6,49 €
Malaussène für Einsteiger und Fortgeschrittene Die gemeinsame Mutter aller kleinen und größeren Malaussènes hat nie bedacht, was sie ihrer Nachkommenschaft unter Umständen antun könnte, wenn der jeweilige Erzeuger gleich nach vollbrachter Leistung abserviert wird, während sie sich genüsslich allein aufs Brüten konzentriert. Le Petit, der Kleine mit der rosa Brille, kann plötzlich die Anonymität seines Vaters nicht mehr akzeptieren und tritt deswegen in Hungerstreik. Benjamin Malaussène, Sündenbock der Familie, ältester Bruder und Halbwaisenvater des ganzen Stamms, macht sich große Sorgen. Schließlich rettet er Le Petit mit einer Geschichte aus den Familienannalen vor dem Verhungern: Benjamin erzählt von jenen turbulenten Ereignissen, wie die Malaussènes sich ahnungslos einen besonders hinterhältigen Drogenhändler ins Haus holten und ihn nur mit den vereinten Kräften Bellevilles wieder los wurden. Er erzählt, wie ihre weitherzige Schwester Louna unter großem Liebeskummer litt und einen Unbekannten pflegte, der im Kinderzimmer mit dem Tod rang. Und wie sich ihrer aller Mutter dieses Unbekannten annahm ... Ein witziger, spritziger kleiner Roman, in dem als Zugabe ein literarisches Rätsel steckt.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 72
Daniel Pennac
Eine Malaussène-Geschichte
Buch lesen
Titelseite
Inhaltsverzeichnis
Über Daniel Pennac
Über dieses Buch
Impressum
Hinweise zur Darstellung dieses E-Books
Widmungen
Motto
1 Bartlebismus
2 Das Geschenk des Himmels
3 Das Gedächtnis des Bandwurms
4 Das Wort des Spezialisten
5 Die Auferstehung
6 Erinnert euch an Isaac
Zitiert wurde nach:
Inhaltsverzeichnis
Für P’tit Louis Couton,
der schon ganz anderes gelesen hat
Jean-Philippe Postel
ein heftiges Dankeschön,
das er gerecht teilen möge
mit Professor Wagner
Inhaltsverzeichnis
»I would prefer not to.«
Herman Melville Bartleby
Inhaltsverzeichnis
»Ich will meinen Papa haben.«
Le Petit war ins Zimmer gekommen, hatte sich breitbeinig vor unserem Bett aufgebaut und verkündet:
»Ich will meinen Papa haben.«
Das war an einem Vormittag im Juni. Vergangenen Juni. So gegen halb, drei viertel sieben. Jedenfalls vor sieben Uhr. Belleville war noch kaum erwacht, der Müll nicht abgeholt, Monsieur Malaussène, der Letztgeborene des Stammes, hatte eben in seiner Hängematte über dem Ehebett einen stattlichen Haufen ausgebrütet, und Julius der Hund klopfte noch nicht mit dem Schwanz gegen die Tür, um mir den Marsch seiner Blase zu blasen. Es war keine sieben Uhr.
»Ich will meinen Papa haben.«
Im Halbdunkel kniff ich die Augen zusammen. Ich heftete einen forschenden Blick auf den Kleinen. Er reichte gerade einmal bis zum Türknauf, aber ich musste zugeben, dass er in all den Jahren schließlich doch klammheimlich gewachsen war. Der junge Mann entwickelte Humor und ließ es mich wissen. Der junge Mann machte ganz einfach Scherze. Er zeigte auf den Neuankömmling in der Hängematte über meinem Kopf und präzisierte mit bösartigem Lächeln:
»Ich will auch einen Papa haben, meinen.«
(Ein Großer, der auf klein macht, meinetwegen.) Ich erwiderte ihm:
»Bewilligt, le Petit, sollst deinen Papa haben, aber deck inzwischen schon mal den Tisch, ich komme gleich.«
Und blieb im Bett. Die letzten friedvollen Minuten genießen, bevor die erste Szene des Familienspektakels anhebt, dies ist das einzige Vergnügen, das ich mir nie verwehrt habe.
Gedeckter Tisch, heiße Schokolade, gebuttertes Baguette, Orangensaft, Haferfelder auf der Tischdecke – als ich nach unten kam, lief die Fabrik bereits auf Hochtouren. Sie hatten alle ihren Tag vor sich. In drei Minuten würde Clara mit Verdun, C’Est Un Ange und Monsieur Malaussène in den Kinderhort der Rue des Bois aufbrechen, wo sie Arbeit gefunden hatte, Jérémy und der Kleine würden abdampfen in die Schule, in die sie beide gingen, und Thérèse, wenn sie den Tisch abgewischt hätte, würde sich auf den Weg machen, um den Leichtgläubigen von Belleville das Horoskop zu stellen. (Malraux hatte recht: Das 21. Jahrhundert wird spiritualistisch sein; dafür sorgt schon die Arbeitslosigkeit.) In drei Minuten wäre der Haushaltswarenladen leer. Während ich in Erwartung dieser kommenden Stille in meinem türkischen Kaffeetöpfchen den Schaum aufsteigen ließ, traf mich plötzlich wie ein elektrischer Schlag Thérèses Stimme.
»Mach schon, trink deine Schokolade, le Petit, sonst kommst du noch zu spät!«
Le Petit saß sehr starr und aufrecht im Dampf seines Bol. Sein Baguette hatte er nicht angerührt.
»Ich will meinen Papa haben.«
Sparen wir uns die Schilderung des auf diesen Morgen folgenden Tages. Arbeit für alle, auch für mich in den Éditions du Talion, hierbei Ausklammern der familiären Sorgen (= Professionalität!) bis zum Abend, wo an der Familientafel ein le Petit ebenso versteinert wie in der Früh nun im Dampf seiner Suppe saß.
»Ich will meinen Papa haben.«
»In der Schule hat er auch nichts gegessen«, verkündigte Jérémy.
Die Neuigkeit löste eine Reihe von Kommentaren aus, bei denen jeder auf seiner eigenen Klaviatur spielte. Thérèse brachte ihre Überzeugungen vor, sie fand es »vollkommen natürlich«, dass le Petit nach der Geburt von Monsieur Malaussène ein »Vernachlässigungssyndrom« zeige und nach einer neuen »Identitätsverankerung« suche, weshalb sein Verlangen nach einem »nachgewiesenen biologischen Vater« überaus »legitim« sei.
»Quatsch mit Soße«, beschied Jérémy, »biologische Vaterschaft, so ein Blödsinn!«
Dies war das erste Argument einer flammenden Rede, während der Jérémy den Nachweis zu erbringen suchte, dass der Vater eine Hypothese sei, ohne die man bestens auskomme (aber habe ich ihn wirklich recht verstanden?), und dass jedenfalls was die Entscheidung unserer gemeinsamen Mutter betreffe, dem jeweiligen Erzeuger im Augenblick unserer Ankunft den Laufpass zu geben – dass sie diese ihre Entscheidung ganz gewiss in Kenntnis der Sachlage getroffen habe, »Maman hatte ihre Gründe«, und die konnten nur die richtigen sein, denn Maman »sieht zwar nicht so aus«, aber »Maman hat gewusst, was sie tat!«
»Maman weiß nicht, was sie tut? Ist es das, was du denkst, Thérèse? Ist es das? Dann sags doch! Maman weiß nicht, was sie tut, ja?«
Explosive Stille, in deren tiefster Tiefe ich Claras Stimme vernahm, die dem Kleinen leise ins Ohr flüsterte:
»Aber Benjamin ist doch unser Papa. Benjamin, und auch Amar. Und Théo. Komm, iss deine Suppe, le Petit.«
»Ich würde meinen Papa vorziehen«, antwortete le Petit, ohne seinen Teller anzurühren.
Dieser Konjunktiv II verfolgte mich die ganze Nacht.
Würde vorziehen.
Das hatte er doch gesagt, der Kleine: ›Ich würde meinen Papa vorziehen.‹
Ich hatte nicht gewusst, dass einem vom Modus eines Verbs das Blut in den Adern stocken kann. Doch dies war tatsächlich möglich. Aus unerfindlichen Gründen sperrte dieser Konjunktiv II meine Nacht in einen Sarkophag des Schreckens. (Eine erbärmliche Metapher, ich weiß, aber ich war nicht in der Verfassung, nach einer besseren zu suchen.) Ich besaß nicht einmal die Kraft, mich im Bett um und um zu wälzen. Und hatte nicht die Gelegenheit, Julie mein Herz auszuschütten, denn Julie war nicht da. Auf Kreuzzug, meine Julie, seit der Geburt von Monsieur Malaussène. Ja, kaum aus den Wochen, schon hatte Julie sich in den Kopf gesetzt, hinter ihrer Löwinnenmähne all die Journalisten zu versammeln, die seit Januar auf die Straße geflogen waren, weil der real existierende Liberalismus auf die menschlichen Ressourcen der französischen Medien losging. Julie plante nichts Geringeres als die Schaffung einer Zeitung, die ohne Werbung, Hierarchie, Presseagenturen auskäme, ohne »all diese Vorurteile« (nun ja!). »Das dauert, so lange es dauert, aber keine Angst, Benjamin, ich komme wieder, vergiss nicht: Du bist mein bevorzugter Flugzeugträger; bevatere mir gut Monsieur Malaussène und denk daran, ihm pünktlich sein Fläschchen zu geben!« Julie war Julie, und ich blieb mit der Möglichkeitsform allein.
Welche le Petit mir am nächsten Vormittag erneut servierte, vor sich, unangetastet, die gebutterten Baguettestücke.
»Ich würde meinen Papa vorziehen.«
Er nahm den zweiten Tag seines Hungerstreiks in Angriff.
Es war in den Éditions du Talion, als ich plötzlich meinen Widerwillen gegen die Möglichkeitsform begriff. So plötzlich, dass ich beinahe vom Stuhl gefallen wäre. Ich legte eben einem Autor einige Änderungen an seinem Manuskript nahe, das die Königin Zabo, meine hochverehrte Chefin, nicht ganz überzeugt hatte (»… Nur Kleinigkeiten, Malaussène, sagen Sie ihm, er müsse nur den Anfang umarbeiten, den Hauptteil abspecken und sich einen anderen Schluss ausdenken, und seinen weiblichen Figuren soll er weiblichere Züge geben, und vor allen Dingen soll er den Ton des Ganzen ändern, es sind zu viele flache Stellen darin, was wir brauchen, ist eine Handschrift, eine persönliche Handschrift! Ich will seine Stimme hören!«), als der betreffende Autor mir auf allerhöflichste Weise entgegnete:
»Ich würde es vorziehen, dies nicht zu tun.«
Wieder dieser Konjunktiv II! Derselbe wie aus le Petits Mund. Ein Konjunktiv, der keine Diskussion erlaubt. Im Grunde ein Imperativ der Höflichkeit. Aber ein kategorischer Imperativ. Dieser Typ würde an seinem Text kein einziges Wort ändern. Er würde kein einziges Komma ändern, und wenn es sein Untergang wäre. Im selben Augenblick wusste ich, dass le Petit nichts mehr zu sich nehmen würde, bis ich seinen wirklichen Vater fände. Er würde sich schlicht und einfach zu Tode hungern. Ich hob den Kopf. Vor mir saß der Autor, fest und sanft. Zwei Wendungen gingen mir durch den Kopf: erbarmungswürdig achtbar und hoffnungslos einsam. Und um mich nicht lumpen zu lassen, eine dritte: ausdruckslos sauber. Wie ein Leichnam.
»Fühlen Sie sich nicht gut?«
Er war es, der die Frage stellte! Die Antwort kostete mich einen ungeheuren Kraftaufwand:
»Nein, nein, es geht schon, danke, hören Sie, ich verstehe … schade … ein anderer Verlag womöglich … entschuldigen Sie, eine dringende Angelegenheit …«
Eine Erzählung war der Grund! Deshalb setzte mir diese Möglichkeitsform dermaßen zu. Wegen einer Erzählung, die ich gelesen hatte! Die ich irgendwann gelesen hatte, und seither steckte mir der Konjunktiv in den Knochen.
Ich saß wie auf Nesseln: Ich musste es überprüfen, überprüfen, überprüfen am Text!
Sobald der Autor draußen war, hing ich an der Sprechanlage und bat Mâcon, sämtliche Vormittagstermine abzusagen.
»Sie haben sechs Verabredungen, Malaussène, zwei sind schon da.«
»Geben Sie ihnen mein Ableben bekannt. Ist Loussa im Haus?«
»In der Vertretersitzung. Warum?«