Der Körper meines Lebens - Daniel Pennac - E-Book

Der Körper meines Lebens E-Book

Daniel Pennac

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Beschreibung

Die Geschichte eines Körpers – erzählt von seinem Inhaber Ein Leben wird erzählt, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Nur die Perspektive ist eine besondere: Der Körper selbst mit seinen Reaktionen und Veränderungen ist hier Stichwortgeber für die Geschichte eines langen, bewegten und erfüllten Lebens. Ein Roman in Tagebuchform.»Ich will nie wieder Angst haben.« Dies ist der feste Vorsatz des Erzählers in Daniel Pennacs neuem Roman, der in Frankreich sofort bei Erscheinen die Bestsellerliste stürmte und sich dort für Monate festsetzte. Nach einer traumatischen Erfahrung beschließt der 1923 geborene Erzähler als Zwölfjähriger zweierlei, um sein Ziel zu erreichen: erstens will er seinen Körper stählen und zweitens über alles, was mit diesem Körper zu tun hat, genau Buch führen. Sein ganzes weiteres Leben hindurch – bis kurz vor seinem Tod im Alter von 87 Jahren – schreibt er nun Tagebuch, immer im Dialog mit dem eigenen Körper. Aber auch die Körper der anderen bleiben nicht unbeobachtet. Selten hat man eine schönere Liebeserklärung gelesen als die des Erzählers an die Frau, die jahrzehntelang an seiner Seite stand. Ob in Momenten von fast Proust'scher Melancholie, großer Zärtlichkeit oder grotesker Skurrilität, immer ist der Leser ganz dicht dran am Körper dieses Jungen, der zum Mann wird, zum Vater, zum Großvater, der Angst hat, der mutig ist, sich verliebt, aber auch Kummer hat und von Krankheiten heimgesucht wird.Daniel Pennac zieht einmal mehr alle Register seiner erzählerischen Kunst. Und es gelingt ihm ein mitreißendes, witziges, anrührendes und ehrliches Buch: der Roman eines Lebens und einer Epoche.

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Seitenzahl: 467

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Daniel Pennac

Der Körper meines Lebens

Roman

Aus dem Französischen von Eveline Passet

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Daniel Pennac

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Übersetzungsförderung

Vorbemerkung

3. August 2010

Kapitel 1: Der erste Tag

Kapitel 2: 12–14 Jahre

Kapitel 3: 15–19 Jahre

Kapitel 4: 21–36 Jahre

Kapitel 5: 37–49 Jahre

Kapitel 6: 50–64 Jahre

Kapitel 7: 65–72 Jahre

Kapitel 8: 73–79 Jahre

Kapitel 9: Die Agonie

Inhaltsverzeichnis

Die Arbeit an der Übersetzung von Journal d’un corps wurde durch ein zweimonatiges Aufenthaltsstipendium für Bordeaux gefördert, das ÉCLA Aquitaine und der Hessische Literaturrat e.V. gemeinsam ausschreiben.

Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkung

Meine Freundin Lison – meine alte, liebe, unersetzliche und sehr anstrengende Freundin Lison – versteht sich auf die Kunst des sperrigen Geschenks: eine unvollendete Plastik, die zwei Drittel meines Zimmers einnimmt, oder Gemälde, die sie, weil ihr Atelier angeblich zu klein geworden ist, ein halbes Jahr bei mir in Flur und Esszimmer trocknen lässt. Ihr jüngstes Geschenk halten Sie momentan in der Hand. Lison tauchte eines Morgens bei mir auf, räumte den Tisch leer, an dem ich eigentlich gerade frühstücken wollte, und stapelte einen Packen Hefte vor mir auf, eine Hinterlassenschaft ihres kurz zuvor verstorbenen Vaters. Ihre geröteten Augen verrieten, dass sie die Nacht mit Lesen verbracht hatte. Womit ich meinerseits die folgende verbrachte. Lisons Vater, wortkarg, ironisch, geradeheraus, besaß international den Nimbus eines weisen Alten, was er gelassen hinnahm. Ich war ihm vielleicht fünf, sechs Mal im Leben begegnet, und er schüchterte mich ein. Wenn es etwas gab, das ich mir an ihm absolut nicht vorstellen konnte, so die Tatsache, dass er zeit seines Lebens an den hier folgenden Seiten geschrieben hatte! Noch ganz verdutzt, holte ich mir Rat bei meinem Freund Postel, über lange Zeit hin der ihn (und auch die Familie Malaussène) behandelnde Arzt. Seine prompte Antwort: Veröffentlichen! Auf der Stelle. Schick das deinem Verleger, bringt das schleunigst heraus! Es gab einen Haken. Einem Verleger vorzuschlagen, das Manuskript einer ziemlich bekannten Persönlichkeit zu veröffentlichen, die ihre Anonymität gewahrt wissen will, ist kein leichtes Unterfangen! Muss ich nun, da ich diese Gunst einem rechtschaffenen und respektablen Mann des Buches abnötigen konnte, es womöglich bereuen? Urteilen Sie selbst.

D.P.

Inhaltsverzeichnis

3. August 2010

Liebe Lison,

 

da kommst du also von meiner Beerdigung nach Hause, zurück zu dir, zwangsläufig ein bisschen traurig, aber deine Freunde warten auf dich, Paris, dein Atelier, einige Bilder, die du hintangestellt hast, deine vielen Projekte, darunter das Bühnenbild für die Oper, deine politischen Engagements, die Zukunft der Zwillinge, das Leben, dein Leben. Doch – Überraschung! Du findest einen Brief des Notars R. vor, der dir in Juristenjargon eröffnet, bei ihm liege ein Paket deines Papas unter Verschluss, das er dir auszuhändigen habe. Donnerwetter, ein Geschenk post mortem vom Papa! Du eilst natürlich hin. Was der Notar dir da überreicht, ist ein kurioses Präsent: nichts weniger als mein Körper! Nicht mein leibhaftiger Körper, sondern das Journal, das ich lebenslang heimlich über ihn geführt habe. (Nur deine Mutter war zuletzt eingeweiht.) Überraschung also. Mein Vater hat Tagebuch geführt! Wie bist du darauf gekommen, Papa, ein Tagebuch, bei deiner Distinguiertheit und Unerreichbarkeit! Und lebenslang! Kein Tagebuch, meine Tochter, du kennst meine Vorbehalte gegen das Erfassen unserer schwankenden Seelenzustände. Auch über mein Berufsleben, meine Überzeugungen und Vorträge wirst du nichts erfahren, nichts also über das, was Étienne pompös meine »Kämpfe« nannte, nichts über mich als Vater und nichts über den Lauf der Welt. Also kein Tagebuch, Lison, sondern wirklich ein Journal nur meines Körpers. Was dich gewiss umso mehr überraschen wird, als ich nie ein sonderlich »physischer« Vater war. Meine Kinder und Enkelkinder dürften mich vermutlich nie nackt gesehen haben, selten wohl auch in Badehose, und gewiss nie vor dem Spiegel, wie ich meine Bizepse springen lasse. Auch war ich wohl leider nicht besonders freigebig mit Zärtlichkeiten. Und mich vor Bruno oder dir über meine Wehwehchen auszulassen – lieber wäre ich gestorben, was ich nun ja auch bin, nach der mir bemessenen Zeit. Der Körper war kein Gesprächsgegenstand unter uns; Bruno und du, ihr musstet mit der Entwicklung des euren allein zurechtkommen. Halte das nicht für Gleichgültigkeit oder besondere Geschamigkeit: Als einer, der 1923 zur Welt kam, war ich schlicht und einfach ein bürgerliches Individuum meiner Zeit, jemand, der noch Semikola verwendet und beim Frühstück nie im Schlafanzug erscheint, sondern immer geduscht und frisch rasiert, perfekt gewandet im Anzug des Tages. Der Körper ist eine Erfindung eurer Generation, Lison. Zumindest wenn es um die Art geht, ihn einzusetzen und zu präsentieren. Denn was die Beziehungen betrifft, die unser Geist zu unserem Körper als Sack voller Überraschungen und Generator von Ausscheidungen unterhält, so herrscht hier noch immer dasselbe Stillschweigen wie zu meiner Zeit. Bei näherer Betrachtung könnte man sagen, niemand ist schamhafter als radikal entblätterte Pornostars oder restlos entblößte Body-Art-Künstler. Die heutigen Ärzte wiederum, die berühren den Körper schon gar nicht mehr (wann hat dich zuletzt einer abgehorcht?). Was sie interessiert, ist nur das Zellpuzzle, der geröntgte, sonographierte, gescannte, analysierte Körper, der biologische, genetische, molekulare, die Fabrik für Antikörper. Soll ich dir etwas sagen: Je mehr dieser moderne Körper analysiert und ausgestellt wird, desto weniger existiert er. Er wird zum Verschwinden gebracht, und zwar umgekehrt proportional zu seiner Zurschaustellung. Der Körper, dessen Journal ich täglich geführt habe, ist ein anderer – unser Wegbegleiter, unsere Daseinsmaschine. Na ja, »täglich« ist übertrieben; rechne nicht mit einem Buch, das alles erfasst und von Tag zu Tag; eher schon von Überraschung zu Überraschung – unser Körper geizt nicht damit –, seit meinem dreizehnten Lebensjahr und bis zum achtundachtzigsten, meinem letzten, mit langen Pausen, wie du feststellen wirst, während derjenigen Lebensphasen, in denen unser Körper sich nicht zu Wort meldet. Aber sobald der meine sich meinem Geist bemerkbar machte, fand er mich immer mit gezücktem Stift vor, der Überraschung des Tages aufmerksam zugewandt. Ich habe seine Kundgebungen so gewissenhaft wie möglich, wenn auch mit Bordmitteln und ohne wissenschaftlichen Anspruch festzuhalten versucht. Dies ist mein Erbe, vielgeliebte Tochter; es handelt sich nicht um eine physiologische Abhandlung, sondern um meinen verborgenen Garten, der in vielerlei Hinsicht unser gemeinsamer Nenner ist. Ich vertraue ihn dir an. Warum gerade dir? Weil ich dich sehr, sehr gerngehabt habe. Es genügt, dass ich es dir zu Lebzeiten nie sagte, erlaube mir dieses kleine posthume Vergnügen. Würde Grégoire noch leben, ich hätte das Journal wohl ihm vermacht, es hätte den Arzt in ihm interessiert und den Enkel amüsiert. Ach, wie ich diesen Jungen geliebt habe! So jung gestorben, Grégoire, und du inzwischen Großmutter, ihr seid mein Bündel sicheren Glücks, meine Wegzehrung für die große Reise. Gut. Genug der Herzensergießungen. Mach mit diesen Heften, was dir richtig erscheint: Mülltonne, falls sie in deinen Augen ein unpassendes Geschenk eines Vaters an seine Tochter sind; Weitergabe innerhalb der Familie, falls dir danach ist; Veröffentlichung, falls deines Erachtens notwendig. Achte in letzterem Falle darauf, dass der Verfasser anonym bleibt – umso mehr, als es ein jeder sein könnte –, ändere die Orts- und Personennamen, man weiß nie, wo Empfindlichkeiten lauern. Und nimm dir keine Gesamtausgabe vor, das wäre ein endloses Unterfangen. Ohnehin sind einige Hefte im Lauf der Jahre verlorengegangen, andere wiederholen sich einfach. Überspring sie – zum Beispiel die aus meiner Kindheit, als ich die Zahl meiner Liegestütze und Rumpfbeugen verzeichnete, oder die aus meiner Jugend, als ich – Buchhalter meiner Sexualität – Listen über Liebschaften führte. Kurz, mach damit, was du willst, wie du es machst, ist es richtig.

 

Ich liebe dich.

Papa

Inhaltsverzeichnis

1Der erste Tag

(September 1936)

 

 

 

 

Mama ist die Einzige, nach der ich nicht gerufen habe.

64 Jahre, 2 Monate, 18 Tage Montag, 28. Dezember 1987

Ein dummer Streich, den Grégoire und sein Freund Philippe der kleinen Fanny gespielt haben, rief mir die Urszene dieses Journals ins Gedächtnis, das Trauma, das es angestoßen hat.

Mona, die gerne Dinge fortwirft, hatte angeordnet, ein großes Feuer aus altem Plunder zu machen, der größtenteils noch von Manès stammte: wacklige Stühle, schimmlige Polsterbetten, ein holzwurmzernagter Karren, alte Reifen, mit anderen Worten, ein riesiges, stinkendes Autodafé. (Was alles in allem weniger grauenvoll ist als mancher gerümpelige Flohmarkt.) Sie hatte die beiden Jungen damit betraut. Und die kamen auf den Einfall, die Verurteilung der Jeanne d’Arc nachzuspielen. Ich wurde von einer brüllenden Fanny aus der Arbeit gerissen, der Grégoire und Philippe die Rolle der Jungfrau zugedacht hatten. Sie hatten ihr den ganzen Tag die Heldentaten unserer Nationalheiligen gepriesen, von der Fanny mit ihren sechs Jahren nie etwas gehört hatte, und ihr die Vorteile des Paradieses so verlockend ausgemalt, dass die Kleine der Opferung händeklatschend und hopsend vor Freude entgegenfieberte. Als sie dann das lodernde Feuer sah, in das sie lebendig geworfen werden sollte, stürzte sie brüllend zu mir. (Mona, Lison und Marguerite waren in der Stadt.) Ihre kleinen Hände schraubten sich in Todespanik an mir fest. Großvater! Großvater! Ich versuchte, sie mit einigen »schschscht … schschscht« zu trösten, »ist ja schon gut, ist ja nichts Schlimmes passiert« (es war Schlimmes passiert, ziemlich Schlimmes sogar, aber ich wusste noch nichts von der geplanten Kanonisierung). Ich nahm sie auf den Schoß und spürte, dass sie in die Hose gepinkelt hatte, ja mehr noch, sie hatte auch groß gemacht, hatte sich vor Entsetzen beschmutzt. Ihr Herz wummerte beunruhigend, ihr Atem ging gehetzt. Sie hatte eine Kieferklemme, so dass ich schon einen Tetanusanfall befürchtete. Ich setzte sie in ein heißes Bad. Dort erzählte sie mir, unterbrochen von letzten Schluchzern, bruchstückweise, was diese beiden Klammerbeutelgepuderten mit ihr vorhatten. Und ich wurde zurückkatapultiert an den Entstehungspunkt meines Journals.

September 1936. Ich bin zwölf, demnächst dreizehn Jahre alt. Ich bin Pfadfinder. Vor kurzem war ich noch Wölfling, etikettiert mit einem dieser durch das Dschungelbuch in Mode gekommenen Namen. Jetzt bin ich Pfadfinder, das ist wichtig, ich bin kein Wölfling mehr, ich bin nicht mehr klein, ich bin groß, ein Großer. Es sind die letzten Sommerferientage, und ich bin irgendwo in den Alpen in einem Pfadfinderlager. Wir stehen im Krieg mit einem anderen Trupp, der uns unser Banner gestohlen hat. Wir müssen es zurückholen. Die Spielregel ist einfach. Wir tragen unser Halstuch auf dem Rücken, festgesteckt unterm Gürtel der kurzen Hose. Auch unsere Gegner. Dieses Halstuch wird als ein Leben bezeichnet. Wir müssen vom Angriff nicht nur unser Banner zurückbringen, sondern auch möglichst viele andere Leben. Die wir auch Skalps nennen und am Gürtel befestigen. Wer die meisten mitbringt, gilt als gefährlicher Krieger, er ist ein »Jagdass«, wie die Piloten im Großen Krieg, deren Jagdbomber sich proportional zu den abgeschossenen feindlichen Maschinen mit Verdienstorden schmückten. Kurz, wir spielen Krieg. Da ich nichts in den Knochen habe, verliere ich mein Leben gleich zu Beginn der Kampfhandlungen. Ein Hinterhalt. Zwei Feinde pressen mich auf den Boden, ein dritter entreißt mir mein Leben. Dann binden sie mich an einen Baum, damit ich, obwohl tot, nicht auf die Idee komme, weiterzukämpfen. Und machen sich davon. Und ich mitten im Wald. An eine Kiefer gebunden, mit nackten Beinen und Armen am klebrigen Harz. Meine Feinde außer Sicht. Die Front entfernt sich, ab und an sind noch Stimmen zu hören, immer leiser, dann nicht mehr. Die tiefe Stille des Waldes bricht über meine Phantasie herein. Diese tiefe, von allem Möglichen durchlärmte Stille des Waldes: Knacken, Rascheln, Knirschen, Glucksen, Windgesäusel in hochwipfeligen Bäumen … Ich sage mir, dass die Tiere, die wir mit unseren Spielen aufgescheucht haben, jetzt zurückkehren. Keine Wölfe natürlich, ich bin ja ein Großer, ich glaube nicht mehr an menschenfressende Wölfe, nein, keine Wölfe, aber Wildschweine zum Beispiel. Was tut ein Wildschwein einem festgebundenen Jungen? Bestimmt nichts, es lässt ihn in Frieden. Aber wenn es eine Sau mit Frischlingen ist? Trotzdem, ich habe keine Angst. Ich stelle mir bloß Fragen, wie sie in Situationen hochkommen, wo alles bedacht sein will. Je mehr ich unternehme, um freizukommen, desto fester werden die Knoten, desto hartnäckiger klebt das Harz an meiner Haut. Ob es wohl eintrocknet? Eines ist jedenfalls sicher, frei kriege ich mich nicht, in Sachen unlösbare Knoten kennen Pfadfinder sich aus. Ich fühle mich ziemlich alleine, sage mir aber nicht, dass mich nie jemand finden wird. Ich weiß, dass in diesem Wald genug Menschen unterwegs sind, uns begegnen ziemlich oft Blaubeer- und Himbeerpflücker. Ich weiß, dass nach Einstellung der Kampfhandlungen jemand kommt und mich losbindet. Selbst wenn meine Feinde mich vergessen hätten; dann würde meine Sippe mein Fehlen bemerken und einem Erwachsenen Bescheid sagen, und ich käme frei. Folglich habe ich keine Angst. Ich wappne mich mit Geduld. Mein Denken hat mühelos alles unter Kontrolle, was die Situation meiner Phantasie vorlegt. Eine Ameise krabbelt mir über die Sandale, dann übers nackte Bein, das kitzelt ein wenig. So eine Ameise kann meinem Verstand nichts anhaben. Ein Einzelexemplar, harmlos. Selbst wenn sie mich beißt oder sogar unter meine Hose, ja meine Unterhose krabbelt, ist das kein Drama, ich werde den Schmerz spielend ertragen. Im Wald von einer Ameise gebissen zu werden ist nichts Besonderes, ich weiß, wie sich der Schmerz anfühlt, ein scharfes, aber aushaltbares Brennen, das vorübergeht. Ich bin also in einer gelassen insektenforscherischen Geistesverfassung, doch da fällt mein Blick auf den Ameisenhaufen; zwei oder drei Meter von meinem Baum entfernt, am Fuße einer anderen Kiefer. Ein riesiger, aus Nadeln aufgehäufter Bau, der von schwarzwildem Leben wimmelt, ein ungeheuerliches, regloses Wimmeln. Die Kontrolle über meine Phantasie verliere ich schließlich, als ich eine zweite Ameise meine Sandale erklimmen sehe. Jetzt geht es nicht mehr um Bisse, sondern darum, dass die Ameisen mich bedecken und bei lebendigem Leibe fressen. Meine Phantasie malt sich das nicht in Einzelheiten aus, ich sage mir nicht, dass die Ameisen meine Beine hinaufkriechen und mir Geschlecht und Anus zerfressen werden oder in mich hineinkriechen durch meine Augenhöhlen, Ohren, Nasenlöcher, dass sie durch meine Nebenhöhlen und mein Gedärm krabbeln und mich von innen auffressen, ich sehe mich nicht als menschlichen Ameisenbau, der, gefesselt an diese Kiefer, aus einem toten Mund Kolonnen von Arbeiterinnen speit, die mich Krümel für Krümel zu diesem entsetzlichen Magen transportieren, der drei Meter vor mir in sich selber wimmelt, ich stelle mir diese Qualen nicht vor, aber sie sind sämtlich in dem panischen Gebrüll enthalten, das ich jetzt ausstoße mit geschlossenen Augen und weit aufgerissenem Mund. Es ist ein Hilfeschrei, der den Wald und die Welt dahinter durchschrillen muss, ein Gellen, in dem meine Stimme sich in tausend Spitzen bricht, und was da durch diese wiederauferstandene Kleinjungenstimme brüllt, ist mein ganzer Leib, ebenso maßlos wie mein Mund brüllen meine Schließmuskeln, es fließt mir die Beine hinab, das spüre ich, meine Hose wird voll und ich laufe aus, der Durchfall vermischt sich mit dem Harz, was meine Panik noch steigert, denn der Geruch, sage ich mir, der Geruch wird die Ameisen kirre machen und andere Tiere anlocken, meine Lungen gehen bei jedem neuen Schrei nach Hilfe in Fetzen, ich bin von oben bis unten besudelt mit Tränen, Sabber, Rotz, Harz und Scheiße. Dabei sehe ich bestens, dass der Ameisenhaufen sich nicht die Bohne um mich kümmert, dass er ganz in sich beschäftigt ist, sich um seine unzähligen kleinen Angelegenheiten kümmert, dass abgesehen von diesen beiden Streunern mich alle anderen Ameisen, die nach Millionen zählen müssen, vollkommen ignorieren, ich sehe es, ich nehme es wahr, ich begreife es sogar, aber es ist zu spät, die Panik ist stärker, was sich meiner bemächtigt hat, schert sich nicht mehr um die Wirklichkeit, mein ganzer Körper artikuliert meine Angst, bei lebendigem Leibe gefressen zu werden, eine Angst, die mein Kopf ganz allein, ohne Mitwirkung der Ameisen, entwickelt hat, verschwommen weiß ich das natürlich, und als Chapelier – er hieß Chapelier, der Abt, der mich später mit dem Schlauch abspritzte –, als Chapelier mich später fragte, ob ich ernstlich geglaubt hätte, die Ameisen würden mich fressen, antwortete ich nein, und als er mich fragt, ob ich mir selber eine Komödie vorgespielt hätte, antworte ich ja, und als er fragt, ob es mir Spaß gemacht habe, mit meinem Gebrüll die Spaziergänger, die mich schließlich befreiten, in Angst und Schrecken versetzt zu haben, da antworte ich, ich weiß nicht, und hast du dich nicht geschämt, voller Aa wie ein Baby zu deinen Kameraden zurückgebracht zu werden, antworte ich, doch, alles Fragen, die er mir stellt, während er das Gröbste mit dem Schlauch abspritzt, ohne mir die Kluft ausgezogen zu haben, die eine Uniform ist, zu deiner Erinnerung, eine Pfadfinderuniform, falls du es vergessen haben solltest, und hast du wenigstens eine Sekunde darüber nachgedacht, was diese beiden Spaziergänger von den Pfadfindern denken müssen? Nein, Verzeihung, nein, daran habe ich nicht gedacht. Aber gib zu, die Komödie, die hat dir Lust bereitet, was? Lüg nicht, sag nicht, dass es dir keine Lust bereitet hat! Es hat dir Lust bereitet, stimmts? Ich denke, auf diese Frage wusste ich damals keine Antwort, denn ich hatte dieses Journal noch nicht begonnen, das während meines ganzen auf jenen Tag folgenden Lebens darauf abzielen sollte, Körper und Geist auseinanderzuhalten, meinen Körper fortan vor den Attacken meiner Phantasie und meine Phantasie vor unpassenden Kundgebungen meines Körpers zu bewahren. Und deine Mutter, was wird deine Mutter dazu sagen? Hast du daran gedacht, was sie dazu sagen wird? Nein, nein, an Mama habe ich nicht gedacht, und als er mir diese Frage stellte, sagte ich mir sogar, dass die einzige Person, nach der ich während meines ganzen Gebrülls nicht gerufen hatte, Mama war, Mama ist die Einzige, nach der ich nicht gerufen habe.

Ich wurde nach Hause geschickt. Mama holte mich ab. Tags darauf begann ich dieses Journal mit dem Satz: Ich werde keine Angst mehr haben, ich werde keine Angst mehr haben, ich werde keine Angst mehr haben, ich werde keine Angst mehr haben, nie mehr.

Inhaltsverzeichnis

212–14 Jahre

(1936–1938)

 

 

 

 

Da es das ist, wonach man aussehen muss,

werde ich so aussehen.

 

 

 

 

12 Jahre, 11 Monate, 18 Tage Montag, 28. September 1936

Ich werde keine Angst mehr haben, ich werde keine Angst mehr haben, ich werde keine Angst mehr haben, ich werde keine Angst mehr haben, nie mehr.

12 Jahre, 11 Monate, 19 Tage Dienstag, 29. September 1936

Die Liste meiner Ängste:

Angst vor Mama.

Angst vor Spiegeln.

Angst vor meinen Schulkameraden. Besonders vor Fermantin.

Angst vor Insekten. Besonders vor Ameisen.

Angst davor, dass etwas wehtun könnte.

Angst, mich zu beschmutzen, wenn ich Angst habe.

Idiotisch, eine Liste meiner Ängste anlegen zu wollen, ich habe Angst vor allem. Auf jeden Fall kommt die Angst immer überraschend. Du rechnest nicht damit, und zwei Minuten später drehst du durch. So war es im Wald. Konnte ich damit rechnen, Angst zu haben vor zwei Ameisen? Mit fast dreizehn! Und vorher, als die anderen mich überfielen, da habe ich mich ohne Gegenwehr auf den Boden geworfen. Ich ließ mir mein Leben abnehmen und mich festbinden, als wäre ich tot. Aber ich war ja tot vor Angst, wirklich tot!

Die Liste meiner Vorsätze:

Du hast Angst vor Mama? Tu, als ob sie nicht existiert.

Du hast Angst vor deinen Schulkameraden? Sprich mit Fermantin.

Du hast Angst vor Spiegeln. Schau hinein.

Du hast Angst davor, dass etwas wehtun könnte? Am meisten tut dir in Wahrheit deine Angst weh.

Du hast Angst, dich zu beschmutzen? Deine Angst ist ekelerregender als Scheiße.

Eines ist noch idiotischer, als eine Liste meiner Ängste anlegen zu wollen, nämlich eine Liste meiner Vorsätze anzulegen. Ich setze sie ja doch nie um.

12 Jahre, 11 Monate, 24 Tage Sonntag, 4. Oktober 1936

Seit ich wieder zu Hause bin, tobt Mama. Heute Abend hat sie mich aus der Waschwanne geholt, ehe ich mich abseifen konnte. Sie wollte mich zwingen, mich im Badezimmerspiegel zu betrachten. Ich war noch nicht abgetrocknet. Sie hielt mich an den Schultern gepackt, als ob ich weglaufen wollte. Ihre Finger taten mir weh. Sie sagte wieder und wieder, guck dich an, los, guck dich an! Ich ballte die Fäuste und schloss die Augen. Sie schrie. Mach die Augen auf! Guck dich an! Los, guck dich an! Ich fror. Ich biss die Zähne zusammen, damit sie nicht klapperten. Mein ganzer Körper zitterte. Wir verlassen dieses Badezimmer nicht eher, bis du dich angeguckt hast! Guck dich an! Aber ich habe die Augen nicht aufgemacht. Du willst die Augen nicht aufmachen? Du willst dich nicht angucken? Immer der gleiche Zirkus? Na gut! Soll ich dir vielleicht sagen, wonach du aussiehst? Wonach der Junge aussieht, den ich da sehe? Was meinst du, wonach er aussieht? Wonach siehst du aus? Soll ich es dir sagen? Du siehst nach nichts aus! Du siehst nach absolut nichts aus! (Ich gebe, was sie gesagt hat, hier alles genau wieder.) Dann schlug sie die Tür hinter sich zu. Als ich die Augen aufmachte, war der Spiegel beschlagen.

12 Jahre, 11 Monate, 25 Tage Montag, 5. Oktober 1936

Wenn Papa bei diesem Wutanfall von Mama dabei gewesen wäre, hätte er mir ins Ohr geflüstert: Na sag mal, ein Junge, der nach absolut nichts aussieht, das ist ja doch sehr interessant! Wonach muss ein Junge letztlich aussehen, der nach absolut nichts aussieht? Nach dem Gehäuteten aus dem Larousse? Wenn Papa ein Wort betonte, konnte man glauben, er würde es in Kursivschrift sprechen. Dann schwieg er, um mir Zeit zum Nachdenken zu geben. Ich denke an den Gehäuteten aus dem Larousse, weil Papa und ich an ihm oft den menschlichen Körperbau studiert haben. Ich weiß, wie ein Mann aussieht. Ich weiß, wo die Milzarterie liegt, ich kenne jeden Knochen, jeden Nerv, jeden Muskel mit Namen.

13 Jahre, mein Geburtstag Samstag, 10. Oktober 1936

Mama hat mit Dodo wieder die Geschichte mit dem sauberen Taschentuch gemacht. Sie hat natürlich bis zum Mittagessen gewartet, bis alle da waren. Dodo reichte die Amuse-Gueules herum. Sie forderte ihn auf, »so lieb zu sein« und die Platten abzustellen, dann zog sie ihn ganz sanft zu sich heran, als wolle sie ihn drücken. Aber sie holte das Taschentuch hervor und fuhr ihm damit hinter den Ohren entlang, dann über die Ellbogenbeugen und durch die Kniekehlen. Dodo stand stocksteif da. Natürlich war das Taschentuch (das Mama der versammelten Runde zeigte!) danach nicht mehr blütenweiß. Auch die Fingernägel wurden beanstandet. Wenn man ein derartiges kleines Ferkel ist, gibt man nicht die Mamsell! Ab, und gründlich gesäubert, junger Mann! Zu Violette sagte sie, und wies dabei mit dem Finger auf Dodo: Seien Sie so gut und haben Sie ein Auge auf ihn! Dass er mir bloß nicht den Nabel vergisst! In zehn Minuten sehen wir uns wieder. Bei diesen Gemeinheiten zwitschert Mama immer wie ein aufgekratztes junges Mädchen.

 

Wenn Violette, als ich klein war, mich abschrubbte, beschrieb sie mir den Schmutz am Hof Ludwigs XIV., als käme sie gerade von dort. Oh, da gab es tausenderlei Gerüche, glaub mir! Die parfümierten sich damals, wie wenn man Dreck unter den Teppich kehrt. Violette mag auch ein Billet, das Napoléon an Joséphine sandte (er war auf dem Rückweg von Ägypten): »Wasch dich nicht, ich komme.« Nur damit du weißt, mein kleiner Prachtkerl, dass unsereins nicht nach Jasmin duften muss, um geliebt zu werden. Aber nicht verraten!

 

Apropos Sauberkeit. Einmal, ich rieb Papa gerade den Rücken mit dem Rosshaarhandschuh ab, sagte er: Hast du dich jemals gefragt, wo dieser ganze menschliche Schmutz hingeht? Was verdrecken wir, wenn wir uns waschen?

13 Jahre, 1 Monat, 2 Tage Donnerstag, 12. November 1936

Ich habe es gemacht! Ich habe es gemacht! Ich habe das Laken von meinem Schrank heruntergezogen und mich im Spiegel betrachtet! Ich hatte beschlossen, dass es jetzt reicht. Ich zog das Laken herunter, ich ballte die Fäuste, ich holte tief Luft, ich öffnete die Augen, und ich betrachtete mich! ICHHABEMICHBETRACHTET! Es war, als sähe ich mich zum ersten Mal. Ich blieb lange vor dem Spiegel stehen. Das war nicht wirklich ich in meinem Inneren. Das war mein Körper, aber nicht ich. Das war nicht einmal ein Kamerad. Ich sagte: Du bist ich? Du, das bin ich? Ich, das bist du? Das sind wir? Ich bin nicht verrückt, ich weiß ganz genau, dass ich mit dem Eindruck gespielt habe, das sei nicht ich, sondern irgendein im Spiegel ausgesetzter Junge. Ich fragte mich, seit wann er dort stand. Diese kleinen Spielchen, die Mama aus der Fassung bringen, beängstigten Papa nicht im mindesten. Mein Sohn, du bist nicht verrückt, du spielst mit deinen Sinneswahrnehmungen, wie alle Kinder in deinem Alter. Du befragst sie. Und du wirst nie aufhören, sie zu befragen. Auch als Erwachsener. Auch in sehr hohem Alter. Merk dir eins: Wir müssen uns unser ganzes Leben lang bemühen, unseren Sinnen Glauben zu schenken.

Mein Spiegelbild kam mir wirklich wie ein Kind vor, das in meinem Spiegel ausgesetzt worden war. Das ist meine ganz wirkliche Empfindung. Ich wusste natürlich, wen ich sehen würde, wenn ich das Laken herunterzog, aber überrascht hat es trotzdem, als ob dieser Junge eine Statue wäre, die weit vor meiner Geburt dort abgestellt worden war. Ich betrachtete ihn lange.

Dann kam mir plötzlich die Idee.

Ich verließ mein Zimmer und schlich auf Zehenspitzen hinüber in die Bibliothek, ich schlug den Larousse auf und trennte den Gehäuteten mit dem Lineal heraus (das merkt bestimmt keiner, Mama greift nach dem Larousse nur, um ihn Dodo unter den Hintern zu schieben, wenn im Esszimmer gegessen wird), ich kehrte in mein Zimmer zurück und schob den Riegel vor, ich zog mich nackt aus, ich klemmte den Gehäuteten in den Spiegelrahmen, und ich verglich uns, ihn und mich.

Tatsache ist: Er und ich haben nicht das Geringste gemein. Der Gehäutete ist ein erwachsener Athlet. Er hat breite Schultern. Er steht fest auf seinen muskulösen Beinen. Ich dagegen sehe nach nichts aus. Ich bin ein schwächliches Kind, bleich, mit hohler Brust und so mager, dass man einen Brief unter meine Schulterblätter klemmen kann (O-Ton Violette). Und doch teilen wir etwas: Wir sind beide durchsichtig. Unsere Adern sind sicht- und unsere Knochen zählbar, allerdings ist bei mir kein einziger Muskel zu erkennen. Ich besitze nur Haut, Adern, schlaffes Fleisch und Knochen. Nichts wird gehalten, wie Mama sagen würde. Das stimmt. Deshalb kann jeder mir mein Leben abnehmen, mich an einen Baum binden, mich im Wald allein lassen, mich mit dem Schlauch abspritzen, sich über mich lustig machen oder mir sagen, dass ich nach nichts aussehe. Du würdest mich nicht verteidigen, was? Du würdest mich von den Ameisen fressen lassen, stimmts? Du würdest mich nicht einmal mit dem Hintern ansehen!

Aber ich, ich werde dich verteidigen! Ich werde dich sogar gegen mich verteidigen! Ich werde dir Muskeln antrainieren, ich werde deine Nerven stählen, ich werde mich jeden Tag um dich kümmern, und ich werde mich für alles interessieren, was du empfindest.

13 Jahre, 1 Monat, 4 Tage Samstag, 14. November 1936

Papa sagte: Jeder Gegenstand ist zuerst ein Gegenstand von Interesse. Also ist mein Körper ein Gegenstand von Interesse. Ich werde das Journal meines Körpers schreiben.

13 Jahre, 1 Monat, 8 Tage Mittwoch, 18. November 1936

Ich möchte das Journal meines Körpers auch deshalb schreiben, weil die anderen von anderem sprechen. Alle Körper sind in Spiegelschränken ausgesetzt. Tagebuchschreiber, Luc oder Françoise zum Beispiel, notieren alles und nichts, Emotionen, Gefühle, Geschichten von Freundschaft, Liebe und Betrug, seitenlange Rechtfertigungen, ihre Gedanken über andere und darüber, was ihrer Meinung nach andere über sie denken, Reisen, die sie gemacht haben, Bücher, die sie gelesen haben; aber von ihrem Körper sprechen sie nicht. Dass es so ist, habe ich im Sommer bei Françoise erlebt. Sie hat mir »nur unter uns« ihr Tagebuch vorgelesen, obwohl sie es jedem vorliest, das weiß ich von Étienne. Sie schreibt aus einer Gefühlsregung heraus, aber welches Gefühl es war, daran erinnert sie sich fast nie. Warum hast du das aufgeschrieben? Weiß ich nicht mehr. Weshalb sie sich auch über den Sinn ihres Eintrags nicht recht im Klaren ist. Ich aber will, dass das, was ich heute aufschreibe, auch in fünfzig Jahren noch dasselbe besagt. Exakt dasselbe! (In fünfzig Jahren bin ich dreiundsechzig.)

13 Jahre, 1 Monat, 9 Tage Donnerstag, 19. November 1936

Habe noch einmal über all meine Ängste nachgedacht und dabei folgende Liste von Empfindungen erstellt: die Höhenangst zerquetscht mir die Eier; die Furcht vor Schlägen lähmt mich; die Angst davor, Angst zu haben, ängstigt mich den ganzen Tag; Angst löst bei mir Koliken aus; wenn mich etwas erregt (selbst freudig), bekomme ich Gänsehaut; Sehnsucht (etwa wenn ich an Papa denke) treibt mir Tränen in die Augen; eine unvorhergesehene Überraschung lässt mich zusammenfahren (schon eine Tür, die zuschlägt!); Panik führt dazu, dass ich in die Hose pinkele; der leiseste Kummer bringt mich zum Weinen; Wut schnürt mir die Luft ab; Scham bewirkt, dass ich ganz klein werde. Mein Körper reagiert auf alles. Ich weiß bloß nicht immer wie.

13 Jahre, 1 Monat, 10 Tage Freitag, 20. November 1936

Ich habe gründlich nachgedacht. Wenn ich alles exakt beschreibe, was ich empfinde, dann wird mein Journal ein Botschafter zwischen meinem Geist und meinem Körper sein. Es wird der Übersetzer meiner Empfindungen sein.

13 Jahre, 1 Monat, 12 Tage Sonntag, 22. November 1936

Ich werde nicht nur die starken Empfindungen beschreiben, die großen Ängste, schlimmen Krankheiten, Unfälle, sondern absolut alles, was mein Körper empfindet. (Oder was mein Geist meinen Körper empfinden lässt.) Zum Beispiel das Streichen des Windes über meine Haut, den Lärm, den die Stille in mir erzeugt, wenn ich mir die Ohren verstopfe, den Geruch von Violette, die Stimme von Tijo. Tijo hat jetzt schon die Stimme, die er als Erwachsener haben wird. Eine Reibeisenstimme, als würde er drei Päckchen Zigaretten am Tag rauchen. Mit drei Jahren! Wenn er groß ist, wird er natürlich nicht mehr eine so hohe Stimme haben, aber immer noch diese Reibeisenstimme mit dem Lachen hinter den Wörtern, da bin ich mir sicher. Wie sagt Violette über die Wutanfälle von Manès: Man kann so viel schreien, wie man will, man hat die Stimme, die man hat!

13 Jahre, 1 Monat, 14 Tage Dienstag, 24. November 1936

Unsere Stimme ist die Musik, die der Wind erzeugt, wenn er durch unseren Körper streicht. (Sofern er nicht hinten herauskommt, versteht sich.)

13 Jahre, 1 Monat, 26 Tage Sonntag, 6. Dezember 1936

Auf der Rückfahrt vom Mont Saint-Michel musste ich kotzen. Nichts macht mich wütender, als zu kotzen. Zu kotzen bedeutet, umgestülpt zu werden wie ein Sack. Dir wird die Haut umgestülpt. In Schüben. Umgestülpt und abgezogen. Du wehrst dich, aber du wirst umgestülpt. Dein Inneres nach außen gewendet. Wie wenn Violette ein Kaninchen abzieht. Deine Haut auf links gedreht. Das bedeutet Kotzen. Es beschämt mich und macht mich rasend vor Wut.

13 Jahre, 1 Monat, 28 Tage Dienstag, 8. Dezember 1936

Ehe ich etwas aufschreibe, mich immer erst beruhigen.

13 Jahre, 2 Monate, 15 Tage Freitag, 25. Dezember 1936

Mamas Weihnachtsgeschenk gestern Abend war eine Frage: Glaubst du wirklich, du hättest ein Geschenk verdient? Ich antwortete mit nein. Mir waren die Pfadfinder eingefallen. Aber in erster Linie wollte ich nichts haben von ihr. Onkel Georges hat mir Hanteln geschenkt und Joseph ein Sportgerät, das Expander heißt und hilft, Muskeln zu entwickeln. Es besteht aus fünf Gummibändern, die mit zwei Holzgriffen verbunden sind. An denen zieht man den Expander so oft, wie man es schafft, auseinander. In der Beschreibung ist ein Mann zu sehen, vorher – nachher. Nicht wiederzuerkennen, sechs Monate nach dem Kauf des Expanders. Sein Brustkorb hat den doppelten Umfang, und seine Hebemuskeln verleihen ihm einen Stiernacken. Und das bei einem Training von nur zehn Minuten pro Tag.

13 Jahre, 2 Monate, 18 Tage Montag, 28. Dezember 1936

Étienne und ich haben In-Ohnmacht-fallen gespielt. Das war großartig. Der andere stellt sich hinter dich, umschlingt dich mit den Armen und drückt dir beim Ausatmen den Brustkorb mit aller Macht zusammen. Ein Mal, zwei Mal, drei Mal, so fest er kann, und wenn du keine Luft mehr in den Lungen hast, pfeift es in den Ohren, dir wird schwindlig und du fällst in Ohnmacht. Einfach himmlisch. Man spürt, dass man geht, sagt Étienne. Ja, oder kentert, oder untergeht … Jedenfalls ist es wirklich himmlisch!

13 Jahre, 3 Monate Sonntag, 10. Januar 1937

Mitten in der Nacht weckte mich Dodo. Er weinte. Ich fragte ihn, weshalb, aber er wollte es nicht sagen. Ich fragte ihn, warum er mich dann geweckt habe. Zuletzt erzählte er mir, seine Kameraden würden sich über ihn lustig machen, weil er weniger weit pinkelt als sie. Ich fragte ihn, wie weit. Er sagte, nicht weit. Hat dir das Mama nicht beigebracht? Nein. Ich fragte ihn, ob er gerade müsse. Ja. Und lüftest du auch dein Käppchen gut, ehe du pinkelst? Er darauf, wie, mein Käppchen, was? Wir gingen auf den Balkon, und ich zeigte ihm, wie man sein Käppchen lüftet. Mir hat das Violette gezeigt, beim Baden, als ich klein war: Komm, lüfte mal schön dein Käppchen, damit der da unten keine Champignonzucht anlegt! Dodos kleine Spitze kam hervor und er pinkelte sehr weit, bis aufs Dach des Hotchkiss von den Bergeracs, der unten parkte. Dodo pinkelte über die ganze Gehwegbreite und war so froh darüber, dass er lachte. Und sein Strahl garbenweise noch weiter reichte. Ich legte ihm aus Angst, Mama könne aufwachen, die Hand auf den Mund. Er lachte weiter, in meine Hand hinein.

13 Jahre, 3 Monate, 1 Tag Montag, 11. Januar 1937

Jungen können auf dreierlei Weise pinkeln: 1) Im Sitzen. 2) Im Stehen, ohne das Käppchen zu lüften. 3) Im Stehen, mit gelüftetem Käppchen. Mit gelüftetem Käppchen lässt es sich viel weiter pinkeln. Eigentlich unglaublich, dass Mama das Dodo nicht beigebracht hat! Andererseits: Macht man das nicht instinktiv? Wenn ja, warum ist dann Dodo nicht von allein darauf gekommen? Und ich, was wäre mit mir, wenn Violette es mir nicht gezeigt hätte? Ob es Männer gibt, die sich ihr Leben lang auf die Füße pieseln, weil sie nie auf die Idee gekommen sind, ihre Vorhaut zurückzuziehen? Ich habe mich das den ganzen Tag gefragt, während vorn die Lehrer redeten: Lhuillier, Pierral, Auchard. All die Dinge, die sie »über den Lauf der Welt wissen« (wie Mama sagen würde), und trotzdem kommen sie womöglich nie auf die Idee, ihre Vorhaut zurückzuziehen! Monsieur Lhuillier zum Beispiel, der aussieht, als wolle er allen alles beibringen, ich bin mir sicher, dass er sich auf die Füße pieselt und sich fragt, wieso und warum.

13 Jahre, 3 Monate, 8 Tage Montag, 18. Januar 1937

Beim Einschlafen mag ich es, mich wieder wachzumachen, um noch einmal in den Genuss des Einschlafens zu kommen. Genau im Moment des Einschlafens wieder richtig wach zu werden ist großartig! Diese Kunst des Einschlafens habe ich von Papa: Beobachte dich genau; deine Lider werden schwer, deine Muskeln erschlaffen, dein Kopf hat auf dem Kissen endlich sein Kopfgewicht, du spürst, dass deine Gedanken nicht mehr wirklich von dir gedacht werden, es ist, als würdest du schon träumen, obwohl du weißt, dass du noch nicht schläfst. Als würde ich auf einer Mauer balancieren und gleich auf der Schlafseite herunterfallen? Genau! Mach dich mit einem Schnicken des Kopfes wieder wach, sobald du spürst, dass du auf der Schlafseite herunterfällst. Halte dich auf der Mauer. Dein Wachsein wird ein paar Sekunden dauern, in denen du dir sagen kannst: Ich schlafe gleich wieder ein! Das ist ein köstliches Versprechen! Und mach dich noch einmal wach, um es von neuem auszukosten. Kneif dich notfalls, wenn du spürst, dass du herunterfällst! Tauche so oft wie möglich wieder an die Oberfläche, und dann lass dich endlich untergehen. Ich höre Papa, wie er mir seine Einschlaflektionen zuflüstert. Noch einmal, und noch einmal!, das ist dank Papa jeden Abend meine Bitte an den Schlaf.

13 Jahre, 3 Monate, 9 Tage Dienstag, 19. Januar 1937

Vielleicht geht so das Sterben. Es wäre wunderbar, wenn wir nicht solche Angst hätten. Vielleicht wachen wir jeden Morgen nur auf, um den herrlichen Augenblick hinauszuzögern, in dem wir sterben. Als Papa starb, schlief er ein letztes Mal ein.

13 Jahre, 3 Monate, 20 Tage Samstag, 30. Januar 1937

Als ich mich vorhin schnäuzte, ist mir wieder eingefallen, wie ich versucht habe, Dodo das Schnäuzen beizubringen. Er schnaubte nicht. Ich hielt ihm das Taschentuch unter die Nase und sagte, los, schnaub, aber er stieß den Atem durch den Mund aus. Oder gar nicht: Er atmete ein, blähte sich auf wie ein Ballon, aber heraus kam nichts. Damals dachte ich, Dodo sei ein bisschen blöd. Aber das stimmte nicht. Vielmehr muss der Mensch alles lernen, was mit seinem Körper zusammenhängt, wirklich alles: laufen, sich schnäuzen, sich waschen. Wir könnten das alles nicht, wenn wir es nicht gezeigt bekämen. Am Anfang weiß der Mensch nichts, nicht die Bohne. Er ist strohdumm. Die einzigen Dinge, die er nicht lernen muss: atmen, sehen, hören, essen, seine Notdurft verrichten, einschlafen, aufwachen. Obwohl …! Wir können zwar hören, aber wir müssen lernen zuzuhören. Wir können zwar sehen, müssen aber lernen hinzusehen. Wir können zwar essen, aber unser Fleisch zu schneiden, das müssen wir auch lernen. Wir machen zwar Aa, aber aufs Töpfchen zu gehen müssen wir lernen. Wir pinkeln zwar, aber sobald wir uns nicht mehr auf die Füße pinkeln, müssen wir lernen zu zielen. Lernen heißt als Erstes, seinen Körper zu beherrschen lernen.

13 Jahre, 3 Monate, 26 Tage Freitag, 5. Februar 1937

Sie halten mich wohl für einen Idioten, oder weshalb unterstreichen Sie phonetisch die Schlüsselbegriffe Ihrer Argumentation?, fragt mich Monsieur Lhuillier vor der Klasse. Wobei er mich nachmacht, was natürlich allgemeines Gelächter auslöst. Glauben Sie, Ihr Geschichtslehrer hätte nur auf Sie gewartet, um den Widerruf des Edikts von Nantes als fatalen Irrtum zu erkennen? Finden Sie im Übrigen fataler Irrtum nicht ein wenig zu affektiert für einen Jungen Ihres Alters? Sollten Sie vielleicht ein wenig snobistisch sein, mein lieber Freund? Ich bitte doch um ein wenig mehr Simplizität, damit wir nicht gar zu sehr erdrückt werden von Ihrer Gelehrsamkeit.

Ich empfand eine unendliche Traurigkeit, dass Papa wegen meiner Kursivierungen so verhöhnt wurde. (Meine Kursivierungen sind seine, weshalb der Spott also ihm galt.) Ich hätte Lhuillier gern etwas erwidert und dabei seine säuerliche Stimme nachgemacht, aber mir war die Röte ins Gesicht gestiegen; ich hielt den Atem an, um nicht loszuheulen, und sagte nichts. Panik, als es klingelte. Auf dem Nachhauseweg mich den anderen aussetzen, nein! Allein der Gedanke ließ mich wie gelähmt sein. Wortwörtlich gelähmt. Meine Beine verweigerten mir den Dienst. Ich blieb sitzen. Ich hatte keinen Körper mehr. Ich war wieder in meinem Spiegelschrank eingesperrt. Ich tat, als hätte ich etwas verloren und suchte es in meiner Tasche und in meinem Pult. Beschämend! Die Empörung über dieses Schamgefühl gab mir schließlich die Kraft, aufzustehen. Sollen sie mich doch aufziehen, ist mir völlig schnuppe. Von mir aus können sie mich sogar schlagen oder umbringen, ist mir egal.

Aber nein, draußen wartete Violette auf mich. Sie war gerade einkaufen, und da ist ihr die Idee gekommen, mich abzuholen. Irgendwas hat dir Angst eingejagt, mein kleiner Prachtkerl, das sehe ich deinem Gesicht an! Meinem Gesicht? Weiß wie ein Entenei. Stimmt nicht! O doch! Unsere Gesichter sprechen länger als wir: Guck dir Manès an, dem steht jeder Tobsuchtsanfall den ganzen Tag im Gesicht. Außerdem höre ich, wie dein Herz schlägt. Sie hat gar nichts gehört, aber das ist eben Violette, sie hat es erraten. Zu Hause setzte sie mir mein Goûter vor (ein Stück mit Raisiné bestrichenes Brot und ein Glas eiskalter Milch). Ich bat sie, mich nicht mehr von der Schule abzuholen. Du willst dich allein verteidigen, mein kleiner Prachtkerl? Entspricht deinem Alter. Hab vor niemandem Angst, wenn du mit Beulen nach Hause kommst, verarzte ich dich.

13 Jahre, 3 Monate, 27 Tage Samstag, 6. Februar 1937

Als ich Papa sagte, ich sei kein Baby mehr, er brauche mit mir nicht mehr kursiviert zu sprechen, erwiderte er: Unmöglich, mein Junge, das ist meine englische Ader.

13 Jahre, 4 Monate Mittwoch, 10. Februar 1937

Zuerst glaubte Mama, ich würde Theater spielen, um nicht in die Schule zu müssen. Aber nein, ich hatte sehr wohl eine Mandelentzündung. Mit mächtig Fieber die ersten zwei Tage. Über vierzig Grad! Ein Gefühl, als würde man im Taucheranzug in einem Kochsud dümpeln (O-Ton Violette). Der Arzt befürchtete Scharlach. Zehn Tage Bettruhe. Im Anfangsstadium würgt dich eine Hand von innen, hindert dich am Schlucken. Sogar des Speichels. Viel zu schmerzhaft! Nur: Speichel produzieren wir ununterbrochen. Wie viel Liter am Tag? Und weil sich Spucken ja nicht gehört, schlucken wir all diese Liter. Die Speichelproduktion ist wie die Atmung eine unwillkürliche Körperfunktion, ohne die wir wie ein Hering vertrocknen würden. Ich frage mich, wie viele Hefte man bräuchte, um nur das zu beschreiben, was unser Körper tut, ohne dass wir je darauf achten. Gehen seine unwillkürlichen Funktionen bis ins Unendliche? Wir verschwenden nie einen Gedanken auf sie, doch es braucht bloß eine auszufallen, schon denken wir an nichts anderes mehr! Wenn Papa mich zu jammerig fand, zitierte er mir immer diesen Satz von Seneca: Jeder Mensch glaubt, er trage die schwerste Bürde. Genau so ist es, wenn eine unserer Körperfunktionen ausfällt! Dann sind wir der unglücklichste Mensch auf der Welt. Ganz am Anfang meiner Mandelentzündung war ich nur mein Hals. Der Mensch fokussiert, sagte Papa, daher kommt alles! Aus Sicht des Menschen gibt es nichts jenseits seines Tunnels. Mein Junge, ich rate dir: befreie dich vom Tunnelblick.

13 Jahre, 4 Monate, 6 Tage Dienstag, 16. Februar 1937

Die Woche über glich mein Zimmer einer Krankenstation. Violette kochte in der Küche das Wasser für die Gurgellösung und bereitete sie dann auf Papas kleinem Spieltisch zu, den sie am Fenster aufgestellt und mit einem weißen Tischtuch abgedeckt hatte. Wie man Halswickel macht, hatte ihr die Schwester vom Hôpital Saint-Michel gezeigt: Nicht mit den Zutaten knausern, mein Mädchen. (Dabei hätte Violette ihre Großmutter sein können!)

Violette breitet das Tuch auf der Tischdecke aus, verteilt den Leinmehlbrei darauf, streut Senfmehl darüber, schlägt die vier Seiten um und wickelt mir das Ganze um den Hals. Auftakt zu fünfzehn Minuten Folter. Es kratzt, fängt an zu kochen, brennt, tausend Nadeln bohren sich einem in den Hals, der zwangsläufig weniger wehtut, weil man nur noch an das Brennen denkt. Eine Qual durch eine andere ersetzen, mein Kleiner, das ist der ganze Trick! (Papa). Vertreib das Schlimme mit dem Schlimmeren! (Violette). Das Schlimmste vom Schlimmeren war, als die Schwester mich einpinselte. Sie ist mir mit dem Wattestäbchen so tief in die Kehle gegangen, dass ich ihr umgehend auf die Schürze gekotzt habe. Ich beschimpfte sie nach Strich und Faden, sie weigerte sich wiederzukommen. Folglich Ärger mit Mama: Du willst dich nicht behandeln lassen? Du willst wohl eine Albuminurie bekommen oder Rheuma? An Scharlach kann man sterben, dass du es weißt! Scharlach kann aufs Herz gehen! Mit Violette klappt das Einpinseln reibungslos: Mund weit auf, mein kleiner Prachtkerl, und weitergeatmet, nicht das Ventil hinten schließen. (Sie meint die Stimmritze.) Nicht schließen, hab ich gesagt! Sooooooo. Und fall mir nicht in Ohnmacht, wenn du grün pinkelst, das kommt von der blauen Tünche! Richtig: Vermischt mit dem Gelb des Urins, lässt einen das Methylenblau grün pinkeln. Gut, dass Violette mich vorgewarnt hat, das sind genau die Überraschungen, von denen ich aus den Latschen kippen kann.

13 Jahre, 4 Monate, 7 Tage Mittwoch, 17. Februar 1937

Halswickel, Gurgeln, Einpinseln, Bettruhe, ja, aber die beste Medizin ist es, im Geruch von Violette einzuschlafen. Violette ist mein Haus. Sie riecht nach Bohnerwachs, Gemüse, Holzfeuer, Schmierseife, Eau de Javel, altem Wein, Tabak und Apfel. Wenn sie mich unter ihr Umschlagtuch nimmt, betrete ich mein Haus. Ich höre ihre Worte tief in ihrer Brust bullern und schlafe ein. Wenn ich aufwache, ist sie weg, aber immer deckt mich ihr Tuch zu. Damit du dich nicht verläufst in deinen Träumen, mein kleiner Prachtkerl. Hunde, die sich verlaufen haben, kehren stets zu den Kleidern des Jägers zurück!

13 Jahre, 4 Monate, 8 Tage Donnerstag, 18. Februar 1937

Mein Körper, das ist auch Violettes Körper. Violettes Geruch ist wie meine zweite Haut. Mein Körper ist auch der Körper von Papa oder von Dodo oder von Manès … Unser Körper ist auch der Körper der anderen.

13 Jahre, 4 Monate, 9 Tage Freitag, 19. Februar 1937

Beine wie Watte, aber kein Fieber mehr. Der Doktor ist beruhigt. Er sagt, die Krankheit hätte, wenn es Scharlach wäre, »sich inzwischen erklärt«. Der Ausdruck hat mich verblüfft, weil Violette, wenn sie von ihrem Mann redet, sagt, er sei »süß gewesen, als er sich erklärt hat«! (Er fiel im Krieg, gleich zu Anfang, im September 14.) Auch Kriege werden erklärt.

13 Jahre, 4 Monate, 10 Tage Samstag, 20. Februar 1937

Hättest du es gern noch ein bisschen? Was denn? Na, das Fieber. Und weshalb sollte ich es noch länger haben wollen? Na, um nicht in die Schule zu müssen! Dodo ist überglücklich, wieder einmal in mein Bett zu schlüpfen, er plappert wie ein Wasserfall. Wenn du noch ein bisschen Fieber haben willst, musst du das Thermometer bearbeiten, aber nicht auf den Ofen legen, davon kann es zerspringen, dagegenklopfen ist besser, nicht auf der Seite, die reingesteckt wird, sondern auf der, die rausguckt beim Messen! Du musst mit dem Fingernagel dagegenklopfen, dann steigt die Temperatur, geht unter der Bettdecke, sogar wenn Mama dich im Auge behält, aber nicht zu fest, sonst wird die Quecksilbersäule gestrichelt, kapiert? (Er verstummt, und weg ist er.) Aber den Trick mit dem Löschblatt in den Schuhen, den kennst du? Ein trockenes Löschblatt zwischen Fußsohlen und Socken geklemmt, und du kriegst Fieber, sobald du losläufst. Was soll denn der Quatsch? Ich schwör dirs! Von wem hast du das? Von einem Schulkameraden.

13 Jahre, 4 Monate, 15 Tage Donnerstag, 25. Februar 1937

Mama fragt sich, wie ich Violettes Raisiné mögen kann. Sie sagt, sie würde lieber vor Hunger sterben, als auch nur einen Löffel von diesem »grrrauenvollen Zeug« zu essen! Ich muss das Glas in meinem Zimmer aufbewahren: Ich will diese Ekelei nicht in meiner Küche haben, verstanden! Mir wird schon von dem Geruch übel!

Ich dagegen, ich liebe am Raisiné alles. Seinen Geruch, seine Farbe, seinen Geschmack, seine Konsistenz. Allein schon, weil es ein Genuss für vier der fünf Sinne ist, Geruchs-, Seh-, Geschmacks- und Tastsinn!

1) Sein Geruch. Himbeerige Traube. Ich sehe Tijo, Robert, Marianne und mich in der Weinlaube. Der Schatten ist warm. Er riecht nach Himbeere. Uns geht es gut.

2) Seine Farbe. Violett grundiertes Schwarz. Und beim Eintunken des Brotes in die Milch entsteht ein Hof, der sich von Dunkelviolett über alle Rot- und Lilaschattierungen bis zu Blassblau verfärbt. Herrlich!

3) Sein Geschmack nach Himbeere. Aber weniger sauer als Himbeeren.

4) Seine Konsistenz. Zwischen Konfitüre und Gelee. Es zerfließt, glitscht aber nicht. Violette macht neben Himbeer-Traube- auch Brombeer-Traube-Raisiné.

5) Ach, ganz vergessen! Seine Temperatur. Wenn ich das Glas für die Nacht auf die Fensterbank stelle und mein Brot morgens in die heiße Milch tunke, ergibt das einen fantastischen Heiß-kalt-Gegensatz.

Aber was ich am Raisiné vor allem liebe: dass es Violettes Raisiné ist. Ich bin sicher, dass Mama es genau aus diesem Grund nicht mag.

Frage: Beeinflussen die Gefühle, die wir einem Menschen gegenüber hegen, unsere Geschmacksnerven?

13 Jahre, 4 Monate, 17 Tage Samstag, 27. Februar 1937

Vorhin ging Dodo ins Bad, um sich die Augen auszuwaschen wegen des Sandmanns. Der streue einem abends Sand in die Augen, hat ihm Violette erzählt; da ging er sich die Augen ausspülen, sobald sie zu kribbeln anfingen. Ich sagte ihm, dass es nicht der Sandmann ist, weshalb uns die Augen kribbeln, sondern der Schlaf. Dass, was wir Sandmann nennen, bloß unsere Lust zu schlafen ist. Du lügst, das kommt vom Sandmann! Dodo wird noch von Bildern beherrscht. Ich dagegen schreibe mein Journal, um mich davon zu befreien.

13 Jahre, 4 Monate, 27 Tage Dienstag, 9. März 1937

Onkel Georges hat mir auf meinen Brief geantwortet. Er und Violette sind die einzigen Erwachsenen, die auf Fragen von uns Kindern antworten. Deshalb weiß Étienne viel mehr als ich.

Lieber Neffe,

 

[…] Du fragst mich, ob ich meine Haare »durch einen Schrecken oder eine Erschütterung verloren« habe. […] Mein kleiner Neffe, ich habe meine Haare im Großen Krieg verloren, und ich bin nicht der Einzige. Eines Morgens wachte ich auf und fand ein dickes Büschel im Helm, genauso am nächsten und übernächsten Morgen. Innerhalb weniger Wochen hatte ich eine Glatze. Der Arzt nannte das »Pelade« und sagte, es würde wieder nachwachsen. Von wegen! […]

Außerdem willst du wissen, ob ich als einer, der »zur Gattung der Glatzköpfigen« gehört, »auch auf dem Schädel eine Gänsehaut« bekomme. Nun, einmal zumindest ist mir das passiert: als ich Sarah Bernhardt auf dem Theater sah, direkt nach dem Krieg. Du kannst dir gar nicht vorstellen, welche Stimme Sarah Bernhardt hatte. […]

Was deine Fragen zur »Menstruation und diesen Sachen« angeht, so kann ich dir beim besten Willen keine Auskunft geben. Die Frau, mein kleiner Neffe, ist für den Mann ein Rätsel, was umgekehrt leider nicht gilt […].

Juliette und ich drücken dich ganz fest. Grüß deine Frau Mama, und komm, wann immer du willst, nach Paris, uns deine Bizepse zeigen.

 

Dein Onkel Georges

Mit dem, was er zur Monatsregel schreibt, will Onkel Georges mir auf eine freundliche Weise zu verstehen geben, dass diese Dinge nichts für mein Alter sind. Damit habe ich insgeheim gerechnet. Aber Violette hat mir mittlerweile das Wichtigste erklärt. Ich habe ihr die Frage gestellt, nachdem Fermantin über seine Schwester gesagt hatte, sie habe »ihre Tage« und sei »ungenießbar«. Den Rest habe ich aus dem Lexikon:

Menstruation, die bei der geschlechtsreifen Frau periodisch in Intervallen von ca. 28 bis 30 Tagen auftretende, mehrere Tage anhaltende Blutung aus der Gebärmutter. Sie tritt mit der Pubertät ein und dauert bis etwa zum 45. Lebensjahr …

Der Eintritt der M. (Menarche) bekundet die Fortpflanzungsfähigkeit des weiblichen Organismus, ihr Erlöschen (Menopause) kennzeichnet das Aufhören dieser Fähigkeit.

Die M. bleibt während der Schwangerschaft und Entbindung normalerweise aus.

13 Jahre, 5 Monate
Mittwoch, 10. März 1937

Ich erinnere mich an ein Gespräch zwischen dem Onkel Georges und Papa. Papa stand nicht mehr auf, und er aß fast nichts mehr. Onkel Georges bat ihn, sich zusammenzunehmen. Er flehte ihn regelrecht an. Ihm standen Tränen in den Augen. Unmöglich, mein Lieber, sagte Papa, ich habe eine innerliche Glatze! Und da wächst ebenso wenig etwas nach wie auf deiner Billardkugel. Der Onkel Georges und Papa mochten sich sehr.

13 Jahre, 5 Monate, 6 Tage Dienstag, 16. März 1937

Papa hatte mich vorgewarnt! Aber davon zu wissen ist eine Sache, wenn es passiert, ist es eine andere! Ich wachte auf und sprang aus dem Bett. Mein Schlafanzug war nass, meine Hände klebten! Auch das Bett war voll. Genau genommen war alles voll. Mein Herz wummerte. Als ich den Schlafanzug auszog, fiel mir wieder ein, was Papa gesagt hatte. Ejakulation, mein Junge. Wenn dir das nachts passiert, keine Angst, du fängst nicht wieder an, ins Bett zu pullern, da stellt sich die Zukunft ein. Also keine Panik, und gewöhn dich am besten gleich daran, denn du wirst dein ganzes Leben Sperma produzieren. Am Anfang hat man es schlecht im Griff: kurz gerieben, Spaß und, hopp, da kommt es schon! Aber dann gewöhnt man sich daran und lernt, sich zurückzuhalten, und schließlich wird es zum größten Genuss.

Der Schlafanzug klebte an meinen Schenkeln wie gummiertes Papier. Dodo kam mir ins Bad nach, wo ich mich wusch. Er musste gleich dicketun. Er war völlig aus dem Häuschen. Das ist weiter nichts, das sind nur Spermatozoide, zum Kindermachen, die Jungen haben die eine Hälfte dafür, die Mädchen die andere!

13 Jahre, 5 Monate, 7 Tage Mittwoch, 17. März 1937

Beim Trocknen auf der Haut bekommt das Sperma Risse. Glimmer, könnte man meinen.

13 Jahre, 5 Monate, 8 Tage Donnerstag, 18. März 1937

Ich erinnere mich nicht mehr wirklich an Papas Gesicht. Aber an seine Stimme ja. O ja! Ich erinnere mich an alles, was er mir gesagt hat. Seine Stimme war ein Hauch. Er flüsterte ganz nah an meinem Ohr. Manchmal frage ich mich, ob es wirklich eine Erinnerung ist oder ob Papa in mir weiterflüstert.

13 Jahre, 5 Monate, 18 Tage Sonntag, 28. März 1937

Habe den Gehäuteten wieder in den Spiegelrahmen geklemmt. Da es das ist, wonach man aussehen muss, werde ich so aussehen.

13 Jahre, 5 Monate, 19 Tage Montag, 29. März 1937

So, gemacht. Ich war bei Fermantin. Ich wollte, dass er mir Übungen zeigt, damit ich Muskeln kriege. Erst zog er mich auf. Er nannte mich einen hoffnungslosen Fall und sagte, dass er sich zu so etwas nicht hergebe. Auch nicht, wenn ich für dich Mathe mache? Da feixte er nicht mehr. Was ist los, brauchst du Armschmalz, um die Mädels flachzulegen? (Wahrscheinlich meinte er die Bizepse, die Delta- und die großen Hebemuskeln.) Willst du dir einen Römerpanzer zulegen? (Die Bauchmuskeln, nehme ich an: gerader und schräger Bauchmuskel sowie die Sägemuskeln.) Dann musst du Rumpfbeugen und Liegestütze machen, immer im Wechsel! Fermantin ist nur zwei Jahre älter als ich, aber schon ein richtiger Sportler. Bei Mannschaftsspielen wie Fußball oder Völkerball gewinnt seine Auswahl praktisch immer. Er ist Mitglied in mehreren Vereinen und will, dass ich mitkomme. Aber ausgeschlossen. Ich muss erst aus meinem Schrank heraus. Kein Mannschaftssport, sondern Liegestütze, ja, und Rumpfbeugen. Das kann man alleine machen. Auch Seilklettern, Barrenturnen, Dauerlauf, und Radfahren soll er mir beibringen (Violette leiht mir ganz sicher ihr Fahrrad) und noch Schwimmen. Manès hat es mir schon gezeigt, aber wenn er mich in den Kolk wirft, dann plansche ich einfach, so wie die Frösche. Fürs Laufen, Radfahren und Schwimmen soll ich Fermantin seine Aufsätze schreiben und ihm die Englischaufgaben machen. Ich habe eingeschlagen.

13 Jahre, 6 Monate, 1 Tag Sonntag, 11. April 1937

Beim Liegestütz muss man den gestreckten Körper in einem 15-Grad-Winkel zum Boden auf den Zehenspitzen und den durchgedrückten Armen halten, diese dann beugen, bis das Kinn den Boden berührt, und danach wieder durchdrücken, das Ganze so oft, wie einem die Kraft in den Armen reicht. Der Körper muss unbedingt gestreckt bleiben, man darf kein Hohlkreuz machen, und beim Absenken dürfen die Knie den Boden nicht und die Brust ihn nur einen Hauch berühren. Die Füße können auch auf der Bettkante abgestützt werden, das beansprucht die Arme mehr. So die Grundübung. Aber es gibt unzählige Varianten. Fermantin hat sie mir vorgemacht. In der Musik würde man von Variationen auf ein Thema sprechen. Liegestütz mit Händeklatschen: Die Unterarme drücken den Körper so vom Boden weg, dass man klatschen kann, ehe man wieder auf den Händen landet. (Aber nicht gleich ausprobieren, sonst landest du mit dem Kopf voran und haust dir die Zähne aus.) Liegestütz mit Händeklatschen auf dem Rücken: Dieselbe Aktion, nur muss man sich noch höher vom Boden abstoßen, um auf dem Rücken in die Hände klatschen zu können. (Mach das bloß nicht. Oder bestenfalls mit untergelegter Matratze.) Noch schwieriger, Liegestütz mit Pirouette: Der Körper dreht sich einmal um sich selbst, ehe er in die Ausgangsposition zurückkehrt. Liegestütz auf einem Arm, erst auf dem einen, dann auf dem anderen, Liegestütz auf drei Fingern (ausgezeichnete Fingerübung für Bergsteiger) usw.

* Notiz für Lison

Liebe Lison,

 

die nächsten vier Hefte (April 37 – Sommer 38) gehören zu der Kategorie, die du überspringen kannst. Du findest darin nichts als Tabellen über die Entwicklung meiner Muskulatur (Bizepse, Unterarme, Brust, Bauchwand, Oberschenkel, Waden …). Ich habe die ersten Pubertätsjahre mit dem Maßband in der Hand verbracht: unablässige Selbstvermessung; ich war mein eigener Ethnograph und edler Wilder. Auch wenn ich heute darüber lache, ich wollte damals wohl wirklich wie der Gehäutete aus dem Larousse aussehen! In Le Briac, wohin Violette nach meinem Rauswurf bei den Pfadfindern mit mir in den Sommerferien fuhr, ersetzte ich das Training durch Wald- und Feldarbeit. Manès und Marta waren sprachlos, dass ein Stadtkind sich so für das Landleben erwärmt. Sie sind nie dahintergekommen, dass ich mir die Arbeit strikt nach ihrem Nutzen für den Muskelaufbau aussuchte: Holzfällen für die Bizepse und die Unterarme, Heuaufladen für die Oberschenkel, die Bauch- und die Rückenmuskulatur, Ziegeneinfangen und stundenlanges Schwimmen, damit mein Brustkorb breiter wurde. Heute plagt mich ein bisschen das Gewissen, ihnen meine eigentlichen Absichten verheimlicht zu haben; Violette hat mich natürlich durchschaut, und nichts machte mich glücklicher, als mit ihr ein Geheimnis zu haben.

 

Da fällt mir ein, Lison, ich habe euch ja nie etwas über meine Kindheit erzählt, weshalb du von diesen meinen elenden Anfängen hier nicht viel begreifen dürftest: ein toter Vater, eine wutgeladene Mutter, ein junger, im Spiegelschrank ausgesetzter Körper, und dieser Dreizehnjährige, der salbungsvoll wie ein Académie-Française-Mitglied schreibt. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, dir das eine oder andere zu erzählen.