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Kommissar Marcel Bleibier zweifelt an seinem Verstand, als urplötzlich ein buntes Vogelwesen neben seiner Badewanne steht. Ein Schoppen zu viel? Eine Halluzination? Mitnichten - es ist eine Elwetritsch aus dem tiefen Pfälzerwald, die anfängt, seine Weinvorräte zu plündern und die Wurstdosen zu dezimieren. Zuerst geht ihm die Tritsch gehörig auf die Nerven, doch bald schon braucht Bleibier die Hilfe des Sagenwesens. Denn das Verbrechen hält Einzug in das beschauliche Örtchen Grumberg an der Weinstraße.
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Seitenzahl: 170
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Helge Weichmann
Mörderjagd mit Elwetritsch
Kriminalroman
Tritsch, Tritsch! Die Elwetritsche sind als Sagengestalten in der ganzen Pfalz bekannt, gesehen hat sie allerdings – Hand aufs Herz – noch niemand. Kommissar Marcel Bleibier, selbst Ur-Pfälzer, staunt deshalb nicht schlecht, als eines Tages eine waschechte Elwetritsch neben seiner Badewanne steht. Die Tritsch erweist sich als schlagfertig, verfressen und trinkfest. Bald schon hat der Kommissar die Nase voll von dem vorlauten Sagenvogel. Doch dann überschlagen sich die Ereignisse in dem Örtchen Grumberg an der Weinstraße: Ein Start-up stellt vegane Pfälzer Wurst her und bringt alle gegen sich auf, im Wald liegt ein erschossener Mann, ein nächtliches Feuer bricht aus, schließlich verschwinden auch noch Seiten aus einem historischen Kirchenbuch.
Mit Lewwerworscht, Rieslingschobbe und einer guten Portion Pfälzer Humor gehen Bleibier und die Elwetritsch an die Lösung des Falles. Dabei wird das ungleiche Duo auf eine harte Probe gestellt. Denn das Geheimnis, das sie enträtseln wollen, ist seit 100 Jahren tief im Pfälzerwald versteckt …
Helge Weichmann, Jahrgang 1972, ist gebürtiger Pfälzer und lebt seit mehr als 25 Jahren in der Diaspora in Rheinhessen. Während seines Studiums jobbte der promovierte Kulturgeograph als Musiker und Kameramann, bevor er sich als Filmemacher selbstständig machte. Heute betreibt er eine Medienagentur, arbeitet als Moderator und hat sich mit Mainzer Krimis einen Namen gemacht. Seine Heimat trägt er jedoch immer im Herzen, deshalb reifte die Idee, der wunderschönen Region zwischen Neustadt und der französischen Grenze ein Buch zu widmen. Herausgekommen ist eine aberwitzige Mörderjagd mit »sagenhafter« Elwetritsche-Unterstützung, bei der Kultur, gutes Essen und die berühmte Schlitzohrigkeit der Pfälzer nicht zu kurz kommen.
Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:
Schandflut (2019)
SOKO Ente (2019)
Schandfieber (2018)
Schandglocke (2017)
Schwarze Sonne Roter Hahn (2017)
Schandkreuz (2016)
Schandgold (2014)
Schandgrab (2013)
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Lektorat: Teresa Storkenmaier
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unter Verwendung eines Fotos von: © Walter Rupp
ISBN 978-3-8392-6290-0
sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen und Elwetritsche sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Der Tag, der Marcel Bleibiers Leben veränderte, war sonnig, mild und leicht, in der Luft lag der spezielle honigsüße Abendduft, den es nur in der Südpfalz gab. Bleibier wackelte mit den Zehen und schaute zu, wie im Badewasser kleine Wellen plätscherten, dann hob er seinen Blick und ließ ihn müßig über die Rheinebene schweifen. Die späten Sonnenstrahlen füllten das weite Land mit Licht, während sich hinter ihm die Bäume am Haardtrand dunkel färbten und die Nacht erahnen ließen.
Bleibiers Badewanne stand außerhalb des Hauses im Garten, dort, wo die Grundstücksgrenze in offene Wiesen und Weinberge überging und zur Ebene abfiel. Inspiriert hatte ihn die TV-Serie »Ein Colt für alle Fälle«, in der ein hartgesottener Kopfgeldjäger massenweise Autos zu Schrott fuhr. Ebenjener Colt Seavers wohnte in einer Blockhütte mit Badewanne davor, und in der Anfangssequenz der Serie gab es eine Einstellung, in der Colt entspannt und mit dicker Zigarre in seiner Open-Air-Wanne lag.
Diese Idee hatte Bleibier schon immer gefallen. Als sich die Rahmenbedingungen in seinem Leben nach und nach änderten – die Tochter aus dem Haus, Scheidung und Auszug seiner Frau – nutzte er eine anstehende Badsanierung und verfrachtete die Wanne kurzerhand nach draußen. Der Sanitärfachmann verlegte kopfschüttelnd Leitungen unter dem Radieschenbeet, seine Nachbarn erklärten ihn für bekloppt, aber das interessierte Bleibier nicht. Er genoss die müßigen Zeiten in seiner Colt-Seavers-Badewanne, wenngleich er statt der Zigarre lieber ein Dubbeglas in der Hand hielt.
Heute trank er schon den vierten Schoppen. Normalerweise beließ Bleibier es unter der Woche bei einer einzigen Rieslingschorle, wenn überhaupt, doch heute war der Abend zu schön, um erbsenzählerisch zu sein. Die milde Luft kondensierte am kalten Glas, Tropfen lieferten sich ein Wettrennen auf dem Weg nach unten, die Farbe des Weins hatte die gleiche goldene Nuance wie die abendglühende Rheinebene. Bleibier nickte versonnen. Ja, es stimmte, was die Pfälzer gerne erzählten: Wenn dem Herrgott jemals ein Stück Paradies auf die Erde gefallen sein sollte, dann war es hier gelandet, genau hier.
In diesem Augenblick sah er den Vogel. Nein, kein richtiger Vogel, sondern ein … ja, was eigentlich? Bleibier blinzelte. Das Wesen hatte die Größe eines Huhns, nun ja, eher eines stattlichen Hahns, und war entfernt vogelförmig. Sein Körper trug pelzige Federn, die in allen Farben schillerten, ohne sich auf eine bestimmte festzulegen. Die Beine waren kräftig, sie erinnerten an einen Hasen, endeten aber in platten Füßen nach Entenart. Zwei stämmige Flügel waren rechts und links an den Körper geklappt, weitere Federbüschel und ein absonderlicher Puschelschwanz schlossen sich hinten an. Am merkwürdigsten wirkte aber der Kopf, in die Breite gezogen und mit einem stabilen grünen Schnabel versehen. Darüber saßen zwei hervorstehende Augen, groß und rund, zwei löffelförmige Ohren und ein winziges Geweih mit kecken Spitzen.
Das Wesen saß einige Schritte von der Badewanne entfernt zwischen einem Buchsbaum und dem Salatbeet, es hielt den Kopf schräg und rührte sich nicht. Bleibier schaute vom Dubbeglas zum Vogeltier und wieder zurück. Halluzinierte er? Stimmte mit dem Wein etwas nicht? Er horchte auf seinen Magen, auf ein verräterisches Grummeln, doch nein, der Riesling von Winzer Ansgar war verträglich wie immer. Vorsichtig peilte Bleibier über den Wannenrand. Das Geschöpf hockte unverändert da, der leichte Abendwind zauste seine Pelzfedern, es rührte sich nicht, die runden Augen starrten unverwandt auf den Mann in der Badewanne. Bleibier plätscherte leicht mit der Hand im Wasser, er wusste selbst nicht so recht, warum, vielleicht wollte er in dieser absurden Situation einfach ein beruhigend normales Geräusch hören.
Noch immer bewegte sich das Wesen keinen Millimeter. Bleibier fing an zu überlegen, ob ihm vielleicht jemand einen Streich gespielt und eine Puppe in den Garten gesetzt hatte. Unauffällig schaute er sich um. Aber nein, der schräge Vogel wäre ihm schon beim Einstieg in die Wanne aufgefallen.
Seine Augen schweiften zurück – und wurden groß. Das Geschöpf war verschwunden, der Platz zwischen Buchsbaum und Salat leer. Bleibier glotzte eine Sekunde reglos, bevor er sich schnaufend in die Wanne zurücksinken ließ. Sah so eine Wahnvorstellung aus? Sollte er endlich einmal beim Doktor Seiler die altersangemessenen Blut- und Hirnuntersuchungen durchführen lassen, die die Apotheken-Illustrierte immer anriet? Oder hatte er sich einfach nur einen Schoppen zu viel gegönnt im milden Abendlicht?
»Ich muss langsam machen mit der Sauferei«, brummte Bleibier und ließ den Rest des Rieslings vorsichtshalber ins Badewasser plätschern. Auf komische Visionen wie dieses Pelzfedervieh hatte er künftig keine Lust mehr.
Am nächsten Morgen schrak Bleibier aus unruhigen Träumen hoch. Rufe erklangen, etwas klirrte.
»Wassnjetztschunwiddalos?«, knurrte er, während er auf einem Bein hüpfend in seine Hose schlüpfte und gleichzeitig versuchte, die Zähne zu putzen. Draußen empfing ihn das warme Licht der Südpfalz, das sich wie eine Lieblingsdecke auf die Haut legte. Eine Sekunde gönnte er sich den Genuss, die Berührung der Sonnenfinger bewusst wahrzunehmen. Dann raffte er sich auf und eilte die Straße nach oben. Dass der Lärm vom Stullwerk kam, war ihm klar. Seit Wochen schon ging es in der alten Holzfabrik hoch her, nirgendwo sonst in Grumberg wurde so viel und so lautstark gestritten.
»Hauen ab mit eierm Griezeich!« Metzger Bertl Bopp, wie immer in weißer, nicht ganz sauberer Schürze, schüttelte die Faust drohend in Richtung des Backsteingebäudes.
Auch Frau Krawehl, die Wirtin der Dorfwirtschaft, gestikulierte wild. »Verräderpack! Eiern Biokram kennena sunschtwo mache, awwer net bei uns!« Ein Dutzend Grumberger hatte sich vor dem rostigen Tor der Fabrik versammelt, ihre Stimmen wogten hin und her. Etwas abseits stand ein Grüppchen Leute, einige mit Bärten, viele mit langen Haaren, die Frauen trugen sackförmige Gewänder, die Männer Sandalen.
»Kein Fleisch! Gar kein Fleisch! Auch kein Pseudofleisch!«, riefen sie durcheinander. Ihr Unmut galt ebenfalls dem gedrungenen Gebäude. Einer hielt ein Plakat in die Höhe, auf dem etwas ungelenk eine glückliche Kuh unter einer lachenden Sonne prangte.
Beide Parteien wurden lauter, als drei Gestalten aus der Fabrik traten, zwei Männer, eine junge Frau. Sie entluden in aller Ruhe einen Lieferwagen, Säcke und Pakete fanden ihren Weg ins Innere des Gebäudes. Die Grumberger und die Langhaarigen krakeelten, es wurde am Tor gerüttelt. Die drei am Wagen reagierten nicht auf die Beschimpfungen, schließlich wandten sich die beiden Gruppen gegeneinander.
»Hier, langhooriches Gsindl, gehen doch emol was schaffe!«, brüllte Ansgar, der Winzer, mit hochrotem Gesicht. »Audonomepack, grienes!«
»Fleischfresser! Mörder!« Die Plakatfraktion schrie zurück, dass die Bärte wehten. »Ihr stopft euch voll mit Tierleichen, ihr seid so widerlich!«
»Eich ghört die Zung gschaabt ghört eich!«, echauffierte sich die Wirtin, die Grumberger nickten zustimmend. Schon wurden die Ärmel hochgeschoben, da ging Bleibier dazwischen.
»So, jetzt beruhigen wir uns alle mal wieder.« Sein Tonfall war entspannt, aber mit einer gewissen Schärfe.
»Ach endlich, die Bolizei!«, polterte Metzger Bopp. »Mach ebbes, Maazl, sperr die Urustifter weg! Des Xox!«
»Die haben uns bedroht! Fast angegriffen! Das ist … das ist Körperverletzung!« Anklagend zeigten die Langhaarigen auf ihre Kontrahenten.
»Hier wird niemand weggesperrt und auch niemand angegriffen. Leut’, macht mal langsam.« Bleibier wusste, dass sein Wort galt, zumindest unter den Alteingesessenen. Schließlich war er mit ihnen groß geworden. Über die Bio-Aktivisten machte er sich ebenso wenig Sorgen, sie waren so schlaksig, dass sie es wohl nicht auf eine Keilerei ankommen lassen würden.
Das sahen die Kampfhähne und -hennen wohl genauso, schnell einigte man sich wieder auf den gemeinsamen Feind – die drei Leute in der Fabrik.
»Unn iwwerhaupt, mach doch emol was gege die Vaterlandsverräder do drin!« Die dralle Wirtin zeigte anklagend durch das Tor. »Die tretn’s pälzische Erbe mit de Fieß, unn nix bassiert!«
Wie auf Stichwort nahm die andere Gruppe ihren Singsang wieder auf. »Kein Fleisch! Auch kein Pseudofleisch!«
Bleibier verdrehte die Augen. Seit Wochen ging dieser Kleinkrieg nun schon hin und her, und es war kein Ende in Sicht. Gerade wollte er ein ernstes Wörtchen mit den beiden Parteien reden, da erklang eine hohe, leicht näselnde Stimme hinter ihm.
»O je, Herr Kommissar, das sieht ja nicht gerade nach Pfälzer Gemütlichkeit aus. Was ist los, soll hier eine neue Startbahn West gebaut werden?«
Der Sprecher, ein Mann um die sechzig, sah aus wie ein Waldschrat: schlammige Stiefel, robuste Kleidung mit deutlichen Gebrauchsspuren, ein grauer Dreitagebart, dazu ein Fedora, dem die Jahre Form und Farbe geraubt hatten.
»Ooch, wir brauchen keine Startbahn West, um uns in die Wolle zu kriegen. Es reicht schon Hamlet, sehr frei interpretiert: Fleisch oder nicht Fleisch, das ist hier die Frage.«
Der Schrat schaute interessiert auf das Fabrikgebäude und die zwei Streitgruppen. Er war Professor für Geografie, kam aus Mainz und hieß mit bürgerlichem Namen Wendelin Wagenburck. Mit einer Handvoll Studenten führte er eine Projektarbeit im Pfälzerwald durch, es ging um den früheren Holzschlag und die verarbeitende Industrie, so viel hatte der Dorfklatsch verraten.
»Fleisch oder nicht Fleisch? Klären Sie mich auf, Herr Kommissar.«
Mit einer vagen Bewegung zeigte Bleibier auf das Backsteingebäude. Es stand an einer Anhöhe, der Hang und die Bäume wuchsen dahinter in den Himmel. Mehrere Gebäude aus schmutzig roten Ziegelsteinen machten einen verwahrlosten Eindruck, auf den umgebenden Freiflächen rosteten Greifer und Förderbänder vor sich hin.
»Ist eine ehemalige Holzfabrik, das Stullwerk, so heißt sie hier. Na gut, das wissen Sie wahrscheinlich schon, ist ja Ihr Thema.«
Der Schrat nickte eifrig und gab ihm ein Zeichen fortzufahren.
»Steht seit zig Jahren leer, aber jetzt ist ein neu gegründetes Unternehmen eingezogen. Ein Start-up, so nennt man das heute wohl, die VMG, Vegane Manufaktur Grumberg. Die stellen Pfälzer Spezialitäten her, Lewwerworscht, Grieweworscht, Broodworscht, Saumage, so was halt, aber alles vegan. Ohne Fleisch. Ohne tierische Bestandteile.«
»Oha«, meinte Professor Wagenburck, »das dürfte so manch eingefleischtem Pfälzer nicht schmecken.« Er lachte meckernd über sein Wortspiel.
»Ganz recht. Viele hier finden das ziemlich daneben, sie sagen, Fleisch ist Teil der pfälzischen Esskultur. Am liebsten würden sie die VMG auf den Mond schießen. Deshalb stehen sie jeden Tag am Tor und machen Stunk.«
»Und die anderen?« Wagenburck zeigte auf die zweite Gruppe, die ihr Kuhplakat schwang. »Die sehen doch aus wie Öko-Aktivisten. Wieso sind die denn gegen ein veganes Start-up?«
Bleibier seufzte. »Weil sie der Meinung sind, der Mensch soll komplett weg von der Wurst, auch vom Äußeren her. Die VMG-Leute machen richtige Dosen, wie für normale Wurst eben, und den Saumagen gibt’s im Kunstdarm, sieht aus wie echt. Das passt den Ökos nicht. Sie sagen, das ist eine Mogelpackung, denn damit bleibt in den Köpfen das ›Wurstprinzip‹ erhalten.« Er malte die Gänsefüßchen mit den Fingern in die Luft und zuckte die Achseln. »Tja, den einen geht die Veganerei zu weit, den anderen nicht weit genug. Und das sorgt momentan für Stimmung im Ort.«
Der Schratprofessor schaute interessiert zu, wie aus einem der Fabrikfenster ein Transparent gehängt wurde. Das Logo der VMG wehte im Wind, eine Zickzacklinie, die die Buchstaben V und M verschmelzen ließ, daneben der Schriftzug »Vegane Manufaktur Grumberg – alles, was die Worscht braucht«. Sowohl die Grumberger Traditionalisten als auch die Hardcore-Veggies brachen in Geheul aus und gestikulierten wütend zum Gebäude hin.
Bleibier merkte, wie seine Verstimmung wuchs. Nicht nur, dass er schlecht geschlafen hatte. Nicht nur, dass ihm bei der letzten Schorle das Trugbild eines bunten Pelzvogels erschienen war. Nicht nur, dass der Lärm ihn heute früh von null auf hundert aus dem Bett gerissen hatte. Nein, es gab bei dem VMG-Gehampel ein weiteres Detail, das er jemandem von auswärts nicht auf die Nase binden wollte: Die junge Frau in der Fabrik, Annalena Fuchs, war die Tochter des Grumberger Bürgermeisters. Sie stand voll und ganz hinter dem VMG-Projekt, was das politische Miteinander im Ort zu einem wahren Eiertanz werden ließ. Egal, für welche Seite Bleibier in seiner Eigenschaft als Polizist Partei ergriff – es gab stets jemanden, dem er damit auf die Füße trat.
Eine Autohupe riss ihn aus seinen Gedanken. Vor dem Fabriktor hielt ein steinalter Kleinbus, eine eckige Toyota-Kiste. Der ehemals weiße Lack hatte sich ins Gelbliche verfärbt, auf den Seiten prangte der Schriftzug »Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Institut für Geowissenschaften«. Fünf junge Leute kletterten heraus, zusammengerollte Karten ragten aus ihren Rucksäcken, einer hielt einen GPS-Empfänger in der Hand. Aha, die Schützlinge von Wendelin Wagenburck.
»Wie läuft’s denn bei Ihnen?«, wandte Bleibier sich an den Professor. »Was erforschen Sie eigentlich genau?«
Der Schrat lächelte erfreut und zeigte schiefe Zähne. »Oh, gut, sehr gut läuft’s. Wir untersuchen, inwieweit die ehemals exzessive Holzwirtschaft im Pfälzerwald sichtbare Spuren im natur- und kulturräumlichen Kontext hinterlassen hat. Anthropogene Überprägung mit reziproker Beeinflussung.«
Bleibier bedauerte seine Frage bereits. Er hätte wissen müssen, dass Wagenburck wie jeder Wissenschaftler sofort auf Fachgeschwurbel umschaltete, sobald man sich nach seiner Forschung erkundigte. Er nickte mit Scheininteresse, während der Professor von Woogflächen, Quellhorizonten und Meilerplätzen redete und die Studenten weitere Fachausdrücke einstreuten. Erst als eine Pause folgte, merkte der Kommissar, dass ihm sein Gegenüber wohl eine Frage gestellt hatte.
»Äh, was bitte, ich … äh«, stotterte er.
»Ich habe gefragt, ob Sie auch schon einmal in die alten Kirchenlisten geschaut haben. Die sind in Grumberg nämlich bis ins späte 17. Jahrhundert erhalten, durchaus selten.«
»Mh, nein, das, äh, ist bis jetzt noch nie nötig gewesen.« Er merkte, wie flügellahm seine Ausrede klang. Ein Euphemismus für »Ich habe keine Ahnung, was an alten Kirchenlisten so außergewöhnlich sein soll«.
»Für uns sehr interessant«, erklärte Wagenburck und stieg in den Kleinbus. »Denn in den alten Registern sind oft Besitzverhältnisse und Ortsangaben verzeichnet. Pfarrer Münch hat uns erlaubt, heute Nachmittag die Kirchenbücher einzusehen, und wer weiß, vielleicht finden wir dort weitere Hinweise zu unserem Forschungsgegenstand, dem historischen Holzschlag.« Pathos erfüllte seine Stimme, als würde er vom Verbleib des Heiligen Grals reden. Bleibier nickte unbestimmt und schaute zu, wie die Schratgruppe davonfuhr. Ihn plagten weiß Gott andere Probleme als Kirchenbücher und der historische Holzschlag.
Die aufgeheizte Atmosphäre hatte sich etwas beruhigt, einige der Grumberger gingen davon. Das sollte Bleibier nur recht sein, er machte sich auf zur Polizeiwache. Auf dem Weg durchs Dorf grüßte er hier und dort, die allermeisten Gesichter kannte er, Fremde gab es hier oben selten.
Das lag daran, dass Grumberg kein fachwerkgesäumtes Vorzeigeörtchen war wie Rhodt, Maikammer oder Deidesheim. Sicher, auch hier standen alte Häuser, schmucke Höfe und eine Kirche, die die Last der Jahrhunderte zusammengestaucht hatte wie einen uralten Mann. Doch die Grumberger blieben lieber unter sich, es gab keine Pension und kein Hotel, nur die Krawehlin vermietete einige Zimmer über ihrer Wirtschaft. Momentan hatten die Studenten dort ihre Unterkunft. Bleibier mochte diese kleine Welt. Für ihn war sie die Heimat, hier war er aufgewachsen, am Waldrand zwischen Weyher und Burrweiler. Der Gang durchs Dorf gab ihm jedes Mal ein wohlig warmes Gefühl in der Herzgegend. Seine Tochter Susanne nannte den Ort »Grumbeer«, sie hatte es kaum erwarten können wegzukommen. Inzwischen lebte sie in Mannheim, hatte einen guten Job bei den Reiss-Engelhorn-Museen und wurde nicht müde, ihren Papa zum Wegzug aus dem »Waldkaff mit Winzerzombies« zu bewegen. »Mach doch was aus deinem Leben, Babba«, versuchte sie es immer wieder, »es gibt doch noch mehr als den Haardtrand und Wingert und die immergleichen Gesichter.« Was aber, wenn er gar nichts anderes wollte als den Haardtrand und Wingert und die immergleichen Gesichter? Trotzdem freute er sich jedes Mal, wenn Susi zu Besuch kam mit Geschichten und Handyfotos aus der großen Stadt, von denen Bleibier schwindelig wurde.
Er erreichte die Wache. Schon auf dem Trottoir hörte er eine keifende Frauenstimme. Das klang nach der Bickel Elfriede, die mit ebendieser Stimme seit fast vierzig Jahren die Grundschüler von Grumberg beschallte. Elfi war Dauergast in der Polizeistube, ständig gab es etwas, was sie unbedingt zur Anzeige bringen musste.
»Unn alle leer newedroo! Wonnichsdirsaach, leer newedroo!« Ihre Stimme verursachte bei Bleibier einen Schoppenreflex, das sägende Jammern ließ sich am besten mit einer Rieslingschorle ertragen. Das kam aber nicht infrage, im Dienst trank er nicht. Oder zumindest selten.
Der Kommissar betrat das, was offiziell »Polizeiwache 1« hieß. Nicht, dass es eine Wache 2 oder gar 3 gegeben hätte. Nein, die Wache, ihre Einrichtung und sogar die beiden Beamten waren einmalig in der Gegend, keines der anderen Dörfer besaß eine eigene Dienststelle. Und auch die Grumberger Wache wäre nach dem Willen der Bezirksdirektion Neustadt schon vor Jahren aufgelöst worden. Doch das ging nicht, und hinter dieser Tatsache steckte eine interessante Geschichte.
»Gmoje, Elfi. Was issn los?«, begrüßte Bleibier die ältliche Dame mit zementierter Frisur, die am Schreibtisch seines Kollegen Manfred Blümlein stand.
»Achgottachgott, Maazl, do bischt jo! En Diebstahl vor meiner Deer, mit Sachbeschädigung unn mit Mundraub!«
Bleibier hob eine Augenbraue. »Mundraub.«
»Mund…raub«, murmelte Manne und tippte das Wort ein. Er saß am Rechner, dem einzigen in der Wache, und suchte mit zwei Zeigefingern Buchstabe für Buchstabe auf der Tastatur.
»Ajoh, wonn ich’s doch saach! Vier Kischde Woi, direkt vor meiner Deer!«
Während Bleibier seine Jacke auszog, hörte er sich die Geschichte der Bickel Elfi an. Winzer Ansgar hatte ihr gestern Abend vier Kartons Wein vor die Tür gestellt, weil er spät vom Wingert gekommen war und nicht mehr schellen wollte. Heute früh waren die Pappkisten durcheinandergewürfelt, die Flaschen lagen daneben, allesamt leer.
»Vierezwonsich Flasche Woi, alle ausgedrunge! Riesling, Weißburgunder, Dornfelder unn St. Laurent«, klagte Elfriede.
»Lau…rent.« Manne zog die Silben in die Länge, bis er die passenden Buchstaben gefunden hatte.
Die Studenten!, war Bleibiers erster Gedanke. Er verwarf ihn augenblicklich. Die Geografentruppe um Professor Wagenburck machte nicht den Eindruck, als würde sie nachts durch den Ort marodieren und sich an fremdem Alkohol vergreifen.
»Aufgerissen, die Kartons?«
»Ewe net!« Elfi machte Augen, als würde sie von einem Weinwunder sprechen. »Uffgschnidde, ganz sorgfältich. Abber net owwe, sondern an de Seite. E richtiches Derle noigschnidde, wie mim Lineal. In jeden Kaddong!«
Manne tippte die letzten Worte, die Zungenspitze im Mundwinkel. Mit zusammengekniffenen Augen überprüfte der Polizeimeister sein Protokoll auf dem 15-Zoll-Röhrenmonitor, der wie ein grauer Felsbrocken auf dem Schreibtisch thronte. Dann legte er schwarzes Durchschlagpapier zwischen zwei leere Blätter und schob alles sorgfältig in den Tintenstrahldrucker.
Bleibier schloss die Augen. Es war unmöglich, Manne auch nur das Basiswissen zum Thema IT beizubringen. Dass ein Tintenstrahldrucker keine Durchschläge machen konnte wie früher die Schreibmaschine – hoffnungslos. Dass man einen Computer herunterfuhr und nicht einfach den Stecker zog – vergebliche Liebesmüh. Unterordner, Formatvorlagen, rechte Maustaste – böhmische Dörfer. Manne hatte anfänglich sogar E-Mails ausgedruckt, die Antworten handschriftlich daruntergeschrieben und alles in einem frankierten Kuvert an den Absender zurückgeschickt. Inzwischen hatte Bleibier ihm beigebracht, den Antworten-Button zu nutzen, doch alle übrigen Finessen beim »Mehlverkehr« blieben ein Buch mit sieben Siegeln für den stämmigen Polizeimeister.