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Regina Stürickow führt den Leser auf einem reizvollen kriminalhistorischen Streifzug rund um Alexanderplatz, Scheunenviertel, Bülowbogen und Kurfürstendamm zu Orten des Verbrechens. Es gelingt ihr meisterhaft, den Zeitgeist der 1920er Jahre wie auch die nicht "goldene" Seite des damaligen Lebens in Berlin einzufangen. Kurzweilig erzählt sie von Schiebern und Kneipenwirtinnen, vom Kriminalistenalltag wie von der zunehmenden Aggressivität als unvermeidlicher Kriegsfolge. Zahlreiche historische Fotos illustrieren die Kriminalfälle und zeichnen zugleich ein treffliches Bild der Stärken und Schwächen kriminalpolizeilicher Arbeit zur Zeit des Ersten Weltkrieges und der Weimarer Republik.
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Seitenzahl: 319
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Regina Stürickow
Authentische Fälle
1914–1933
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
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Erweiterte Neuauflage: © Militzke Verlag GmbH, Leipzig 2015
Erstauflage: Militzke Verlag e.K., Leipzig 2004
Lektorat: Caren Fuhrmann, Monika Werner
Umschlaggestaltung, Layout und Satz: Ralf Thielicke
Umschlaggestaltung: unter Verwendung zweier Fotos von istockphoto
Schrift: ITC Legacy Serif
ISBN: 978-3-86189-860-3 (Buch)
eISBN: 978-3-86189-973-0 (E-Book)
Besuchen Sie uns im Internet unter: www.militzke.de
»Wünschen Sie einen Blick in die Unterwelt zu tun?« fragt Curt Moreck in seinem 1931 erschienenen Führer durch das »lasterhafte« Berlin und lässt eine ausführliche Beschreibung der sogenannten Berliner Verbrecherwelt folgen, eine Beschreibung jener heruntergekommenen Stadtviertel mit ihren einschlägigen Kaschemmen, den angeblichen Treffpunkten der Kleinkriminellen und der gestandenen Berufsverbrecher. Kaum ein Berlinführer der zwanziger Jahre verzichtet darauf, den Mythos vom »dunklen Berlin« zu bedienen und eine mehr oder weniger sachkundige Schilderung der Berliner Unterwelt oder dessen, was man gemeinhin dafür hält, zu geben. Die von einer Aura der Romantik umnebelte Verbrecherwelt ist zur Touristenattraktion geworden und die Neugier des Publikums kaum zu bändigen. Gierig verschlingen die Leser die Polizei- und Gerichtsberichte in der Tagespresse. Kriminal- und Gerichtsreporter sind, ganz gleich, ob sie ihre Artikel kolportagehaft im lockeren Plauderton oder im gepflegten Feuilleton-Stil präsentieren, die Stars ihrer Zunft.
Einer jener populären Gerichtsberichterstatter ist der Schriftsteller und Journalist Paul Schlesinger (1878–1928), der unter dem Pseudonym »Sling« seine gleichermaßen brillanten wie amüsanten Gerichtsreportagen für die altehrwürdige Vossische Zeitung schreibt. Reportagen, in denen nicht nur Schlesingers demokratische Gesinnung, sondern mehr noch seine humanistische Grundhaltung zum Tragen kommt. Demzufolge betrachtet »Sling« den vor Gericht stehenden Delinquenten nicht nur als »Täter«, sondern – je nach den gegebenen Umständen – gleichsam als »Opfer« der sozioökonomischen Verhältnisse. So zeichnet Schlesinger in seinen Gerichtsberichten ein Gesellschaftsporträt, das das Legende gewordene Gold jener Jahre als verrostetes Blech entlarvt.
Zur Touristenattraktion avancierte das »dunkle Berlin« jedoch nicht erst in den Jahren der Weimarer Republik. Schon um 1871 führte Heinrich Zille, gerade dreizehn Jahre alt, Touristen aus der Provinz durch die verrufensten Gassen der preußischen Metropole und vermittelte ihnen mit wahren und geflunkerten Schauergeschichten eine Verbrecherwelt, dass es den unbedarften Provinzler nur so schauderte. Mehr als zwanzig Jahre später, in den 1890er Jahren, begleitete Kriminalkommissar Hans von Tresckow neugierige Einheimische wie Zugereiste in die bekanntesten Verbrecherkaschemmen des Berliner Ostens und Nordens; freilich nur in jene, die ihm vertraut waren und in denen er, jedenfalls wenn er privat kam, ein mehr oder weniger gern gesehener Gast war. »Na, Herr Kommissar, wieder mal als Bärenführer unterwegs?« lästerten dann die Ganoven.
»Bärenführer« nannte man, nach den seinerzeit berühmten Reiseführern gleichen Namens, die Kriminalkommissare, die Fremde durch die Verbrecherviertel führten.
Die Faszination des Verbrechens geht weit ins 19. Jahrhundert zurück; ein Phänomen, dem letztlich die Romanfigur Sherlock Holmes und als französische Antwort auf den britischen Meisterdetektiv der Gentleman-Einbrecher Arsène Lupin ihre Existenz verdanken. In den letzten Dezennien des 19. Jahrhunderts entstanden die ersten Detektivzeitschriften, die in aller Ausführlichkeit über authentische, zuweilen aber auch, um die Auflage zu steigern, über allein der Phantasie entsprungene Verbrechen berichteten. In Frankreich erreichten Tageszeitungen wie Le Petit Journal oder Le Matin, die in reißerischer Form Verbrechen schilderten, Auflagen in Millionenhöhe. In Deutschland verschlangen vor dem Ersten Weltkrieg besonders Kinder und Jugendliche die von den Pädagogen verdammten Nic-Carter-Geschichten.
In den zwanziger Jahren werden die von Kriminalkommissaren verfassten Milieuschilderungen zu Bestsellern: so die Publikationen von Kommissar Ernst Engelbrecht und dem Kriminalschriftsteller Leo Heller, die mit Neugier weckenden Titeln wie »Berliner Razzien«, »Bilder und Skizzen aus dem Verbrecherleben«, »In den Spuren des Verbrechertums« oder »Kinder der Nacht« erscheinen.
Bis zu Beginn der dreißiger Jahre bleibt es eine Attraktion der besonderen Art, sich von einem der populären Kriminalkommissare durch düstere Stadtviertel und einschlägige Kneipen führen zu lassen. In erster Linie sind es Künstler, Schauspieler, Regisseure, Komponisten, Schriftsteller oder Journalisten, die aus diesem Grunde im Polizeipräsidium vorstellig werden. So lässt sich auch der Komponist Ralph Benatzky (»Im weißen Rößl«) kurz nach seiner Ankunft in Berlin im Februar 1924 von einem Kriminalbeamten in eine berüchtigte Kellerkaschemme führen, wo er sich »bei kaltem Bier und vorzüglicher Eierspeis mit Kartoffeln« köstlich amüsiert.
Um uns von der alltäglichen Arbeit der berühmten Kriminalkommissare vom Alexanderplatz ein lebendigeres Bild machen zu können, werden auch wir einen Streifzug durch die Berliner Unterwelt zur Zeit der Weimarer Republik unternehmen. Die Warnungen der zahllosen Reiseführer beherzigend, werden wir uns nicht auf eigene Faust auf Entdeckungstour begeben, sondern wollen uns einem Kenner der Szene anvertrauen. Unser Begleiter, ein bekannter Kriminalkommissar, der sein Inkognito wahren möchte, kennt sich glänzend aus im Milieu. Regelmäßig zieht er, so erzählt er jedenfalls, durch die berüchtigten Kaschemmen, um zu sehen, »was gerade Sache ist«.
Eine Topographie der Berliner Unterwelt zu skizzieren ist kein leichtes Unterfangen, denn es gibt kein homogenes sogenanntes Verbrecherviertel. Ähnlich einem Flickenteppich erstreckt sich das »dunkle Berlin« über ein weitläufiges Areal, dessen Hauptbrennpunkte in den östlichen und nördlichen Stadtteilen konzentriert sind: angefangen vom Schlesischen Bahnhof über den Alexanderplatz in Richtung Norden, über das Scheunenviertel beziehungsweise die Spandauer Vorstadt und den Stettiner Bahnhof bis nach Moabit und in den Wedding. Ein weiterer Brennpunkt der Kriminalität konzentriert sich im Berliner Westen rund um den Bülowbogen, zieht sich bis zum Nollendorfplatz und von hier aus weiter zum Wittenbergplatz und Kurfürstendamm.
Versetzen wir uns zurück in das Jahr 1928 und beginnen wir unseren Spaziergang durch das »dunkle Berlin« unweit des Polizeipräsidiums, jenes zwischen 1885 und 1889 vom Stadtbaurat Hermann Blankenstein errichteten roten Backsteinkolosses am Alexanderplatz, wo sich, so Curt Moreck, »gleichsam unter dem Protektorat der Polizei« die Verbrecherwelt konzentriert. Treffen wir uns vor dem Haupteingang des Kaufhauses Hermann Tietz, bei »Tietzen«, wie die Berliner sagen. Mit Erstaunen stellen wir fest, dass die dicke Berolina, die bronzene Heroine, die vor kurzem noch einfältig grinsend über den Platz schaute, inzwischen ihren Sockel verlassen hat. Sie ist, wie wir erfahren, vorübergehend in irgendeinem Depot verschwunden. Der Grund: Die Gegend rund um den Alexanderplatz ist zurzeit Großbaustelle, denn die U-Bahn wühlt sich von hier aus weiter nach Osten durch. Wohin man auch blickt: Allenthalben bestimmt Abriss das Bild. Aus reiner Neugier gehen wir zunächst ein Stück in die Landsberger Straße hinein. Die heruntergekommenen Mietskasernen sind als nächstes dran. Ganze Häuserzeilen stehen bereits als Ruinen, ohne Türen und Fenster, ausgeschlachtet von armen Leuten auf der Suche nach Brennholz. Die Straße ist menschenleer.
Des Nachts jedoch wird sich diese Totenstadt mit geisterhaftem Leben erfüllen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite schlurft bereits der erste Obdachlose mit seinem schmutzigen Lumpenbündel in einen der verwaisten Keller, um zwischen Schutt, Gerümpel und Unrat sein Nachtlager aufzuschlagen. Eine ganze Schar Gleichgesinnter wird es ihm im Laufe der Nacht noch gleichtun. Hier ist es immerhin besser als im städtischen Asyl in der Fröbelstraße, wo man sich nicht nur allerlei ansteckende Krankheiten holen kann, sondern auch noch beklaut wird.
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