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»Nobody knows you when you're down and out« Tim Cantely, der schottische Lead-Sänger der Band The Distant Stars, wird in Dortmund unter Mordverdacht festgenommen. Er soll einen Rauschgift-Dealer umgebracht haben. John, der Gitarrist der Band, glaubt an seine Unschuld und will ihm helfen, schließlich ist er selbst erst ganz knapp dem Drogenmilieu entkommen. Gemeinsam mit seiner Freundin Ines versucht er, den wahren Schuldigen aufzuspüren. Dazu müssen sie in Glasgow und Liverpool herausfinden, was Tim ihnen verheimlicht. Welche Rolle spielt Russ McEnnory, mit dem der Sänger einst The Distant Stars gegründet hatte? Mit ›Niemand kennt dich, wenn du am Boden liegst‹ wird ›Die Ballade von John und Ines‹ fortgesetzt. »Eine wunderbare Geschichte aus dem Musikerleben, von Beate Baum glasklar im Hier und Jetzt geschrieben.« Singer-Songwriterin Katja Werker
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Beate Baum
Niemand kennt dich, wenn du am Boden liegst
Musikerroman
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Inhaltsverzeichnis
Titel
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
Epilog
Danksagung
Impressum tolino
»Wow! Das ist unglaublich.« Kevin ließ Johns Hände an der Gibson nicht aus den Augen.
So hatte auch Ines ihren Freund noch nie spielen gehört. Nicht einmal, als er sie mit ›Bell Bottom Blues‹ angefleht hatte, ihn nicht zu verlassen. Und da war er schon grandios gewesen. Grandios und high.
Sie studierte Johns Gesicht, so gut das möglich war. Natürlich konnte sie seine Augen nicht richtig sehen, dazu war die Bühne zu hoch und zu groß, auch wenn sie ganz vorn standen, hinter sich eine begeisterte Menge von fast 10.000 Menschen. Dennoch war sie sicher, dass er nichts genommen hatte. Es musste an der Dynamik in der Band liegen, einer geradezu explosiven Dynamik. Immer wieder spielte John den Sänger Tim Cantely hart und direkt an. Wäre die Gitarre eine Waffe gewesen, Cantely hätte nicht mehr die ›Northern Lights‹ besingen können.
Hinter der Bühne gab die Kulisse der Dresdner Altstadt auf der anderen Elbseite eine opulente Kulisse ab. Ines hatte jedoch keinen Blick für Hofkirche, Semperoper und Schloss; an diesem Abend gab es für sie nur die Gegenwart der Distant Stars.
Erst seit drei Monaten war sie mit John zusammen, dem leidenschaftlichen, grandios talentierten, stets abgerissenen Iren mit den feinen Gesichtszügen eines Indianers. Dem Ex-Junkie. Der seine Gitarre in kleinen und kleinsten Clubs gespielt hatte. Und nun auf dieser riesigen Bühne stand.
Bei der Abschlussfeier an der Liverpooler Pop-Uni LIPA hatte Paul McCartney John persönlich zu dem Engagement bei der angesagten schottischen Band gratuliert. Am darauf folgenden Morgen war er ins Probencamp aufgebrochen. Vier Wochen und elf Stunden war das jetzt her.
Bei ihren sehnsuchtsvollen Telefonaten, E-Mails und SMS hatte er Probleme mit den anderen Bandmitgliedern, vor allem mit Tim, angedeutet. Jetzt erlebte Ines, wie er damit umging.
Zwei knochentrockene Licks hintereinander, die Töne knallten wie Schüsse durch die Luft, und nun verbeugte Cantely sich in Johns Richtung und zog seinen alten Filzhut. Die Menge tobte und jubelte.
»Der Typ haut mich um!« Kevin strahlte wie ein Honigkuchenpferd. »Bist du stolz, Schwesterherz?«
»Und wie!« Dass sie sich auch Sorgen machte, sagte sie ihrem Sandkastenfreund nicht. Die Chemie auf der Bühne wirkte so aufgeladen, sie wartete förmlich darauf, dass etwas passierte.
Vor dem Konzert hatte sie John nicht mehr gesehen. Zwar hatte er ihnen Backstage-Pässe zukommen lassen, die Band war aber so spät eingetroffen, dass die Roadies niemanden mehr durchgelassen hatten.
Das nächste Stück war deutlich ruhiger, auf der Basis eines klassischen Blues kam dem Saxofon die Hauptrolle zu, es schlug den Bogen zum Soul. Aber auch hier spielte John seine Gibson hart und druckvoll, ein Kontrast zu Tims hellem, engelsgleichem Gesang. Das Publikum schien den Atem anzuhalten, jeder einzelne auf das Geschehen auf der Bühne fixiert.
Es war magisch.
Am Elbufer, mitten in der Dresdner Innenstadt, galten strikte Regeln. Um 23 Uhr musste ein Konzert beendet sein. Gegen halb elf hatte es den Anschein, als wollten John und die übrigen Musiker den regulären Teil des Abend beschließen. Tim Cantely stimmte aber ohne Pause einen weiteren Song an. Der Saxofonist näherte sich ihm und sagte etwas, Cantely schüttelte den Kopf und machte weiter.
John ließ nochmals die Saiten knallen, aber die spezielle Atmosphäre war vorbei. Verglichen mit der Alchemie vorher war es der Auftritt einer Schülerband.
Um kurz nach elf kam einer der Roadies auf die Bühne. Unschlüssig hielten alle inne; Cantely zuckte unwillig die Schultern. »Sieht so aus, als wenn man uns hier nicht mehr haben will. Tut mir leid. Danke euch alle, ihr wart großartig.«
Er verschwand nach hinten, ohne auch nur nach den anderen Musikern zu schauen. Die traten zögernd an die Rampe, legten sich die Arme um die Schultern und verbeugten sich. John stand nicht nur am Rand, sondern schien auch nicht wirklich dazuzugehören. Das Publikum applaudierte frenetisch, forderte eine Zugabe, da wurde aber auch schon das Flutlicht auf dem Platz eingeschaltet. Die ersten machten sich auf den Weg zum Ausgang, zu den Toiletten oder zum Bierstand, andere murrten und riefen laut.
»Komm!« Ines zog Kevin zur Seite, um die Bühne herum zu der unscheinbaren Tür des Backstage-Bereichs.
Ein wenig abseits stand der Bassist, rauchte und sprach in kehligem Schottisch in sein Handy. Ein paar Fans, junge Mädchen in gesucht abgerissener Kleidung, Spitzenshirts, die volle Brüste, und Miniröcke, die gebräunte Beine zeigten, belagerten die Tür. »Tim!«, riefen drei im Chor, die anderen lachten, der breitschultrige Ordner blieb ungerührt.
Nachdem Ines und Kevin ihre Pässe gezeigt hatten, ließ er sie durch, wobei er sich der Avancen der Mädchen erwehrte, die in ihrem Kielwasser in den dunklen Flur gelangen wollten. Gleich darauf fanden sie sich inmitten von Menschen in einer geräumigen Küche wieder. Es gab ein opulentes Büfett sowie einen Extra-Tisch mit einer gewaltigen Menge alkoholischer Getränke, vor dem sich die Leute drängten. Ines erkannte den Saxofonisten und den Keyboarder.
Tim Cantely hing in einem Stuhl daneben, den Hut in den Nacken geschoben. Obwohl ihm das dunkelblonde Haar strähnig und verschwitzt am Kopf klebte, war etwas von der Attraktivität des jungenhaften Stars zu erahnen. Das runde Kinn bildete einen interessanten Kontrast zu den kantigen Wangenknochen, die hellblauen Augen lagen weit auseinander. Sie blickten die Neuankömmlinge allerdings so orientierungslos mit kaum sichtbaren Pupillen an, dass Ines sich schnell abwandte und einen Mann um die 40 nach John fragte. Er deutete nach links.
An einer Tür vorbei, durch die Wasserrauschen drang, erreichten sie die Garderobe. Ein Sofa voller Kleidungsstücke stand an der Wand, kreuz und quer auf dem Fußboden verteilt waren Gepäckstücke. Die dünnen Wände ließen die Duschgeräusche und die Stimmen aus der Küche durch.
Hier war John. Er stand mit dem Rücken zu ihnen. Es schnürte Ines fast die Luft ab, seinen schmalen Körper endlich wieder nah vor sich zu haben, und sie blieb stehen ohne etwas zu sagen. Ihr Herz pochte so heftig, dass sie es im Hals spürte.
Als er sich mit seinem Kulturbeutel in der Hand umdrehte, stockte John mitten in der Bewegung. Die mandelförmigen Augen weit geöffnet, wurde seine eben noch scharf gezeichnete Miene weich. Er zog Ines so kraftvoll in die Arme, dass ihr die Luft wegblieb. Sein weißes Leinenhemd war am Rücken klitschnass, er roch nach Schweiß und Staub. Sie küssten sich heftig und lange.
Endlich begrüßte John auch Kevin. »Ich will mich bloß schnell waschen und umziehen. Wenn ihr mögt ...« Er deutete auf ein paar Bierflaschen in einer Ecke und verschwand nach nebenan.
»Wenn ich das in meinem Club erzähle!« Grinsend griff Kevin nach einem Bier. »Kommen wir morgen auch backstage zu Eric Clapton?«
Am nächsten Abend waren die Distant Stars als Vorgruppe für den englischen Gitarrenmeister im Westfalenstadion Dortmund gebucht. Das wollte Kevin sich nicht entgehen lassen. Er hatte angeboten, John und Ines mit seinem Auto ins Ruhrgebiet zu bringen.
»Keine Ahnung«, antwortete Ines und nahm dem Freund die Flasche aus der Hand. Sie war mindestens so überwältigt wie er. Die Backstage-Bereiche, die sie kannte, verdienten diesen Namen kaum; wenn man sich in den kleinen Clubs waschen wollte, musste man dazu in die öffentlichen Toilettenräume.
In Rekordgeschwindigkeit war John in einem roten T-Shirt zurück, er zog das Gummi aus seinen dunklen, schulterlangen Haaren und fuhr mit den Fingern durch sie hindurch, stopfte sein Hemd in die Reisetasche. »Los geht’s!«
Kevin stürzte noch einen Schluck Bier hinunter und sie gingen zurück in die Küche, wo John sich mit einem unbestimmten Winken von den Anwesenden verabschiedete. »Morgen, drei Uhr zum Soundcheck«, sagte er bloß.
»Schönen Abend, John-Boy«, ließ Tim Cantely sich vernehmen.
Im Flur kam ihnen der Bassist entgegen, der Ordner sah sie und ließ die Tür offen. Die Mädchen waren nach wie vor in Position, es waren noch mindestens zehn dazugekommen, etwas abseits standen nun auch ein paar junge Männer.
»Das ist John Raymond!«, rief einer von ihnen auf Deutsch,
»Super gespielt, John!«, der andere auf Englisch.
John bedankte sich; ein Mädchen kreischte »John, I love you!« und brach in Lachen aus, ein anderes fragte, wann Tim herauskäme.
»Keine Ahnung, tut mir leid«, antwortete er, legte seinen Arm um Ines’ Schultern und sie gingen in einem Bogen um den hohen Bühnenaufbau herum.
»Ich sterbe vor Hunger«, verkündete er, als sie sich über die Elbwiese dem Ausgang näherten. »Bekommen wir irgendwo noch etwas zu essen?«
Ines war klar, dass er keine Minute länger mit seinen Bandkollegen hatte zusammen sein wollen. Kevin sah ihn irritiert an: »Ihr hattet da drin doch ein Super-Büfett.«
»Da hatte ich keinen Appetit«, entgegnete John.
Sie beschlossen, in Richtung des Kneipenareals im Szeneviertel Neustadt zu gehen, wo es zumindest noch einen Döner geben sollte. »Das reicht völlig«, beteuerte John. »Tja, auch wenn die Mädchen Tim nach wie vor lieben: er hat es grandios versaut.«
Sie passierten eine Gruppe Jugendlicher, die sich über das Ende des Konzerts austauschten. »Hätten doch wenigstens noch eine Zugabe geben können«, hörte man und »Aber irgendwie war auch vorher schon die Luft raus.«
Ines dachte, dass John das rote Shirt angezogen und seinen Zopf gelöst hatte, weil sie mit dem Publikum gemeinsam das Gelände verließen und er so abseits der Bühne nicht erkannt wurde. Sie stimmte ihm zu, was Tim Cantely anging. »Er gönnt es dir nicht, bejubelt zu werden«, vermutete sie. »Schließlich ist er der Star.«
Kevin gab einen zustimmenden Laut von sich, John zuckte die Schultern: »Tim braucht den Applaus mehr als alles andere. Mehr noch als ...« Er verstummte. »Aber heute wollte er mir einfach den Abend vermiesen.«
Hinter dem Einlass standen ein Bier- und ein Bratwurststand. Auf dem Grill brutzelten noch zwei Thüringer vor sich hin. Kurzentschlossen orderte John beide.
»Die letzte Mahlzeit war das Frühstück in Hamburg«, sagte er entschuldigend. »Aber ich gebe gern etwas ab.«
Kevin und Ines schlugen das Angebot aus und er aß nacheinander die beiden Würste, während sie sich im Pulk der Menschen die Elbe entlang bewegten. In lockerem Plauderton erzählte John von der Tour, jedoch nichts, was die Stimmung auf der Bühne und seine Bemerkungen erklärt hätte. Ines drang nicht in ihn.
»Ein bisschen neidisch bin ich ja schon«, gestand sie stattdessen. »Ich werde nie auf solch einer Bühne vor zigtausend Menschen spielen.«
Kevin behauptete, sie würde mit ihren ruhigen Stücken und Beatles-Interpetationen auch noch groß herauskommen. John meinte, sie sollte sich das gar nicht wünschen: »Deine Konzerte sind intensiv und intim. Und vor allem kannst du alles selbst gestalten.«
Eine Viertelstunde später saßen sie in der Planwirtschaft, John dicht neben Ines, seinen rechten Arm um ihre Schulter gelegt. Als er sein Bierglas mit der linken Hand anheben wollte, zuckte er zusammen und musste die andere zur Hilfe nehmen.
»Zeig mal her«, forderte Kevin ihn auf.
»Nur ein bisschen überanstrengt«, meinte John und streckte ihm den Arm entgegen.
Kevin fingerte unterhalb des Ellenbogengelenks herum, suchte und fand eine Stelle, auf die er seinen Daumen presste. John gab einen Schmerzenslaut von sich.
»Das ist der Triggerpunkt«, sagte Kevin. »Versuch, locker zu bleiben.«
Ines bedeutete ihrem Freund, dass sie wusste, wie schwer das war. »Vertrau ihm, auch wenn er nicht so aussieht, er weiß, was er tut.«
»Ich dachte, ich bin unter Freunden. Stattdessen werde ich von den britischen Besatzern gefoltert.« John rang sich ein ironisches Grinsen ab.
»Die Engländer haben euch Iren Physiotherapie zukommen lassen? Das hatte ich immer anders verstanden.« Kevin bohrte seinen Daumen noch tiefer.»Weiteratmen!«, verlangte er.
Erst nach reichlich zehn Minuten ließ er den Arm los. »Das schleppst du schon länger mit dir herum, oder?«
»Ja, aber es gab immer genug andere Probleme.«
*
»Es ging gleich am ersten Abend im Probenlager los«, begann John endlich, als er mit Ines allein in der fast leeren Straßenbahn saß und sie sich hinaus in den Vorort Hellerau tragen ließen. »Du hast mich ja aufgezogen, dass ich den Ruf als neuer Clapton hätte nach dem Blues im Cabin Club ...«
»Ich hab dich nicht aufgezogen!«, protestierte Ines. »Ich war stolz auf dich.«
»Wie auch immer.« Er freute sich, das hörte sie. »Ich hatte keine Ahnung, wie die Geschichte sich verbreitet hat. Die Legende kreiste mehr um die Tatsache, dass ich total stoned war, als um meine Gitarrenkünste. Oder um beides – mystisch verknüpft.«
»Der Rockmusik-Mythos überhaupt.«
»Genau. Und Tims Ding.«
Ines nickte. Es war ihr klar gewesen, seit sie den Sänger in der Backstage-Küche gesehen hatte. »Heroin.«
»Ja.« Kurz und bitter lachte John auf. »Der Rest der Band vergnügt sich eher mit Koks und allen möglichen Pillen. Aber Tim ist alte Schule.« Er nahm seinen Arm von ihrer Schulter und rieb die Stelle am Ellenbogen. »Er war ganz begierig, mit jemandem zu spielen, der so drauf ist wie er. Mit Russ McEnnory, dem vorherigen Lead-Gitarristen, hatte er sich total zerstritten und mich im Alleingang, ohne die anderen auch nur zu fragen, angeheuert.«
»Sehr sympathisch!« Dabei ließ dieser Punkt Ines ziemlich kalt. Dass John, der vor seinem Studienbeginn am LIPA einen Entzug geschafft, aber erst im Frühsommer einen Rückfall gehabt hatte, die ganze Zeit von Drogen umgeben war, machte ihr zu schaffen. Sie hatte Angst um ihn.
Zögernd setzte John neu an. »Manchmal denke ich, das Schlimmste ist, dass ich diese kranke Logik kenne. Ich weiß, warum er enttäuscht war, als ich den Druck abgelehnt habe, den er mir gleich zur Begrüßung angeboten hat. Ich kann sogar nachvollziehen, warum ich später ein Briefchen auf meinem Zimmer gefunden habe.« Er sah seine Freundin nicht an. »Gruselig, was?«
Auch Ines vermied den Blickkontakt, guckte stattdessen den langen, leeren Straßenbahnwagen entlang. »Hast du ...?«
»Nein. Ich hab’s sofort durchs Klo gespült. Und das Tim am Morgen auch gesagt.«
»Weißt du, wie stolz ich jetzt erst auf dich bin?« Ines drehte sein schmales Gesicht zu sich und küsste ihn leidenschaftlich.
Die Bahn fuhr durch den Wald, der die Gartenstadt Hellerau umschloss. »Danach war ich der totale Außenseiter. Aber die Rolle kenne ich ja.« John zuckte die Schultern. »Was soll’s? Tim ist einfach kaputt. Weil er sich noch was besorgen musste, sind wir auch so spät losgekommen heute.«
Ines wusste nicht, was sie sagen sollte, und auch John schwieg, bis sie Arm in Arm den ausgestorben daliegenden Hellerauer Markt überquerten. »Süße, mach dir keine Sorgen! Es ist überstanden.«
»Überstanden? Du hast noch zwei Wochen vor dir.«
»Aber die meiste Zeit bist du bei mir – und dann kann mir nichts passieren.«
»Ich habe also magische Kräfte?«, fragte Ines, während sie die Tür ihres gelb getünchten Elternhauses aufschloss.
»Unbedingt.« John wuchtete seine Tasche in den Flur, bevor er sie umfasste und in einem Versuch, sie über die Schwelle zu tragen, herumschlenkerte.
Beide brachen in Lachen aus, gleichzeitig errötete Ines.
Sie hatten das Haus für sich, die Eltern waren im Urlaub. Kurz darauf lagen sie in Ines’ altem Kinderzimmer im Bett. Für die Zeit ihres Ferienjobs war sie wieder unter der Dachschräge des Gartenstadthäuschens eingezogen.
»Endlich, endlich, endlich«, murmelte John, während sie sich hineinstürzten in den Sex, von dem Ines in den vergangenen Wochen oft geträumt hatte.
Danach spürte sie, wie John in den Schlaf hinüberglitt. Sie blieb ganz dicht neben ihm liegen, genoss es, seinen Körper an ihrem zu spüren und seinen gleichmäßigen Atem zu hören.
*
Als der Wecker klingelte, dachte Ines, sie müsste zum Frühdienst ins Diakonissenkrankenhaus, wo sie in den vergangenen Wochen in ihrem erlernten Beruf als Krankenschwester Geld verdient hatte. Dann realisierte sie, dass John neben ihr lag. Er murmelte etwas und rollte sich auf den Bauch. Sie beschloss, ihm noch ein paar Minuten zu gönnen und stieg leise aus dem Bett. Durch das weit geöffnete Fenster strömte frische, kühle Luft. Bevor sie nach England gegangen war, hatte sie in der Neustadt gelebt. Dort blieb es in den Sommernächten stets warm. Hier draußen im Grünen war das anders.
Sie duschte und machte Frühstück. Ihr großer Koffer stand bereits fix und fertig gepackt im Flur, sie würde nach dem Konzert in Liverpool dort bleiben. Während für John noch ein paar Shows in Schottland auf dem Plan standen. Es war zwanzig vor neun, um neun wollte Kevin sie abholen. Ines ging ins Wohnzimmer und stellte die Hifi-Anlage ihrer Eltern an, ließ ›Good Day Sunshine‹ von den Beatles in voller Lautstärke durch das Haus schallen. Als sie in ihr Zimmer kam, rieb John sich die Augen.
»Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so gut geschlafen habe«, sagte er und streckte ihr einen Arm entgegen. »Komm, wir bleiben einfach hier.«
»Gern«, sagte Ines und ergriff seine Hand. »Aber du hast heute eine Verabredung mit Mr Clapton.«
»Der soll hierhin kommen, wenn er was von mir will. Wir können in eurem Garten ein bisschen jammen.«
»Hast du Schiss?«, fragte Kevin, als sie das Gepäck in seinem betagten Mercedes verstauten.
»Natürlich«, antwortete John nüchtern und schloss die Kofferraumklappe, stieg auf die Rückbank. Ines nahm auf dem Beifahrersitz Platz.
»Verstehe ich gut«, sagte Kevin und ließ den Wagen an. »Mensch, das Westfalen-Stadion! Das sind wie viele? 80.000 Plätze?«
»So ungefähr.« John hatte sich in dem geräumigen Auto zu ihnen vorgebeugt. »Und die kommen alle, um Mr Slowhand zu hören und nicht uns.«
»Trotzdem werden sie von euch begeistert sein«, behauptete Ines.
Während sie die Autobahn nach Leipzig ansteuerten, machte John es sich auf der breiten Rückbank bequem und schloss die Augen. Kevin hatte The National eingelegt und begleitete mit seiner rechten Hand den verschleppten Rhythmus von ›Bloodbuzz Ohio‹. Sie kamen gut voran, erreichten schon bald die A38, die quer durch den Harz verlief und wunderbar leer war. Irgendwann überließ auch Ines sich der Monotonie der Strecke und dem gleichmäßigen Knattern des Dieselmotors und holte ein wenig Schlaf nach.
Um halb drei rollten sie nach Dortmund herein. Die Autobahn wurde zur Bundesstraße, der Verkehr dichter. Müde reckte Ines sich und fragte Kevin, ob er wisse, wie er fahren müsste.
»Wir bleiben noch ein ganzes Stück auf der Schnellstraße, dann liegt es links von uns. Aber solch ein Stadion sollte ja auch ausgeschildert sein.«
»Es gibt da bestimmt einen Parkwächter«, ließ John sich vernehmen. »Dann lässt du dir den Platz am Bühneneingang zeigen.« Er rieb die schmerzende Stelle an seinem Ellenbogengelenk.
Kevin gab einen Jubellaut von sich. »Du meinst, mein alter Daimler steht neben Claptons Ferrari?«
Sie durchquerten die Innenstadt; es ging durch einen langen Tunnel, links sahen sie den bekannten Fernsehturm. Abfahrten ließen einiges an Verkehr abfließen, dann endlich ragte ein Schild auf: Westfalenhallen – Signal Iduna Park.
»Da ist es«, sagte John.
»Ich dachte, das heißt Westfalenstadion?« Ines war irritiert.
»Die Stadien haben sich doch alle irgendwelche Konzerne unter den Nagel gerissen«, erklärte Kevin. »Sogar das altehrwürdige BVB-Stadion.«
»Die Fußballspiele hier sollen legendär sein«, schaltete John sich wieder ein. »Da würde ich mir gern mal eins anschauen. Aber wir sind ja morgen schon wieder in Richtung Amsterdam unterwegs.«
Nicht zu dritt in Kevins Auto, sondern mit der ganzen Band samt Roadies in dem riesigen Tourbus, der gerade vor ihnen auf den Parkplatz einbog. Dahinter ragte ein rechteckiger Stahlmetall-Bau auf, so gigantisch, dass Ines auf einmal der Gedanke von ihrem Freund dort auf der Bühne komplett absurd vorkam. John schien es ähnlich zu gehen, denn er brach in ein nervöses Lachen aus, verstummte gleich danach. Kevin folgte dem Bus auf das Stadion zu, dann ging es in einem Bogen zur Seite und sie kamen zum Halten.
»Hey, John-Boy!«, grüßte der Bassist, der als erster aus dem Bus gestiegen war und gleich eine Zigarette im Mund hatte, mit breitem Grinsen. »Stell uns deine Lady vor.«
Ines trug einen lose fallenden Rock und ein ärmelloses Top, dazu flache Sandalen. Wie fast immer war sie ungeschminkt, der Wärme wegen hatte sie ihre langen braunen Haare hochgesteckt. Sie dachte an die Mädchen vor der Backstage-Tür am Elbufer. So sahen die ›Ladys‹ der Bandmitglieder vermutlich sonst aus. Und sie waren nicht wie die Musiker selbst Mitte, Ende 20, sondern deutlich jünger. Wieso dachte sie eigentlich, dass John immun gegen solche Verlockungen war?
Weil er nicht der Typ dafür war, beruhigte sie sich selbst. Wie er seinen Arm auf ihrer Schulter ruhen ließ, während sie die Runde machten, hätte sie geschworen, dass er in den vergangenen Wochen keine flüchtigen Sexabenteuer gehabt hatte.
Der Mann, der ihnen in Dresden den Weg in die Garderobe gewiesen hatte, entpuppte sich als der Manager. An diesem Nachmittag wirkte James MacCauley in seinen beigefarbenen Bermudashorts wie ein englischer Oberstudienrat im Sommerurlaub.
Dass Tim Cantely sehr dünn und kaum größer als John war, hatte Ines bereits bemerkt. In der Röhrenjeans sah er unglaublich mager aus; der weit offene Kragen eines hellen Hemdes zeigte das hervorstehende Schlüsselbein. Mit einer übertriebenen Geste zog er seinen Hut vor Ines, sagte aber kein Wort zu ihr, sondern verlangte von MacCauley, ihn hineinzubringen.
Der Bassist stellte sich als Zac vor; als sie zu ihm kamen, hatte er bereits das Interesse verloren und beschäftigte sich mit seinem Smartphone. Calum O’Ryan war der Saxofonist, den Ines am sympathischsten fand. Er wirkte ruhig und schüchtern, schien Distanz zu Tim zu halten. Max, der Keyboarder, trug einen albernen Ziegenbart, seine Körperhaltung sah auch im Stehen schlampig aus. Adil, der arabischstämmige Drummer, strahlte übertriebenes Selbstbewusstsein aus.
John stellte auch Kevin vor, der cool in die Runde grüßte, dann folgten sie Tim und dem Manager in das Gebäude. Sie wurden von einem sehr jungen Ordner in Empfang genommen, der ein dickes Bündel Backstage-Pässe mit dem dreifachen ›A‹ für ›Access All Areas‹ in der Hand hatte. Er lotste sie durch einen langen Gang.
Als sie einen großen, trostlos aussehenden Raum mit drei monströsen Sofas erreicht hatten, tauchte Tim durch eine Seitentür wieder auf. Die Hutkrempe verbarg seine Augen, mit einem tiefen Seufzer ließ er sich auf ein Sofa fallen. Er hatte sich seinen Druck gesetzt.
»Dieser Raum ist für Sie, da hinten sind noch zwei weitere, die abschließbar sind«, erklärte der Ordner mit hartem Akzent. »Duschen und Waschräume finden Sie dort rechts und gerade durch halten wir das gewünschte Büfett und Getränke bereit.«
»Gibt’s auch Kaffee?«, fragte John.
Der Ordner nickte und entschuldigte sich, er müsse den Roadies den Weg zur Bühne zeigen. »Ein Kollege ist heute ausgefallen.«
Der Saxofonist folgte ihnen in den Catering-Raum, wo ein ähnliches Büfett wie am Vorabend bereitstand. Kevin verfolgte aufmerksam, wie John mit Thermoskanne und Kaffeetasse hantierte, und bot ihm an, das Gelenk noch einmal zu behandeln.
Mit einer Grimasse stimmte John zu. »Ist vielleicht besser. Aber erst will ich nach meinen Gitarren schauen.«
Kevin fragte, wie viele er dabei habe und John lachte: »Hört sich toll an, was? Sind bloß zwei. Ich hatte ja immer nur die Gibson, aber es war klar, dass ich auf solch einer Tour eine weitere brauche. Da habe ich in einem kleinen Laden in Stockholm eine gebrauchte Fender Stratocaster gesehen und gleich zugeschlagen.«
Gemeinsam mit Calum machten sie sich auf die Suche nach den Instrumenten. Es ging an etlichen Türen vorbei, die Schilder besagten Eric Clapton’s Band, Eric Clapton’s Office, E. C. Band’s Brass Players WarmUp Room und Eric Clapton – private. Vor dem Raum für die Blechbläser schnaubte Calum neidisch und zugleich verächtlich auf, vor der letzten Tür tat Kevin so, als wollte er anklopfen. John sagte unvermittelt, wie er sich danach sehnte, wieder seine eigenen Songs zu spielen.
»Ich habe einen für dich geschrieben«, verriet er Ines. »Wir scheinen ja hier noch reichlich Zeit zu haben. Ich spiel ihn dir dann gleich mal vor.«
Als sie den Raum aufgespürt hatten, in den die Roadies die Instrumente gebracht hatten, erfuhren sie jedoch, dass sie so schnell wie möglich ihren Soundcheck absolvieren sollten, da in einer halben Stunde bereits Claptons Band die Bühne okkupieren würde.
»Die brauchen länger«, verkündete ein grauhaariger Riese gelassen. »Seht’s positiv: Ihr könnt euch noch unsere schöne Stadt angucken.«
»Würden Sie den anderen Bescheid sagen?«, bat Ines den Mann auf Deutsch. Sie wollte Johns Song hören und nicht den zugedröhnten Tim auf die Bühne schaffen.
Gutmütig nickte der Ordner und verschwand. John und Kevin nahmen die beiden Gitarren, Calum griff sich sein Saxofon und sie gingen an leeren Transportboxen vorbei zum Bühneneingang.
Ines hatte das Gefühl, dass ihr das Herz stehenblieb. Wenn der Bühnenaufbau am Dresdner Elbufer riesig war, dann war das hier gigantisch. Die Roadies, die herumliefen und die Anlage der Distant Stars installierten, wirkten wie vereinzelte Arbeiter auf einer Mammutbaustelle. Das Stadion selbst sprengte jede Vorstellung. Steil ragten die Ränge auf, die auf der gegenüberliegenden Seite schienen in einer anderen Welt zu stehen. Sie traute sich nicht, John anzublicken.
»Oh, mein Gott!«, entfuhr es Kevin.
Calums Reaktion bestand in einer Flucht an den hinteren Bühnenrand. Von dort aus starrte er nach vorn, das Gesicht komplett ausdruckslos. John begann reflexartig an der Stratocaster herumzuspielen.
»Es ist unheimlich, nicht wahr«, sagte ein älterer Herr, der nach ihnen die Bühne betreten hatte. Die grauen Haare trug er locker gescheitelt, durch eine große Hornbrille schauten sie warme, braune Augen freundlich an. »Sie müssen John Raymond sein.«
Als John nicht reagierte, wurde der Blick ein wenig irritiert. Ines verfolgte, wie er von Johns Gesicht auf die Gitarre schaute, sich dann Kevin zuwandte. »Oder sind Sie Mr Raymond? Ich bin Eric Clapton«, fügte er an, als ob das notwendig wäre.
»Nein, ich bin John Raymond.« John hatte seine Stimme wiedergefunden und streckte die Hand aus. »Freut mich, Sie kennenzulernen.«
Ines hätte bei dieser Floskel fast laut aufgelacht. Clapton als wohlerzogener Brite entgegnete »Ganz meinerseits« und schüttelte Johns Hand, begrüßte auch Ines und Kevin.
»Ich habe schon einiges von Ihnen gehört und muss sagen, ich bin gespannt auf Ihren Auftritt.« Er schirmte seine Augen mit der Hand ab, während er das monströse Rechteck taxierte. »Sie müssen das ausblenden«, lautete sein Ratschlag. »Stellen Sie sich vor, Sie sind auf einer netten kleinen Open-Air-Bühne irgendwo in Liverpool.«
Ines sah die restliche Band herankommen. Tim hatte den Hut in den Nacken geschoben, er strahlte über das ganze jungenhafte Gesicht und schritt selbstbewusst aus, sein weites Hemd flatterte im Wind.
Clapton klopfte John auf die Schulter. »Sie machen das schon.« Er nickte Ines und Kevin zu und verschwand in Richtung des gegenüberliegenden Bühnenzugangs.
*
»Hey, John-Boy, war das der Meister selbst?«, fragte Tim, und seine hellen Augen schienen so etwas wie Bewunderung zu signalisieren. »Cool.«
Die anderen bemühten sich, so zu tun, als würde jeden Tag eine Rock-Ikone mit ihnen plaudern. Auch von der überdimensionalen Stadion-Bühne ließen sie sich scheinbar nicht beeindrucken.
John sagte gar nichts und versuchte, seinen Stolz nicht in seiner Mimik aufscheinen zu lassen. Er verkabelte die Stratocaster und ließ ein paar helle Akkorde dahin tänzeln, strahlte Ines an. Sie verstand: Der Song, den er für sie geschrieben hatte. Er würde ihn jetzt nicht spielen, umso mehr freute sie sich darauf, ihn später zu hören.
Tim und der Bassist stöpselten ihre Instrumente ein. Adil bezog die Position hinter dem Schlagzeug, Max nahm am Keyboard Platz und der Soundcheck begann. Ines und Kevin zogen sich in den Seitenflügel zurück, aus dem sie gekommen waren.
»Auch, wenn ich ihn nicht mag: Er ist gut.«
Kevin blickte sie irritiert an, begriff dann, dass Ines Tim meinte, der seine Stimmübungen souverän in eine Soulzeile hatte hinübergleiten lassen, und nickte.
Der Gesang war eine Mischung aus glockenheller, sauberer Intonation und Gossenjungen-Attitüde. Glasgower Slang – der ähnlich schwer verständlich war wie das Liverpooler Scouse – traf auf Privatschul-Idiom. Ines meinte, irgendwo gelesen zu haben, dass Tim einer reichen Familie entstammte und die entsprechende Erziehung genossen hatte, demnach wäre der Underdog gespielt.
»Es ist sein Gesang, der die Band soweit gebracht hat«, stellte Kevin fest. »Der Rest ist auch gut, und natürlich ist John einfach überirdisch, aber das Markenzeichen ist Tim.«
Die Distant Stars hatten eine Up-Tempo-Nummer begonnen, bei der Zacs Bass zu weit vorn lag. Sie brachen ab und es dauerte, bis die Lautstärken entsprechend eingestellt waren. Gerade wollte Ines vorschlagen, noch einen Kaffee zu holen, als auf einmal zwei uniformierte Polizisten neben ihnen auftauchten, dahinter eine Frau Mitte 30 in Zivil. Schnell gingen sie quer über die Bühne.
»Timothy Dougal Cantely«, sprach die Frau den Sänger laut an, als sie noch ein paar Meter von ihm entfernt war. »Ich verhafte Sie wegen des Verdachts des Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz.«
Tim musste das Deutsche nicht verstehen. Er hatte auf die Polizisten gestarrt, das Gesicht angstverzerrt, sich hektisch den Gitarrengurt über den Kopf gezogen und wollte zur anderen Seite der Bühne laufen. Da waren die Polizisten jedoch schon bei ihm angelangt und die Frau wiederholte ihren Satz auf Englisch.
Der Sänger schüttelte wie wild den Kopf, wiederholte immer wieder ein fast geschluchztes »Nein«, während die Männer ihn mit festem Griff in ihre Mitte nahmen und alle Vier die Bühne verließen.
Die übrigen Musiker standen in der warmen Augustluft da wie festgefroren. John riss sich als erster aus der Starre. Es gab ein durchdringendes Feedback-Geräusch, als er seine Gitarre an den Verstärker lehnte, schnell kappte er die Stromverbindung und lief den Polizisten hinterher.
Natürlich, er war wiederholt verhaftet worden, dachte Ines. Er wusste, worauf man achten musste. Sie wollte helfen – ihm und Tim, dessen kindliche Reaktion sie berührt hatte. Sie rannte los, quer über die Bühne. Kevin folgte ihr. Durch ein Labyrinth von Gängen erreichten sie den Bereich, wo sie in das Stadion hineingekommen waren. In der Türöffnung stand John, er starrte dem blau-gelben Streifenwagen hinterher, der bereits um das Gebäude herumfuhr.
»Über ein Kilo! Der Idiot hat mehr als ein Kilo H mit sich herumgeschleppt!«, stieß er wütend hervor. »Das ist doch wohl ...! Das war’s mit der Tour. Ich kenn ja die Gesetze hier nicht, aber damit lassen die ihn so schnell nicht wieder raus.« Mit geballter Faust schlug er gegen den Türrahmen. »Verdammt!«
Ines wusste nicht, was sie sagen sollte. Kevin fragte, ob nicht jemand hätte mitfahren sollen und sich um einen Anwalt kümmern.
»Jim ist dabei«, antwortete John. »Er hat Tim schon oft genug irgendwo rausgehauen, aber hier beißt er sich garantiert die Zähne aus.«
Von hinten näherten sich Calum und Max. Der Saxofonist schaute John an und schüttelte resigniert den Kopf. Max stürmte nach draußen, kam wieder zurück und fragte, was los sei. In dem Moment waren auch Adil und Zac bei ihnen angelangt. John wiederholte, dass die Polizei ein reichliches Kilo Heroin gefunden und der Manager Tim begleitet habe. Er sprach ganz verknappt und mit extremem irischen Akzent – ein Zeichen dafür, wie aufgewühlt er war.
»Und nun?«, fragte Adil.
»Das war’s. Wenn nicht ein Wunder geschieht, und sie ihn gleich wieder rauslassen, können wir den Auftritt knicken«, meinte Zac, der sich eine Zigarette angesteckt hatte.
»Wieso sollen sie ihn rauslassen? Mann, dass Tim es aber auch immer übertreiben muss.« Max schien der Sänger zu imponieren.
John fixierte Calum, der sich als einziger noch nicht geäußert hatte, und sagte: »Ich spiele heute Abend.«
*
»Was hast du vor?«, fragte Ines, während sie langsam zurückgingen. John hatte die anderen überredet, zumindest den Soundcheck abzuschließen.
»Keine Ahnung«, gab John leise zu. »Aber diese Gelegenheit lasse ich mir nicht entgehen.«
Als sie die Bühne erreichten, bat John Kevin, Tims Gitarre zu spielen, damit die Einstellungen vorgenommen werden konnten. Kevin strahlte übers ganze Gesicht und nahm Tims Position ein, spielte ein paar Riffs.
»Können wir uns auf Johnny B. Goode einigen?«, fragte John und stimmte, als kein Einwand kam, den bekannten schnellen Lauf an.
Kevins Gitarrenspiel war alles andere als gut, selbst bei dem schlichten Blues geriet er ein paarmal aus dem Takt und griff einen Barré-Akkord nicht sauber. Ines registrierte Zacs abwertenden Blick. Dafür horchten alle auf, als er spontan den Gesangspart übernahm. »Deep down Louisiana close to New Orleans...« Kevin hatte ein Jahr als Austauschschüler in Georgia verbracht und seitdem einen Südstaaten-Akzent kultiviert, der gut zu dem Song passte. Singen konnte er ohnehin, auch bei seiner eigenen Band Mothers Little Helpers überzeugte er als Frontmann – dass er sich jedoch so mir nichts, dir nichts auf eine Stadion-Bühne stellte und sang, gut sang, überraschte auch Ines.
John grinste von einem Ohr zum anderen, als er ihm zuspielte; er ließ die Stratocaster aufjaulen und Kevin setzte sein breites »Go, Johnny, go, go!« dagegen.
Sie machten aus der Soundcheck-Übung ein Sieben-Minuten-Stück, in dem auch Calum und Max Gelegenheit für ihre Soli bekamen. Als sie mit einem krachenden Akkord endeten, hörte Ines aus dem gegenüberliegenden Seitenflügel Applaus und begann ebenfalls zu klatschen. Lachend verbeugten die sechs Musiker sich in beide Richtungen.
*
»John-Boy be good, was?« Zac grinste John an, als sie die Bühne verlassen hatten, er klang anerkennend.
Alle steuerten gemeinsam den Catering-Raum an.
»Es kann funktionieren«, sagte John, als sie sich mit Getränken versorgt hatten. Er drehte seine Kaffeetasse hin und her, während er nacheinander Kevin, Calum, Max, Adil und Zac anschaute. Ines’ Blick vermied er. Von der Bühne drang die volle Soundkulisse von Eric Claptons Band herüber.
»Du meinst: In der Formation heute Abend auftreten? Ohne Tim?« Max schüttelte ungläubig den Kopf.
»Das klappt nicht«, war Adil sich sicher. Zac gab ein unschlüssiges Geräusch von sich.
»Tims Rhythmus-Gitarre könnten wir zum großen Teil durch das Keyboard ersetzen«, wandte John sich an Max. Der zuckte die Achseln, als wollte er sagen: Nichts leichter als das.
Calum hatte die ganze Zeit geschwiegen. Nun trank er einen Schluck Bier und fragte Kevin, ob er ihre Texte kennen würde.
Kevin, dem nur langsam bewusst wurde, worüber sie redeten, griff nach seiner Bierflasche. »Northern Lights, klar, aber sonst nichts.«
Die Hymne auf die schottischen Sterne war der große Hit der Band. Ines rang mit sich, ob sie etwas sagen sollte. In ihren Augen war das Wahnsinn. Kevin sang gut, keine Frage, aber sollte er sich jetzt in zwei Stunden die Songs der Distant Stars aneignen? Um sie dann vor 80.000 Menschen zu singen?
Zacs Einwurf schien genau in die Richtung zu gehen: »Aber Darling Anita bekommst du doch bestimmt auch hin, oder? Und Crying, Luckily?«
»Ich weiß nicht«, stammelte Kevin.
»Nein, so geht das nicht«, entschied John. »Wir stellen ein Mini-Programm zusammen mit Cover-Versionen, die du drauf hast, Kevin. Bekannte Standards.« Wieder schaute er die Musiker nacheinander an. Keiner wandte etwas ein. »Und als Höhepunkt und Schluss gibt’s Northern Lights.«
*
»Also Valery bringen wir in der Amy Winehouse-Version?« Ein halbe Stunde vor dem Auftritt war Kevin ein Nervenwrack. Er starrte auf die Setlist in seinen Händen. Vor wenigen Minuten war mit einem Anruf des Managers die letzte Hoffnung geplatzt, dass Tim rechtzeitig zurückkommen würde. Immerhin hatte MacCauley einen Haftprüfungstermin gleich am kommenden Morgen ausgehandelt.
John hatte sich komplett in sich selbst zurückgezogen, sein schmales Gesicht mit den hohen Wangenknochen wirkte maskenhaft. Ines war unsicher, wie sie ihm am besten helfen konnte. Vielleicht braucht er ihre Hilfe auch gar nicht; Kevin aber umso mehr.
Sie trat hinter ihn: »Mach die Augen zu.« Sie begann, seinen Nacken und seine Schultern zu massieren, wie sie es von ihm selbst gelernt hatte. »An nichts denken.«
Auch sie versuchte das. Nachdem die Band wundersamer Weise Johns Anordnungen befolgt hatte und Kevin sich die Rolle als Frontmann zuzutrauen schien, wollte sie ihnen nicht in den Rücken fallen.
»Wenn Kevin an sich glaubt, kann er das«, hatte John keinen Zweifel zugelassen.
Nun galt es also, dem Freund, mit dem sie schon die unmöglichsten Situationen erlebt hatte, das nötige Selbstvertrauen zu geben. Energisch knetete sie seine muskulösen Schultern.
»Weißt du noch, wie wir uns vor Jahren, als wir den letzten Zug von Berlin nach Dresden verpasst haben, in die Wäschekammer des Adlon geschlichen und dort geschlafen haben?«
Das lockte zwar John aus der Reserve, der sie fragend ansah, Kevin aber wischte die Geschichte beiseite: »Das schiere Glück, dass ein Zimmermädchen vergessen hatte, abzuschließen.«
»Na und? Seitdem können wir sagen, wir haben schon mal im Adlon übernachtet. Und du kannst bald überall erzählen, dass du schon im Westfalenstadion auf der Bühne gestanden hast.«
Er nickte verzagt.
»Noch zehn Minuten!« Calum kam aus dem angrenzenden Garderobenraum. Ohne große Absprache hatten sie sich auf die beiden Räume verteilt, der dritte, den Tim am Nachmittag okkupiert hatte und in dem das Heroin gefunden worden war, war verschlossen worden. »Wir sollten langsam nach vorn gehen.«
Zac und Adil tauchten hinter ihm auf. John holte tief Luft, dehnte sich beim Aufstehen und legte Kevin eine Hand auf die Schulter. »Kommst du?«
»Geh vor, ich komme gleich nach«, sagte er.
Ines sah John lange in die Augen. »Toi, toi, toi«, machte sie tonlos, er umfasste ihre Schultern und küsste sie heftig, bevor er den Raum verließ.
»Was ist los? Schiss?«, fragte Zac Kevin.
Der zuckte die Schultern. Die Tür zu der anderen Garderobe stand offen und Ines sah, wie Max dort am Tisch hantierte, sich tief herabbeugte und mit dem Kopf eine kurze Bewegung machte.
»Komm mal rüber. Dagegen haben wir was.«
Bereitwillig folgte Kevin dem Bassisten und nahm von Max das Röhrchen entgegen, zog die vorbereitete Line ohne zu zögern durch sein linkes Nasenloch.
»Alter Schwede, hab ich mir doch gedacht, dass du keine Jungfrau bist!«, sagte Max. »Dann mal los. Zeig’s ihnen!«
Als sie an ihr vorbeigingen, reckte Ines Kevin beide Fäuste entgegen. Vielleicht funktionierte es ja. Koks machte selbstsicher. Genau das, was er brauchte.
Es ging nach hinten los. Die Droge machte Kevin nicht selbstbewusst, sondern größenwahnsinnig. John hatte ihm seine Stratocaster überlassen, und anscheinend hielt Kevin sich für Jimi Hendrix höchstpersönlich. Anstatt sich auf die abgesprochenen wenigen Rhythmus-Unterstützungen zu beschränken, versuchte er sich gleich beim Opener ›Seven Nation Army‹ an einem Solo. Das Publikum reagierte unwirsch.
Schon bei Johns Begrüßung – die Ines sehr souverän fand – hatte es einige Buhrufe gegeben, als er erklärte, dass Tim verhindert sei und sie deshalb kein typisches Distant Stars-Set spielen würden, sondern »ein paar Stücke, die euch hoffentlich genauso gut gefallen wie uns.«
Die 80.000 Menschen warteten auf Eric Clapton, vielleicht hatten sie sich auch ein wenig auf Tim Cantelys Distant Stars gefreut, mit einem dilettantisch klampfenden Kevin, dessen Gesang immer wieder aus dem Ruder lief, wollten sie sich nicht abfinden.
Ines konnte von ihrem Platz im Seitenflügel sowohl die Bühne als auch einen Großteil des ausverkauften Fußballstadions sehen. Sie meinte Schweißperlen auf Johns Stirn auszumachen, als er spielerisch versuchte, Kevin dazu zu bringen, sein Gitarrenspiel zurückzuschrauben. Umsonst. Kevin nahm jede Geste als Ansporn. Das Publikum schien zwischen Lachen und Wut zu schwanken.
Endlich kam der Mixer auf die Idee, die Stratocaster komplett herunterzuregeln. Die Band stürzte sich in ›Sweet Home Chicago‹ und Kevin, dem offensichtlich entging, dass aus seiner Monitorbox keine Gitarrentöne mehr kamen und der weiter die Stratocaster attackierte, sang halbwegs passabel.
Irgendwie brachten sie eine halbe Stunde Programm hinter sich. Dabei vergingen die wenigen Gelegenheiten, bei denen John mit einem Solo hätte glänzen können, nahezu ungenutzt. Ines hatte den Eindruck, dass er viel zu fixiert auf Kevin war, um sich selbst von der Leine zu lassen. Ein zaghafter Ansatz bei ›Wild Horses‹ klang genauso: zaghaft.
›Northern Lights‹ wurde eine richtige Katastrophe, lautstarkes Buhen und »Tim, Tim!«-Rufe übertönten fast die Band, die sich danach beeilte, von der Bühne zu gelangen. Nur sehr vereinzelt gab es einen knappen Achtungs-Applaus.
*
»Wir sollten noch was von den White Stripes nachschieben«, meinte Kevin, während John ihn mit festem Griff zu Ines führte. »Seven Nation Army war doch total geil!«
»Es tut mir so leid«, sagte Ines leise zu John und nahm ihm Kevin ab, der weiter fabulierte, was er noch spielen wollte. Sie hatte Mühe, ihn davon abzuhalten kehrt zu machen um das tolle Konzert, das in seinem Kopf stattgefunden hatte, fortzusetzen. Langsam bewegten sie sich zum Catering-Raum. John sagte die ganze Zeit nichts. Erst, als alle versammelt waren, fuhr er seine Mitmusiker wütend an: »Was habt ihr ihm gegeben? Bisschen Speed ins Bier? Ihr seid wirklich unglaublich!«
»Hey, hey, John-Boy«, fiel Max ihm ins Wort. »Dein Kumpel wollte eine Line – und er ist offensichtlich genausowenig Jungfrau wie du! Dass er abdreht und den Clapton geben will, konnte schließlich keiner wissen.«
»Clapton – wir verpassen das Clapton-Konzert«, reagierte Kevin prompt. Er nahm sich eine Bierflasche, hebelte den Kronkorken ab und wollte den Raum verlassen.
»Du bleibst hier!«, beschied John ihn und bugsierte Kevin zu einem Stuhl. »Klar, ihr seid ja nie Schuld!«, kanzelte die anderen weiter ab, als die Tür geöffnet wurde und der Manager hereinkam.
»Wessen Idee war das, mit diesem Witzbold auf die Bühne zu gehen?«, fragte er außer sich.
Kevin zuckte zusammen. Ganz langsam schien ihm zu dämmern, dass das Konzert in der Realität nicht so großartig gewesen war.
»Das warst du, oder?« Die blauen Augen hinter der modisch-großen Brille schossen giftige Pfeile auf John ab.
»Ja«, presste John hervor.
»Verdammt noch mal, seit wann bist du der Boss?! Was glaubst du, was das hier ist? Eine Comedy-Show? Ich sag dir: Das wird Folgen haben!«
John holte tief Luft und Ines bekam Angst, er würde mit den Fäusten auf James MacCauley losgehen. Stattdessen sagte er leise und schneidend: »Was das ist? Ein süchtiger Egomane, der uns den Gig vermasselt hat und ein Haufen Speichellecker. Das ist diese Band. Und die kann mir gestohlen bleiben!« Damit verließ er den Raum.
*
»Hey!« Ines ließ sich neben John in die dunkle Ecke im Seitenflügel der Bühne sinken. Eric Clapton spielte seinen größten Hit ›Layla‹ gleich als ersten Song, zelebrierte ihn in einer ganz entschleunigten Version.
»Hey. Wie geht’s Kevin?«
Ines fuhr mit ihrer rechten Hand über den schmutzigen Fußboden und tastete nach seiner linken, die sich trotz der Wärme kalt anfühlte. »Er kommt langsam runter und kriegt eine Ahnung, was er angerichtet hat.« Sie hoffte, dass Kevin allein mit Calum im Catering-Raum klarkam. Ihr Bedürfnis, John beizustehen, war zu groß gewesen, um noch länger dort zu bleiben. »Die anderen hatten keine Schuld. Kevin wollte das Koks. Er ist kein Heiliger, weißt du?«
John gab einen Laut von sich, der sowohl ein ersticktes Lachen als auch ein halbes Schluchzen sein konnte. »So wie ich, meinst du?«
Wenige Meter von ihnen entfernt brauste schier ohrenbetäubender Applaus auf. Eric Clapton bedankte sich mit einem knappen, halb verschluckten »Thank You«, begrüßte das Publikum und kündigte an, an diesem Abend »Zeug aus der Vergangenheit und der Gegenwart zu spielen«, stimmte in den neuerlichen Applaus hinein ›Bell Bottom Blues‹ an.
»Ich hab’s versaut. Wenn ich nicht unbedingt hätte spielen wollen ...«
Ines drückte seine Hand. »Was wäre denn die Alternative gewesen? Die Leute eine Stunde bei Konservenmusik rumstehen lassen? Vielleicht hättest du allein da rausgehen sollen. Du kannst das, das weiß ich. Du könntest jetzt da stehen und diesen Song spielen wie an dem Abend im Cabin Club.«
Eine Zeitlang saßen sie schweigend da, Hand in Hand, und lauschten der verzweifelten Liebeserklärung.
»Laut MacCauley schwört Tim Stein und Bein, dass das H nicht seins war«, berichtete sie John danach.
Er schnaubte nur verächtlich auf.
»Na ja.« Ines hatte immer wieder an ein unlogisches Detail denken müssen. »Ihr seid morgen in Amsterdam, warum soll er sich dann in Deutschland ein Kilo besorgt haben?«
»Einfach weil’s ging, weil er hier einen Dealer hatte und es kriegen konnte.«
»Sie sind gleichzeitig mit uns angekommen«, erinnerte Ines ihn.
»Dann hat er es sich in Dresden besorgt oder in Hamburg, wo er so lange unterwegs war. Es ist doch auch egal, oder? Die Tour ist vorbei, meine Zeit bei der Band ist vorbei. Ich steh wieder mal vor dem Nichts.«
Wie ein Kommentar dazu wirkte Claptons nächster Song: ›Nobody Knows You When You’re Down And Out‹.
Ines wusste nicht, wie sie John aufmuntern sollte. Also rutschte sie nur noch ein Stück näher an ihn heran. Er ließ seinen Kopf auf ihre Schulter sinken und so blieben sie auf dem unbequemen Holzboden sitzen.
*
Die Dortmunder Lokalzeitung hatte ein großes Foto von Eric Clapton auf der ersten Seite. Ines ließ John in den Frühstücksraum des Hotels vorangehen und blieb an der Rezeption stehen. Die Angestellte mit dem adretten Pferdeschwanz sagte, sie könne die Zeitung gern mitnehmen; Ines las den knappen Text jedoch dort. Der englische Altmeister habe einen bejubelten Parforceritt durch sein Werk unternommen. Die Vorband, die angesagten schottischen Senkrechtstarter The Distant Stars, musste ohne ihren charismatischen Frontmann Tim Cantely auskommen und enttäuschte auf ganzer Linie. Sie legte die Zeitung zurück und nickte der Frau zu.
John hatte ihr einen Kaffee vom Büfett mitgebracht. »Was schreiben sie?«, fragte er.
Ines trank einen Schluck und übersetzte den Satz.
»Hätte schlimmer kommen können«, meinte John. »Ich kann mir lebhaft vorstellen, was die Sun daraus machen würde.«
Ines sagte ihm nicht, dass es eine deutsche Boulevardzeitung gab, die dem englischen Blatt in nichts nachstand. Sie hoffte, dass er sie nicht zu sehen bekam.
Sie hatten keine Ahnung, wie es weitergehen sollte. Für elf Uhr stand die Abfahrt in Richtung Amsterdam auf dem Plan, es würde jedoch kaum Sinn haben, ohne Tim dort hinzufahren. Bislang waren weder die anderen Bandmitglieder noch der Manager aufgetaucht. Auch Kevin, der sie spät am Vorabend in ihrer dunklen Ecke der Seitenbühne aufgespürt und John um Verzeihung angefleht hatte, war noch nicht unten.
Ines fühlte sich wie ausgehungert und stürzte sich auf das Frühstücksbüfett. John drehte nur die Kaffeetasse in den Händen und starrte ins Leere. Hin und wieder versuchte er seinen Ellenbogen selbst zu behandeln. Wenn die Tour abgebrochen wurde, konnte er den Arm schonen, dachte Ines.
Schließlich tauchte Kevin auf. Nach einem »Guten Morgen« begann er gleich wieder damit, wie leid es ihm tue.
»Kevin, ich hab dir gestern schon gesagt, dass es okay ist«, sagte John. »Und ich meine es auch. Wenn du wüsstest, was für einen Mist ich in meinem Leben schon gebaut habe...«
»Aber so etwas?«
»Himmel, nein, so etwas nicht. Aber tausend andere Sachen, für die andere mich zu Recht hätten lynchen können.«
Ines lächelte Kevin beruhigend an. Er sah noch übernächtigter aus als John und sie. »Konntest du überhaupt schlafen?«
Kevin schüttelte den Kopf. »Keine Minute.« Er zuckte die Achseln. »Gerechte Strafe.« Als er Johns Blick wahrnahm, hob er die Hände. »Okay, hab’s kapiert: Schluss damit. Ich hol mir erst mal einen Kaffee.«
Als er mit seinem Frühstückstablett zurück an den Tisch kam und sich John gegenüber setzte, sagte er: »Also vor 80.000 Leuten zum Affen gemacht hast du dich noch nicht. Das hab ich dir voraus.«
»Genau.« John grinste und Kevin verzog erleichtert die Mundwinkel.
»Was muss ich dir eigentlich zahlen, damit du Jannie nichts davon erzählst?«, fragte er Ines.
Sie schüttelte lachend den Kopf. »Keine Chance. Die Geschichte ist einfach zu gut. Deine Schwester, deine Band, na gut: deine und meine Eltern vielleicht nicht in allen Details, aber ansonsten ....«
In diesem Moment betraten James MacCauley und Tim den Frühstücksraum und steuerten auf sie zu.
»Na, schon gepackt?« Während der Manager zum Büfett ging, ließ Tim sich rittlings auf einen Stuhl am Nachbartisch fallen. Das helle, weit von seinen mageren Schultern herabhängende Hemd vom Vortag war am linken Arm eingerissen und wies Blutflecken auf. Den unvermeidlichen Hut trug er wieder tief in die Stirn gezogen; im hellen Morgenlicht konnte er jedoch nicht verbergen, dass seine Pupillen kaum sichtbar waren. »Auf nach Amsterdam!« Er produzierte ein Lausbubengrinsen.
Ines sah John an, dass er nicht wusste, wie er reagieren sollte.
Der Sänger wandte sich an Kevin: »Du kleiner Anfänger hast also versucht, an meiner Stelle aufzutreten?«
Kevin nickte und sagte nüchtern: »Tut mir leid.«
»Lass dir das eine Lehre sein. Tim Cantely ist nicht zu ersetzen. Niemand nimmt ungestraft Tim Cantelys Platz ein.«
MacCauley setzte sein Tablett ab und forderte Tim auf, etwas zu essen. Ines war stolz auf Kevin, dass er sich nicht noch einmal entschuldigte, sondern schwieg.
John war zu einem Entschluss gekommen: »Wir haben versucht zu retten, was du verbockt hast – und du solltest Kevin dafür dankbar sein«, sagte er entschieden. »Wie bist du überhaupt raus gekommen?«
Tim zuckte die Achseln, als sei das komplett uninteressant. »Kaution«, warf er hin.
»Aber wir können die Tour fortsetzen?«, hakte John bei MacCauley nach.
Der gab nur ein kurzes »Ja« von sich. Nachdem Tim offenbar nicht auf John verzichten wollte, musste er wohl oder übel mitspielen.
»Gut.« John nickte. »Ich brauche einen Physiotherapeuten. Meinen«, er sah in Kevins Richtung, »Physiotherapeuten. Das sollte drin sein, denke ich. Also angemessenes Honorar, Hotelzimmer, Spesen.«
Nun wollte der Manager doch etwas einwenden, aber Tim wedelte nur mit der rechten Hand herum, griff mit der linken ein Plunderteilchen von MacCauleys Tablett und sagte: »Klar. Ich lass mich ja lieber von Frauen auf die Liege werfen, aber wenn du ihn hier willst, nur zu!«
Kevin fragte Ines auf Deutsch, ob John klar sei, dass er eine Stelle habe und am nächsten Tag wieder in der Dresdner Praxis sein müsste.
»Könntest du nicht nach Amsterdam noch mitkommen?«, reagierte sie. Es wäre schön, die Strecke zu dritt in Kevins Benz zurückzulegen und den Moment, an dem sie sich endgültig zu der Band gesellen musste, noch hinauszuschieben.