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Dieses Buch ist ein philosophisches Handbuch, das einen Entwurf der Aufklärung gegen den Wertenihilismus unserer Zeit bietet. Markus Gabriel gibt uns eine neue Antwort auf die Hauptfrage der Philosophie: "Was ist der Mensch?" Die Krise der liberalen Demokratie und die Ausbreitung des Populismus folgen dem Muster einer Selbstabschaffung des Menschen. Der Diskurs über Künstliche Intelligenz und die hemmungslose Digitalisierung verstärken diese fatale Entwicklung noch. Doch trotz aller gegenwärtigen Rückschläge: Die Menschheit ist zu moralischem Fortschritt fähig. In seinem engagierten Buch zeigt Markus Gabriel, Deutschlands weltweit bekanntester Gegenwartsphilosoph, warum es nicht verhandelbare, universale Grundwerte gibt, die für alle Menschen gelten. Er zeigt: Wir bedürfen dringend eines innovativen Konzepts der Kooperation von Wissenschaft, Politik, Wirtschaft, um ein Gesellschaftssystem zu entwerfen, das auf moralischen Fortschritt zielt. "Einer der wichtigsten deutschen Philosophen der Gegenwart" Süddeutsche Zeitung
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Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten
MARKUS GABRIEL, geboren 1980, studierte in Bonn, Heidelberg, Lissabon und New York. Seit 2009 hat er den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie, Philosophie der Neuzeit und der Gegenwart an der Universität Bonn inne und ist dort Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie. Er ist Direktor des interdisziplinären Center for Science and Thought und regelmäßiger Gastprofessor an der Sorbonne (Paris 1) sowie der New School for Social Research in New York City.
Unsere gegenwärtige Zivilisation ist durchzogen von einem Werterelativismus, mitunter gar einem Wertenihilismus. Der Diskurs über Künstliche Intelligenz und die hemmungslose Digitalisierung verstärken diese fatale Entwicklung noch. So herrscht beispielsweise die irrige Vorstellung, es gäbe nationale Identitäten, die dann als Begründung zur Abschottung gegen Andere und Andersdenkende genutzt werden. Dagegen entwickelt Markus Gabriel eine zeitgemäße universale Auffassung des Menschen sowie das Konzept einer neuen Aufklärung und eines neuen moralischen Realismus. Er zeigt: Wir bedürfen dringend einer innovativen Form der Kooperation von Wissenschaft, Politik und Wirtschaft, um eine globale Gesellschaft zu entwerfen, die auch in Zukunft auf moralischen Fortschritt zielt. Um erfolgreich für Klimaschutz, Generationengerechtigkeit und geschlechtliche Gleichstellung zu kämpfen, müssen wir philosophisch begründete Argumente für die Gegenseite anbieten – und die haben wir!
Markus Gabriel
Universale Werte für das 21. Jahrhundert
Ullstein
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ISBN 978-3-8437-2408-1© 2020 Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinAlle Rechte vorbehaltenAutorenfoto: Gerald von ForisUmschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, HamburgE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.com
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Der Autor / Das Buch
Titelseite
Impressum
Zitat
Einleitung
Erstes KapitelWas Werte sind und warum sie universal sind
The Good, the Bad and the NeutralMoralische Grundregeln
Moralische Tatsachen
Grenzen der MeinungsfreiheitWie tolerant ist die Demokratie?
Moral geht vor Mehrheit
Kulturrelativismus Das Recht des Stärkeren
Boghossian und die Taliban
Es gibt keine jüdisch-christlichen WerteUnd warum der Islam offensichtlich zu Deutschland gehört
Nordkorea und die Nazi-Maschine
Wertepluralismus und Wertenihilismus
Nietzsches scheußliche Verwirrung(en)
Zweites KapitelWarum es moralische Tatsachen, aber keine ethischen Dilemmata gibt
Universalismus ist kein Eurozentrismus
Altersdiskriminierung gegen Kinder und andere moralische Defizite des Alltagslebens
Moralische Spannung
Fehleranfälligkeit, ein fiktiver Messias und der Unsinn postmoderner Beliebigkeit
Moralische Gefühle
Ärzte, Patienten, indische Polizisten
Der Kategorische Imperativ als sozialer Klebstoff
»H?«Widersprich dir nicht!
Moralische Selbstverständlichkeiten und das Beschreibungsproblem der Ethik
Warum die Bundeskanzlerin nicht der Führer ist
Das Jüngste Gericht Oder: Wie wir moralische Tatsachen erkennen können
Mit und ohne Gott im Reich der Zwecke
Kinder schlagen war noch nie gut, auch nicht 1880
Drittes KapitelSoziale IdentitätWarum Rassismus, Xenophobie und Misogynie böse sind
Habitus und Stereotype Alle Ressourcen sind knapp
Den Schleier der Dehumanisierung lüften Von der Identität zur Differenzpolitik
Corona Die Wirklichkeit schlägt zurück
Thüringen einmal anders In Jena wird der Rassismus widerlegt
Der Wert der Wahrheit (ohne Spiegelkabinett)
Stereotype, der Brexit und der deutsche Nationalismus
Die Wirksamkeit geglaubter Gemeinschaften
Die Gesellschaft des Populismus
Die Widersprüche linker Identitätspolitik
Jeder ist der andere Von der Identitäts- zur Differenzpolitik (und darüber hinaus)
IndifferenzpolitikUnterwegs zur Farbenblindheit
Viertes KapitelMoralischer Fortschritt im 21. Jahrhundert
Sklaverei und Sarrazin
(Angeblich) Verschiedene Menschenbilder rechtfertigen gar nichts, schon gar nicht die Sklaverei
Moralischer Fortschritt und Rückschritt in Zeiten von Corona
Grenzen des Ökonomismus
Der biologische Universalismus und die virale Pandemie
Für eine metaphysische Pandemie
Moral ≠ Altruismus
Der Mensch Wer wir sind und wer wir sein wollen
Ethik für alle
Epilog
Anmerkungen
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Zitat
Das Böse in der Welt entspringt beinahe immer dem Unwissen und der gute Wille kann genauso viele Schäden anrichten wie die Bosheit, wenn er nicht aufgeklärt ist. Die Menschen sind eher gut als schlecht, doch in Wahrheit ist das gar nicht die Frage.
Albert Camus, Die Pest
Es herrscht eine große Aufgeregtheit. Die in den letzten Jahrzehnten spätestens seit dem Mauerfall 1989 für selbstverständlich gehaltenen Werte von Freiheit, Gleichheit, Solidarität und deren markwirtschaftliche Verwirklichung scheinen unkontrollierbar ins Wanken geraten zu sein. Dieser Vorgang, den man als Wiederauferstehung der Geschichte betrachten kann, wird von einer Verwirrung moralischer Grundbegriffe begleitet.1 Wir scheinen in einer tiefen Wertekrise zu stecken, die unsere Demokratie infiziert hat.
Länder wie die USA, Polen, Ungarn und die Türkei rücken vor unseren Augen immer weiter davon ab, den demokratischen Rechtsstaat als moralisch gestütztes Wertesystem aufzufassen. Donald Trump lässt sich auf Kim Jong-un ein, Orbán paktiert mit antiaufklärerischen autokratischen Herrschern, die polnische Regierung greift die Gewaltenteilung an und schwächt die Unabhängigkeit der Gerichte. In Deutschland nimmt der rechtsradikale Terror zu – unsere Gesellschaft scheint sich, vergleichbar zu jener in den USA, in progressive liberale Kräfte und mal offen rassistische, mal zumindest ausländerfeindliche und deutschtümelnde Gruppierungen zu spalten.
Diese Wertekrise wird durch die Corona-Krise, von der nicht nur unsere Körper, sondern auch unsere Gesellschaft infiziert ist, verschärft. Zunächst freilich erzeugte sie positive Wirkungen. Seit März 2020 war eine neue Solidarität spürbar, dadurch ausgelöst, dass die Politik eine bisher beispiellose moralische Entscheidung getroffen hat: Um Menschenleben zu retten, das Gesundheitssystem aufrechtzuerhalten und die Infektionsketten der Pandemie zu unterbrechen, wurde die neoliberale Annahme außer Kraft gesetzt, Marktlogik sei das oberste gesellschaftliche Gebot. Während die viel verhängnisvollere Klimakrise bisher nicht dazu geführt hat, dass wir tiefgreifende wirtschaftliche Einbußen in Kauf nehmen, um das moralisch Richtige zu tun, hat das neuartige Corona-Virus kurzerhand Sand ins Getriebe der globalen Produktionsketten geworfen.
Es ist also jetzt schon aus ökonomischen Gründen klar, dass wir nach der Krise nicht genauso weitermachen können wie gehabt. Doch dafür brauchen wir ein neuartiges Gesellschaftsmodell, das auf stabileren Fundamenten als dem Projekt einer rein ökonomischen Globalisierung stehen muss. Denn diese ist angesichts des Corona-Virus wie ein Kartenhaus in sich zusammengestürzt und hat, wenn man die Finanzkrise 2008 und die absehbaren Folgen der Corona-Krise 2020 zusammennimmt, vielleicht sogar mehr Kosten verursacht, als sie im Vergleich zu einer nachhaltigeren Form des Wirtschaftens seit 1990 Gewinne eingefahren hat.2 Hier geht es nicht nur um die gigantischen Summen, die etwa der deutsche Staat einsetzen musste, um Banken und andere Unternehmen zu retten, sondern auch um die Kollateralschäden einer entfesselten Marktlogik, zu denen nicht zuletzt die negativen Auswirkungen der sozialen Medien auf die Wertvorstellungen der liberalen Demokratie gehören. Die Digitalisierung, insbesondere die rapide Ausbreitung des Internets und das Eindringen des Smartphones in unseren Alltag, hat einen Wettlauf um Daten, Lauschangriffe, gezielte Manipulationen durch Techmonopole und Cyberangriffe aus Russland, Nordkorea und China mit dem Ziel der Destabilisierung liberalen Gedankenguts ausgelöst.
Jede Krise birgt neben Risiken auch die Chance auf eine Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Corona-Krise hält uns einen Spiegel vor: Sie zeigt uns, wer wir sind, wie wir wirtschaften, wie wir denken und empfinden, und eröffnet damit Spielräume einer positiven menschlichen Veränderung. Diese orientiert sich im Idealfall an moralischer Einsicht. Wir können die gesellschaftlichen Verhältnisse nur verbessern, wenn wir mehr als früher beachten, was wir aus moralischen Gründen tun und was wir unterlassen sollen.
Ethisch unhaltbare Denkmuster zu identifizieren und Vorschläge zu ihrer Überwindung zu formulieren ist eine Aufgabe der Philosophie. Doch die Philosophie kann dies nicht allein übernehmen. Sie ist auf Kooperation mit den Natur-, Techno-, Lebens-, Geistes- und Sozialwissenschaften angewiesen. Es geht hierbei nicht nur um eine rein akademische Angelegenheit, sondern allgemein darum, wer wir als Menschen sind und wer wir in Zukunft sein wollen. Um an dieser Form der Selbsterkenntnis und der Ausarbeitung einer nachhaltigen »Vision des Guten« zu arbeiten, wie dies der US-amerikanische Philosoph Brian Leiter genannt hat, ist es unerlässlich, eine tiefgreifende Kooperation von Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft aufzubauen, die von wechselseitigem Vertrauen geprägt ist.
Dies setzt voraus, dass wir von dem tiefsitzenden Gedanken abrücken, eine Gesellschaft sei fundamental durch Wettbewerb und Verteilungskämpfe gesteuert, die man nur durch staatliche Kontrolle und Überwachung im Griff halten kann. Ziel einer aufgeklärten Gesellschaft ist vielmehr Autonomie – die Selbststeuerung ihrer Mitglieder durch moralische Einsicht. Angesichts der Bedingungen der modernen Arbeitsteilung und der Unübersichtlichkeit der komplexen globalen Produktionsketten brauchen wir einen ebenso globalen »Geist des Vertrauens«, also mehr von dem, was wir landläufig als »Solidarität« bezeichnen.3
Eine Anhäufung von Krisen (die Krise der liberalen Demokratie, Schwachstellen im Gesundheitssystem, der globale Systemwettbewerb, die aus dem Ruder laufende Digitalisierung) hat im Frühjahr 2020 einige der Systemschwächen einer Weltordnung offenbart, die beinahe exklusiv nach den Prinzipien einer ökonomischen Globalisierung organisiert war. Doch in Krisenzeiten zeigt sich, dass Solidarität und Kooperation nicht funktionieren, wenn die Märkte allein das Sagen haben, da diese auf Wettbewerb, Profitgier und zunehmend auch auf Nationalismus setzen. Dies führt der chinesische Staatskapitalismus genauso vor Augen wie die America First-Politik Donald Trumps, und leider gilt dies auch für den intraeuropäischen Wettbewerb um medizinische Güter, der umgehend nach der Ausrufung der Pandemie und den katastrophalen Szenen in Norditalien einsetzte.
Jedenfalls ist im letzten Jahrzehnt, im Zuge der zunehmenden Verbreitung der sozialen Medien (vor allem durch das Smartphone), einmal mehr sichtbar geworden, dass die Geschichte nicht automatisch zu moralisch-rechtlichem Fortschritt führt. Je mehr wir uns im Minutentakt über das Weltgeschehen informieren können, desto deutlicher scheint dieses sich in Richtung ungeahnter, beängstigender Zustände zu bewegen: vom Ende der Demokratie, neuen Pandemien, einer unaufhaltbaren Klimakrise bis hin zu einer Künstlichen Intelligenz, die unsere Arbeitsplätze und vielleicht sogar – wie in Terminator – die Menschheit insgesamt mit einer (selbstverschuldeten) Ausrottung bedroht. Angesichts dieser gigantischen Stapelprobleme stellt sich heute die dringliche, alle Bereiche der Gesellschaft betreffende Frage: Was sollen wir bloß tun?
Doch ehe wir entscheiden, ob dieser Eindruck zutreffend ist oder nicht, sollten wir erst einmal einige Begriffsklärungen vornehmen. Denn wie sollen wir über eine Sache reden, wenn wir nicht geklärt haben, was wir unter dieser Sache verstehen?
Etwas, was wir als Menschen tun bzw. unterlassen sollen, bezeichne ich im Folgenden als moralische Tatsache. Moralische Tatsachen melden allgemeine, alle Menschen betreffende Ansprüche an und definieren Kriterien, anhand derer unser Verhalten zu bewerten ist. Sie zeigen uns, was wir uns selbst als Menschen, anderen Lebewesen und der von allen Lebewesen geteilten Umwelt schulden (wie eine berühmte Formulierung des US-amerikanischen Moralphilosophen Thomas M. Scanlon lautet).4 Moralische Tatsachen teilen unser absichtliches, rational kontrollierbares Handeln in gute und böse Handlungen, zwischen denen der Bereich des moralisch Neutralen liegt, also der Bereich dessen, was erlaubt ist.
Diese drei Bereiche – das Gute, das Neutrale und das Böse – sind die ethischen Werte, deren Geltung universal, das heißt kultur- und zeitenübergreifend ist. Werte sind nicht nur positiv. Sie zeichnen nicht nur vor, was wir tun sollen, sondern eben auch, was wir unterlassen sollen. Außerdem lässt uns das moralische Nachdenken natürlich Raum für Handlungen, die weder gut noch böse sind. Vieles von dem, was wir täglich tun und treiben, untersteht keiner moralischen Bewertung, und es ist eine wichtige Aufgabe der philosophischen Ethik, den Unterschied zwischen moralisch aufgeladenem und neutralem Handeln aufzuzeigen. Nur so erkennen wir, wo Spielräume moralisch nicht eindeutig geregelter Freiheit vorliegen.
Nicht alles, was wir tun, fällt in die Kategorien des Guten und des Bösen. Viele alltägliche Handlungen sind moralisch neutral, was die Menschheit in der Vergangenheit etwa anhand der menschlichen Sexualität lernen musste. Vieles von dem, was früher als unmoralisch galt (etwa gleichgeschlechtlicher Sex), haben wir längst als moralisch neutral durchschaut – was zu moralischem Fortschritt führt.
Moralische Tatsachen werden als Aufforderungen, Empfehlungen und Verbote artikuliert. Davon lassen sich die nichtmoralischen Tatsachen unterscheiden, die von den Natur- und Technowissenschaften wie auch von den Geistes- und Sozialwissenschaften erforscht und im Erfolgsfall entdeckt werden. Die nichtmoralischen Tatsachen stellen keine direkten Ansprüche an uns. Wir wissen etwa, dass Alkoholkonsum für unseren Organismus schädlich ist, doch ergibt sich daraus alleine keine Antwort auf die Frage, ob wir Alkohol trinken sollten und wie viel. Wir wissen auch, dass wir durch die Entdeckungen der modernen Physik und ihre technische Umsetzung die Menschheit ausrotten oder ihrem Fortbestand dienen können. Doch folgt aus der Struktur des physikalisch erforschbaren Universums nicht, dass es Menschen überhaupt geben soll und wie wir sie behandeln sollen.
Wie wir Menschen behandeln sollen, die etwa unter einer neurodegenerativen Krankheit (wie Alzheimer) leiden, hängt damit zusammen, wie die Krankheit verläuft und wie sie die Persönlichkeit der Betroffenen und Angehörigen zeichnet. Doch aus der Erforschung der Krankheit alleine folgt noch lange nicht, wie wir mit den von ihr Betroffenen ethisch vertretbar umgehen sollen. Moralischer Fortschritt ist nur möglich, wenn wir anerkennen, dass dasjenige, was wir uns selbst, anderen Menschen, anderen Lebewesen und der Umwelt schulden, zwar mit den nichtmoralischen Tatsachen zusammenhängt, aus diesen aber nicht lückenlos ableitbar ist.
Wir wissen in der Ethik längst, dass moralische Fragen nicht alle auf den räumlichen und zeitlichen Nahbereich beschränkt sind. Was wir tun bzw. unterlassen sollen, betrifft in der Moderne alle Menschen der Gegenwart und Zukunft direkt oder indirekt, also auch noch nichtexistierende künftige Generationen. Außerdem gehen unsere Pflichten über den Bereich des Menschen hinaus und betreffen andere Lebewesen und die Umwelt (im Sinne der nichtanimalischen Natur).5 Die Ethik handelt von universalen Werten und überschreitet den Horizont der kleinen Gemeinschaften, in denen wir uns täglich als Mitglieder bewegen.
In der immer lauter werdenden Klage, die Wertefundamente der Aufklärung und der liberalen Demokratie seien erschüttert und die Geschichte werde zurückgedreht, wird meistens vergessen anzugeben, was Werte eigentlich sind und was genau man meint, wenn man ihnen eine Krise attestiert. Solche grundlegenden Begriffsklärungen werden seit Jahrtausenden von der Philosophie vorgenommen, und gerade sie haben immer wieder zu Aufklärungsschüben geführt.
Im vorliegenden Buch geht es um moralische Werte, die insbesondere von ökonomischen Werten unterschieden sind (s. u., S. 293 ff.). Anders, als man häufig liest, sind moralische Werte nicht subjektiv in dem Sinne, dass ihre Existenz ein Ausdruck von Wertungen ist, die Menschen (seien dies einzelne oder Gruppen) vorgenommen haben. Vielmehr sind Werte der Maßstab, an dem wir Wertvorstellungen messen. Wertvorstellungen können Individuen oder Gruppen definieren und deren Lebensführung und Gruppenzugehörigkeit bestimmen. Wertvorstellungen kann man daraufhin einordnen, ob sie zutreffen oder nicht, indem man sie an den moralischen Tatsachen bemisst.
Das Gute und das Böse bezeichnen die Extrempole unseres moralischen Nachdenkens, sie sind uns insbesondere in der Form ziemlich eindeutiger Beispiele bekannt. So stehen seit Jahrtausenden Heilige, Religionsstifter und Helden, welche die Menschheit vorangebracht haben, dafür, dass es einen moralischen Kompass gibt. Umgekehrt kennen wir spätestens seit den Gräueltaten der totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts Beispiele des radikalen Bösen, das sich im Einsatz von Massenvernichtungswaffen, totalen Kriegen und Vernichtungslagern manifestiert hat. Die Erinnerungskultur in Deutschland, die uns den Holocaust als unvergleichlichen Extremfall des Bösen vorführt, der uns immer wieder sprachlos werden lässt, erfüllt die wichtige Funktion, uns darauf hinzuweisen, dass es Böses wirklich gibt. Das Böse ist nicht mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs verschwunden, sondern tritt heute in der Gestalt von Figuren wie Assad und vielen anderen Kriegsverbrechern und Massenmördern in Erscheinung.
Das Gute und das Böse sind universale Werte: Das Gute ist universal moralisch geboten – unabhängig von Gruppenzugehörigkeit, historischem Zeitpunkt, Kultur, Geschmack, Geschlecht, Klasse und Rasse –, während das Böse universal moralisch verboten ist. In jedem Einzelnen von uns gibt es das Gute und das Böse, sie zeigen sich in unserem täglichen Denken und Handeln. Diese universalen Werte und ihre Anwendung auf konkrete, unübersichtliche Handlungssituationen, in denen wir uns täglich vorfinden, sind das Thema dieses Buches.
Es gäbe überhaupt keine Demokratie, keinen demokratischen Rechtsstaat, keine Gewaltenteilung und keine Ethik, wenn die Menschheit sich nicht immer wieder die Frage gestellt hätte, wie wir gemeinsam, jeder in jedem Moment seines Lebens, dazu beitragen können, uns moralisch als Individuen und rechtlich als politische Gemeinschaften zu verbessern. Wäre es angesichts der derzeitigen verschärften Krisenlage nicht höchste Zeit für eine neue Aufklärung? Um nicht weniger soll es im Folgenden gehen.
Ich werde dafür argumentieren, dass es moralische Leitplanken menschlichen Verhaltens gibt. Diese Leitplanken sind kulturübergreifend, sie gelten universal, und sie sind die Quelle für universale Werte im 21. Jahrhundert. Ihre Geltung ist nicht davon abhängig, dass die Mehrheit der Menschen sie anerkennt, sie sind in diesem Sinne also objektiv. In ethischen Fragen gibt es genauso Wahrheit und Tatsachen wie in anderen Bereichen des menschlichen Nachdenkens und Forschens, auch in der Ethik sind Tatsachen wichtiger als x-beliebige Meinungen. Es kommt darauf an, dass wir uns gemeinsam auf die Suche nach den moralischen Tatsachen machen, die wir bisher noch nicht erfasst haben. Denn jede Epoche bietet neue ethische Herausforderungen, und die komplexen Krisen des noch jungen 21. Jahrhunderts lassen sich ethisch nur mit innovativen Denkwerkzeugen meistern.
Dieses Buch stellt einen engagierten Versuch dar, Ordnung in das tatsächlich bestehende und wirklich gefährliche Chaos unserer Zeit zu bringen. Ich möchte daher einen philosophischen Werkzeugkasten zur Lösung moralischer Probleme entwickeln. Mein Ziel ist es, der Idee neuen Auftrieb zu geben, dass die Aufgabe der Menschheit auf unserem Planeten darin besteht, moralischen Fortschritt durch Kooperation zu ermöglichen. Wenn es uns nicht gelingt, moralischen Fortschritt unter Einbeziehung universaler Werte für das 21. Jahrhundert – und damit aller Menschen – zu erreichen, werden wir in einen Abgrund unvorstellbaren Ausmaßes geraten. Die sozioökonomische Ungleichheit auf unserem Planeten, die durch die Corona-Krise zunehmen wird, weil womöglich viele Millionen Menschen in die Armut zurückfallen werden, ist auf Dauer nicht tragfähig. Wir können daher zum Beispiel die nationalstaatlichen Grenzen nicht einsetzen, um Menschen, die aufgrund der Konsequenzen unseres eigenen Handelns für uns unvorstellbares Leid erfahren, von uns fernzuhalten. Eine solche Strategie der Einigelung ist moralisch verwerflich sowie ökonomisch und geopolitisch zum Scheitern verurteilt. Ob wir es wollen oder nicht, alle Menschen sitzen im selben Boot, d. h. auf demselben Planeten, der von einer dünnen, fragilen Atmosphäre umgeben ist, die wir durch nichtnachhaltige Produktionsketten und unverantwortliches Handeln zerstören. Die Corona-Pandemie ist ein Weckruf, sie wirkt geradezu, als habe unser Planet sein Immunsystem aktiviert, um die Hochgeschwindigkeit unserer Selbstausrottung zu bremsen und sich vor weiteren Übergriffen jedenfalls temporär zu schützen.
Es ist bedauerlicherweise völlig zutreffend, dass wir spätestens seit der Finanzkrise 2008 in eine sehr tiefe Wertekrise geraten sind. Im Zuge eines spürbaren Rückgangs der liberalen Demokratie haben wir in den letzten Jahren eine rasante Ausbreitung von Modellen autoritärer Staatsführung erlebt, für die Donald Trump, Xi Jinping, Jair Messias (sic!) Bolsonaro, Recep Tayyip Erdoğan, Viktor Mihály Orbán, Jarosław Aleksander Kaczyński und viele andere Staatsoberhäupter stehen. Hinzu kommen der Brexit, neue Formen des Rechtsradikalismus in Deutschland (die sich am rechten Rand der AfD herausgebildet haben) und das allgemeine Misstrauen mancher Gesellschaftsteile gegenüber naturwissenschaftlicher Expertise angesichts des teils menschengemachten Klimawandels. Überdies scheint eine reale Bedrohung der Arbeitswelt durch Fortschritte auf den Gebieten der Künstlichen Intelligenz, des maschinellen Lernens und der Robotik vorzuliegen, sodass manche, etwa der legendäre Unternehmer und Milliardär Elon Musk oder der jüngst verstorbene Physiker Stephen Hawking, sogar mutmaßen, wir Menschen würden in naher Zukunft von einer kommenden Superintelligenz übertrumpft, unterworfen oder ausgelöscht, die auf diese Weise die Kontrolle über die Evolution auf der Erde übernehmen werde.6
Doch nicht nur der durch den naturwissenschaftlich-technologischen Fortschritt ermöglichte Klimawandel stellt ein sogenanntes Existenzrisiko, das heißt eine Bedrohung der Existenz unserer Spezies durch Selbstausrottung dar, sondern überdies haben die beiden Weltkriege des zwanzigsten Jahrhunderts ein rasantes Aufrüsten im Bereich der Informationstechnologie, der Kodierung und Dekodierung von Nachrichten zur Folge gehabt, was seit dem Zweiten Weltkrieg zu einer Computerisierung unserer Lebenswelt geführt hat. Die jüngste Etappe der Computerisierung, die sogenannte Digitalisierung, besteht darin, dass Smartphones, soziale Medien, Suchmaschinen und Steuerungssysteme unserer Mobilität (im Pkw, Flugzeug, Schienenverkehr usw.) unsere Bewegungen und unsere Denkmuster prägen.
Dies ist ein tatsächlich unsere Existenz bedrohender Vorgang, weil diese gesamte Steuerungsarchitektur Verfahren der Künstlichen Intelligenz zum Einsatz bringt. Sie sind dabei imstande, in unsere Denkprozesse einzudringen, um uns dort so zu übertreffen wie die heutigen Schach- und Go-Programme, gegen die selbst die besten menschlichen Spieler längst keine Chance mehr haben. So gelang es vor einigen Jahren der Firma DeepMind, eine Künstliche Intelligenz namens Alpha Go zu entwickeln, welche die besten Spieler des altchinesischen Brettspiels Go schlägt, obwohl dieses noch komplexer als Schach ist.
Wer heute in den sozialen Netzwerken unterwegs ist, wird von Newsfeeds, Kurznachrichten, Bildern und Videos, die von Künstlichen Intelligenzen ausgewählt wurden, am Bildschirm gehalten. Damit spielen wir sozusagen eine Art Sozialschach gegen einen überlegenen Gegner, der uns immer mehr Zeit und Aufmerksamkeit rauben wird. Wir werden mit seriösen Nachrichten und Fake News bombardiert, bis wir die Fähigkeit, selbst zu denken, womöglich völlig verloren haben werden.
Das Rückzugsgefecht der liberalen Demokratie und des analogen Menschen, der sich zurzeit noch gegen die Steuerung durch die Software und Unternehmensinteressen wehrt, die hinter und in der Künstlichen Intelligenz stecken, gefährdet das Ideal der Moderne, das darauf setzt, dass naturwissenschaftlich-technologischer Fortschritt ausschließlich dann gelingt, wenn der moralische Fortschritt damit Schritt hält. Andernfalls verwandelt sich die Infrastruktur zur wohltätigen Steuerung unseres Verhaltens (wozu der moderne Wohlfahrtsstaat gehört) in ein dystopisches Horrorszenario, wie es von Klassikern wie Aldous Huxleys Brave New World und George Orwells 1984 oder – näher an unserer Zeit – von Science-Fiction-Serien à la Black Mirror, Electric Dreams und Years and Years entworfen wird.
Die dunklen Zeiten, in denen wir allem Anschein nach leben und um die es im Folgenden gehen wird, sind dadurch gekennzeichnet, dass das Licht der moralischen Erkenntnis teilweise systematisch, zum Beispiel durch Verbreitung von Fake News, politischer Manipulation, Propaganda, Ideologien und sonstigen Weltanschauungen, verdeckt wird.
Gegen dunkle Zeiten hilft Aufklärung. Diese setzt das Licht der Vernunft und damit moralische Einsicht voraus. Eine wichtige Grundlage der Aufklärung ist der Gedanke, dass wir in Wirklichkeit meistens wissen, was eine Situation moralisch von uns fordert. Härtefälle wie ethische Dilemmata sind selten. Ein ethisches Dilemma besteht darin, dass uns mehrere Handlungsoptionen zur Verfügung stehen, die allerdings dazu führen, dass wir das moralisch Gebotene nicht erfüllen können. Tun wir in einem Dilemma etwas Gutes, unterlassen wir in solch einem Fall automatisch etwas anderes Gutes und tun somit etwas moralisch Falsches.
Wo solche Fälle auftreten, brauchen wir klare moralische Einsichten aus anderen Situationen, um bei den großen Herausforderungen unseres Lebens unsere moralische Orientierung nicht zu verlieren. Ist unser Zugang zu unserer eigenen moralischen Einsicht dann verstellt, wird es um uns düster.
Dass wir in dunklen Zeiten leben, spüren vor allem die Ärmsten dieser Welt, weil es ihnen häufig am Allernötigsten mangelt. Während bei uns Virologen eingesetzt werden, um die Verbreitung des neuartigen Corona-Virus zusammen mit Politikern und Gesundheitsexperten einzudämmen, sind die Ärmsten – die nicht nur in der Ferne, sondern etwa auch in unseren Flüchtlingslagern zusammengepfercht leben – dem Corona-Virus und vielen anderen Krankheiten schutzlos ausgeliefert. Dafür tragen wir Wohlhabenden eine geteilte Verantwortung, die wir im Alltag verdrängen, weil unsere Geschäfte und Konsumgewohnheiten darüber hinwegtäuschen, dass wir alle im selben Boot, auf demselben Planeten sitzen.
Die Verdunkelung des moralischen Horizonts betrifft aber nicht nur die welthistorischen und weltökonomischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte, die zu den Opfern in armen Ländern geführt haben, sondern sie hat längst auch bei uns Einzug gehalten, die wir mit dem Wertekanon des demokratischen Rechtsstaats aufgewachsen sind, den es ohne die erste große Welle der Aufklärung im achtzehnten Jahrhundert niemals gegeben hätte. Die Corona-Pandemie hat tieferliegende Systemschwächen in unseren Gesundheitssystemen aufgedeckt und offenbart außerdem moralische Missstände in unserer Art und Weise, übereinander nachzudenken. Nationalistische Politiker wie Orbán, Xi Jinping, Putin und Trump nutzen die Gunst der Stunde, um unter dem Deckmantel der Pandemie politische Ziele durchzusetzen, die vorher undenkbar gewesen wären (wozu etwa auch die Schließung der Grenzen der USA für europäische Reisende gehört, auf welche die EU ihrerseits mit Grenzschließungen reagiert hat). Der durch den virologischen Imperativ, dass wir Infektionsketten unterbrechen und die statistischen Kurven in den Griff kriegen müssen, begründete politische Not- und Ausnahmezustand wird ausnahmslos in jedem Land auf die eine oder andere Weise zur politischen Profilierung einzelner Politiker und Parteien, aber auch ganzer Nationalstaaten eingesetzt. Deutschland zum Beispiel stellt die überlegene Ausrüstung und Organisation der eigenen Gesundheitssysteme weltweit zur Schau – dies auch als Teil eines symbolischen Wettrüstens vor allem gegen China, das sich als perfekter Krisenmanager aufspielt, um auf diese Weise sein Modell einer kapitalistischen Diktatur zu verbreiten, das sich mit kommunistischen Floskeln ziert.
Es ist beunruhigend, dass auch hierzulande Chinas Maßnahmen bewundert werden und der digitale »Überwachungskapitalismus« jetzt erprobt wird, indem wir alle in unserer räumlichen Isolation eines social distancing Daten produzieren wie nie zuvor und damit Schritt für Schritt unsere Privatheit aufgeben.7 Denn wir sitzen jetzt fast alle den ganzen Tag vor den Bildschirmen. Arbeitsplatz und privater Rückzugsort werden in das neue Gebilde des Home Office verschmolzen, und es ist zu erwarten, dass viele Unternehmen die Gunst der Stunde ausnutzen und zur Einsparung von Raumkosten auch nach der Corona-Krise in die Privathaushalte eindringen werden. Das sind fragwürdige Prozesse, die faktisch einen neuen »Strukturwandel der Öffentlichkeit« vorantreiben, indem sie den letzten Ort der Privatheit – die Wohnung, das Eigenheim – gänzlich ans öffentliche Netz der Daten- und Warenproduktion anbinden.8
Solche Extremmaßnahmen verstärken die Wertekrise der liberalen Demokratie, die durch das Solidaritätsgefühl des Frühjahrs 2020 nicht überwunden, sondern nur gestundet ist. Die regressiven Kräfte des Rechtspopulismus warten am anderen Ende des Corona-Tunnels schon auf uns, und es kommt darauf an, dass wir uns jetzt gegen diese Gefahr impfen, indem wir geeignete Denkformate entwickeln, die uns eine bessere Einsicht in dasjenige ermöglichen, was wir aus moralischen Gründen tun bzw. unterlassen sollen.
Die mit dem Paukenschlag der Französischen Revolution einsetzende Moderne beruht auf der Utopie der Aufklärung, die im Wesentlichen in der Idee besteht, dass unsere Institutionen – und damit an erster Stelle der Staat – zu Instrumenten moralischen Fortschritts werden, was nur möglich ist, wenn Wissenschaft, Wirtschaft, Politik sowie jede*r einzelne Bürger*in9 durch ihr / sein alltägliches Verhalten dazu beitragen, dass wir mit bestem Wissen und Gewissen individuell und kollektiv versuchen, das moralisch Richtige zu tun. Die Utopie der Aufklärung schien durch die Französische Revolution zum Greifen nahe, entglitt dann aber durch eine heftige Gegenreaktion meist nationalistischer Interessen – angefangen mit den Terrorwellen der verschiedenen revolutionären Fraktionen in Frankreich und der auf sie folgenden napoleonischen Gewaltherrschaft.
Allerdings sind wir in vielerlei Hinsicht weiter als das späte achtzehnte und das neunzehnte Jahrhundert, im Guten wie im Schlechten. Wir haben gesehen, in welche Abgründe es führt, wenn man naturwissenschaftlich-technologischen Fortschritt vorantreibt, ohne moralisch mit gleichem Tempo voranzukommen. Denn daraus haben sich zum Beispiel Massenvernichtungswaffen entwickelt, die im zwanzigsten Jahrhundert schon einmal punktuell auf die Menschheit losgelassen wurden. Und ohne den entfesselten ökonomischen Fortschritt, der mit der modernen Technik einhergeht, stünde uns keine Klimakatastrophe bevor.
Wir können den Gefahren neuer Kriege durch Erstarken des Nationalismus sowie der ökologischen Krise, die Hunderte Millionen von Menschen bedroht, nur durch moralischen Fortschritt begegnen. Es ist das Gebot der Stunde, dass sich der Mensch auf seine moralischen Fähigkeiten besinnt und anzuerkennen beginnt, dass nur eine globale Kooperation jenseits nationalstaatlicher Egoismen dazu führt, die sich ständig beschleunigende Bewegung in Richtung eines welthistorischen Abgrunds aufzuhalten.
Moralischer Fortschritt besteht darin, dass wir besser erkennen, was wir tun bzw. was wir unterlassen sollen. Er setzt Erkenntnis voraus und besteht im Allgemeinen darin, dass wir moralische Tatsachen, die teilweise verdeckt waren, aufdecken. Dasjenige, was wir tun oder unterlassen sollen, hängt damit zusammen, wie die Wirklichkeit, also die Tatsachen beschaffen sind. Welche Maßnahmen zur Reduktion umweltschädlicher Emissionen geeignet sind, wie man Krankheiten diagnostiziert und heilt, wie man Ressourcen gerecht verteilt, welche Formen von Äußerungen als psychische Gewalt klassifiziert werden müssen, wie man sexuelle Belästigung und andere Formen von durch Macht und Gewalt geprägter Gender-Diskriminierung überwindet, wie wir Sterbehilfe regulieren sollten – all dies sind moralisch-rechtliche Fragen, die man nur beantworten kann, wenn man sich der Wirklichkeit stellt.
Wie die nichtmoralischen Tatsachen beschaffen sind, können wir im Idealfall durch kooperative natur-, geistes-, sozial- und technowissenschaftliche Forschung bestimmen, das heißt dadurch, dass wir Universitäten und andere Forschungseinrichtungen damit beauftragen, die Wirklichkeit mit Blick auf die dringenden moralischen Fragen unserer Zeit zu untersuchen. Die Philosophie ist auch auf Naturwissenschaft und Technologie angewiesen, sie darf dasjenige, was wir über Menschen, andere Tiere und die Umwelt wissen, natürlich nicht ignorieren, sondern muss dieses Wissen in ein philosophisch informiertes Menschenbild integrieren. Umgekehrt ist es genauso wichtig, dass Natur- und Technowissenschaftler, aber auch Wirtschaftswissenschaftler, die sich vermehrt zu philosophischen Themen äußern, den Forschungsstand der Philosophie zur Kenntnis nehmen. Ohne eine solche disziplinenübergreifende Kooperation, in der alle Gesprächspartner die Erkenntnisse der anderen ernst nehmen und in ihre Sprache übersetzen, ist das Ideal der Aufklärung zum Scheitern verurteilt.
Wenn wir herausfinden wollen, was wir angesichts einer moralisch auffälligen und uns womöglich alle betreffenden Gefahrenlage tun bzw. vermeiden sollen, müssen wir jede Form der Expertise berücksichtigen, die uns hilft, die nichtmoralischen Tatsachen möglichst genau in Rechnung zu stellen. Wir müssen zum Beispiel heute dringender denn je zur Kenntnis nehmen, welche massiven Umweltrisiken mit unserem Konsumverhalten und unseren globalen Produktionsketten verbunden sind, damit wir entsprechende moralische, politische und sozioökonomische Maßnahmen ergreifen können. Ob wir mehr oder weniger Windkraft benötigen, um baldmöglichst unsere Klimaziele zu erreichen, spielt eine entscheidende Rolle für die Frage, wie viele Windräder wir wo genau aufstellen sollten. Gleichzeitig müssen wir andere nichtmoralische, die Umwelt ebenfalls betreffende Parameter berücksichtigen (zum Beispiel: Welche Stürme entstehen an welcher Stelle? Wie viel Wald dürfen wir für Windräder roden, ohne damit die grüne Lunge einer Region anzugreifen?), damit wir durch sinnvolle Kooperation von Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Zivilbevölkerung unseren bereits lebenden Kindern sowie den bisher noch ungeborenen Menschen eine möglichst gute Zukunft bereiten können.
Dieser Anspruch ist durch das Eindringen postmoderner Beliebigkeit ins Wanken geraten, die uns immer noch weismachen möchte, es gebe letztlich gar keine objektive Wahrheit, keine Tatsachen, die man mittels geeigneter Forschungsmethoden ans Licht bringen könne, sondern immer nur politisch angehauchte Meinungen. Viele meinen sogar, die Wissenschaft sei von letztlich grundloser, politisch motivierter Meinungsmache niemals zu befreien, sodass inzwischen insbesondere an führenden US-amerikanischen und britischen Universitäten die Vorstellung verbreitet wird, Universitäten seien ein Ort der Austragung identitätspolitischer Konflikte.
In diesem Sinne behauptet der postmoderne Wissenssoziologe Bruno Latour seit Jahrzehnten, dass es keine Tatsachen (matters of fact), sondern nur verschiedene Anlässe zu Sorgen (matters of concern) gibt, die in Laboren untersucht bzw. hergestellt werden. Konkret meint er, Ramses II. könne nicht, wie Untersuchungen der Mumie ergeben haben, an Tuberkulose verstorben sein, da der Tuberkuloseerreger erst seit dem neunzehnten Jahrhundert bekannt sei.10 Latour glaubt, dass wir die Umwelt nicht deswegen schützen sollten, weil wir uns selbst und andere Lebewesen sonst in massive Gefahr bringen (wie wir naturwissenschaftlich erkannt haben), sondern deswegen, weil es ein »Parlament der Dinge«, eine Art ökologischen Bundestag gebe, in dem Regenwälder, Insekten und die Ozonschicht stimmberechtigt seien.11 Latour fordert wie viele andere postmoderne Theoretiker der ersten Stunde seit den 1980er-Jahren dazu auf, die Tatsachen außer Acht zu lassen und sich stattdessen sozial für die Unterdrückten einzusetzen, wozu ihm zufolge neuerdings eben auch die Umwelt gehört.
Doch diese Form der Identitätspolitik ist nachweisbarer Unsinn, da sie auf einer Bestreitung von Tatsachen beruht. Hätte Latour mit seiner Wissenschaftstheorie recht, könnten wir das Corona-Virus einfach abschaffen, indem wir aufhörten, es in Laboren zu erforschen, da es nur dann wirksam wäre, ja überhaupt nur dann existierte, wenn es entdeckt (bzw. dann wohl eher: erfunden) würde. Das ist postmoderner Unsinn.
Es kann ohne Kenntnisnahme der Wirklichkeit keine sinnvolle Beantwortung dringender moralischer Fragen geben. Das kennen wir alle aus der eigenen Lebenserfahrung: Wer Tatsachen zu lange ignoriert und der Wirklichkeit ausweicht, verstrickt sich immer tiefer in eine Lebenskrise. Irgendwann muss man sich den Tatsachen stellen und sich fragen, wer man ist und wer man sein will. Da hilft die postmoderne Leugnung von Wirklichkeit, Tatsachen, Erkenntnis und Wahrheit nicht weiter, wie man an fast jeder Rede des derzeitigen amerikanischen Präsidenten sieht, der sicherlich ganz einverstanden ist mit der postmodernen Meinung, es gebe keine Wahrheit und Wirklichkeit, sondern immer nur einen Ausdruck von Gruppenzugehörigkeit.
Postmoderne Identitätspolitik ist bei genauerer Betrachtung genauso zerstörerisch wie eine wild gewordene Digitalisierung, die mit der Aussicht flirtet, den Wohlfahrtsstaat, ja die Demokratie selbst zugunsten chinesischer Regierungsformate zu ersetzen und den wirtschaftlichen Aufschwung durch Computerisierung und Automatisierung industrieller Prozesse gnadenlos voranzutreiben.
Die Moderne als Ideal der Aufklärung, das zum demokratischen Rechtsstaat geführt hat, steht von allen Seiten unter Beschuss, und wir sind auf unterschiedliche Weise von dieser Erschütterung allesamt zutiefst irritiert. Gegen diese schleichende Erosion der Grundfeste des demokratischen Rechtsstaats – die im engen Zusammenhang mit der postmodernen Beliebigkeit steht – entwickele ich in diesem Buch die Grundzüge einer neuen Aufklärung, die ich Neuen Moralischen Realismus nennen möchte.12
Wir erleben, wie gesagt, im Moment eine Verdunkelung des geschichtlichen Horizonts. Die global miteinander vernetzte Menschheit arbeitet zurzeit an ihrer eigenen Ausrottung, wozu die globalisierten Produktionsketten teils unsinniger Konsumgüter beitragen, die nur aus Profitgier auf Kosten der Menschheit hergestellt werden. Niemand braucht so häufig ein neues Automobil wie diejenigen, die sich alle paar Jahre eines leisten können und wollen, weil sie die neueste Innenausstattung und Technologie bewundern. Dasselbe gilt für Smartphones, Tablets, Kleidungsstücke und für die vielen Luxusgüter, die wir uns selbst und unseren Kindern kaufen, ohne zu merken, dass wir deren Zukunft damit beschädigen. Wir klagen über Plastik und sehen, dass wir damit unsere Meere zerstören, in denen wir gerne schwimmen und fischen wollen, und kaufen gleichzeitig Plastikspielzeug, das Meeresszenen nachstellt.
Unser Konsumverhalten ist durch und durch widersprüchlich. So setzt man auf Digitalisierung, um etwa das Reisevolumen der Wirtschaftswelt zu reduzieren, übersieht aber leicht, dass die Digitalisierung ebenfalls zur ökologischen Krise beiträgt. Auf einer Tagung, zu der ich eingeladen war und die ein Ministerium eines deutschen Bundeslands ausgerichtet hat, um die Gefahrenlage sozialer Medien für den demokratischen Rechtsstaat zu sichten, war man stolz darauf, dass die Tagung per Livestream auf YouTube ausgestrahlt wurde. Soziale Medien für das Problem zu halten und sie gleichzeitig einzusetzen, um gegen sie Widerstand zu leisten, ist ein ziemlich offenkundiger Widerspruch.
Diese vielen Widersprüche, die uns alle täglich beschäftigen, sind keineswegs harmlos. Die Frage, ob wir moralischen Fortschritt erreichen, der notwendig ist, um den potenziell auch gefährlichen naturwissenschaftlich-technologischen Fortschritt in die richtigen Bahnen zu lenken, beginnt in unserem Alltag. Physik und Chemie haben moderne Infrastrukturen und die Aufbereitung von Trinkwasser hervorgebracht, aber auch die Atombombe und Chemiewaffen. Naturwissenschaftlich-technologischer Fortschritt allein garantiert ebenso wenig wie wirtschaftlicher Wohlstand, dass Menschen das moralisch Richtige tun und institutionell umsetzen. Jeder von uns ist in jedem Augenblick seines Lebens dazu aufgerufen, Gutes zu tun, um das Ausmaß des Bösen und der Verwüstung zu reduzieren. Verantwortliches Handeln findet nicht nur irgendwo »da draußen« oder »da oben« bei einflussreichen Menschen in der Politik, den Medien und der Wirtschaft statt, sondern bei jedem von uns.
Als Beispiel können wir eine fiktive Person anführen, die ich »Antje Kleinhaus« nenne (in der Hoffnung, dass niemand wirklich so heißt). Antje wohnt in Prenzlauer Berg, hat ein afrikanisches Patenkind, spendet für Brot für die Welt und hat im Allgemeinen Mitgefühl mit den Migrantenkindern, die, wie sie abends im Fernsehen sieht, auf Lesbos von Teilen der Zivilbevölkerung und vom europäischen Grenzschutz drangsaliert werden. Sie ist jeden Tag aufs Neue über die gegenwärtig dunklen Zeiten entsetzt und versucht ihre Bekannten davon abzubringen, die AfD zu wählen, da sie für Toleranz und Weltoffenheit ist. Eines schönen Tages möchte ihre kleine Tochter Luna ihre neue Kindergartenfreundin Aişe zum Kindergeburtstag ins Haus Kleinhaus einladen. Allerdings findet Antje, dass Aişe dazu irgendwie nicht passt und dass sie ja eine ganz andere Kultur habe, da ihre beiden Eltern aus der Türkei nach Deutschland gekommen sind und Aişe gebrochen Deutsch spricht. Außerdem gibt es Pizza Salami, und Antje möchte Aişe nicht mit Schweinefleisch konfrontieren. Um Aişes Kultur anzuerkennen, wird sie letztlich nicht eingeladen, weil es in Antjes Augen auch für Aişe besser ist, in ihrem Milieu glücklich aufzuwachsen, genauso wie ihre Spenden für ihr afrikanisches Patenkind ja dazu dienen, dass es in Afrika, in seiner Heimat aufwachsen darf und nicht etwa den harten Weg nach Deutschland auf sich nehmen muss.
Diese Form der Verlogenheit zeigt, dass wir alle, selbst die scheinbar ganz unschuldige und sogar ein wenig progressive Antje Kleinhaus, an irgendeiner Stelle potenziell gefährliche Vorurteile haben. Wer in der U-Bahn zusammenzuckt, wenn jemand in die Bahn steigt, der irgendwie »wie ein islamischer Terrorist« aussieht, drückt damit ein potenziell rassistisches, jedenfalls xenophobes Vorurteil aus. Stellen Sie sich bitte einmal die Frage, wie ein typischer Deutscher aussieht! Wenn Sie glauben, darauf eine Antwort zu haben, haben Sie soeben ein rassistisches Vorurteil kennengelernt, das Sie haben – da es weder einen typischen Deutschen noch gar das Aussehen eines typischen Deutschen gibt.
Umweltverschmutzer sind wir alle, zumal die Deutschen, zu deren Geschichte die Erfindung eines durch einen Verbrennungsmotor angetriebenen Automobils durch Gottlieb Daimler und Carl Friedrich Benz gehört. Das schöne Baden-Württemberg hat in seiner Historie nicht nur die Gründung der Partei Die Grünen, sondern eben auch die Erfindung jener Form von Mobilität zu verzeichnen, die mit dazu führt, dass wir ökologische Politik überhaupt brauchen.
Um all diese Widersprüche aufzulösen, brauchen wir nicht nur große globale und politische Lösungen, sondern müssen gleichzeitig bei uns selbst, bei unseren eigenen Vorurteilen und unserem eigenen Handeln anfangen. Moralischer Fortschritt ist nur dann möglich, wenn wir anerkennen, dass das Böse nicht nur »da draußen«, etwa bei den Amis, den Milliardären, den Saudis, den Chinesen, den russischen Hackern oder wem auch immer stattfindet, dem man die Schuld an den dunklen Zeiten in die Schuhe schieben möchte.
Neben der Klimakrise ist eine wichtige Gefahrenlage in unserem Land derzeit durch politischen Extremismus und den damit einhergehenden Terrorismus gegeben, der in den letzten Jahren zu politischen Morden (Mordfall Walter Lübcke) und Terroranschlägen wie jüngst in Hanau geführt hat. Dies ist unter anderem das Ergebnis eines grundlegenden Problems, um das es in diesem Buch auch gehen wird: der postfaktischen Gefühlsduselei. Diese besteht darin, dass die Herstellung von Gruppenzugehörigkeit und Mehrheiten durch teilweise gezielt eingesetzte Narrative der Identitätsbildung für kleine und große Entscheidungen eine größere Rolle spielt als der Versuch, durch das Erheben rational kommunizierbarer Gründe und die Feststellung von Tatsachen gemeinsam daran zu arbeiten, einen für alle Menschen erkennbar richtigen Handlungsweg zu wählen. Vereinfacht gesagt, zählen heute kurze, gefühlsbetonte Nachrichten im Twitter-Format, Bilderserien auf Instagram oder Schlagwörter einer politischen Auseinandersetzung, die sich medial hochschaukelt, häufig mehr als die relevanten, nachprüfbaren Tatsachen, die auf dem Spiel stehen.
Deswegen ist es, wie gesagt, an der Zeit, den Hauptgedanken der Aufklärung wieder ins Spiel zu bringen: dass man durch Einsatz von Vernunft gemeinsam daran arbeiten kann, herauszufinden, was wir tun und was wir unterlassen sollen. Allerdings bedarf die Aufklärung eines Updates, um sich gegen Gedankengebäude zu immunisieren, die versuchen, uns weiszumachen, es gebe in moralischen Fragen keine universal akzeptierbaren, für alle Menschen gerechten Lösungen, sondern immer nur eine Verteidigung des Rechts des Stärkeren. Solche Gedankengebäude werden deswegen im Folgenden allgemein nachvollziehbar kritisiert und zurückgewiesen. Somit ist dieses Buch ein Eröffnungszug einer neuen Aufklärung, auf deren Notwendigkeit schon andere hingewiesen haben.13
Die neue Aufklärung strebt einen Ko-immunismus an, um eine gelungene Formulierung Peter Sloterdijks (mit einem gänzlich anderen Sinn) zu verwenden: Es geht darum, für jedes Zeitalter den Wertekanon von Freiheit, Gleichheit, Solidarität usw. inhaltlich neu zu justieren und die jeweilige Gefahrenlage einzuschätzen, die mobilisiert wird, um die Vernunft zu Fall zu bringen. Denn die Vernunft hat stets mit Unvernunft zu ringen, wofür es viele Gründe gibt. Vermutlich lag der amerikanische Philosoph Stanley Cavell ganz richtig, als er in seinem Hauptwerk Der Anspruch der Vernunft vermutete: »Nichts ist menschlicher als der Wunsch, seine Menschlichkeit zu verneinen.«14
Mein Buch richtet sich an den größtmöglichen Kreis von Menschen, die von der derzeitigen spür- und wahrnehmbaren Verrohung der gesellschaftspolitischen Debatte irritiert und für den Versuch offen sind, ihre Vernunft zum Zwecke des moralischen Urteils einzusetzen. Man kann nicht mit allen reden, um sie davon zu überzeugen, dass kommunizierbare, mit anderen Menschen teilbare Gründe das moralische Fundament gelingenden Zusammenlebens sind. Die Kraft von Argumenten kann etwa gegen rechtsradikale Gewalttäter und die geistigen Brandstifter, die sie anstacheln, vermutlich so wenig ausrichten wie gegen notorische Leugner des Klimawandels oder gegen Impfgegner. In einer Gesellschaft, deren Institutionen sich aber grundsätzlich um die Erkenntnis der Wahrheit, die Anerkennung von Tatsachen und das Prinzip bemühen, dass jeder Mensch jeden anderen in moralischen Fragen grundsätzlich gleich behandelt, gedeiht das geistige Böse der Brandstifter weniger leicht als in einer Debattenlage, in der statt Gründen Schlagwörter und statt fehleranfälliger Argumentationen das Aufrufen von Gefühlslagen Durchsetzungskraft hat. Das postfaktische Zeitalter, das durch soziale Medien gezielt verstärkt wird, ist der Boden, auf dem Radikalisierungen blühen, seien diese nun religiöser, politischer oder sonstiger Art. Es hat keinen Zweck, sich mit einem Hassprediger des IS oder einem linksradikalen Stalinisten zu unterhalten, um durch einen Austausch von Gründen festzustellen, wer recht hat, weil die Grundregeln eines solchen Austauschs von der Ideologie des Gesprächspartners nicht akzeptiert werden.
Radikale Intoleranz, deren Ziel es ist, die Grundlagen des demokratischen Rechtsstaats mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln (Gewalt gegen Unschuldige eingeschlossen) zu unterminieren, ist nichts, was man tolerieren müsste. Deswegen richtet sich dieses Buch an diejenigen, die den Wunsch haben, sich rational, das heißt nicht nur von ihren persönlichen Meinungen getrieben, mit der Frage zu beschäftigen, ob es moralische Tatsachen und moralischen Fortschritt in dunklen Zeiten gibt und wie wir eine Werteordnung des 21. Jahrhunderts auf der Grundlage universaler Werte gestalten können. Dass es zunehmend Menschen gibt, die sich dafür nicht interessieren, ist Teil des Problems, zu dessen Lösung ich mit meinen Überlegungen aus philosophischer Sicht beisteuern möchte.
Im vorliegenden Kapitel geht es um die ethischen Grundbegriffe der neuen Aufklärung, die sich aus einigen Kernthesen ergeben. Die Kernthesen des Neuen Moralischen Realismus15 lauten:
Kernthese 1: Es gibt von unseren Privat- und Gruppenmeinungen unabhängige moralische Tatsachen. Diese bestehen objektiv.
Kernthese 2: Die objektiv bestehenden moralischen Tatsachen sind wesentlich durch uns erkennbar, also geistabhängig. Sie richten sich an Menschen und stellen einen Moralkompass dessen dar, was wir tun sollen, tun dürfen oder verhindern müssen. Sie sind in ihrem Kernbestand offensichtlich und werden in dunklen Zeiten durch Ideologie, Propaganda, Manipulation und psychologische Mechanismen verdeckt.
Kernthese 3: Die objektiv bestehenden moralischen Tatsachen gelten zu allen Zeiten, in denen es Menschen gab, gibt und geben wird. Sie sind von Kultur, politischer Meinung, Religion, Geschlecht, Herkunft, Aussehen und Alter unabhängig und deswegen universal. Die moralischen Tatsachen diskriminieren nicht.
Kernthese 1 werde ich als moralischen Realismus ansprechen. These Nummer 2 betrifft uns Menschen als diejenigen freien geistigen Lebewesen, an die moralische Ansprüche ergehen. Sie nenne ich deswegen Humanismus. Nummer 3 schließlich bezeichnet man üblicherweise als Universalismus.16
Als einprägsamen Slogan dieses Kapitels können wir zwei fiktive Staatenkonzepte miteinander kontrastieren. Das erste nenne ich PRN. P steht für Pluralismus, R für Relativismus und N für Nihilismus. Die Konstellation von Wertepluralismus, Werterelativismus und Wertenihilismus halte ich für ein Übel, weil darunter insgesamt die Idee zu verstehen ist, dass moralische Kodizes, also Wertesysteme, einfach nur dadurch entstehen und aufrechterhalten werden, dass sich eine mehr oder weniger beliebige Gruppe von Menschen ihnen verschreibt. Werte sind diesem Modell zufolge Glaubenssätze, die eine Gruppe zusammenhalten, sodass ihre Geltung auch nur auf eine Gruppe beschränkt ist.
Ein Beispiel dafür wären die Wertvorstellungen einer evangelikalen, fundamentalistisch-christlichen Gemeinde, die jegliche Form von Abtreibung sowie jeglichen Alkoholkonsum, gleichgeschlechtlichen Sex und in vielen Fällen sogar Kaffee und Tee als moralisch abwegig, da in den Augen Gottes verwerflich betrachtet. Viele christlich-fundamentalistische Gruppen, etwa die Zeugen Jehovas, glauben auch, es gebe nur einige auserwählte Menschen, an die sich Gott mit seinen moralischen Geboten richte. Die meisten Menschen sind in ihren Augen von vornherein verdammt und werden entweder in der Hölle schmoren oder einfach ausgelöscht.
Weniger radikal (aber genauso falsch) ist die Idee, dass es »deutsche« Werte wie Pünktlichkeit und Präzision gebe, die etwa in Italien nicht gelten, wo man sich nicht an den Minutentakt der Uhrzeit halte und keinen großen Wert darauf lege, Arbeitsvorgänge mit deutscher Genauigkeit auszuführen. Diese Vorstellung hatte fatale Folgen: Während Italien in der Corona-Krise dringend die logistische und finanzielle Hilfe anderer europäischer Länder gebraucht hätte, um die Überlastung seines Gesundheitssystems durch schwere Verläufe der COVID-19-Erkrankung in den Griff zu bekommen, weigerten sich seine europäischen Partner zunächst, diese anzubieten. In Deutschland hörte man vermehrt, das Problem in Norditalien sei eben ein Ergebnis kultureller Defizite – »italienisches Chaos« halt. Ein moralisch verwerfliches, nachweisbar falsches Stereotyp. Es trifft nicht zu, dass das norditalienische Gesundheitssystem aus irgendwelchen kulturellen Gründen durch die Corona-Pandemie an seine Grenzen gekommen ist. Die furchtbare Tragik in Norditalien und andernorts ist kein Ausdruck lokaler Kulturprobleme, sondern könnte genauso gut durch die Ausbreitungslogik des Virus zu erklären sein, die bisher noch nicht geklärt ist, weil uns die Daten und Studien dafür fehlen. Dass Deutschland mehr Intensivbetten pro Einwohner als Italien hat, liegt nicht an etwaigen »deutschen Werten«, sondern an der Organisation unseres Gesundheitssystems und unseren besser aufgestellten Staatsfinanzen. Nationalistischer Unsinn kann vermieden werden, wenn wir moralische Klarsicht beweisen, ohne die es keine Ethik, keine rationale Erforschung der moralischen Tatsachen geben kann.
Gegen PRN verteidigt die neue Aufklärung das Ideal einer »Republik der Humanistischen Universalisten« (RHU), deren moralphilosophische Grundverfassung, wie wir sehen werden, erfreulicherweise weitgehend unserem Grundgesetz entspricht. R steht hierbei für Realismus, H für Humanismus und U für Universalismus.
Das Grundgesetz hat in den letzten siebzig Jahren auch deswegen progressiv gewirkt, weil es als Ergebnis dieser dunklen Zeit zustande gekommen ist. Selbst die nationalsozialistische Diktatur hat die Lichter der Aufklärung nicht gänzlich ausblasen können. Das ist jetzt keine Empfehlung zu deutschnationalistischer Selbstüberschätzung und auch kein Plädoyer für einen harmlosen Verfassungspatriotismus, sondern der Hinweis auf eine Konstellation, die sich als Reaktion auf den schlimmsten Abgrund der deutschen Geschichte ergeben hat.
Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland formuliert einen Wertekatalog mit universalem Anspruch, der nicht nur deutsche Staatsbürger (die offensichtlichen Adressaten dieses Texts), sondern alle Menschen betrifft. Es ist eine keineswegs wertneutrale Grundlage, auf der sich ein politischer Parteienkampf entfaltet, der sogar in einer Aufhebung der Demokratie selbst resultieren darf. Deswegen ist unsere heutige Wertekrise zugleich eine Demokratiekrise: Wer den Universalismus beschädigt, wendet sich gegen die Idee, dass unsere Gemeinschaft darauf aufbaut, dass wir alle Menschen sind, die allein schon deshalb bestimmte Rechte und Pflichten haben. Dazu gehören das Recht auf freie Entfaltung unserer Persönlichkeit, das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, die Gleichberechtigung der Geschlechter, das Recht darauf, vor Gericht nicht aufgrund von Geschlecht, Sprache, Herkunft, Einkommen usw. benachteiligt zu werden.
Gerne wird übersehen, dass aus unseren Grundrechten Pflichten folgen: Wer das Recht hat, etwa durch rassistische Stereotype oder Homophobie nicht benachteiligt zu werden, hat genau deswegen auch die Pflicht, niemand anderen auf diese Weise zu benachteiligen. Die Grundrechte sollen uns zu unseren Menschenrechten verhelfen. Zu den Menschenrechten gehört vieles, was wir rechtlich nicht kodifiziert haben: das Recht auf Wohnraum, das Recht auf Umweltschutz (der es uns ermöglicht, hinreichend saubere, unserem Wohlempfinden als Menschen entsprechende Luft zu atmen), das Recht auf Freizeit, das Recht auf Rente und überhaupt auf alles, was dafür sorgt, dass wir in einer solidarischen Gemeinschaft leben können, deren Ziel es ist, moralischen Fortschritt und Kooperation zu begünstigen.
Ich werde im vorliegenden Kapitel dafür argumentieren, dass moralische Tatsachen weder in Gott noch in der allgemeinen Menschenvernunft noch in der Evolution, sondern in sich selbst begründet sind. Wie viele andere Tatsachen auch bedürfen sie keiner Begründung, sondern einer Erkenntnis, die es erlaubt, ihre Konturen zu erfassen. Es gibt moralische Selbstverständlichkeiten, etwa: Du sollst keine Neugeborenen quälen. Niemand, weder ein Chinese noch ein Deutscher, Russe, Afrikaner oder Amerikaner; kein Moslem, Hindu, Atheist usw. wird daran ernsthaft zweifeln. Es gibt sehr viele solcher moralischen Selbstverständlichkeiten, die alle Menschen sofort einsehen – was wir aber aus dem Blick verlieren, weil uns in moralischen Fragen meistens die schwierigen, komplexen moralischen Probleme beschäftigen, in denen Gemeinschaften voneinander abzuweichen scheinen.
Es gibt keinen moralischen Algorithmus, keine Regel und kein Regelsystem, das alle moralischen Probleme ein für alle Mal abhandelt.
Ein Beispiel kann das illustrieren. Bis vor kurzem dachten viele Menschen (und viele denken es immer noch), es sei völlig in Ordnung, ja sogar geboten und wünschenswert, Kinder körperlich zu züchtigen. Vielleicht dachten in der Vergangenheit sogar manche Kinder, das täte ihnen gut, weil man ihnen dies tagein, tagaus unter Hinweis auf vermeintliche Tatsachen weismachte. Körperliche Züchtigung, so hätte man glauben können, ist zwar unangenehm, aber sinnvoll, genauso wie z. B. eine Grippeschutzimpfung. Doch die in der Moderne erst langsam entstehenden Disziplinen der wissenschaftlichen Psychologie, Soziologie, Religionswissenschaft und Neurobiologie haben uns mittlerweile gezeigt, dass körperliche Züchtigung traumatisiert und dass Gewalt und Grausamkeit in der Familie sogar eine wichtige Grundlage für totalitäre Regime sind, die auf häuslicher Gewalt aufbauen.
Es ist natürlich prinzipiell denkbar, allerdings ausgesprochen unwahrscheinlich, dass es in fünfzig Jahren Erkenntnisse gibt, die zeigen, dass körperliche Züchtigung doch entscheidend zur Reifung beiträgt und dass mit heutigen Maßstäben sanft erzogene Kinder zu brutalem kapitalistischen, die Umwelt zerstörenden Konsum neigen, sodass wir wieder zur Rute greifen müssen. Doch selbst wenn das so wäre, wären die zukünftigen Gründe, die uns als Rechtfertigung körperlicher Strafen einleuchten, ganz andere als diejenigen in der Vergangenheit, weil man damals eben die erst noch zu entdeckenden Tatsachen nicht kannte.
Daraus, dass wir uns in moralischen Fragen täuschen können, folgt nicht, dass es keinen moralischen Fortschritt gibt.
In diesem ersten Kapitel geht es darum, die drei Kernthesen von Realismus, Humanismus und Universalismus zu entwickeln und diese insbesondere gegen Wertepluralismus, -relativismus und -nihilismus, also PRN, zu verteidigen. Um Ihnen einen Überblick über die Gedankenführung zu geben und einige mögliche Missverständnisse von vornherein aus dem Weg zu räumen, möchte ich zunächst kurz erläutern, worum es sich bei PRN genauer handelt.