot gefilmt hat.«

Ich habe ihn mir betrachtet, den Idioten.

Ich habe geschwiegen.

Alle haben geschwiegen.

Dann habe ich den Schwanz eingezogen. Denn vielleicht beginnt ja alles mit einem einfachen, unschuldigen Spiel, und am Schluss ist man ein echter Folterer.

»Hadouch, nimm ihm die Fesseln ab.«

Hadouch nahm ihm die Fesseln ab. Ohne sie durchzuschneiden. Er hat sie schlicht und einfach aufgeknotet.

»Wie heißen Sie?«

Er hockte weiter da wie geknebelt, wie verpackt und zugeschnürt.

Ich sagte:

»Ganz ruhig, es ist vorbei. Entspannen Sie sich. Das war nur ein Scherz. Wie heißen Sie?«

»Clément.«

»Clément und weiter?«

»Clément Clément.«

Vermutlich sagte er die Wahrheit. So wie er aussah, konnte man sich gut vorstellen, dass er einem Papa abgegangen war, den sein Samen mit so viel Stolz erfüllte, dass er ihn gleich doppelt gemoppelt hatte.

»Warum haben Sie meinen Bruder gefilmt?«

»Weil er mein Leben verändert hat.«