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Der Tod fährt eine reiche Ernte ein in dem beschaulichen Winzerdorf Gertelsheim. Hinter der gutbürgerlichen Fassade lauert eine Mischung aus alten Geheimnissen und neuen Verfehlungen, die in der Sommerhitze allmählich überkocht. Ein diabolischer Charakter hat die Dorfbewohner aufgestellt wie Schachfiguren und eröffnet eine Partie mit mörderischem Ausgang. Doch es gibt eine Gegenspielerin, mit der er am allerwenigsten gerechnet hat: Maja, die neue Briefträgerin.
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Seitenzahl: 354
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Helge Weichmann
Schwarze Sonne Roter Hahn
Kriminalroman
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2017
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung: Julia Franze
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © nattha99 / shutterstock.com
ISBN 978-3-8392-5354-0
Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Ebenso sind die genannten Firmen, Institutionen, Universitäten, Museen und Forschungseinrichtungen fiktiv oder, falls real existierend, in fiktivem Zusammenhang genutzt.
http://de.wikipedia.org/wiki/Gertelsheim
Gertelsheim ist eine Ortsgemeinde in Rheinland-Pfalz, Deutschland. Sie ist Teil des Landkreises Mainz-Bingen.
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Lage[Bearbeiten]
Gertelsheim liegt im rheinhessischen Tafel- und Hügelland zwischen Mainz, Alzey und Oppenheim. Die nächsten Orte sind im Nordwesten Mommenheim, im Süden Dexheim und im Osten Schwabsburg. Angebunden ist Gertelsheim durch die Landesstraße L 433 (Mommenheim – Schwabsburg).
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Geschichte[Bearbeiten]
Der Ortsname geht zurück auf die fränkische Zeit (5. bis 6. Jh., »Heim des Geddel«). Eine urkundliche Erwähnung findet sich 816 im Lorscher Codex als »Geddelsheim«. Im Mittelalter gehörte Gertelsheim zum Mainzer Domstift, was nicht zuletzt durch den Bau der prachtvollen Kirche St. Silverius sichtbar gemacht wurde. 1797 wurde das Dorf französisch, 1816 wiederum deutsch und war als Teil des neu geschaffenen Regierungsbezirks Rheinhessen zunächst dem Großherzogtum Hessen zugeordnet. Seit 1945 gehört Gertelsheim zum Land Rheinland-Pfalz.
Bei der Begradigung des Flügelbaches wurde 1922 ein fränkischer Grabstein gefunden.
( Sehenswürdigkeiten).
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Bevölkerungsstruktur, Schulen[Bearbeiten]
Gertelsheim hat ca. 800 Einwohner (Stand 2011). Die ortsansässige Grundschule ist vierzügig, daneben existiert ein Kindergarten.
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Persönlichkeiten[Bearbeiten]
• Georg Steinbrueck (* 1812 in Ludwigsburg, † 1888 in Gertelsheim), Kartograf und Forschungsreisender, erkundete den Norden Afrikas und fand eine erste Möglichkeit zur verzerrungsfreien Kartendarstellung (»Steinbrueck-Streckung«).
• Kurt Kant (* 1912 in Gertelsheim, † 1996 in Gertelsheim), Mundartdichter und Lokalpoet, dessen humorvolle Possen noch heute auf Volksbühnen aufgeführt werden.
• Wern Ossfahl (* 1975 in Zürich, seit 2006 wohnhaft in Gertelsheim), zeitgenössischer Maler und Bildhauer, gestaltete 2007 den Dorfmittelpunkt von Gertelsheim mit der Brunnenskulptur »Durchs Jahr«. ( Sehenswürdigkeiten)
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Sehenswürdigkeiten[Bearbeiten]
An erster Stelle ist die prachtvolle katholische Kirche St. Silverius zu nennen, die um 1500 erbaut und nach mehreren Bränden und Umbauten heute wieder annähernd in den Originalzustand versetzt wurde.
Überaus bemerkenswert ist das Rathaus, das seit 1712 den Dorfplatz an der Gaustraße dominiert und nach umfangreichen Renovierungen als einer der am besten erhaltenen frühneuzeitlichen Bauten in Rheinhessen gilt.
Ebenfalls am Dorfplatz befindet sich eine traditionelle Viehtränke, die der lokal ansässige Künstler Wern Ossfahl im Jahre 2007 mit Bronze-, Sandstein- und Stahlmaterialien zu einer imposanten Skulptur umgestaltet hat. Als Brunnenanlage symbolisiert das Ensemble die vier Jahreszeiten im Wingert, wobei das fließende Wasser je nach Jahreszeit einen anderen Verlauf bekommt und somit individuelle Akzente setzt. Die Skulptur trägt den Namen »Durchs Jahr«.
An den beiden Ortseingängen im Westen und im Osten ist je ein Ortseingangsstein aufgestellt, ein Sandsteinmonolith mit stilisierten Abbildungen des Kirchturms und des Sonnenhofes sowie skizzierter Hauptstraße.
Am Anfang der Bruchgasse ist die Nachbildung eines fränkischen Grabsteins zu sehen. Das Original wurde 1922 im Bett des Flügelbaches gefunden und ist im Römisch-Germanischen Zentralmuseum in Mainz ausgestellt.
Überregional bekannt ist der herrschaftlich anmutende Winzerhof »Sonnenhof«, der durch seine schlossartige Architektur und das separate Pförtnerhaus im Volksmund »das Schlösschen« genannt wird. Der Gebäudekomplex gilt als eines der größten zusammenhängenden Gehöfte in Rheinhessen und gibt einen Eindruck der geschickten Heiratspolitik und der Hofzusammenführung im 19. Jahrhundert. Der »Sonnenhof« befindet sich in Privatbesitz.
Südlich von Gertelsheim fließt der Flügelbach, der bei Nierstein in den Rhein entwässert. Der Bach ist Teil des ca. 25 ha großen Naturschutzgebietes »Teifer Bruch«. Eine Webcam der Universität Mainz liefert seit Mai 2013 Bilder für biologische Untersuchungen aus dem Waldgebiet. In dem für den Kraftverkehr geschlossenen Areal sind zahlreiche schützenswerte Tierarten wie die Rohrdommel, der Haubentaucher und die Nutria heimisch geworden.
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Weblinks[Bearbeiten]
Internetpräsenzen der Ortsgemeinde Gertelsheim
• www.gertelsheim.de
• www.grundschule-gertelsheim.de
Artikel in der »Allgemeinen Zeitung Mainz« zur Webcam im »Teifen Bruch« (20.5.2013):
• http://www.allgemeine-zeitung.de/region/oppenheim-nierstein/gertelsheim/453.htm
AZ Landskrone | Oppenheim-Nierstein | Montag, 20.5.2013Elektronisches Auge in der Natur
Doktorand errichtet Webcam im Gertelsheimer Wald
von Elmar Wissmann
MAINZ-BINGEN Seit letzter Woche fühlen sich die Rehe und Wildschweine im Gertelsheimer Naturschutzgebiet beobachtet. Der Grund: An einer versteckten Stelle im Wald wurde auf sechs Metern Höhe eine Webcam installiert, die am Donnerstag ihren Betrieb aufgenommen hat.
Initiator des Projekts ist der Diplombiologe Jérôme Zöller. Der 27-jährige Gertelsheimer ist Mitglied einer Arbeitsgruppe der Universität Mainz unter Leitung von Prof. Dr. Heinz-Herrmann Bohrand, die sich mit dem Verhalten von Wildtieren beschäftigt.
»Uns interessiert, inwieweit die Menschen im Wald und vor allem der vermehrte Aktivsport wie Walken oder Biken die heimischen Großtiere in Rheinhessen beeinflusst«, erklärt Zöller. Mit Hilfe der Webcam kann die Arbeitsgruppe in Zukunft genaue Zählungen vornehmen und das Verhalten der Tiere beobachten, ohne selbst zum Störfaktor zu werden. Die so gewonnenen Daten will Zöller in den kommenden Jahren in seiner Doktorarbeit auswerten.
Dem Aufbau der Kamera vorangegangen war mehr als ein Jahr Planung.
»Die Genehmigungen von der Gemeinde, vom Forstamt und vom Landkreis waren schwierig, weil der Teife Bruch eine Schutzzone ist und alle elektrischen Anlagen gesondert abgenommen werden müssen«, berichtet der Diplombiologe. »Auch die Spannungsversorgung des Gerätes über Solarzellen und Speicherbatterien brauchte eine eigene Freigabe.«
Die Szenen, die die Kamera beobachtet, sind allerdings nicht für die Allgemeinheit zugänglich. »Die Daten stehen nur unserer Arbeitsgruppe zur Verfügung«, so Zöller. »Es gibt bei öffentlichen Webcams immer wieder das Problem, dass sich alle möglichen Spaßvögel schlechte Scherze erlauben, davor Faxen machen oder sogar Vandalismus betreiben, nur um ein paar Minuten Internetruhm zu bekommen.«
Diese Art von Publicity wolle er vermeiden. Denn schließlich sei der Teife Bruch ein Naturschutzgebiet und kein Tummelplatz für Onlinefreaks. Die Rehe und Wildschweine sind ihm sicher dankbar dafür.
»Roter Hahn« – so nannte man früher das Feuer, das ein Haus innerhalb kürzester Zeit in einen lodernden Mantel einhüllen konnte. Den Roten Hahn hatte jemand auf dem Dach, wenn die Flammen in den Himmel schlugen, und die Bewohner eilends versuchten, ihre Habseligkeiten in Sicherheit zu bringen. Bis der bimmelnde Leiterwagen der örtlichen Feuerwehr ankam und die Männer anfingen, per Muskelkraft Wasser aus dem Dorfteich zu pumpen, hatte der Rote Hahn das Haus meist schon komplett eingesponnen, seine 1000 Zungen leckten an den Balken und brachten die Fenster zum Zerbersten. Die Feuerwehrmänner wischten sich unter den Pickelhauben den Ruß von der Stirn und ließen ihre Wasserfontäne auf die Nachbarhäuser rauschen, um zumindest zu verhindern, dass der Hahn von Dach zu Dach springen und sein Vernichtungswerk fortsetzen konnte.
Dasjenige Haus aber, das den Roten Hahn zuallererst eingeladen hatte, verglühte zu einem schwarzen Skelett aus Gebälk und Streben, die zum Schluss in sich zusammenbrachen und eine Aschewolke wie ein riesiges Leichentuch aufwallen ließen. Dann erst war der Hahn zufrieden und schlief ein, bis er irgendwann irgendwo zu neuem Leben erwachte.
Heute ist der Rote Hahn in einem kleinen krummen Fachwerkhaus zu Gast. Genährt von Kleiderhaufen und Papierstücken hat er sich im Wohnzimmer eingenistet und füllt den Raum mit Hitze und Flammen, von Sekunde zu Sekunde gewinnt er an Kraft. Alles, was er sieht, gefällt ihm: trockene Balken, hölzerne Bodendielen und Decken, Polstermöbel, Läufer und Teppichvorleger, Bücher und Hefte und Zeitungen. Dutzende von Fotografien, die mit Stecknadeln an die Wände gepinnt sind, wellen sich in seinem glühenden Hauch, fangen Feuer und flattern wie sterbende Schmetterlinge zu Boden. Während sie zu Staub zerfallen, schlagen die Flammen höher. Der Hahn atmet gierig, er zieht Luft durch Türritzen und Fensterrahmen, um Energie zu sammeln für sein Vernichtungswerk.
Inmitten der wogenden Flammenzungen kommt eine weitere Bewegung dazu. Eine Gestalt fängt an sich zu rühren, langsam erst, dann kehrt das Leben schlagartig in sie zurück. Doch ihr Bewegungsspielraum ist gleich null. Denn die Gestalt ist an Armen und Beinen gefesselt, straff gezogene Schnüre pressen sie an die Holzfüße eines Sessels. Sie reißt ihre Augen in Todesangst weit auf, sodass sich ein winzig kleines Abbild des Hahns darin spiegelt. Die brennende Hölle um sie herum lässt sie panisch werden, sie windet sich wie ein Wurm in ihren Fesseln. Ihr Mund will schreien, doch als die heiße Luft in ihre Lungen fährt, wird ein krampfartiges Husten daraus. Nochmals und nochmals versucht sie zu rufen, bringt aber nur ein schwaches Wimmern hervor.
Der Rote Hahn breitet seine Schwingen aus und umarmt die Terrassentür, das Regal und die Küchenzeile. Näher und näher rückt er an die Gestalt heran, sein glühender Atem heißt sie willkommen in seiner Welt. Warte nur, zischt er mit unzähligen Stimmen, bald gehörst du mir. Ich bin ein treuer Freund – wer den Roten Hahn einmal zu sich eingeladen hat, den hält er fest und gibt ihn nimmermehr her.
Ein Gehöft kauerte in der Nacht einem schlafenden Drachen gleich. Die zahlreichen Nebengebäude ließen ihre Schatten miteinander verschmelzen und bildeten die stämmigen Glieder des Urwesens, das Haupthaus war sein Bauch. Die Rauchsäulen aus den Kaminen, die die glimmenden Öfen in den Nachthimmel schickten, stiegen empor wie Dampfschwaden aus einem Drachenschlund.
Im Inneren des Lindwurms herrschte Ruhe. Die Angestellten und die Erntehelfer schliefen in einem der Nebengebäude, auch die Gutsbesitzer im Haupthaus hatten längst schon das Licht gelöscht. Hier und da seufzte jemand im Schlaf, vielleicht von einem Alb gedrückt oder der Verdauung geplagt.
Leise Füße schlichen. Eine Gestalt schlüpfte aus dem Nebenhaus hinaus in die Nacht. Die junge Frau, in Arbeitskleidung gehüllt, stand einen Augenblick unschlüssig im Schatten und zog ihre Leinenjacke enger um sich. Testweise hauchte sie in die Luft. Tatsächlich, Atemfahnen. Die Herbstkälte kam früh dieses Jahr.
Dann nahm sie ihren Mut zusammen und ging zum Hauptgebäude hinüber. Das herrschaftliche Haus wurde größer, seine dunklen Fenster starrten wie allwissende Augen auf die Frau herab. Sie fröstelte.
Mit einem Mal griff ein Arm aus der Dunkelheit, packte das Mädchen und zog es in eine Ecke. Ein spitzer Schrei, kurz, dann lag eine Hand auf ihrem Mund.
»Sei still, du dummes Ding! Oder willst du alle hier wecken?« Die Männerstimme klang gepresst, unterdrückter Ärger wohnte darin.
Die junge Frau schüttelte den Kopf, vorsichtig nahm er seine Hand weg.
»Was hast du hier noch zu suchen? Du solltest doch schon weg sein. Schon längst.«
Ängstlich suchte ihr Blick die Augen des Mannes, aber seine schlanke große Silhouette war komplett schwarz.
»Ich … ich wollte dich sehen und mit dir reden.« Ihre Stimme klang wie ein verlorenes Zwitschern auf dem leeren Hof.
»Es gibt nichts zu reden. Ich hab dir gesagt, du sollst verschwinden und dich nie wieder hier blicken lassen.«
Die Augen des Mädchens begannen zu schwimmen, es unterdrückte ein Schluchzen.
»Aber … vielleicht …«
»Oder willst du mehr Geld?«, unterbrach er sie barsch.
Ein scheues Kopfschütteln. »Ich will … mit dir …«
»Gar nichts! Du wirst hier abhauen, und zwar noch heute Nacht! Und dann will ich dich niemals wieder im Leben sehen, hast du das kapiert? Niemals!«
Er beugte sich herab, ein Schatten, der nach guten Kleidern und schlechtem Atem roch. Seine Stimme hatte einen aggressiven Beiklang.
»Hast du das kapiert, hab ich gefragt?«
Die junge Frau nickte und biss sich in die Hand, um nicht laut zu weinen.
»Hau jetzt ab.«
Der Schatten gab ihr einen Stoß in Richtung Nebengebäude und verschwand in der Dunkelheit. Das Mädchen, nun alleine, ließ den Tränen freien Lauf, die sich verschlungene Wege auf dem blassen Gesicht suchten.
Später, viel später wurde die Dienstbotentür neben der Hauptpforte des Gehöfts geöffnet. Die dünne Gestalt des Mädchens schob sich hindurch, ein Bündel Habseligkeiten an sich gepresst. Wie eine nächtliche Erscheinung huschte sie die Straße entlang, die vom Tor in Richtung Dorf führte.
Sie drehte sich nicht mehr zu dem schlafenden Drachen um.
Die langen Flure des Gebäudes schwiegen, das Lachen der Kinder war längst verklungen. In den meisten Sälen waren die Stühle ordentlich auf die Bänke gestellt worden, nur hier und dort hatten Schüler es zu eilig gehabt, in den Nachmittag zu entfliehen, um an solche Nichtigkeiten zu denken. Der Lehrer musste lächeln, als er im Vorübergehen an einer Tafel ein hingekritzeltes Gesicht mit Vollbart und Brille entdeckte. Der Kollege Weinsberger, und gar nicht mal schlecht getroffen. Trotzdem wischte er die Tafel sauber, damit es am nächsten Tag keinen Ärger für die Klasse geben würde. Schließlich erreichte der Mann das Sekretariat, wo er Arbeitsblätter kopieren wollte. Überrascht stellte er fest, dass das Oberlicht eingeschaltet war und eine Stimme murmelte. Jemand telefoniert. Nanu, war er doch nicht der Letzte?
Fast wäre er eingetreten, da hielt ihn der Tonfall der Stimme zurück. Es war eine Frauenstimme, deren Intonation in dieser Umgebung merkwürdig unpassend klang. Worte waren durch die geschlossene Tür nicht zu verstehen, aber die Frau redete gefühlsbetont, zärtlich, neckend. Der Lehrer hob die Augenbrauen – das klang nicht gerade nach einem Diensttelefonat. Unschlüssig verharrte er vor der Tür, während der Tonfall noch lockender wurde, noch drängender. Schließlich endete das Gespräch mit einer gehauchten Verabschiedung. Gerade noch rechtzeitig huschte der Mann hinter eine Vitrine, als auch schon die Tür aufging, eine Frau herauskam und das Sekretariat abschloss. Sie lief mit klackernden Absätzen durch den leeren Flur, ein paar Sekunden später hörte der Mann die Eingangstür zufallen.
Ohne es zu wollen, hatte er die Luft angehalten und ließ sie nun entweichen. Er hatte die Frau erkannt. Das war ja eine überaus interessante Entdeckung. Im Geiste zählte er bis 100, um sicher zu sein, dass er nun alleine im Gebäude war. Dann schloss er das Sekretariat auf, trat an das Telefon und drückte die Wahlwiederholungstaste.
Die Nummer, die im Display erschien, kannte er. Und diese Entdeckung war noch viel interessanter.
Ein Niesanfall kündigte sich an. Tief im Rachen wurde er geboren, wuchs hinauf ins Nasenhinterland und blähte die Nebenhöhlen wie Ballons. Einen schier endlosen Augenblick hielt sich das Gleichgewicht zwischen eingezogener Luft und bebendem Zwerchfell, dann explodierte das gesamte System. Die Eruption warf Maja vor und zurück wie ein Boot im Sturm, Tränen schossen ihr in die Augen, sie japste nach Luft und wurde schon vom nächsten Urknall gebeutelt. Als die Kaskade endlich nachließ, blinzelte sie erschöpft und tastete nach einem Taschentuch.
Sie hasste Heuschnupfen!
Zehn Schritte vor ihr drehte Jule sich mitleidig um. Sie kannte Majas Allergieattacken zur Genüge und hatte ihr im Laufe des Morgens schon geschätzte 1000 Mal »Gesundheit« gewünscht. Inzwischen sparte sie sich die Wiederholungen.
Maja schniefte. Der Pollenflug, den das hochsommerliche Wetter mit sich brachte, ließ jeden Aufenthalt im Freien für sie zur Qual werden. Eigentlich wäre es eine gute Idee, bei geschlossenem Fenster zu Hause zu sitzen, sich den Blütenstaub aus den Haaren zu waschen und einen kühlen Lappen auf die verquollenen Augen zu legen. Eine schlechte Idee war es hingegen, stundenlang zu Fuß unterwegs zu sein, einen gelben Postwagen zu schieben und dabei sämtliche Gräser-, Beifuß- und Brennnesselpollen des gesamten Umlandes einzuatmen. Leider war genau das seit heute ihr Job und würde es für die nächsten Monate auch bleiben. Großartig!
»Hier hast du alle Briefe und Karten für heute drin, und zwar in der Reihenfolge, wie wir sie vorhin in der Zentrale sortiert haben. Genauso laufen wir jetzt den Ort ab, und heute Nachmittag sind die Pakete dran. Kapiert?«
Jule riss Maja aus ihren Gedanken, als sie auf den prall gefüllten Wagen deutete und erwartungsvoll die Brauen hob. Maja nickte beklommen. Die letzten zwei Stunden hatten sie in Oppenheim im Postverteilungszentrum zugebracht, in dem scharenweise Briefträger und Postbeamte umher huschten. Dort wurden Briefstapel in klappernden Karren durch die Flure gefahren, ein nie versiegender Strom von Paketen polterte über Rollbänder. Maja war um fünf Uhr früh aus dem Bett gekrabbelt, um pünktlich in Oppenheim zu sein. Nun war es neun, die Sonne versprach ebenso schonungslose Temperaturen wie in den letzten Tagen. Entsprechend gesättigt war die Luft mit Pollen, sodass Maja gegen monströse Niesanfälle kämpfen musste. Alles in allem also nicht so ganz ihr Tag.
Das interessierte Jule herzlich wenig. Majas Freundin kannte Heuschnupfen nur aus der Apothekenillustrierten, war eine geborene Frühaufsteherin und erledigte den Job als Postbotin in Gertelsheim nun schon sechs Jahre. Klar, dass ihr jeder Handgriff in Fleisch und Blut übergegangen waren.
Maja beobachtete ihre Freundin, als diese davon marschierte und sowohl den gelben Postwagen als auch ihren Babybauch schwungvoll vor sich her schob. Juliane ›Jule‹ Schwamb war eine große, knochige Frau mit langen Armen und Beinen, hinter deren spröder Fassade eine überschäumende Herzlichkeit wohnte. Resolut, ein Organisationstalent, eine fantastische Köchin, seit zwei Jahren glücklich liiert, im sechsten Monat und deshalb im siebten Himmel.
Das war der Grund, weshalb Maja nun hinter ihrer Freundin hereilte. Jules zukünftiger Ehemann Benno war Computerspezialist bei einem Maschinenbauunternehmen in Aachen, die beiden hatten von Anfang an eine Wochenendbeziehung gehabt. Jetzt wollte die werdende Mama endlich ein richtiges Familienleben, hatte Mutterschutz beantragt und würde sich die kommenden Monate in Aachen von ihrem Herzallerliebsten verwöhnen lassen.
Als der Abschied näher rückte, suchte ihr Chef in Oppenheim händeringend nach einer Schwangerschaftsvertretung, weil die Zustelldienste ohnehin schon am Rande ihrer Kapazität arbeiteten. Prompt schlug Jule ihre Freundin Maja Rossi vor, und nach kurzem Beschnuppern war die Sache unter Dach und Fach.
Für Maja bedeutete der Job die allerletzte Rettung. Die vergangenen Monate hatte sie sich mit Aushilfsjobs im Supermarkt und Schichtdienst bei McDonald’s über Wasser gehalten, erst Jules Postfrauen-Anfrage versprach endlich wieder einen längerfristigen Arbeitsvertrag. Gestern war Maja mit Sack und Pack nach Gertelsheim in ein Fachwerkhaus gezogen. Das hübsche Dorf zwischen Mommenheim und Schwabsburg kannte sie durch ein lange zurückliegendes Fotoprojekt und natürlich durch die Freundschaft mit Jule.
Heute war der große Tag der Einarbeitung. Mehr Zeit würde auch nicht bleiben, weil Jule schon am nächsten Morgen nach Aachen abschwirren wollte. Bis jetzt türmten sich zwar mehr Fragen als Antworten in Majas Kopf, aber sie schrieb tapfer auf ihrem Notizblock mit und sagte sich, dass es auch schon dümmere Leute als sie zum Postboten geschafft hatten. Hoffte sie zumindest.
Inzwischen war Jule schon ein ganzes Stück weitermarschiert.
»Kommst du, oder was?«, rief sie über die Schulter zurück. Maja antwortete mit einem explosionsartigen Niesen, wischte ihre tränenbeschlagene Brille am Ärmel sauber und trabte hinterher. Gemeinsam versorgten sie die Briefkästen in der Backesgasse und der Tränkgasse mit Briefen, Rechnungen und Zeitschriften. Im Georg-Steinbrueck-Ring deutete Jule auf ein zweistöckiges Haus mit Doppelgarage. In der Einfahrt stand ein alter, aber gepflegter Jaguar, ein grünes 80er-Jahre-Modell.
»Da, wenn dir mal die Heuschnupfenpillen ausgehen. Das ist unser Onkel Doktor.«
Jetzt erst bemerkte Maja das Messingschild am Eingang, das Sprechzeiten, Telefonnummern und Notfallinformationen verriet. Dr. Hans-Peter Gaul, Allgemeinmedizin.
Im Inneren herrschte das übliche Flair einer Dorfarztpraxis: Neonlampen, Stahlrohr-Schwingerstühle, zerfledderte Klatschmagazine und wartende Patienten. Als Jule die Tagespost bei der ältlichen Sprechstundenhilfe abgab, öffnete sich eine Tür, ein großer Mann trat heraus. Sein weißes Poloshirt und die weißen Hosen klassifizierten ihn sofort als Arzt. Oder als Tennislehrer, dachte Maja belustigt, wenn sich nicht der Bauch deutlich unter dem Stoff abgezeichnet hätte. Der Doktor erinnerte sie an einen Zirkusbären, alles an ihm war rund, der Kopf, die Knubbelnase, das Doppelkinn, die dunklen Knopfaugen, die Backen, sogar die Ohrform war irgendwie … bärig.
Dr. Gaul nickte den beiden grüßend zu und rief eine Patientin ins Sprechzimmer. Die Frauen traten wieder hinaus auf die Straße.
»Soso, sogar einen Arzt habt ihr hier in Gertelsheim«, meinte Maja. »Taugt er denn etwas, medizinisch?«
Jule zuckte nichtssagend mit den Schultern.
»Wie man’s nimmt.«
Dann schob sie den Postwagen mit doppeltem Elan voran, als wäre das Thema für sie erledigt. Sie erreichten die Schulstraße und damit die Gertelsheimer Grundschule. Das Gebäude war ein kantiger Zweckbau, wirkte aber durch die lachenden Kinderstimmen einnehmend und freundlich. Direkt daneben stand derselbe Bau nochmals, nur maßstäblich geschrumpft. Der Kindergarten.
»Kindergarten und Schule haben eine gemeinsame Adresse, da musst du immer gut schauen, was wohin muss«, erläuterte Jule, während sie auf die Gebäude zuliefen. Maja kritzelte ins Notizbuch, putzte ihre frisch geflutete Nase und stolperte weiter. Neben dem Haupteingang der Schule war eine Bronzetafel angebracht. Sie blinzelte hinter ihrer Brille.
»Die Grundschule der Gemeinde Gertelsheim dankt Herrn Magnus Hieronymus Falkenreck vom Sonnenhof für seine großzügige Spende, mit der für alle Klassenräume neue Tische und Bänke angeschafft werden konnten. Gertelsheim, im Jahre 2006«, las sie vor und meinte halb belustigt: »Herr Magnus Hieronymus Falkenreck vom Sonnenhof, das klingt aber Ehrfurcht gebietend.«
»Den alten Falkenreck wirst du schon noch kennenlernen, der ist so was wie der Fürst von Gertelsheim.«
Es dauerte nur eine Minute, die Post für die Schule bei der dicken Sekretärin abzugeben, dann kehrten sie dem Gebäude den Rücken. Im Gehen lugte Maja über eine halbhohe Hecke, hinter der Kinderstimmen zu hören waren.
Unter der ausladenden Krone einer Kastanie verteilten sich zwei Dutzend Kinder. Sie waren verkleidet, Maja erkannte Ritter mit Schild und Pappschwertern, König und Königin mit roten Umhängen und einen Knirps, der grüne Plastiktüten an den Armen und Beinen festgeklebt hatte. Zwei Lehrer waren dabei, einer schminkte die Kinder mit Hilfe eines beeindruckend großen Make-up-Sets. Der andere erzählte eine Geschichte und dirigierte die Kleinen dabei hin und her. Sie spielten ihre Rollen mit Begeisterung, Lachen klang herüber. Maja schaute genauer hin, als der Mann eine professionell aussehende Kamera zur Hand nahm und die Kinder in ihren Verkleidungen fotografierte. Er trug legere Kleidung, hatte braune, ins Graue gehende Strubbelhaare und ein offenes Gesicht. Ein Gesicht, das Maja seltsam vertraut vorkam.
Sie stutzte. Tatsächlich, sie kannte den Mann, sie hatte bei ihm eine Ausbildungsklasse besucht, Porträtfotografie. Er hieß Wern Ossfahl, war freischaffender Künstler und Fotograf, hatte ein hervorragendes Auge für Proportionen und war ein guter Dozent gewesen. Ein Künstler – als Grundschullehrer?
In diesem Augenblick schaute Jule ebenfalls über die Hecke.
»Hey, Wern, hör auf, die Kleinen erdolchen dich noch!«, rief sie, was prompt eine Lachsalve der Kinder mit gespielten Attacken auf den Lehrer nach sich zog. Der Mann schaute amüsiert herüber, dann wurden seine Augen groß vor Überraschung.
»Maja?« Sein Lächeln wurde breiter. Ossfahl war ein gut aussehender Mann um die 40, den allerdings zahlreiche Falten um die Augen und auf der Stirn älter aussehen ließen. Maja konnte nicht sagen, ob es Lach- oder eher Sorgenfalten waren.
»Hi, Wern. Schön, dich mal wieder zu sehen.« Sie erwiderte sein Lächeln, schämte sich aber gleichzeitig für ihre nasale Aussprache. Ihre Nebenhöhlen waren wie zementiert. Der Mann beugte sich über die Hecke und begrüßte zuerst Maja, dann Jule mit Küsschen rechts links.
»Das ist ja eine tolle Überraschung!« Mit gelupften Augenbrauen warf er einen Blick auf Majas gelb-blaues Postfrauen-Dress. »Wirst du jetzt den Dienst von Jule übernehmen, damit sie mit gutem Gewissen Nachwuchs kriegen kann?«
Jule lachte und boxte Ossfahl spielerisch an die Schulter.
»Genauso sieht’s aus. Maja wird in Zukunft dafür sorgen, dass deine Verweise pünktlich bei den Eltern ankommen.«
Er wandte sich an Maja.
»Na, da können wir endlich mal den Besuch in meinem Atelier nachholen. Ich wollte es dir ja schon immer mal zeigen, aber irgendwie hat’s nie geklappt.«
Als sie seinen Akzent hörte, erinnerte sie sich wieder daran, dass Wern Ossfahl ursprünglich aus der Schweiz stammte. Sie nickte und wollte antworten, doch eine hinterhältige Niesattacke raubte ihr Stimme und Sicht. Erst nach Naseputzen und Augenwischen konnte sie sich wieder verständlich machen.
»Auf jeden Fall. Ich freue mich, ein bekanntes Gesicht hier im Dorf zu haben!« Dann deutete sie auf die Kamera, die Ossfahl in der Hand hielt. Es war eine professionelle, aber schon etwas in die Jahre gekommene Canon EOS 1D.
»Und dem Fotografieren bist du noch immer treu geblieben?«
Er winkte ab.
»Leider nicht mehr allzu regelmäßig. Heute schieße ich nur ein paar Fotos für die nächste Jahreschronik der Schule.«
»Was macht ihr da gerade? Ritterspiele?«
»Fast. Wir inszenieren die ›Nibelungen‹, natürlich ein bisschen kindgerechter. Aber mit allem, was dazugehört, mit Siegfried, Kriemhild, König Gunther und dem Drachen.«
Maja schielte zu den Kindern hinüber. Jetzt wusste sie, welche Figur der Kleine mit den grünen Plastiktüten darstellen sollte.
Die beiden Frauen verabschiedeten sich und ließen den Postwagen durch die Mommenheimer Straße rasseln. Jule musterte ihre Freundin neugierig von der Seite.
»Jetzt bin ich aber von den Socken! Woher kennt ihr euch denn, der Wern und du?«
»Von meiner Ausbildung. Er hat damals einen Fotografiekurs angeboten, den fand ich superinteressant. Wir haben uns dann ein bisschen besser kennengelernt, weil ich ein schwieriges Projekt gestaltet habe über die Mainzer Industriekultur, und da hat er mich unterstützt. Wir waren dann auch ein paar Mal was trinken und so.«
»Aha. Und lief was?«
Maja schmunzelte über Jules direkte Art.
»Nee. Ich fand ihn zwar interessant und auch alles andere als hässlich, aber ich war damals ja mit Nick zusammen.« Unwillkürlich rümpfte sie die Nase, als sie ihren Exfreund erwähnte.
»Na ja, dann kannst du jetzt dein Glück ja noch mal versuchen. Der Wern ist nicht verheiratet und wohnt alleine, und du bist jetzt auch solo.«
Maja schüttelte entschieden den Kopf.
»Lass mal gut sein. Von Kerlen hab ich im Moment die Nase voll.« Sie schniefte vernehmlich und musste gleichzeitig mit Jule über das unabsichtliche Bonmot lachen. Im selben Moment merkte sie aber, dass sie das unerwartete Wiedersehen mit Wern Ossfahl nicht kalt ließ. Sie fragte sich, ob ihm das Treffen vielleicht ein wenig peinlich gewesen war – immerhin hatte sie den Mann als Dozenten kennengelernt, und nun unterrichtete er Grundschüler in einer Dorfschule. Andererseits hatte ihr eigener Lebensweg einen ähnlich unerwarteten Knick bekommen, nämlich von der freischaffenden Fotografin zur Schwangerschaftsvertretungspostfrau.
Sie hatte nach dem Abitur eine Ausbildung zur Fotografin absolviert, ein Jahr in Mainz in einem Fotoladen gearbeitet und sich danach selbstständig gemacht. Das hatte anfänglich gut funktioniert, doch in letzter Zeit waren die Aufträge immer spärlicher geworden, ihre Ersparnisse schmolzen dahin wie Eis in der Sonne. Nicht, dass sie schlechte Arbeiten ablieferte, aber die schwierige wirtschaftliche Situation ließ die Kunden vorsichtig und sparsam werden. Die inflationäre Verbreitung von Digitalkamera mit riesigen Speicherkarten tat ein Übriges dazu, denn damit hielt sich jedermann für einen begnadeten Fotografen und knipste Hochzeiten, Jubiläen und Firmenveranstaltungen in Eigenregie.
Irgendwann war Majas Verdienst bei null angekommen, sie war gezwungen, sich nach anderen Einnahmequellen umzuschauen. Von den Fotofachgeschäften hagelte es Absagen, so dass sie schließlich im Supermarkt Regale einräumte und bei McDonald’s Burger briet. Sie verzog das Gesicht. Das Leben konnte manchmal ganz schön ungerecht sein!
Die beiden Frauen liefen über Haupt- und Seitengassen Richtung Osten. Maja schwirrte inzwischen der Schädel von den Informationen, die sie von Jule erhielt. Die Mittagshitze trug ein Übriges dazu bei, dass sie fast schon am Ende ihrer Kräfte war, ihre ständigen Niesattacken ließen sie torkeln wie angetrunken. Neidvoll fragte sie sich, wie ihre Freundin mit Babybauch die Tour scheinbar mühelos bewältigte.
Endlich erreichten sie den Dorfplatz, den Maja schon von ihren früheren Besuchen in Gertelsheim kannte. Der quadratische Platz mit Kopfsteinpflaster war umgeben von Häusern, deren Mauerstücke zwischen den Fachwerkstreben weiß im Sonnenlicht strahlten. Vor vielen Fenstern hingen Blumenkästen, die Geranien und Fuchsien darin wurden offensichtlich durch ausdauerndes Gießen vor dem Hitzetod bewahrt. Die größeren Gebäude waren durch Holztore zum Platz hin verschlossen, einige Höfe standen aber offen und gaben den Blick frei auf Sitzgruppen und Bauerngärten.
In der Mitte des Platzes befand sich eine Art Brunnenskulptur aus Stein und Metall, sehr groß und verschachtelt, Maja fühlte sich an ein überdimensionales Mikadospiel aus Röhren und Streben erinnert. Ein altes, aber gepflegtes Bruchsteinhaus dominierte die Ostseite des Dorfplatzes, zweistöckig, frisch mit Biberschwanzschindeln eingedeckt. Rathaus, verkündete der schnörkelige Schriftzug über der Tür. Das Ensemble sah so herrlich altmodisch aus, dass es Maja nicht gewundert hätte, wenn gleich der Dorfpolizist mit Backenbart und Pickelhaube aus der Tür getreten wäre. Jule nickte in Richtung des Hauses.
»Da ist das Büro vom großen Häuptling. Ortsbürgermeister Alfred Massing, ein ziemlich robustes Pferd. Kann auf dem politischen Parkett aber tanzen wie kaum ein anderer.«
Maja machte sich eine Notiz und befürchtete, gleich zum Händeschütteln ins Rathaus geschleift zu werden. Doch Jule gab ihr einen Schubs.
»Den Alfred, den findest du bei solchen Temperaturen nicht im Rathaus. Wir werden ihn nachher noch sehen, dann verstehst du, was ich meine.«
Die Reihenfolge der Briefe führte den Postwagen in die Kirchstraße, die von der gedrungenen und augenscheinlich sehr alten Kirche dominiert wurde. In der nächsten Querstraße blieb Maja wie angewurzelt stehen. Ein Stück außerhalb erhob sich ein wahrhaft gigantisches Gehöft, ein dreistöckiges Ensemble aus mehreren Einzelgebäuden, das sich nach hinten in einer Vielzahl von Erkern und Türmchen fortsetzte. Eine Eibe stand vor dem Portal und überragte zwei Fahnenmasten, an denen die Flaggen dank Querstreben trotz Windstille zu sehen waren: eine stilisierte Sonne, über der Gottes Hand sich segnend herabsenkte. Das Gebäude sah aus wie ein Schloss, das versehentlich nach Gertelsheim gezaubert worden war.
»Was ist denn das für ein Riesending? Disneyland in Rheinhessen?«
»Das, meine Liebe, ist der Sonnenhof. Das ›Schlösschen‹, wie wir hier sagen.«
»Wow!«, war alles, was Maja dazu einfiel.
»Der Sonnenhof ist hier schon immer das größte Weingut gewesen, solange die Leute zurückdenken können. Vor 100 Jahren und noch länger, da haben die Herren vom Hof immer schön die Frauen von den anderen großen Höfen geheiratet und alles einkassiert, und beim Vererben ging’s immer nur an den ältesten Sohn und ist nicht wie anderswo unter allen aufgeteilt worden. Und damit sind die Falkenrecks reicher geworden und immer reicher. Bis heute. Das Schlösschen hat heute noch die besten und größten Lagen in allen Weinbergen in der Gegend, und Grundbesitz haben sie noch dazu hier im Ort. Die Falkenrecks haben nach dem Krieg niemals auch nur einen einzigen Wingert oder ein einziges Grundstück oder Gebäude verkauft, das sie im Besitz hatten.«
»Und wer … wem gehört das alles?«, fragte Maja. Das Gebäude sah trotz seiner beeindruckenden Fassade unbewohnt aus, viele Fensterläden waren geschlossen.
»Dem Herrn, der dir vorhin auf dem Schild in der Schule begegnet ist, Magnus Falkenreck. Er ist alleiniger Herrscher über das Schlösschen. Ein alter Knabe, über 80.«
Die beiden Frauen standen einen Augenblick bewegungslos vor dem Gebäude. Sogar Jules Kaltschnäuzigkeit schien angesichts des altehrwürdigen Sonnenhofes zu schrumpfen, sie machte keine Anstalten, die Glocke zu betätigen oder den Hof zu betreten.
Da erschien ein unerwarteter Farbtupfer in einem der Torbögen. Ein Mädchen in einem bunten Sommerkleid, vielleicht neun Jahre alt, lugte um den Pfeiler.
»Frau Schwamb!« Freudestrahlend rannte es auf Jule zu.
»Hallo, mein Engelchen, hui, nicht so stürmisch!«, lachte Jule und erwiderte die herzliche Umarmung der Kleinen. »Ist die Mami denn da?«
Die Kleine nickte eifrig. »Ich hol sie!« Und weg war sie.
»Was ist denn das für ein Feger? Die Enkelin vom Sonnenhof?«
»Nein, Magnus ist der letzte Falkenreck. Das ist Jasmin, die Tochter von Kathy Uelverkamp. Die beiden wohnen im Pförtnerhaus hier rechts vor dem Hof, Kathy pflegt den Alten. Das ist so ’ne Art Gentleman- und Gentlewoman-Agreement: Sie zahlt nur eine Minimiete, dafür hat er immer eine Pflegekraft in Rufnähe. Seit ein paar Jahren braucht er immer öfter den Rollstuhl und kommt alleine nicht mehr zurecht.«
Maja warf einen Blick auf das Pförtnerhäuschen. Es wirkte im Gegensatz zu dem erdrückenden Hof regelrecht putzig, mit rot umrandeten Kassettenfenstern und einem Garten davor. Hier hatte jemand viel Zeit und Mühe investiert.
Einer der Fensterläden am Haupthaus wurde aufgeklappt, eine Frau beugte sich heraus und winkte. Ihr Gesicht war hübsch, die blonden Haare hatte sie unkompliziert mit einem Tuch nach hinten gebunden.
»Hey, Jule, Jasmin hat mir Bescheid gesagt, dass du hier bist. Ich kann gerade nicht rauskommen, Herr Falkenreck braucht mich. Oder hast du was zum Unterschreiben?«
Helle Stimme, leichter Akzent irgendwo aus dem Norden.
»Nein, nein, alles gut«, winkte Jule ab, »ich wollte dir bloß meine Vertretung vorstellen, die Maja.«
Die blonde Frau hob die Hand.
»Hi, Maja, ich bin Kathy. Drück mal auf die Klingel, wenn du in der Straße bist, dann trinken wir ’ne Tasse Kaffee zusammen, okay?«
»Hallo, Kathy. Mach ich gerne«, rief Maja hoch. Die Frau winkte nochmals und verschwand, der Fensterladen klappte wieder zu.
Ihr Weg durch das Dorf führte die beiden Frauen weiter durch die Gaustraße in westliche Richtung. Es war, wenn überhaupt möglich, noch heißer geworden, die Gassen glühten. Maja suchte Schutz im Schatten, wo immer es möglich war. Ihre Schrift im Notizbuch konnte sie kaum mehr lesen, die Kleidung pappte an ihr wie ein nasser Sack. Ihr Taschentuchvorrat war längst schon aufgebraucht, sodass sie beim Naseputzen versuchte, halbwegs trockene Stellen an den bereits benutzten Tüchern zu finden. Das kann ja heiter werden, wenn die Hitze so bleibt und ich diese Ochsentour jeden Tag machen muss, dachte sie missmutig. Sie nieste herzhaft und fragte sich einen Augenblick, ob die Sache mit der Schwangerschaftsvertretung tatsächlich eine so gute Idee gewesen war.
Erst als der Rundweg sich dem Ende zuneigte und sie durch die Schrebergärten südlich der Schwabsburger Straße gingen, kehrten Majas Lebensgeister zurück. Hier, in direkter Nähe des Naturschutzgebietes, waren die Temperaturen ein klein wenig erträglicher. Der Wald ließ die Luft zumindest ansatzweise nach Feuchtigkeit schmecken und filterte die eine oder andere Polle heraus, worüber sie dankbar war.
Die Schrebergartenparzellen waren gepflegt, fast schon pedantisch in Ordnung gehalten mit Hecken, parallelen Beeten und gestrichenen Holzhäuschen. Die teutonische Abgrenzungsmanie hatte auch hier Einzug gehalten, sodass jede Parzelle durch Zäune oder Büsche von den Nachbargrundstücken getrennt war. Die Hitze machte den Pflanzen sichtbar zu schaffen, viel Grün war inzwischen verwelkt. Hier und dort hing ein matter Schrebergärtner im Stuhl und verdöste die Mittagszeit.
Vor einem der Gärten knuffte Jule ihre Freundin in die Seite und deutete mit dem Kopf hinein. Ein stämmiger Mann mit Walrossschnauzer und rotem Gesicht werkelte an einer Regentonne. Er trug Cordhosen und ein schweißfleckiges Feinrippunterhemd.
»Unser Ortsbürgermeister, Alfred Massing. Den wirst du bei solchen Temperaturen niemals im Rathaus finden, sondern immer nur hier in seinem Gärtchen. Letztes Jahr hat er urplötzlich seine Liebe zum Schrebergarten entdeckt, und seitdem wird die Politik in den Sommermonaten am Gartenzaun gemacht«, raunte Jule. Der Bürgermeister schaute von seinem störrischen Regenfass auf.
Alfred Massing kniff die Augen zusammen. Er hatte per Dorfklatsch erfahren, dass Jule Schwamb schwanger war und wegzog, und er wusste, dass eine Freundin von ihr den Job übernahm.
Nun musste er sich ein Grinsen verbeißen, als er die beiden Frauen nebeneinander sah: auf der einen Seite die große dünne Jule, deren Babybauch wie eine unter die Kleidung geschobene Melone hervorstand. Neben ihr reckte eine kleine pummelige Frau den Kopf, um besser über den Zaun schauen zu können. Neugierig trat er heran. Sie war nicht größer als 1,60, mochte Mitte 20 sein und hatte schwarze Haare, die zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren. Das Gesicht war hübsch, wenngleich eine dicke Brille die braunen Augen etwas vergrößerte und die Frau dadurch wie ein neugieriges Kind aussehen ließ. Außerdem war sie entweder erkältet oder hatte Heuschnupfen, denn ihre Lider waren verquollen und die Nase lief.
Massing schüttelte den Frauen die Hand. Artig stellte sich die neue Postfrau als Maja Rossi vor.
»Schön, Frau Rossi, dann mal herzlich willkommen in Gertelsheim! Wenn Sie mal was auf dem Herzen haben, können Sie jederzeit bei mir vorbeigucken.«
»Danke, Herr Massing, das werd ich mir merken. Vielleicht können Sie mir ja bei der einen oder anderen Adress-Unklarheit helfen.«
Der Bürgermeister nickte unbestimmt und sah den beiden Frauen nach. Er wusste nicht, ob diese Frau Rossi das tatsächlich ernst gemeint hatte. Glaubte die denn wirklich, er würde den Fremdenführer für die neue Briefträgerin spielen? Kopfschüttelnd wandte er sich wieder seiner Regentonne zu. Seit über einer Stunde werkelte er nun schon daran herum, hatte sie erst vom Fallrohr losgeschraubt, dann wieder angeschraubt, wieder losgeschraubt und wieder angeschraubt. Jetzt, beim vierten Schraubvorgang, war er sicher, dass alle Schrebergartennachbarn ihn und seine Arbeit zur Kenntnis genommen hatten. Er packte das Werkzeug zusammen, streckte sich und gähnte. Wie der Koloss von Rhodos posierte er auf der Veranda vor seinem Gartenhäuschen, drehte sich um und trat durch den niedrigen Eingang. Leise schloss Massing ab, dann huschte er zu einem der Fenster, an denen blickdichte Vorhänge zugezogen waren. Durch einen Spalt beobachtete er die übrigen Schrebergärtner, denn immer wieder kam es vor, dass jemand zu ihm kam und einen bürgermeisterlichen Rat haben wollte. Doch nichts tat sich, alle gingen ihren Beschäftigungen nach oder saßen bewegungslos im Schatten. Gut so. Seine Show war überzeugend gewesen, alle glaubten, er würde nach der Arbeit mit der Regentonne ein verdientes Frührentnerschläfchen halten. So wie immer eben.
Massing drehte sich vom Fenster weg, bückte sich zur Rückwand der Laube und begann, mit geübten Fingern einige Holzbretter dicht über dem Boden zu lockern.
Ein Tropfen fiel auf steinernen Boden. In seiner 500-jährigen Geschichte hatte der Fußboden der Gertelsheimer Kirche schon viele Tropfen gesehen, Wasser, Wein, Speichel, Schweiß, Blut. Und natürlich Tränen. Tränen wie die, die soeben fielen. Die Frau, die in einer der Bänke kniete, die Hände zum Gebet verschränkt, war alleine mit ihrer Trauer. Eine weitere Träne tropfte auf den Boden.
Die Seitentür öffnete sich, ein Lichtstrahl fiel ins Halbdunkel des Kirchenschiffs. Gegen das grelle Licht zeichnete sich eine schmale, hohe Silhouette ab, die kerzengerade in der Tür stand.
Pfarrer Ansgar Jungbluth wartete, bis sich seine Augen an das gedämpfte Licht gewöhnt hatten. Vor mehr als zwei Stunden, als er das Gotteshaus verlassen hatte, war die zusammengesunkene Gestalt schon in der Kirche gewesen. Sie hatte ihre Haltung seither um keinen Zentimeter verändert.
Seine Schuhe scharrten über den Steinboden, der Pfarrer bewegte sich auf die Gestalt zu. Sie war von ihm weggedreht, er sah nur die grauen Haare, den schmalen Hals und den Kragen. Seine Stimme klang wie ein Fremdkörper in der Stille des Kirchenschiffs, misstönend und kehlig.
»Ich muss jetzt abschließen. Ich muss zur … Versammlung.«
Keine Reaktion. Der Pfarrer trat einen Schritt näher. Es fiel ihm schwer, die Frau aus der Kirche zu bitten, denn er kannte ihre Situation und wusste, dass es keinen anderen Trost für sie gab.
»Angelika, hören Sie zu. Was geschehen ist, ist geschehen. Sie können die Zeit nicht zurückdrehen. Alles ist Teil von Gottes großem Plan, auch wenn wir es heute nicht verstehen. Haben Sie Vertrauen in Gott. Soll ich Heribert holen, damit er Sie heimbringt?«
Sanft legte er ihr die Hand auf die Schulter. Sie zuckte zusammen, als hätte er sie geschlagen, und machte sich mit einer raschen Bewegung los. Nun weinte sie laut, ihre Klage wanderte als Echo durch den Raum. Pfarrer Jungbluth blieb einen Augenblick stehen, dann ging er zur Eingangstür zurück.
Dort stieß er fast mit einem Mann zusammen, der gerade die Kirche betrat. Er war um die 50, sein eingefallenes Gesicht, die harten Züge um den Mund und die traurigen Augen ließen ihn verhärmt aussehen.
»Heribert, bitte …« Der Pfarrer schaute den Mann an. Der blieb stehen und warf einen Blick in die Kirche. Als er die zusammengesunkene Gestalt seiner Frau sah, blieb sein Gesicht unbewegt, aber in seinen Augen wurde die Trauer von unbändiger Wut verdrängt.
Während der Mann auf seine Frau zu ging, verließ der Pfarrer das Gebäude. Die Kirche würde heute noch lange unverschlossen bleiben.
In der Arztpraxis von Doktor Gaul roch es nach Desinfektionsmitteln, nach verschwitzten Körpern und verbrauchter Luft. Lise Kissinger ordnete die Papierflut auf dem Empfangstresen. Die 55-Jährige arbeitete seit über zehn Jahren als Sprechstundenhilfe bei Doktor Gaul, aber einen solchen Ansturm an Patienten hatte sie selten erlebt. Nach dem verregneten Frühjahr war es im Juli zu schnell heiß geworden, sodass sich die Patienten die Klinke in die Hand gaben. Die meisten hatten Probleme mit der Hitzewelle. Wassermangel, Kreislaufschwäche, Sonnenallergie, Schlafstörungen. Gereiztheit.
Hinter Lises Arbeitsplatz öffnete sich die Tür zum Sprechzimmer, Doktor Gaul verabschiedete eine hagere Frau.
»Und denken Sie dran, viel trinken, und wenn der Kreislauf wieder flattert, erst mal hinlegen und Beine hoch für drei Minuten.«
Die Frau bedankte sich und verließ die Praxis, der Doktor ging zurück ins Sprechzimmer. Das Wartezimmer war nun leer, die Frau war die letzte Patientin vor der Mittagspause gewesen.
Lise stand auf. Sie wohnte ein paar Ecken entfernt in der St.-Silverius-Straße, deswegen konnte sie alle Pausen bequem zu Hause verbringen. Nur dem Doktor wollte sie eben noch Bescheid geben. Ein lauter Klopfton an der Sprechzimmertür, eine Sekunde später stand sie im Raum.
»Herr Doktor, ich …«
Lise stockte und sah den Arzt an, der erschrocken vom Medikamentenschrank wegzuckte. Sie brauchte nicht genauer hinzuschauen, um die orange-weiße Packung in seiner Hand zu erkennen. Ritalin.
Sie fing sich sofort wieder und kündigte ihre Mittagspause an. Doktor Gaul nickte verstehend und hielt die Tablettenpackung in der Hand versteckt. Sie kannten diese Farce beide schon seit langer Zeit, mal frühmorgens beim Aufschließen, mal nach Feierabend beim Lichtausknipsen, mal zur Mittagszeit wie jetzt.
Der Doktor murmelte etwas von anstehenden Telefonaten mit der Mainzer Uniklinik, Lise verabschiedete sich hastig. Tür zu, raus auf die Straße.
Doktor Gaul saß mit hängenden Schultern im Sprechzimmer. Zu seinem eigenen Erschrecken war es ihm inzwischen kaum noch peinlich, von der Sprechstundenhilfe am Medikamentenschrank erwischt zu werden. Er spürte das große Haus um sich herum und fürchtete sich davor, die Praxis zu verlassen und nach oben in den Wohnbereich zu gehen. In leere, stille Zimmer.
Vor Jahren hatte dort das Leben getobt, seine beiden Kinder spielten Fangen, seine Frau, die Halbfranzösin Madeleine, ging im Sommerkleid von Raum zu Raum, um Blumengestecke zu richten und kleine Accessoires zu verteilen.
Heute erinnerten die verwaisten Räume Doktor Gaul daran, dass er alleine war. Madeleine verabschiedete sich aus seinem Leben, 1994, an einem Januarmorgen, mit voller Absicht und ohne Rückfahrkarte. Au revoir, Gertelsheim, bonjour, Paris. Und die Kinder nahm sie gleich mit.
Er fing an, schlecht zu schlafen. Irgendwann war er so erschöpft, dass er die rastlosen Gedanken ausgeknipste. Eine Ausnahme, klar. Ein, zwei Mal. Drei Mal. Aus der Ausnahme wurde Gewohnheit.
Der Doktor sackte weiter zusammen. Diese verteufelte Gewohnheit bescherte ihm bald darauf die schlimmste Nacht seines Lebens. Die Bilder tauchten seither immer wieder in seinen Träumen auf, das junge blau angelaufene Gesicht, verquollene Augen, schweißnasse Haare, die heraushängende Zunge obszön wie ein fettiges Stück Fleisch. Seine eigenen Hände, fahrig, der Kopf wirr. Später dann die Seitenblicke des Notarztes, das Tuscheln der Rettungssanitäter.
Unbewusst spielten seine Finger mit der orange-weißen Tablettenpackung. Jetzt öffnete er sie.
Hüpf-hüpf- rechter Fuß, hüpf-hüpf- linker Fuß. Patsch – Hand an die Tür. Die Aufgabe war, den oberen Flur in diesem Rhythmus einmal zu umrunden. Wenn sie das schaffen würde, wäre sie frei. Wenn nicht, würde die böse Hexe sie in eine Kröte verwandeln.
Jasmin spielte gerne im riesigen Haus vom Herrn Falkenreck. Es gab so viel zu entdecken, geheimnisvolle Treppen, Zimmer und Galerien, dass sie den gesamten Hof mit einer Heerschar von Fantasiegestalten bevölkert hatte. Hier, im zweiten Stock, wohnte eine Hexe, die man nur durch die Schrittkombination und das Berühren der Türen überlisten konnte.