Mörderische Hitze - Beate Baum - E-Book

Mörderische Hitze E-Book

Beate Baum

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Beschreibung

Andreas soll seinen Kollegen Helmut Salzinger getötet haben. Seine Freundin Kirsten ist fassungslos und bittet ausgerechnet ihren Ex-Freund, den Privatdetektiv Dale, um Hilfe. Sehr bald führen die Nachforschungen in einen Sumpf aus Korruption und Bestechung. Und Andreas verstrickt sich immer tiefer in Widersprüche. Mörderische Hitze erschien erstmals 2006 als Aufbau-Taschenbuch. »Ein Krimi mit Lokalkolorit – da stellen sich nicht wenigen die Nackenhaare auf. Doch es gibt Ausnahmen: eine heißt Beate Baum«, befand die FREIE PRESSE.

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Inhaltsverzeichnis

Disclaimer

Vorwort

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

Bücher von Beate Baum

Impressum

Impressum

Disclaimer

Der Inhalt dieses Buches ist rein fiktiv und soll ausschließlich der Unterhaltung seiner Leserschaft dienen. Bis auf die Stadt Dresden, Dresdner Straßennamen sowie wenige neutral genannte Örtlichkeiten und Unternehmen wurden Namen, Personen oder Personenzusammenschlüsse, Orte und Ereignisse von der Autorin frei erfunden oder fiktionalisiert. Jedwede Ähnlichkeit mit aktuellen oder sonstigen tatsächlichen Begebenheiten, Namen, Orten oder Personen wäre rein zufällig und ist nicht beabsichtigt.

Vorwort

Mörderische Hitze zum Vierten. 2006 als Aufbau Taschenbuch erschienen, gab es 2011 eine Neuauflage beim Leipziger fhl Verlag; seit 2015 war der Krimi als Gmeiner E-book erhältlich. Nun biete ich also Print- und Digitalausgabe dauerhaft unter meinem eigenen Redstart-Label an.

Mörderische Hitze – als drittes Buch in der Kirsten-Bertram-Reihe herausgekommen, nach Veröffentlichung der Erfurter Vorgeschichte Auf Sendung in der erzählten Chronologie der vierte Band – war lange Zeit mein Lieblingsbuch der Reihe. Und auch wenn der hier beschriebene Zeitungsalltag wie vieles andere in der Geschichte heute schon recht altertümlich anmutet, mag ich es nach wie vor. Vermutlich, weil guter Journalismus mir noch immer sehr am Herzen liegt. Außerdem hat für meinen Geschmack die Dreiecksgeschichte zwischen Kirsten, Andreas und Dale hier ihren Höhepunkt erreicht. Es ist schon ein wirklich tiefer Zwiespalt, in den Kirsten gerät. Bereits nach der Erstveröffentlichung meinte die Kritikerin der Zeitschrift Joy: »Die Journalistin Kirsten Bertram ist mit ihrem Kollegen Andreas glücklich – bis dieser unter Mordverdacht gerät! Ausgerechnet Kirstens Exfreund und Andreas' größter Widersacher ist der Ermittler. Tolle Story!«

Ich hoffe, dass auch heutige Leserinnen und Leser das noch so sehen – und freue mich stets über Rückmeldungen.

Wie bereits bei den Neuauflagen der anderen Bücher der Reihe habe ich nichts am Originaltext geändert. Es wäre nicht redlich.

Beate Baum, Juni 2022

1. Kapitel

»Verdammt!« Andy wälzte sich auf die Seite, blinzelte mich an und vergrub dann den Kopf wieder im Kissen. Er hatte eine Fahne, seine Haare stanken nach Rauch.

Ich blickte auf die Digitalanzeige des Radioweckers, der schon einige Zeit vor sich hin dudelte. 7 Uhr 41.

»Wann bist du denn nach Hause gekommen? Und vor allem: Wie?« Ich konnte mir ein Lachen über seine Grimasse nicht verkneifen.

»Weiß nicht. So gegen zwei. Es kam kein Taxi, da bin ich zu Fuß gegangen. Und vorher hatte irgendjemand angefangen, Brandy zu bestellen.«

»Zu Fuß? Vom Alberthafen in die Neustadt?!«

Am Abend zuvor hatte Andreas seinen Einstand als neuer Lokalchef der Dresdner Zeitung gegeben. Mit einem Essen im Tapas y Pescados auf der anderen Elbseite.

»War ja warm«, murmelte er kaum mehr verständlich, da er sich in der Zwischenzeit auf den Bauch gedreht hatte.

»Hey, du wolltest doch heute früher in der Redaktion sein. Und ich sollte dich auf jeden Fall wecken … Also, ich geh schon mal Kaffee kochen.«

Andy brummelte etwas ins Kissen, ich stand auf und zog die Vorhänge zurück, ließ die strahlende Sonne hinein. Dann ging ich auf bloßen Füßen in die Küche. Seit fast einem Monat lag eine drückende Hitzewelle über Dresden; mittlerweile hatten sich auch alte Gemäuer wie das Haus, in dem wir wohnten, so aufgeheizt, dass man selbst nachts kaum noch Abkühlung fand.

Ich setzte Kaffee auf und deckte den Frühstückstisch. Als ich aus dem Bad kam, schlief Andreas schon wieder tief und fest, obwohl aus dem Radio neben ihm weiter das angeblich »Beste der Achtziger, Neunziger und von heute« plärrte. Ich zog ein ärmelloses weißes Leinenkleid über und band meine Haare zusammen, dann schaltete ich den Wecker aus und die Stereoanlage auf der alten Kommode ein. Ich entschied mich für eine CD von den Toten Hosen und startete Eisgekühlter Bommerlunder auf Lautstärke acht. Andy fuhr hoch und hielt sich den Kopf.

»Du Biest!«

»Mit Brandy ist mir auf die Schnelle nichts eingefallen.«

Er stöhnte noch einmal, stand dann aber auf und folgte mir in die Küche.

»Warum hast du dich denn bei einem Essen so fürchterlich abgeschossen?«, fragte ich, als er, die Ellenbogen auf den Tisch gestützt, in seinen Kaffeebecher starrte. Er war blass, seine grünen Augen lagen in tiefen, dunklen Höhlen.

»Ich glaube, die wollten mich abschiessen, und ich Idiot hab’s zu spät gemerkt. Ich dachte, dass ich endlich einen Draht zu ihnen bekäme.« Er setzte sich aufrecht hin. »Umso wichtiger, dass ich heute morgen wenigstens einigermaßen früh und fit in der Redaktion auftauche.« Entschlossen trank er noch einen großen Schluck Kaffee, stellte den Becher ab und verschwand im Bad. Kurz darauf hörte ich das Rauschen der Dusche.

Nun tat er mir doch leid. Ich war zwar nicht begeistert gewesen, als er sich auf die Stelle beworben hatte, aber solch ein Team hatte er wirklich nicht verdient.

»Hast du denn erfahren, ob der Salzinger tatsächlich davon ausgegangen war, den Job zu kriegen?«, rief ich durch den Flur, als sich die Badezimmertür wieder öffnete. Anscheinend hatte keiner seiner Kollegen damit gerechnet, einen neuen Chef von außerhalb vorgesetzt zu bekommen, und das hatten sie Andy von Anfang an spüren lassen.

»Ja, da bin ich mir ziemlich sicher«, tönte es frustriert aus dem Schlafzimmer. Kurz darauf kam Andy in einem frischen schwarzen T-Shirt und Jeans in die Küche. Sein kurzes blondes Haar glänzte feucht. »Wir haben uns sogar am Ende noch angegiftet. Er hat wieder so eine blöde Bemerkung gemacht, und da konnte ich mich einfach nicht mehr beherrschen. Ich hab ihm gesagt, dass die Stelle öffentlich ausgeschrieben war und er sich ja hätte bewerben können.« Er goss sich frischen Kaffee ein. »Offensichtlich sei ich aber der bessere Mann gewesen. Dämlich. Was solche Situationen angeht, bin ich bestimmt kein geeigneter Chef.«

In Gedanken stimmte ich ihm zu. Wie Andy mit seiner impulsiven Art überhaupt ein Team führen konnte, war mir immer ein Rätsel gewesen. Dennoch versuchte ich ihn zu trösten: »Na komm, schließlich hast du fast vier Jahre die Redaktion in Gera geleitet.«

»Da gab’s ja auch oft genug Stress. So, ich muss jetzt los. Bis heute Abend.«

Nachdem er zur Tür hinaus war, kam ich mir einen Moment lang vor wie die liebende Ehefrau, die ihren Mann in die harte Welt verabschiedet und selbst im geschützten Heim bleibt.

Ich ließ das schmutzige Geschirr auf dem Tisch stehen, ging ins Arbeitszimmer und setzte mich an den Schreibtisch, schaltete den Rechner ein. Eigentlich war ich sehr glücklich über meine endlich erreichte Freiberuflichkeit. Andreas hatte natürlich recht: Unser beider Kontostand sprach nicht dafür, die Möglichkeit einer gutbezahlten Festanstellung auszuschlagen. Andererseits hatten wir uns immer vorgestellt, einmal gemeinsam als »Freie« größere Reportagen anzugehen.

Ich seufzte und holte das Porträt von Jimi Hendrix auf den Schirm, das ich am nächsten Tag abliefern musste. Arbeiten wie diese machten Spaß, genug Geld brachten sie indes nicht ein.

Zwei Stunden später, als ich mit der ersten Version des Textes so gut wie fertig war, klingelte es. Noch tief in Gedanken öffnete ich die Wohnungstür. Vor mir standen zwei Männer und streckten mir kleine, eingeschweißte grüne Ausweise entgegen.

»Kriminalpolizei, können wir einen Moment hereinkommen?«

Ich nickte überrascht und führte sie an der unordentlichen Küche vorbei ins Arbeitszimmer, wies auf den alten Lehnsessel und Andys Schreibtischstuhl, die beiden schüttelten jedoch den Kopf.

»Sie sind die Lebensgefährtin von Andreas Rönn, ist das korrekt, Frau Bertram?«

»Ja. Was … Ist Andreas … ich meine, ist Herrn Rönn etwas passiert?«

»Nein, nein, keine Angst. Wir benötigen nur eine Auskunft von Ihnen: Um wieviel Uhr ist Herr Rönn gestern Nacht nach Hause gekommen?«

»So gegen zwei«, wiederholte ich Andys Auskunft vom Morgen. »Wieso?«

Der jüngere Beamte notierte meine Aussage in einem kleinen, schwarzen Buch, während der ältere, ein dunkelblonder, hagerer Typ mit unmodischem Haarschnitt, mich aufmerksam betrachtete.

»Heute Nacht, im Anschluss an die Einstandsfeier im Tapas y Pescados, ist ein Kollege Ihres Lebensgefährten in der Bremer Straße zu Tode gekommen.«

»Zu Tode gekommen? Ein Unfall? Am Autostrich?!«

»Sie kennen die Straße also?« hakte der Ältere nach. »Herr Rönn gab an, sie nicht zu kennen.«

Was sollte das? Reflexartig schüttelte ich den Kopf. »Ich lebe schon länger in Dresden als Herr Rönn«, antwortete ich schließlich so reserviert wie möglich.

»Verstehe.« Der Schreibende blickte auf und lächelte mich freundlich an. »Ist Ihnen an Herrn Rönn heute Nacht etwas aufgefallen, als er nach Hause kam?«

»Nein.«

»Nichts Außergewöhnliches? Er selbst hat gesagt, er wäre stark angetrunken gewesen, seine Kollegen bestätigen das.«

Verdammt, worauf wollten sie hinaus? »Ja, das schon, natürlich.«

»Natürlich?«

Ich ließ die Frage unbeantwortet im Raum stehen.

»Wie beurteilen Sie das Verhältnis Ihres Lebensgefährten zu seinen Kollegen?«

»Er hat erst vor zwei Wochen dort angefangen. Ich glaube nicht, dass man da schon etwas sagen kann. Und wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen, ich habe noch einen wichtigen Termin.«

Die beiden hatten gerade das Arbeitszimmer verlassen, als das Telefon klingelte. Ich wollte die Polizisten so schnell wie möglich loswerden und ließ den Anrufbeantworter anspringen. Als wir an der Wohnungstür standen, tönte Andys Stimme laut durch den Flur:

»Kirsten, ich bin’s. Du, wahrscheinlich werden bald die Bullen bei dir aufkreuzen. Ich erklär’s dir später, aber sag doch bitte, du hättest mitbekommen, dass ich kurz vor zwei nach Hause gekommen bin.«

*

»Na ja, sie haben sich ganz normal verabschiedet«, berichtete ich Andreas zwei Stunden später.

Wir saßen in der Küche am noch immer nicht abgedeckten Frühstückstisch. Ich hatte frischen Kaffee gekocht, der in der Kanne vor sich hin dampfte. Andy berichtete das wenige, was er wusste: dass es sich bei dem Toten um Helmut Salzinger handelte und man ihn mit einer tiefen Wunde am Kopf aufgefunden hatte. Ob es tatsächlich ein Unfall gewesen war oder eine Gewalttat, dazu hatten sich die Polizisten nicht klar geäussert. Andreas schob mit einem Messer Krümel auf dem leuchtend gelben Teller hin und her, ließ es dann mit einem Klirren fallen und schlug mit der Faust auf den Tisch.

»Schlimm genug, das Ganze. Aber mich nach Hause zu schicken, nur weil mich irgendein netter Kollege angeschwärzt hat, ist eine Sauerei!«

»Was heißt denn ›angeschwärzt‹? Wer hat wann was gesagt?« Ich versuchte logisch an das Unglaubliche heranzugehen.

»Die Bullen waren da und haben uns vernommen. Als sie weg waren, kam der Chefredakteur auf mich zu und teilte mir mit, dass es wohl besser sei, wenn ich ›meine Tätigkeit für den Moment ruhen‹ lasse, wie er sich ausdrückte.«

»Die Polizisten hatten sich vorher für deinen Streit mit Salzinger besonders interessiert?« Andy nickte. »Und du meinst, dass ein Kollege das deinem Chef brühwarm berichtet und dich quasi gleich als Verdächtigen mitgeliefert hat?« Es war schon wieder unerträglich warm. Ich strich mir eine klebrige Haarsträhne aus der Stirn.

»Ja. Und anscheinend bin ich das ja auch. Ich weiß nicht, ob sie auch bei den anderen nachgeprüft haben, wann die nach Hause gekommen sind. Aber bei mir ist das mit dem Alibi ja schiefgegangen.« Er grinste schwach. »Also, solange die keinen anderen haben …«

»Aber wenn er am Strich erschlagen wurde, dann müssen sie doch auch in dem Milieu Nachforschungen anstellen.«

Andreas richtete sich auf. »Am Strich?«

Offensichtlich hatten die Polizisten dazu nichts gesagt. Ich klärte ihn darüber auf, dass in der Bremer Straße Dresdens Autostrich war.

»Der Salzinger? Das gibt’s doch gar nicht.« Er stand auf und schenkte uns Kaffee ein. »Der ist … war so ein Papi-Typ, immer ein bisschen besserwisserisch. Der bei einer Nutte?«

»Es sind doch immer die, denen man es nicht zu­traut.«

Im Arbeitszimmer klingelte das Telefon, ich blickte Andy fragend an.

Er winkte ab. »Ich bin nicht hier.«

Es war jedoch nur die Magazin-Redaktion, die mir mitteilte, soeben sei die Nachricht eingetroffen, dass man in London verschollen geglaubte Bänder von alten Hendrix-Aufnahmen gefunden habe. Sie hatten eine Kostprobe über das Internet zugeschickt bekommen, die sie an mich weiterleiten wollten. Außerdem solle ich unbedingt auf das Konzert damals auf der Isle of Wight näher eingehen. Am liebsten hätte ich der äusserst jugendlichen Stimme am anderen Ende gesagt, ich wüsste schon selbst, wie ich den Artikel aufziehen würde. Schließlich war das zugesagte Honorar lächerlich niedrig. Dann riss ich mich zusammen und schaffte es, das Gespräch einigermassen souverän zu beenden.

Als ich zurück in die Küche kam, hatte Andreas den Tisch abgeräumt und wischte auf der Arbeitsplatte herum.

»Die Bullen haben nichts von einem Raubüberfall gesagt.« Er sprach mehr zu sich selbst als zu mir. »Das wäre doch naheliegend bei einem Verbrechen am Strich, oder?«

Ich zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Aber du kannst jetzt sowieso erst mal nichts anderes machen als abwarten.«

Genau das fiel ihm fürchterlich schwer. Meinen Vorschlag, sich hinzulegen und etwas Schlaf nachzuholen, schob er gleich mit einer ungeduldigen Bewegung beiseite. Er tigerte durch die Küche, fuhr sich mit den Händen durch das Haar, wiederholte, dass »die« ihn »in die Pfanne hauen« wollten.

»Wer sind denn ›die‹? Jetzt fang nicht an, Gespenster zu sehen. Komm mal her.« Ich ging auf ihn zu, er zögerte, dann ließ er sich in den Arm nehmen, legte seinen Kopf auf meine Schulter. Ich spürte, dass er zitterte. »Du bist übernächtigt und mit den Nerven am Ende. Dein Chef musste wahrscheinlich so reagieren, um selber auf der sicheren Seite zu sein.« Andreas hob den Kopf, wollte etwas einwenden. Ich packte ihn fester um die Schultern. »Du kannst jetzt nichts machen. Sieh das ein.« Entschlossen schob ich ihn ein Stück weg und blickte ihm fest in die Augen. »Wenn du nicht ins Bett willst, dann setz dich doch auf den Balkon. Da kommst du vielleicht auch ein bisschen zur Ruhe.«

Er legte den Kopf wieder auf meine Schulter, seufzte und stimmte mir zu.

Eine Stunde später unterbrach ich meine Arbeit, um nach ihm zu sehen. Quer durch das Wohnzimmer lief das Kopfhörerkabel. Auf dem Plattenspieler lag die Hülle von Lou Reeds Berlin. Andy starrte aus dem Schatten des Sonnenschirms hinaus in den wolkenlosen blauen Himmel und bemerkte mich nicht. Er hatte die Jeans gegen verwaschene grüngraue Shorts getauscht; seine kräftigen Beine wiesen mehr Farbe auf als sein Gesicht, das noch immer leichenblass wirkte. Und gequält. Er presste die Kiefer aufeinander.

Ich kannte Andreas fast zehn Jahre, knapp fünf hatten wir in der Erfurter Lokalredaktion zusammen gearbeitet. Er war nicht übertrieben ehrgeizig, wenn er aber etwas anfing, wollte er es auch zu Ende führen. Gut zu Ende führen. Und ihm die Arbeit wegnehmen hieß, ihm den Boden unter den Füßen zu entziehen. Ich hoffte wirklich, dass sein Chef ihn bald zurückbeorderte.

Ohne mich bemerkbar zu machen, ging ich wieder ins Arbeitszimmer und kramte so lange in meinen alten Notizen, bis ich die Telefonnummer einer ehemaligen Hure fand, über die ich ein Jahr zuvor einen Artikel geschrieben hatte. Jasmin war damals gerade achtzehn gewesen, jedoch schon Mutter eines zweijährigen Kindes, die eine steile Drogenkarriere hinter sich hatte. Mit Unterstützung einer sozialen Einrichtung hatte sie entzogen und den Absprung vom Strich geschafft. Als ich sie kennenlernte, lebte sie in einem Wohnheim und wollte sogar wieder zur Schule gehen. Sie war sehr offen gewesen und voller Enthusiasmus und Optimismus.

Jetzt allerdings meldete sich niemand unter der Nummer, und als ich die Verwaltung des Wohnheims anwählte, teilte man mir mit, dass Jasmin bereits zwei Monate zuvor ausgezogen sei. Ihre neue Adresse kannte man nicht, bot mir aber an, mich mit ihrer besten Freundin zu verbinden, die noch dort lebte.

Nicole war jedoch nicht bereit, Jasmins Adresse weiterzugeben. Meine Beteuerungen, dass ich von keinem Amt sei und ihre Freundin lediglich in einer privaten Angelegenheit sprechen wolle, nützten nichts. Immerhin erklärte sie sich schließlich bereit, Jasmin von meinem Anruf zu erzählen und sie zu bitten, mich zurückzurufen.

Kurz nach sechs hörte ich, wie die Wohnungstür ins Schloss fiel. Andreas war weg. Ich konnte mir denken, wohin er wollte, und ärgerte mich, dass er tatsächlich so dumm war. Wenn jemand von der Kripo ihn dort am Tatort sah, würde das nicht gerade für ihn sprechen.

*

»Ich bin bloß langsam mit dem Auto durch die Straße gefahren. Ein Wagen stand da, der vielleicht eine Zivilstreife hätte sein können –«

»Na prima«, fiel ich ihm ins Wort. »Und du bist dann ganz unauffällig und langsam an ihnen vorbeigefahren. Wirklich clever.«

Wütend riss ich Andy die Bierflasche aus der Hand, trank einen großen Schluck und musterte ihn zornig. Die letzte halbe Stunde hatte ich im Wesentlichen damit verbracht, zu überlegen, was ich tun sollte, wenn er nicht bald wieder auftauchte.

»Natürlich werden die sofort dein Kennzeichen überprüfen und sich freuen, wenn sie auf jemanden stoßen, den sie sowieso verdächtigen.«

Andreas verschränkte die Arme vor der Brust, abwehrbereit. Seine Antwort klang jedoch eher schwach: »Ich weiß doch gar nicht, ob es wirklich Bullen waren.« Er wich meinem Blick aus, nahm eine weitere Flasche Bier aus dem Kühlschrank. »Verdammt noch mal, welches Motiv sollte ich denn gehabt haben?«

»Du weißt genau, dass euer Streit erst mal reichen kann.«

»Ja, ich weiß.« Seine Stimme war sehr leise. Er schluckte einmal trocken, setzte dann die Bierflasche an. »Von Straßenstrich war übrigens gar nichts zu sehen«, bemerkte er nach einer Weile.

»Hättest du mich vorher gefragt, hätte ich dir sagen können, dass es da erst spät losgeht.«

Er fragte nicht, woher ich das wusste, und ich sagte nichts weiter dazu. Ich erkundigte mich auch nicht, wo er die restliche Zeit gewesen war. Die untergehende Sonne schickte ein phantastisches Farbenspiel durch das große Fenster, Andreas lehnte sich gegen die Arbeitsplatte und schloss die Augen. Sein T-Shirt hatte große Schweißflecke unter den Achseln.

»Hast du was gegessen?«, fragte ich schließlich.

Er schüttelte den Kopf. »Nein. Ich werd sowieso zu fett.«

»Dann solltest du vielleicht als Erstes das Bier weglassen.«

Ich nahm ihm die Flasche aus der Hand, stand dicht vor ihm. Er zog mich an sich, fasste mich bei der Taille. Ich streichelte ihn hinter den Ohren, fuhr durch sein Haar. Er ergriff meine Hände, drückte sie leicht und strich mir über den Rücken bis zum Verschluss meines Kleides. Wir küssten uns. Andy löste mein Haarband, ich streifte ihm das T-Shirt über den Kopf, öffnete den Knopf seiner Jeans, das Kleid rutschte mir über die Schulter und glitt zu Boden. In Unterwäsche standen wir uns gegenüber, zwei Menschen Mitte Dreißig, verschwitzt, verstört, erregt.

»Ich weiß doch«, sagte er leise.

Ich legte drei Finger auf seinen Mund, zog ihn über den Flur in unser Schlafzimmer, wo die abendlichen Geräusche der Stadt durch die weit offenen Fenster drangen.

Als er später, den Kopf an meiner Schulter, eingeschlafen war, dachte ich an unser erstes Mal. Es war alles sehr schnell gegangen damals. Ich kam direkt nach meinem Volontariat in die Erfurter Redaktion, in der Andreas schon ein Jahr arbeitete. Er schien mir so viel erfahrener; gleichzeitig durch seine Energie und Phantasie unglaublich jung. Fast auf Anhieb verliebten wir uns ineinander – und fanden uns an einem späten Abend auf dem Fußboden des kleinen Fotolabors wieder.

Dann lernte ich auf einem Termin Dale kennen. Womit eine schier unendliche Dreiecksgeschichte begann.

Andy seufzte im Schlaf und drehte sich von mir weg. Vielleicht verdankten wir es gerade dieser bewegten Vergangenheit, dass unser Sex auch nach so vielen Jahren noch so aufregend sein konnte.

*

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, lag ich alleine im Bett. Hinter den Vorhängen strahlte wieder die Sonne, dieser Sommer schien eine unerschöpfliche Kraft zu haben. Einen Moment blieb ich noch liegen und lauschte auf Geräusche, hörte jedoch nichts. Es war schon kurz vor neun. Ich hatte Andy am Abend schlafen lassen, während ich noch bis Mitternacht an meinem Hendrix-Text herumfeilte.

Schließlich reckte ich mich noch ein letztes Mal und stand auf, schaute in alle Zimmer. Andreas war schon wieder unterwegs. Auf dem Küchentisch lag ein Zettel: »Bin Brötchen holen.« In der Hoffnung, dass er jeden Augenblick zurückkommen würde, kochte ich Kaffee und Eier und deckte den Tisch. Dann räumte ich ein wenig in der Küche herum, bevor ich mit einem Becher Kaffee ins Arbeitszimmer ging und den Rechner startete. Endlich tauchte Andy auf, er trug ein weißes T-Shirt und alte Shorts. Die Sachen klebten ihm durchgeschwitzt am Leib.

»Tut mir leid, hast du lange gewartet? Ich spring nur eben unter die Dusche.« Er drückte mir eine Brötchentüte in die Hand.

»Ich musste mich irgendwie abreagieren«, sagte er, als wir endlich am Frühstückstisch saßen. »Also bin ich aufs Fahrrad und einmal raus nach Pillnitz.«

»Um den Kopf auszuschalten«, vermutete ich.

Andy nickte und belegte eine Brötchenhälfte mit Camembert. »Kurzfristig funktioniert’s«, antwortete er mit vollem Mund.

Längerfristig nicht. Bereits eine Stunde nach dem Frühstück – ich hatte meinen Hendrix-Text an das Magazin gemailt und räumte meinen Schreibtisch auf – lief er wie ein eingesperrtes Tier durch die Wohnung. Als er zum dritten Mal ins Arbeitszimmer kam, das Telefon anstarrte und prüfte, ob es funktionierte, hielt ich ihn am Arm fest.

»Jetzt ruf Hantzsche an und frag ihn, ob er etwas weiß oder dir helfen kann«, sagte ich.

Er hielt den Telefonhörer noch gedankenverloren in der Hand, schüttelte aber den Kopf. Unser Verhältnis zu Hauptkommissar Hantzsche war seit einem Mordfall im vergangenen Herbst ziemlich unklar. Hantzsche erkannte zwar an, dass wir nicht nur damals den richtigen Riecher gehabt hatten, schätzte es aber überhaupt nicht, wenn man sich in seine Arbeit einmischte. Dale als Ex-Kollegen akzeptierte er, gerade bei Andreas sah die Sache aber ganz anders aus.

»Soll ich anrufen? Es ist doch nur eine Frage. Wir wollen ja nichts unternehmen.«

»Wenn du meinst.« Er wich meinem Blick aus, legte den Hörer auf.

»Oder hast du gestern abend noch was gemacht, außer deinem Abstecher an den Strich?«

Andy fuhr sich durch das kurze Haar, auf seiner Stirn glänzten Schweißtropfen.

»Nein, ich bin nur bei ein paar Kollegen, von denen ich die Adresse wusste, vorbeigefahren. Ich hätte gern mit Martin gesprochen«, endlich hob er den Blick, »das ist der, der mit Salzinger zusammen rausgegangen ist, wenn ich mich richtig erinnere, aber er war nicht zu Hause.«

Ich sagte nichts, wählte statt dessen die Nummer der Kripo und ließ mich mit Hantzsche verbinden.

»Nu, ich habe die Akte hier auf dem Tisch«, bestätigte er, nachdem ich erklärt hatte, worum es ging. Wie immer ließ er sich nicht in die Karten gucken. Da ich nicht undiplomatisch nachfragen wollte, ob er sie schon gelesen habe, erkundigte ich mich nach dem »Stand der Ermittlungen«.

»Frau Bertram, Ihnen muss ich doch wohl nicht sagen, dass ich darüber keine Auskunft geben darf.« Ich hätte zu gern sein Gesicht gesehen, um zu ergründen, ob er mich hinhielt oder ob er tatsächlich keine Ahnung hatte. »Ich nehme an, Sie wollen wissen, ob Herr Rönn in der Sache belastet ist?«

»Ja, deshalb rufe ich an.«

»Nu, die Kollegen haben hier vermerkt, dass sie ihn gestern abend noch einmal in der Bremer Straße beobachtet haben, ›in unklarer Absicht‹, wie es heißt, aber ich denke nicht, dass er weiterhin als verdächtig gilt.«

»Gut.« Ich zeigte Andy, der an einem Bleistift herumspitzte und dabei die Holzraspel auf meinem Schreib­tisch verteilte, einen nach oben gerichteten Daumen. »Gibt es neue Verdachtsmomente?« Wenn Hantzsche sich doch nicht jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen ließe.

»Frau Bertram«, seufzte er.

»Es ist wichtig. Herrn Rönns Arbeitsstelle hängt daran.«

Andreas verzog das Gesicht, als wollte er sagen: »Ist mir doch egal.«

»Nu, guddi, aber nur für den Privatgebrauch: Wir haben einen im Milieu tätigen Herrn arretiert, der bereits einmal eine Auseinandersetzung mit dem Opfer hatte und außerdem kein Alibi für die Tatzeit nennen konnte. Obwohl der Herr Rönn das ja auch nicht konnte.«

Ich ahnte ein kleines Lächeln auf Hantzsches Gesicht. Nachdem ich mich bedankt hatte, legte ich auf und berichtete Andreas, was der Hauptkommissar gesagt hatte.

Andy strahlte mich an, drückte mir einen Kuss auf die Wange. »Danke.«

Gleich darauf wählte er die Nummer seines Chefs. »Herr Müller, Rönn hier. Die Kriminalpolizei hat inzwischen einen Tatverdächtigen verhaftet, und ich bin entlastet. Ich würde sehr gerne meine Arbeit wiederaufnehmen.« Endlich, das war der Andreas, den ich kannte! »Nein, ich würde sofort kommen, es ist schon zuviel liegengeblieben«, sagte er nach einer kleinen Pause und verabschiedete sich.

Mit einer Hand wischte er die Holzspäne von der Tischplatte in den Papierkorb, mit der anderen griff er in die Keksschachtel neben dem Monitor, gab mir noch einen Kuss und verschwand. Ich schaute auf meine Armbanduhr: kurz vor zwölf. Höchste Zeit auch für mich, etwas Ordentliches anzuziehen und in die Sächsische Schweiz aufzubrechen, wo ich um halb zwei einen Termin mit mehreren Hoteliers hatte, die ihre Häuser neu vermarkten wollten.

*

Ich war völlig erledigt, als ich um neun Uhr abends den Golf wieder in der Böhmischen Straße parkte. Fünf Herren und eine Dame hatten mich mit einem wunderbaren Mittagsmenü empfangen, mir dann stundenlang ihre Hotels präsentiert und Konzepte erläutert, nur um schließlich einzugestehen, dass ihr Etat zur Zeit eine größere Kampagne nicht zuließe. Aber sie würden gerne später auf mich zurückkommen.

Müde löste ich den Sicherheitsgurt, spürte, wie mein seidenes Top am Rücken klebte. Ich verfluchte mich selbst, den Kontakt überhaupt aufgenommen zu haben, nachdem eine ehemalige Kollegin mir von der Gelegenheit berichtet hatte. Ich hatte nie in der Werbung tätig sein wollen, auch wenn man damit, im Vergleich zur journalistischen Arbeit, das Dreifache verdienen konnte. Und um diesen Auftrag hatte ich mich nur deshalb bemüht, weil die Hoteliers ausdrücklich jemanden mit Kontakten zu einer Tageszeitung suchten. Ich hätte bei meinen Prinzipien bleiben sollen.

Als ich aus dem Auto stieg, sah ich Andy die Straße hinunterschlendern. Er war so tief in Gedanken, dass er mich erst bemerkte, als er fast über mich stolperte. Kurz entschlossen überredete ich ihn, ins Raskolnikoff zu gehen. Ich wollte meinen Ärger hinunterspülen.

Wir hatten Glück und fanden einen freien Tisch in dem herrlichen Biergarten – im Sommer einer der beliebtesten Plätze in der Neustadt. Alte Ziegel und Terrakottatöpfe mit blühenden Pflanzen gaben dem Innenhof eine südländische Note, ein blinkendes Wasserspiel erinnerte daran, dass das Raskolnikoff auch Künstlerhaus war. Neben uns unterhielten sich drei Taubstumme in atemberaubender Geschwindigkeit, fasziniert schaute ich so lange hinüber, bis die junge Frau, die mir schräg gegenüber saß, mich anlächelte.

»Natürlich hätte ich dort auch ein Bier bekommen, wenn ich denn gewollt hätte. Ein Hotelzimmer zum Übernachten ebenfalls.« Ich trank einen großen Schluck. »Ach ja, und wenn wir beide mal ein schönes Wochenende in der Sächsischen Schweiz verbringen wollen – kein Problem.«

»Ist doch prima.« Andy grinste. »Sieh’s doch mal so: Die mögen deine Arbeit, wollen den Kontakt halten und werden dir irgendwann einen Auftrag geben. In der Freiberuflichkeit braucht man einen langen Atem.«

»Den du ja im übrigen nicht hattest«, gab ich bissig zurück.

»Na ja, immerhin über ein Jahr im Vergleich zu den drei Monaten, die du bisher durchgehalten hast.«

Wider Willen musste ich zustimmen.

»Dafür darfst du nun wieder so richtig schön lange arbeiten, was? Oder warum hast du erst jetzt Feierabend?«, fragte ich, schlug mir dann aber die Hand vor den Mund. »Mein Gott, ich hatte den toten Kollegen total vergessen!«

Andreas strich sich über das Kinn.

»Deswegen habe ich keine Überstunden gemacht«, sagte er und nahm der Kellnerin seine überbackenen Pelmeni ab.

»Wieso dann?« Ich war heute mittag und nachmittag so gemästet worden, dass ich überhaupt keinen Hunger hatte. Ich leerte jedoch mein Bierglas und bestellte gleich noch eins, zog die Pumps aus und legte meine Füße auf den freien Stuhl neben mir.

»Ach, es scheint wirklich, als hätten die dringend einen Lokalchef von außerhalb nötig.« War für Andy der tote Salzinger nun wirklich kein Thema mehr?, fragte ich mich, während er weiterredete. »Wenn sie alleine wurschteln, kommt alles dabei raus, aber kein Journalismus.« Oder war es Verdrängung? »Ich hab mir, als ich in die Redaktion kam, erst mal die Ausgabe von heute vorgenommen.«

Ich nickte. Zu Hause lasen wir noch immer das Konkurrenzblatt, für das ich ein Jahr lang gearbeitet hatte. »Weißt du, was der Aufmacher auf der Eins war? Ein riesiger Werbeartikel über ein neues Einkaufszentrum.« Er schob sich einen großen Bissen in den Mund. »Wirklich, schiere Werbung.«

»Na ja, die Anzeigenkunden können in der derzeitigen Wirtschaftslage so einiges verlangen«, sagte ich und verkniff mir ein Grinsen, weil ich wusste, dass er gleich wie ein HB-Männchen in die Luft gehen würde.

»Ha, ha«, machte er jedoch nur müde. »Für morgen hatten sie irgendwas eingeplant, das dann auf einmal von der Liste verschwunden war, nachdem ich wegen der Geschichte Terror gemacht hab.«

»Deshalb habt ihr so lange gebraucht, um die Ausgabe fertigzustellen?«

»Nein, ich habe alte Zeitungen durchgesehen, um mir ein Bild davon zu machen, was sie früher so verbrochen haben. Ich hatte ja vor der Bewerbung nur kurz zwei Ausgaben überflogen, und da war mir so etwas nicht aufgefallen.«

Als die Kellnerin vorbeikam, bestellte auch er noch ein Bier.

»Ist mir während meiner Zeit bei der Rundschau auch nicht aufgefallen, obwohl man ja immer mal guckt, was die Konkurrenz so treibt. Wobei die Rundschau selbst ja nicht der Gipfel des Journalismus ist. Wenn ich an die gute Frauke denke …«

Andy grinste. »Ich erinnere mich. Aber das rechtfertigt nicht diese Menge an abgeschriebenen Pressemitteilungen, die Eigenrecherche ist gleich null.« Er schob seinen leeren Teller zur Seite.

»Dann hast du jetzt also einen noch schwereren Stand in dem Team, wenn du ihnen heute den Marsch geblasen hast, was?«

»Ich fürchte, ja.« Andy lehnte sich zurück »Als ich heute kam, haben sie erst alle ganz freundlich getan: Sie hätten ja gewusst, dass es sich um einen Irrtum handelte, und so weiter. Nachher hat keiner mehr mit mir gesprochen, wenn er nicht unbedingt musste. Dafür haben dann einzelne durchblicken lassen, dass ich nach wie vor verdächtig sein könnte. Ganz dezent, natürlich.«

Deshalb sein Schweigen zum Thema Salzinger.

»In deiner Haut möchte ich wirklich nicht stecken.«

»Aber du könntest mir helfen.«

Auf meinen fragenden Blick hin erklärte er, dass der Chefredakteur ihm zugestanden hat, einen Journalisten gegen Pauschalhonorar zu verpflichten, bis entschieden war, ob Salzingers Stelle neu besetzt würde.

Der Gedanke, meine Freiheit schon wieder aufzugeben, gefiel mir überhaupt nicht. »Und als deine Freundin hätte ich es bestimmt nicht leicht.«

»Das müssen wir ja nicht publik machen. Im Gegenteil. Als einfache Kollegin unter Kollegen erfährst du vielleicht, wo in der Redaktion der Wurm drinsteckt. Und wo ich ansetzen könnte. Ich weiß nämlich wirklich nicht mehr weiter.«

2. Kapitel

Die Lokalredaktion der Dresdner Zeitung lag auf der anderen Elbseite, im ersten Stock eines Plattenbaus am Ende der Hauptgeschäftstraße. Kurz nach neun betrat ich das heruntergekommene Gebäude. Im Erdgeschoss warben Plakate für Leserreisen, im Verlag des Hauses herausgegebene Bücher und von der Zeitung unterstützte Veranstaltungen. In der Etage darüber empfing mich die abgestandene, heiße Luft eines langgezogenen Flurs. Auf dem Linoleumfußboden stapelten sich Zeitungen, daneben stand ein Kopierer und in einer Nische am Fenster ein Tischchen mit zwei Stühlen. Dort saß eine etwa fünfzigjährige Frau mit einer auffallenden roten Brille und rauchte. Ich grüßte und fragte sie, wo ich Herrn Rönn fände. Sie deutete auf die Tür am Ende des Gangs, ich bedankte mich und betrat nach kurzem Anklopfen Andys Büro.

Es war ein relativ kleiner Raum, allerdings mit zwei großen Fenstern. Das eine gab den Blick frei auf die gigantische Baugrube am Wiener Platz, das andere auf die Prager Straße. Beide waren weit geöffnet und ließen ein wenig frische Luft, jedoch auch jede Menge Lärm in das überheizte Zimmer. Andreas saß hinter einem alten Holzimitat-Schreibtisch, der übersät war mit Zetteln und Zeitungen. Auf dem Bildschirmschoner schoben kleine Mäuse ein großes Rad Käse hin und her. Wir grinsten uns an, ich gab ihm einen kurzen Kuss, er nickte mir verschwörerisch zu.

»Alles klar?«

»Alles klar.«

Zusammen traten wir auf den nun leeren Flur und steuerten einen großen Raum am Endes des Gangs an. Dort waren acht Schreibtische jeweils paarweise angeordnet, ein einzelner mit einem übergroßen Monitor – also der Platz zum Layouten – stand direkt in der Ecke neben der Tür. Bislang waren erst drei Tische besetzt; die Raucherin und zwei Männer schauten auf, als wir hereinkamen.

»Ich möchte Ihnen Frau Kirsten Bertram vorstellen. Vielleicht kennen Sie sich sogar vom Sehen, Frau Bertram hat ein Jahr lang bei der Rundschau gearbeitet und geht uns als Pauschalistin zur Hand, bis geklärt ist, ob Herrn Salzingers Stelle neu besetzt wird.«

Ich grüßte in die Runde, die drei nickten zurück. Die beiden Männer waren deutlich jünger als die Frau, den einen schätzte ich auf höchstens Mitte Zwanzig, den anderen auf Ende Dreißig. Nachdem Andy mich tags zuvor doch noch überredet hatte, mir seine Leute anzuschauen, hatte ich ihn gebeten, nichts weiter über die Kollegen zu erzählen, da ich möglichst unvoreingenommen sein wollte. Die Raucherin und den älteren Mann hatte ich bestimmt schon mal auf einem Termin gesehen, konnte aber keine Gelegenheit damit verbinden.

»Wenn Sie sich dort zu Frau Brandt setzen?« Andreas wies auf den Platz gegenüber der Redakteurin. »Das ist eigentlich der Tisch von Frau Leitmeyer, aber sie hat seit dem Tod von Herrn Salzinger das Layout übernommen. Und dabei wollen wir es auch erst einmal belassen.«

Er macht das gut, dachte ich. Keiner wäre auf den Gedanken gekommen, dass wir vor zwei Stunden zusammen gefrühstückt hatten und ich ihn mit seiner ständigen Jammerei über seinen Bauch aufgezogen hatte.

»Ja, gerne«, sagte ich und durchquerte den Raum, ohne Andy noch eines Blickes zu würdigen.

»Um zehn haben wir die Konferenz, bis dahin können Sie sich vielleicht schon ein wenig mit allem vertraut machen.« Damit verließ er den Redaktionsraum wieder.

Ich reichte zunächst der sehr dünnen Frau Brandt die Hand über den Tisch, sie sah mich prüfend an und schenkte mir ein zurückhaltendes Lächeln. Dann ging ich zu den beiden Männern, um auch sie mit Handschlag zu begrüßen.

Der jüngere, ein dicklicher, dunkelhaariger Typ, schaute mich sehr freundlich und offen an und stellte sich als »Martin Alex« vor, wobei ich nicht wusste, ob er mir damit das Du anbieten wollte oder Alex sein Nachname war; der ältere stand höflich auf, blickte jedoch eher misstrauisch drein:

»Karge. Darf man fragen, woher Sie so schnell wussten, dass hier was zu holen ist?«

»Gute Journalisten wissen immer alles etwas schneller als die anderen«, entgegnete ich, schob aber gleich hinterher: »Eine ehemalige Kollegin von der Rundschau hat mir den Tipp gegeben.«

Leise meldete sich mein Gewissen wieder, das mich schon die ganze Zeit davon abhalten wollte, für Andreas die Redaktion auszuspionieren. Er hatte mich überzeugt, dass ich nichts Unrechtes tun würde, dennoch spielten wir meinen neuen Kollegen ein ganz schönes Theater vor.

Karges Blick blieb skeptisch. »Sie haben bei der Rundschau im Frühjahr zwei große Betrugsfälle aufgedeckt.«

Das war eine Feststellung, keine Frage, und so korrigierte ich ihn auch nicht, sondern nickte nur möglichst freundlich. Karge setzte sich ohne weiteren Kommentar wieder an seinen Platz. Er trug trotz der Hitze ein Hemd mit Krawatte zu einer gut sitzenden Anzughose, und ich fragte mich, ob er heute noch einen wichtigen Termin hatte oder ob er sich immer so kleidete. Ich ging zurück zu dem Schreibtisch, den Andy mir zugewiesen hatte. Zwischen Monitor und Stiftschale standen zwei Fotos, auf dem einen war eine Frau in meinem Alter zu sehen, das andere zeigte ein junges Mädchen, eingerahmt von einem Mann und einer korpulenten Frau. Eben diese füllige Person kam gerade zur Tür herein und stutzte, als sie mich auf ihrem Platz sah, ihre Miene signalisierte Abwehr.

Schnell erhob ich mich, trat auf sie zu und streckte ihr meine Hand entgegen, in die sie widerstrebend einschlug. Ich stellte mich kurz vor, betonte dann, dass ich ihr keinesfalls ihren Platz wegnehmen wolle.

»Der Chef«, kommentierte Frau Brandt in abschätzigem Ton.

»Ist schon in Ordnung«, wiegelte Frau Leitmeyer ab. Im Gegensatz zu ihrer Kollegin war sie rein äußerlich ein sehr mütterlicher Typ. »Ich bin ja jetzt sowieso für das Layout zuständig. Dann werde ich mal den Platz hier räumen.«

Begeistert sah sie dabei allerdings nicht aus. Ich fragte mich, ob sie freiwillig angeboten hatte, für den toten Salzinger einzuspringen, oder ob Andreas das verfügt hatte.

Während sie die Schubladen und Fächer leerte, erklärte sie mir freundlich, dass ich in dem kleinen Sekretariat in der Mitte des Flurs einen Block, einen Kalender, Stifte, und was ich sonst noch benötigte, bekommen würde. Dort, bei Frau Hübner, stand auch die Kaffeemaschine, und ich wurde darüber aufgeklärt, dass ich am nächsten Morgen meinen eigenen Becher mitbringen solle und der Kaffee reihum gekauft werde. Jetzt konnte ich eine der für Gäste vorgesehenen Tassen benutzen. Sie war randvoll, als ich sie in die Redaktion zurücktrug.

Nach und nach trudelten vier weitere Kollegen ein, zwei davon Fotografen, deren Gesichter ich schon irgendwo gesehen hatte. Es kam mir so vor, als würde ich allgemein eher distanziert begrüßt, was vielleicht an der generell gedrückten Stimmung lag, vielleicht aber auch daran, dass die meisten schon jahrelang zusammenzuarbeiten schienen. Dementsprechend hoch lag der Altersdurchschnitt. Ich gehörte mit Martin Alex und Herrn Karge zu den Jüngsten. Und mit Andreas natürlich. Als Chef, einer der Jüngsten? Eigentlich konnte das gar nicht gutgehen.

Gerade kam er herein, in der einen Hand seinen Kaffeebecher, in der anderen einen Stoß Papier. Er lehnte sich an die Kante des Layout-Schreibtisches und räusperte sich. Die Texter setzten sich auf ihre Plätze, die beiden Fotografen blieben am Fenster stehen. Ich fand, dass Andy jetzt, vor neun Menschen, wesentlich unsicherer wirkte als vorhin. Er hielt sich an seinen Zetteln fest, während er mich noch einmal kurz vorstellte und dann die Termine für den Tag verteilte. Mir wies er einen hundertsten Geburtstag und eine Scheckübergabe zu.

»Und danach könnten Sie sich mit dem Thema Schließung von Bibliotheken beschäftigen. Das Material habe ich in meinem Büro.«

Direkt nach der Konferenz machte ich mich mit einem Fotografen auf den Weg zu der Geburtstagsfeier. Frau Erna Mügelsen wohnte am Altmarkt, wir konnten zu Fuß hingehen.

»Wenn der Chef die Termine nicht immer so eng legen würde, könnte das ja ganz nett sein«, lamentierte der Endfünfziger mit dem grauen Pferdeschwanz, als wir die volle Fußgängerzone hinaufgingen.

Ich brummelte bloß etwas vor mich hin. Ich fand eine Stunde für einen solchen Routinetermin und den Weg zu der Scheckübergabe – die ebenfalls in der Innenstadt stattfinden sollte – nicht zu knapp. Als wir jedoch bei Frau Mügelsen eintrafen, begriff ich, was Heinz Weinberg gemeint hatte. Gleich nachdem er drei Fotos von der alten Dame gemacht hatte, stürzte er sich auf den Sekt und die belegten Brötchen, die die ebenfalls schon betagte Tochter der Jubilarin vorbereitet hatte.

Erna Mügelsen war ein winziges, schmales Persönchen mit sehr hellem, violett schimmerndem Haar. Aufrecht saß sie in einem grossen Sessel und freute sich, dass so viele Menschen zu ihrem Geburtstag gekommen waren, dass sogar der Herr Oberbürgermeister ihr einen Besuch abstattete und die Zeitung – dabei war sie doch gar nicht berühmt.

Ich schlängelte mich zu dem freien Plüschhocker neben ihr durch und bat sie, ein wenig aus ihrem Leben zu erzählen. Wenngleich sie sich dabei oft wiederholte, war ihre Geschichte doch so interessant, dass ich etliche Seiten auf meinem Block vollkritzelte. Wenn wir den nötigen Platz hatten, würde ich ein längeres Porträt über die alte Dame schreiben.

»Nette Frau«, sagte ich, als wir wieder im Aufzug standen. »Hat einiges erlebt.«

Heinz Weinberg murmelte etwas Zustimmendes.

»Ich weiß zwar noch nicht, wie lange ich bleiben werde, aber ich wollte auf jeden Fall morgen einen Einstand geben«, machte ich einen neuen Versuch. »Können Sie mir einen Tipp geben, was da so üblich ist?«

Anscheinend war damit das Eis gebrochen: »Wir können uns ruhig duzen«, antwortete er. »Also, der neue Chef hat am Montag richtig teuer zum Essen eingeladen –«

»Ich fürchte, dafür reicht mein Honorar nicht«, fiel ich ihm ins Wort. »Ich hatte an einen Sekt gedacht oder Kuchen.«

Er nickte. »Ja, ja, so ein Redaktionsleitergehalt hat nicht jeder. Aber es gab Leute, die es verdient hätten.«

Ich überlegte, wieviel ich wissen durfte? Egal. »Der Mann, der getötet wurde? Fürchterliche Geschichte.«

Wieder nickte Heinz. »War ein guter Mann. Jahrelang Stellvertreter, und dann wird ihm so ein Schnösel vor die Nase gesetzt. Und wer weiß –« Den Rest verschluckte er, aber es war ohnehin klar, was er sagen wollte: dass dieser »Schnösel« vielleicht sogar seinen Kollegen getötet hatte. Keiner hatte das heute morgen ausgesprochen, aber es klang bei vielen zwischen den Sätzen hindurch.

»Weiß man denn, warum es so gekommen ist?« Wir befanden uns schon kurz vor dem Karstadt-Hauptgebäude, wo der nächste Termin war. Ich blieb stehen und kramte umständlich in meiner Tasche nach einem Haarband.

Heinz zögerte kurz, unsicher, wie er meine bewusst doppeldeutig gehaltene Frage beantworten sollte. Dann entschied er sich für den einfachen Weg: »Keine Ahnung. Da musst du den Chef, also den Müller, fragen.«

Ich zuckte die Achseln, um zu signalisieren, dass ich das nicht vorhatte. Zumal ich wusste, was Müller Andreas gesagt hatte – dass er frischen Wind in die Lokalredaktion bringen wollte. »Wer ist denn jetzt eigentlich Stellvertreter?«, fragte ich.

»Müsste der Markus sein. Markus Staude. Ist momentan krank. Der war immer so was wie der Stellvertreter vom Stellvertreter. Also wäre er an der Reihe. Aber wer weiß, wie der Chef das sieht …«

Anscheinend war Andreas’ Hauptfehler, nicht schon seit zwanzig Jahren treu und brav jeden Tag in dieselbe Redaktion getabt zu sein. Nur mit Mühe schluckte ich eine Entgegnung herunter.

»Und was meinst du jetzt zu meinem Einstand?«, fragte ich, als wir die Glitzerwelt des Kaufhauses betraten.

»Nu, Sekt und Kuchen reichen doch völlig zu.« Heinz machte seine Kamera schussbereit.

*

Am späten Nachmittag saßen alle Texter, die bereits am Morgen dagewesen waren, wieder in der Redaktion. Die Hitze war mittlerweile trotz drei geöffneter Fenster und Durchzug unerträglich.

---ENDE DER LESEPROBE---