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Die Schweiz: Ein Land mit vier Amtssprachen und schier unendlichen Möglichkeiten. Da wird gemordet, gerächt, gestohlen und gemauschelt. In 23 Geschichten berichten Autorinnen und Autoren vom kriminellsten Pflaster der Schweiz, einem Mann, der vom Himmel fiel, einer Flaschenpost im Meer und einem Raubüberfall nach Genfer Art. Ihre blutige Spur führt von Basel nach Graubünden und von St. Gallen über Zürich bis ins Wallis, in die Waadt und ins Tessin - überall lauert das Verbrechen. Und am Ende landet jeder Verbrecher vor dem Richter oder seinem Henker. Oder etwa doch nicht?
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Seitenzahl: 337
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Paul Ott / Barbara Saladin (Hrsg.)
MordsSchweiz 2
Krimis zum Schweizer Krimifestival
Mord en Suisse 23 Autorinnen und Autoren aus allen Regionen der deutsch- und französischsprachigen Schweiz sind in „MordsSchweiz 2“ mit ihren neusten Krimis versammelt. Die Geschichten führen auf eine Reise durch die facettenreiche Bandbreite des aktuellen Schweizer Krimischaffens, vom Cosy Crime über den historischen Krimi oder True Crime bis hin zur Krimikomödie.
Verantwortlich dafür sind dieses Mal: Sabina Altermatt, Wolfgang Bortlik, Saskia Gauthier, Silvia Götschi, Bruno Heini, Gabriela Kasperski, Paul Lascaux, Sunil Mann, Susanne Mathies, Armin Öhri, Stephan Pörtner, Barbara Saladin, Severin Schwendener, Peter Weingartner, Raphael Zehnder, Michel Bory, Olivier Chapuis, Nicolas Feuz, Olivia Gerig, Corinne Jaquet, Marie Javet, Catherine May, Emmanuelle Robert.
Der Schweizer Autor Paul Ott schreibt unter dem Pseudonym Paul Lascaux. Er wurde 1955 geboren, ist Germanist und Kunsthistoriker. Am Bodensee aufgewachsen, lebt er heute in Bern. In den letzten 40 Jahren hat er vor allem Kriminalromane veröffentlicht. Als Herausgeber von Krimi-Anthologien und Initiator des Schweizer Krimifestivals „Mordstage« hat er sich einen Namen gemacht.
Barbara Saladin wurde an einem Freitag, den 13. geboren und lebt als freie Journalistin, Autorin und Texterin in einem kleinen Dorf im Oberbaselbiet. Sie schreibt Kriminalromane und Kurzgeschichten, Reiseführer und Theaterstücke, Sach- und Kinderbücher, Artikel und Reportagen, sie textet, fotografiert, recherchiert, lektoriert, moderiert und organisiert. 2017 erhielt sie den Kantonalbankpreis Kultur.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Mit freundlicher Unterstützung von:
Die französischsprachigen Texte wurden von Wolfgang Bortlik übersetzt.
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unter Verwendung eines Fotos von: © borzywoj / stock.adobe.com
ISBN 978-3-8392-7780-5
Zum Buch
Impressum
Inhalt
Vorwort
Wolf
Sabina Altermatt
Das Verbrechen schläft nie
Wolfgang Bortlik
Als ob es wahr wäre Eine explosive Erinnerung an Kommissar Perrin
Michel Bory
Der Mann, der vom Himmel fiel
Olivier Chapuis
Eine Flaschenpost im Meer
Nicolas Feuz
Ein perfekter Spätsommertag
Saskia Gauthier
Raubüberfall nach Genfer Art
Olivia Gerig
Die Toten vom Dischma
Silvia Götschi
Manche Wunden bluten ewig
Bruno Heini
Die Pyramide stürzt ein
Corinne Jaquet
Wenn die Liebe langsam stirbt
Marie Javet
Schlaf gut, Schwesterlein
Gabriela Kasperski
Der Perückenmacher
Paul Lascaux
Old School
Sunil Mann
Die Liebe ist ein seltsames Spiel
Susanne Mathies
Das Kind im Wildbach
Catherine May
Masterplan
Armin Öhri
Der Urs ist tot
Stephan Pörtner
Tod im Palais de Rumine
Emmanuelle Robert
Fakten schaffen
Barbara Saladin
Geistertanz
Severin Schwendener
Alpenglut am Rothorn
Peter Weingartner
10 Gramm
Raphael Zehnder
Kurzbios Anthologie 2023
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Wir freuen uns, Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser, mit »MordsSchweiz 2« dreiundzwanzig nagelneue eidgenössische Kurzkrimis zu präsentieren. Die Anthologie kommt pünktlich zum Schweizer Krimifestival in Grenchen heraus, das seine zweite Ausgabe vom 15. bis 17. September 2023 feiert. Dieses Festival zeigt das einheimische Schaffen – und zwar sowohl der deutschsprachigen als auch der frankophonen Kriminalliteratur. Auch im aktuellen Buch haben wir nun beide Seiten des Röstigrabens vereint: Vertreten sind dreiundzwanzig Krimiautorinnen und Krimiautoren, acht davon mit französischer Muttersprache.
Seit dem Erscheinen der letzten Anthologie zum ersten Schweizer Krimifestival hat sich nicht nur die Krimiszene breiter entwickelt. Wir konnten auch das historische Gedächtnis unseres Genres eröffnen, das »Schweizer Krimiarchiv Grenchen«. Es umfasst eine Sammlung von mehreren Tausend Bänden Primär- und Sekundärliteratur, die die Entwicklung des Kriminalromans in den letzten zweihundert Jahren aufzeigt und allen Interessierten als Präsenzbibliothek offensteht.
Gerne entführen wir Sie mit »MordsSchweiz 2« an verschiedenste Schweizer Tatorte in allen vier Landesteilen. Da wird gemordet, gerächt, gestohlen und gemauschelt, von Basel bis ins Tessin und von Genf bis nach Graubünden. Das Setting ist so vielfältig wie die Schweiz selbst und reicht von den Bergen bis in die Stadt. Die Geschichten spielen nicht nur im Hier und Heute, sondern reichen auch vom finsteren Mittelalter bis in die – nicht unbedingt heiterere – Zukunft. Und sie spielen oft mit der Aktualität. So nehmen sie Motive auf, die noch vor wenigen Jahren kaum oder gar nicht Thema waren, von der Corona-Pandemie bis zur Diversität.
Es ist aber auch die Art der Texte, die aufzeigt, wie vielfältig Krimis sein können und dass eine Geschichte ein Krimi sein kann, ohne dass zu Beginn eine Leiche am Boden liegt, ein Ermittler den Fall aufnimmt und am Schluss den Mörder hinter Gittern steckt.
In diesem Buch finden Sie die unterschiedlichsten Arten von Krimi, von True Crime bis zur Komödie. Es gibt Texte aus der Täterperspektive ebenso wie aus der Sicht des Opfers, es gibt Witziges und Bedrückendes, Rasantes und Subtiles. Die dreiundzwanzig Kurzkrimis zeigen die atemberaubende Bandbreite, mit der die Schweizer Krimiautorinnen und -autoren unterwegs sind. So können wir Ihnen mit gutem Gewissen garantieren: Es ist für alle etwas dabei. Lassen Sie sich von der Vielfalt überraschen und tauchen Sie ein in die dunklen Seiten der Schweiz!
Paul Ott und Barbara Saladin
Der Herbst verdrängt den Sommer. Die Lärchen färben einzelne Astfinger orange, der Rest ist grün wie frisches Gras. Knorrige Stämme ziehen sich mühsam in die Höhe, wehren sich gegen die Schwerkraft. Unten liegt türkisblau der Gletschersee, spiegelt milchig die Wolken. Je mehr sie sich vom Bergrestaurant entfernt, desto lauter werden die Vögel. Und die Glocken.
Sie hat einen Tee getrunken, an einem der großen Bogenfenster gesessen. Den Blick nach Süden. Richtung Poschiavo. Von da ist sie gekommen.
Plötzlich ein scharfer Pfiff, sie zuckt zusammen. Die rote Bahn fährt ein, diesmal aus der anderen Richtung, spült Reisende ins Restaurant und auf die Terrasse. Sie wirken gehetzt. Den Blick auf den Vadret da Palü, den Palügletscher, einfangen, als ob es das letzte Mal wäre, durch seinen stetigen Rückzug an die eigene Vergänglichkeit erinnernd. Der Versuch, mit dem Handy die Zeit anzuhalten, sie einzufrieren, bei steigenden Temperaturen.
Wo vorher seine Zunge war, die bis fast zum See reichte, glitzert ein dünner Bach zwischen felsigen Kanten. Eine wässrige Wunde.
Sie scannt jede Person. Aber er ist nicht dabei. Kann er nicht. Falsche Richtung.
Eine gute Viertelstunde haben die Reisenden Zeit, sich die Umgebung anzueignen. Dann werden sie unwiderruflich weg sein. Kein Zurück. Abfahrt ist Abfahrt.
Eine Frau mit langen Haaren, dunklem Deuxpièces und Gucci-Tasche bestellt gehetzt auf Englisch eine Flasche Weißwein. Doch hier spricht man Italienisch, allenfalls noch Deutsch. Sie stöckelt auf die Terrasse, macht ein Selfie, kommt zurück, wedelt mit der Bankkarte. Die Bedienung sagt »Piano, piano!« und deutet auf den Lokführer. Dieser sitzt am Tresen und nippt an seinem Kaffee. Ohne ihn läuft hier nichts.
Nach zwanzig Minuten hat sich das Restaurant geleert. Wie ein Kinosaal nach einem Film. Zurück bleiben das gebrauchte Geschirr, ein zerknülltes Taschentuch unter einem der Tische – und sie.
Sie bezahlt mit dem Hunderter, der auf dem Küchenregal unter der Zuckerdose gelegen hat. Den hat sie einfach eingesteckt.
Auf dem Vorplatz ist es windig. Sie hätte einen Pullover mitnehmen sollen. Doch zum Überlegen hatte sie keine Zeit. Sie ist in den erstbesten Zug gestiegen.
Dieser schraubte sich in langen Kurven in die Höhe. Sie kannte die Strecke nicht, war sie noch nie gefahren. Sie waren immer mit dem Auto unterwegs. Er am Steuer, sie daneben. Zum Schluss machte die Bahn fast eine Dreihundertsechzig-Grad-Kurve. Ihr wurde schwindlig – und schlecht.
Vielleicht waren es die vielen Kurven. Vielleicht war einfach alles zu viel. Sie musste raus. »Alp Grüm« stand weiß auf dunkelblau. »2091 m. ü. M.« Das tönte gut. Nach Einsamkeit, nach Ruhe. Sie konnte sich zurückhalten, bis der Zug wieder abgefahren war. Dann übergab sie sich direkt unter einem Leitungsmasten. Zwei beinahe schwarze Esel sahen ihr dabei zu.
Der Wind spielt mit ihrem Haar, legt ihr einen wärmenden Schal um den Hals. Schnell schiebt sie es weg. Sie erträgt die Enge nicht. Rollkragen trägt sie schon lange keine mehr. Sie blickt auf den Berg, auf den Gletscher, auf den See. Wolken schleifen an den Bergkanten entlang. Es geht ihr wieder besser. Der Tee hat gutgetan. Aus der Tiefe ertönen Glocken.
Der Wald ist ein warmer Mantel. Zwischen den Bäumen lässt sich der See nur erahnen. Sie lauscht den Glocken, folgt ihrem Klang. Jetzt sind sie fast nicht mehr zu hören, dann werden sie wieder lauter, bündeln den Klang wie ein Kirchengeläut. Sie denkt an den Tod. Bei Kirchenglocken denkt sie immer an den Tod. Ihr tapferes Geläute, als ob sie das Geschehene anklagen würden – oder versuchten sie es ungeschehen zu machen? Und dann das leise Verstummen, zuletzt ein einzelner Schlag. Ein letzter, endgültiger Schlag. Gefolgt von einer lauten Stille, die der fehlende Lärm hinterlässt.
Sie denkt an ihre Heirat. Die Glocken läuteten zum Freudenfest. Und verstummten. Etwas tat sich auf und doch blieb nichts zurück. Ein Hohlraum.
Der Weg wird schmaler. Zu zweit würde man nicht nebeneinanderlaufen können. Doch sie ist allein. Die Glocken kann sie nicht mehr hören. Sie geht trotzdem weiter. Es riecht würzig nach Moos, verdorrten Tannennadeln und Veilchen. Veilchen? Um diese Jahreszeit?
Du bist so dumm. Du weißt nicht einmal, wann die Veilchen blühen.
Veilchen sieht sie keine. Dafür verblühte Weideröschen. Sie nimmt den weißen Flaum, lässt ihn durch die Finger gleiten, pustet ihn weg.
Hat sich da etwas bewegt? Sie dreht sich um. Lauscht. Wohl ein Vogel, der in den Blättern scharrt. Sie geht weiter. Wieder ein Rascheln. Da ist etwas in ihrem Rücken. Sie geht schneller. Dreht sich nicht mehr um.
Du bildest dir alles nur ein. Siehst und hörst Dinge, die es gar nicht gibt. Im Erfinden von Geschichten warst du schon immer gut.
Jetzt hört sie wieder die Glocken. Immer lauter. Sie folgt ihrem Klang. Was das wohl für Tiere sind? Es klingt nicht fröhlich wie eine hüpfende Ziegenherde. Eher wie Kuhglocken. Dumpf. Aber Kühe? Die müsste sie von oben gesehen haben.
Der Weg windet sich weiter den Berg hinab. Die Lärchen ziehen sich zur Seite zurück und geben den Blick auf den Gletscher frei. Oder was von ihm noch übrig ist. Wie eine Schnecke in ihr Haus hat er sich zurückgezogen. Worauf wartet er? Auf bessere Zeiten?
Bei der nächsten Kurve riecht es nach Pilzen. Doch etwas anderes mischt sich in den feucht-moosigen Geruch. Torfig, stechend. Sie hält sich die Nase zu. Geht rasch weiter. Und wieder das Gefühl, jemand ist hinter ihr.
Wer geht schon allein durch den Wald. Nur weil du irgendwelche Glocken hörst? Wenn etwas passiert, ist es deine Schuld. Nur deine. Du hast es so weit kommen lassen. Es sind nicht immer die anderen.
Sie steht vor einem grauen Steingebäude. Wie ein Schloss ragt es in die Höhe. Eine Rampe führt Richtung See. Die Glocken sind ganz laut, und jetzt sieht sie deren Ursprung. Drei Pferde stehen dicht beieinander unter den Lärchen, die Köpfe gesenkt. Ihre Lippen umschlingen Gras, reißen es aus. Sie sieht die mahlenden Backenknochen. Die Augen sind von den langen Mähnen verdeckt. Als sie näher kommt, hebt eines den Kopf, schüttelt die Augen frei. Sie streckt die Hand aus, es bläht seine Nüstern. Sie sind samtig und weich. Sie tätschelt seinen Hals, spürt die Sehnen, die Kraft.
Du hast keine Kraft mehr? Mach einfach, was man dir sagt. Dann bräuchtest du auch nicht so viel Energie. Und halte ab und zu deinen Mund.
Das türkise Wasser zieht sie an. Sie steigt zum See hinunter. Dunkle Hänge ziehen sich in die Höhe, Wolken verschleiern den Übergang von den Bergen zum blauen Himmel. Einer der Hänge ist von der Sonne beleuchtet.
Sie sieht alles zweimal, die zweite Version auf dem Kopf hinter einem milchig weißen Schleier. Sie kniet nieder, taucht die Fingerspitzen in den See und schaut den Wellen zu, die immer größere Kreise ziehen. Bis sie beinahe das gegenüberliegende Ufer erreichen.
Wieder dieses Gefühl im Rücken. Waren ihr die Pferde gefolgt? Sie steht auf. Das hätte sie gemerkt – und vor allem gehört. Die gehen nicht so nahe an den See heran. Doch neben ihr sieht sie Pferdeäpfel auf dem Boden. Sie dreht sich um. Da ist nichts.
Ein Steg führt auf die Halbinsel. Das winzige Steinhaus, das auf einer Anhöhe steht, gefällt ihr. So übersichtlich, jeden Morgen der Blick aufs Wasser.
Du willst ausziehen? Weggehen? Mach nur. Du wirst sehen, was dann mit dir passiert. Du getraust dich gar nicht. Dazu hast du nicht den Mut. Du hattest noch nie Mut.
Sie geht über den Steg. Ein Eisengitter, darunter das Wasser. Macht ein paar Schritte auf das Haus zu. Der Boden vibriert, zuerst kaum merkbar, dann immer stärker.
Sie hört Getrampel, Huftritte, es riecht nach schwitzender Wolle. Sie sieht Schafe, die auf sie zurennen. Geschlossen wie die erste Reihe eines Heeres. Dahinter immer neue. Und Ziegen. Wie ein einziger Organismus kommen sie immer näher. Gäbe es einen Baum, könnte sie sich in seinen Windschatten stellen. Doch da ist keiner. Sie macht ein paar Schritte zurück. Dann bleibt sie stehen. Da ist wieder die Angst.
Was ist eigentlich dein Problem? Du hast doch alles. Einen Mann, der dich liebt, eine Wohnung, genug zu essen. In anderen Ländern herrscht Krieg. Da ist es lebensgefährlich, auf die Straße zu gehen. Und hier? Bist du hier nicht sicher?
Die Schafherde teilt sich, macht im letzten Moment eine Kurve um sie. Das Gefühl, weggeschwemmt zu werden. Sie reißt sich zusammen, geht auf die Tiere zu. Ihr wird schwindlig. Als ob sie in einem stehenden Zug sitzen würde und meint, ihr Zug fahre an, dabei setzt sich nur der Gegenzug in Bewegung.
Ihr wird wieder übel. Sie kann nicht mehr, schließt die Augen, lässt sich gehen, in die Herde. Diese nimmt sie auf. Sie fühlt sich geborgen. Warm und weich. Sie fühlt sich eins mit ihr, ist Teil eines Ganzen.
Plötzlich schrecken die Tiere zurück. Schauen zur Alp Grüm. Laufen in die Richtung, aus der sie gekommen sind. Sie versucht, mit ihnen mitzuhalten. Doch ihr geht die Puste aus. Die letzten Monate haben sie schwach gemacht, kraftlos.
Du schaffst es nicht mal die Treppe hoch. Was ist mit dir los? Stell dich nicht so an! Reiß dich zusammen!
Die Herde ist fast wieder verschwunden. Der Wald verschluckt die allerletzten Schafe. Sie fühlt sich nackt, allein, verwundbar. Sie friert.
Was hat die Herde so erschreckt? Sie schaut zum Ufer, zur Alp Grüm, kann nichts erkennen. Aber sie spürt, dass da etwas ist.
Sie hört die Glocken, die Pferde wiehern, Hufe aufschlagen. Dann sieht sie ihn. Er trabt aus dem Wald, die dunkle Schwanzspitze hoch erhoben, wippt hin und her. Er sieht aus wie ein großer Hund. Aber es ist keiner.
Jetzt steht er am Rand des Sees. Senkt den Kopf, trinkt Wasser. Wenn er nur nicht herüberschwimmt. Langsam dreht sie sich um. Geht in die Richtung, in die die Herde gelaufen ist. Ganz langsam. Schritt für Schritt für Schritt.
Vorsichtig schaut sie immer wieder zurück und geht weiter. Jetzt läuft er am Ufer entlang. Versucht auf den Steg, der zur Halbinsel führt, zu gelangen. Setzt eine Pfote auf den Gitterrost und zieht sie wieder zurück.
Sie atmet auf, verlässt die Ebene, steigt den Hang hinauf Richtung Gletscher. Hält inne und schaut zurück. Da sieht sie ihn wieder. Er muss einen Umweg durch den Wald gemacht haben. Er ist direkt hinter ihr. Rasch geht sie weiter. Sie hört seine Schritte, sein Hecheln. Sie verlässt den Weg, kriecht auf allen vieren den Hang hoch, hält sich an Grasbüscheln fest. Er ist immer noch hinter ihr. Kommt immer näher. Ihr kommen die Tränen. Ihre Knie sacken zusammen. Geben nach. Sie fällt auf den Bauch, rappelt sich wieder hoch. Sie schaut zurück, bald hat er sie erreicht. Sie greift nach einem Stein, wirft ihn nach ihm, trifft ihn nicht. Er schaut sie an. Mit hellen Augen. Sie stemmt sich auf einen kleinen Absatz hoch.
Du hast es so gewollt, das hast du jetzt davon. Du hättest besser zuhören sollen. Nicht immer deinen eigenen Kopf durchsetzen. Wer meinst du, wer du bist? Hast alles kaputtgemacht.
Am liebsten würde sie sich einkugeln, die Arme um den Bauch schlingen. Da hört sie die Glocken von der anderen Seite des Sees. Sie rappelt sich auf. Steht auf allen vieren. Er schaut zu ihr herauf, bleibt stehen. Er ist so nahe, sie kann den flaumigen Umriss seines Pelzes sehen, den die Sonne beleuchtet. Seine Schnauze ist lang und hell, seine Augen sind aufmerksam.
Sie erstarrt, hält den Atem an. Sie versucht, nicht zu atmen, nicht zu zittern.
Du hältst besser still. Machst es sonst nur noch schlimmer.
Still halten, keine Gegenwehr. Wie, als er sie an den Haaren packt. Er packt sie immer an den Haaren. Das hinterlässt keine Spuren. Zumindest keine sichtbaren, das Blut bleibt in den Haaren kleben. Er schleift sie so durchs Wohnzimmer.
Sie sieht in seine bernsteinfarbenen Augen.
Er setzt sich auf sie, drückt ihr den Hals zu. Alles ist nah wie durch eine Lupe und zugleich weit weg. Endlos und gleichzeitig begrenzt. Er drückt immer nur so stark und so lange zu, dass keine blauen Flecken entstehen. Das hat er mittlerweile perfektioniert. Aber diesmal ist es anders. Sie schlägt um sich. Greift hinter sich. Bekommt ein Stuhlbein zu fassen. Dann ein zweites. Sie hievt den Stuhl über ihren Kopf, lässt ihn mit voller Wucht auf ihn fallen. Er kippt zur Seite. Sie windet sich unter dem schweren Körper hervor. Zuerst ist alles schwarz, dann rot. Das Blut tropft aufs Parkett.
Sie richtet sich auf, steht ganz gerade. Wie eine Tanne im Flachland. Das Tier dreht sich um, weicht ein paar Schritte zurück, bleibt stehen und schaut sie an. Sie hält seinem Blick stand. Es schnuppert verlegen am Boden, setzt sich hin. Sie sieht die geschwollenen Zitzen. Es ist eine Wölfin. Sie sucht Futter für ihre Jungen.
Ich habe nichts für dich. Tut mir leid.
Das Tier macht einen Sprung, trottet davon, als ob es verstanden hätte.
Sie schaut auf den See. Das Wasser ist noch immer türkisblau.
Ein Riehener Pitaval
Basel gilt als das kriminellste Pflaster der Schweiz. Die Kriminalstatistiken beweisen es ein ums andere Mal, die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Nirgendwo sonst in der Schweiz erhebt das Verbrechen sein hässliches Haupt häufiger als im Kanton Basel-Stadt.
Aber was ist mit der sogenannten Landgemeinde, jenem »Dorf« mit über zwanzigtausend Einwohnern, das zum Stadtkanton gehört? Was ist mit Riehen? Allhier, wo spätestens um einundzwanzig Uhr die Trottoirs oder die Bürgersteige, wie man sonst so missverständlich sagt, hochgeklappt werden. Populistische Kreise und deren Repräsentanten, gern Politiker genannt, wissen es schon lange. In Riehen macht der Rechtsbruch nicht nur kein Auge zu, sondern auch Überstunden. Man wird nicht müde zu betonen, dass das Verbrechen gerade in einem so zufriedenen Gemeinwesen wie Riehen aufs Äußerste floriert. Wobei man einen eventuellen Grund für derlei Ängste anführen muss, indem ein Teil der Bevölkerung des großen grünen Dorfes, wie es gern genannt wird, als besonders wohlhabend bezeichnet werden muss. Davon haben die nationalen und internationalen Schurkenkreise selbstverständlich Kenntnis.
Geradezu schutzlos sei man als Bürgerin und Bürger den außerordentlichsten Straftaten ausgeliefert, keineswegs sei man noch seiner Haut wie seines Vermögens sicher, heißt es immer wieder in Leserbriefen wie auch in politischen Debatten. Vor allem wenn es früh dunkel wird, stünden schon ab achtzehn Uhr allerhand Diebesbanden aus dem angrenzenden Ausland im Schatten der Grünanlagen und der Carports, zwischen Kunst am Bau und Steingärten, und warteten nur darauf, dass die Hausbesitzerschaft sich ins nahe Basel ans Konzert oder ins Theater begebe, um dann als Dämmerungseinsteiger reichliche Beute zu machen.
Man mag nun von Verbrechenshysterie und übertriebener Angst reden, allein es erscheint uns doch, dass es höchste Zeit ist, all diese angefallenen Rechtsbrüche, Untaten und auch Rechtsbeugungen in einem sogenannten Riehener Pitaval zu sammeln.
Der französische Namensgeber François Gayot de Pitaval (1673–1743) war der Erste, der die »causes célèbres et intéressantes«, die Verbrechen seiner Zeit, gesammelt und in zwanzig Bänden niedergeschrieben hat. So sei diese hier vorliegende, wenn auch noch kleine Liste ein erster Schritt zu ähnlichem Tun.
*
Die Fälle
Der in Riehen mäßig bekannte Komponist für neuere Musik Anton Fidelis (Name geändert) wurde jeden Frühmorgen des Sommers, immer dann, wenn Eos beziehungsweise Aurora rosenfingrig über Riehen dahinstrich und die Nacht vertrieb, von einem Hahn und dessen extrem unmelodiösem Gesang aus dem Schlaf gerissen. Das Tier lebte offensichtlich in der Nachbarschaft, mitten in einem nahezu städtischen Wohnviertel. Nach Wochen des untätigen Leidens beschloss der Musikus eines frühen Morgens, als ihn die Laute des gefiederten Teufelsbratens erneut aus dem schönsten Schlummer rissen, dem Übel sofort ein Ende zu setzen. Nur notdürftig bekleidet, enterte der Komponist in einem wahren Furor den nachbarlichen Garten, in dem er das Hühnerhaus mit dem Höllenhahn vermutete. Obwohl Eos beziehungsweise Aurora, wie schon gesagt, rosenfingrig über Riehen gestrichen war, schien die Sicht im Schatten etlicher Blutbuchen doch nicht ganz so gut zu sein. Der Vertreter der radikalen musikalischen Moderne trat auf seiner Suche nach dem Hühnerstall auf die Zinken eines im Gras liegen gebliebenen Rechens und es kam zu jenem aus unzähligen humoristischen Filmen bekannten Schlag des Stiels gegen den Kopf des Unglücklichen. Der zarte Künstlerschädel hielt nicht viel aus und als man Fidelis endlich fand, war es fast zu spät. Er konnte sich jedenfalls nicht mehr entsinnen, was er im nachbarlichen Garten zu tun gehabt hatte. Das Erinnerungsvermögen war immer noch nicht zurück, und eines frühen Morgens lag Fidelis im Bett, fühlte die sanfte und kühlende Brise, die durch sein Fenster in den Raum zog, während Eos beziehungsweise Aurora zu Gange war. Aber irgendetwas fehlte. Er kam nur nicht darauf, was.
Etwa zur gleichen Zeit kam es bei der im südlichen Riehen gelegenen Coop-Filiale Nebenholz zu einer flagranten Rechtsbeugung, indem eine Bettlerin aus Wer-weiß-woher oder dem Nimmerland viel zu nahe am Eingang des Supermarktes ihrer bemitleidenswerten Profession nachging. Das neu eingerichtete Basler Bettelgesetz, auch Bettelregeln genannt, schrieb ja nun genau vor, unter welchen Umständen in diesem schönen Kanton um Almosen geheischt werden durfte, ohne dabei die Konsumentenscharen zu stören: »Das Betteln ist nicht gestattet innerhalb von fünf Metern um Ein- und Ausgänge von Bahnhöfen, Ladengeschäften, Banken, Poststellen, Museen, Theatern, Kinos, Hotels, Restaurants, Wohn- und Bürogebäuden oder öffentlichen Gebäuden und Einrichtungen. Das Betteln innerhalb von fünf Metern um Haltestellen von öffentlichen Verkehrs- und Schiffsanlegestellen sowie um Geld-, Zahlungs- und Fahrkartenautomaten oder Parkuhren ist ebenfalls nicht erlaubt.«
Durch den Einsatz etwelcher Ordnungskräfte konnte dieser Konflikt Rechtsstaat versus Bettlerin jedoch umgehend behoben werden, indem die gute Frau ihren Stand- beziehungsweise Sitzplatz einfach um fünf Meter verschob.
Vor allem aber schaffte es der heimtückische Betrug an unseren betagten Mitbürgerinnen und Mitbürgern zu einer neuen Blüte: Der sogenannte Enkeltrick feierte Urständ, und zwar in den mannigfaltigsten Facetten. So manches milde Mütterlein dachte, dass es zwar gar keine Enkel habe, aber wenn doch, dann wäre es sicherlich wunderschön, wenn sie als Grosi dem Großkind aus der Klemme oder Patsche oder Zwickmühle helfen könnte. So wurde manche Geldbörse gezückt und beträchtliche Summen wechselten den Besitzer.
Der Fantasie und der Kreativität der Kriminalität sind gerade diesbezüglich wenige Grenzen gesetzt.
Einem betagten Ehepaar mit Haus an bester Lage wurde gar mitgeteilt, dass anhand der Errichtung des Steingartens vor ihrem Domizil sogenannte seltene Erden gefunden worden waren. Um diese individuell zu schürfen und gewinnbringend zu verkaufen, müssten die Grundbesitzer sich allerdings zuerst in eine internationale Firma einkaufen. Dazu sei eine größere Summe als Sicherheit nötig, die bitte gleich heute Abend noch im Milchkästchen am Eingang unten an der Straße deponiert werden müsste. Aber auf so einen plumpen Trick fiel selbstverständlich niemand herein. Oder doch?
*
Erneut der Hahn
Während der oben schon erwähnte Tonkünstler Fidelis (Name geändert) im Spital lag und seine schwere Gehirnerschütterung auskurierte, trieb der hysterische Hahn weiterhin sein krähendes Unwesen. Auch einem anderen Kulturschaffenden stieß es sauer auf, dass er sein Fenster frühmorgens, wenn noch kühle Nachtluft die Tageshitze aus den Räumen fegen konnte, wegen des Kikerikis schließen musste. Es handelte sich um den nur in sehr feinsinnigen Kreisen bekannten Lyriker Xander Corvus (Name geändert), der am Griechenacker in gleicher Distanz zum Hühnerstall wohnte wie der leicht entzündbare Musikus Fidelis, nur auf der anderen Seite.
Auch Corvus beschloss für sich, dieses elende Vieh zum Verstummen zu bringen. Allerdings war er nicht so spontan wie Fidelis, er überlegte und beschloss als Kulturmensch, einfach mal bei der betreffenden Liegenschaft vorbeizugehen, um nachzuschauen, wer so einen infernalischen Hahn einfach gewähren ließ. Dabei konnte man mit dem Halter des Untiers ja eventuell verhandeln und gemeinsam zu einer Lösung des Lärmproblems kommen. So läutete Corvus selbigen Abends noch an der Tür zu einem kleinen, etwas verwahrlosten Einfamilienhaus auf der Brache zwischen Griechenacker und Blutrheinstrasse, allwo sich auch eine Ansammlung niedriger Holzhütten befand, aus denen es im Viertelstundenrhythmus mitleiderregend krächzte und krähte.
Als sich die Haustür öffnete, drang zugleich ein Schwall würzigen Rauches nach draußen, dessen Provenienz der Lyriker sofort erkannte. Hier wurde gepafft. Nicht ungern ließ sich Corvus auf ein Pfeifchen einladen, man redete, lachte, kicherte und der Höllenhahn wurde ganz vergessen.
So ging dann auch die Kifferfreundschaft flöten, weil das gefiederte Tier weiterhin beim rosenfingrigen Sonnenaufgang zu lärmen begann und den ganzen Tag nicht mehr aufhörte. Wobei sich der Besitzer dessen nicht grämte und einfach sein Pfeifchen stopfte. Sommertage beginnen schon früh und irgendwann war auch der Feinsinn von Xander Corvus erschöpft und er schritt zur Tat.
Daraufhin wieder wurde einem Herrn aus guter Familie, wohlhabend ohne Ende, das flotte Elektrofahrrad entwendet. Bei der Diebstahlsprotokollierung auf der polizeilichen Amtsstelle mochte sich der Mann nicht mehr so recht erinnern, ob das Bike abgeschlossen war oder nicht. Jedenfalls hatte er sein Zweirad digital gesichert, sodass er jederzeit dessen Standort abrufen konnte. Deswegen erfuhr er baldigst, dass sein Renner im westlichen Nachbarlande angekommen war und dort in irgendeinem Hinterhofe herumgammelte.
»Hab ich dich!«, dachte der vermögende Herr und benachrichtigte den Gendarmerie-Posten der französischen Gemeinde, in der er sein E-Bike entdeckt hatte. Doch von dort wurde ihm ziemlich rüde beschieden, dass da eigentlich nichts zu machen sei. Ob er denn nicht wisse, dass »la propriété c’est le vol«, was auf gut Deutsch übersetzt »Eigentum ist Diebstahl« heiße. Der Herr scheine aus offensichtlich zu guter Familie zu stammen, um eine derartig grundlegende soziale Erkenntnis zu kennen. In der Tat hatte der also nur scheinbar Bestohlene keine Ahnung von diesem Naturgesetz, dessen Formulierung dem französischen Ökonomen und Anarchisten Pierre-Joseph Proudhon (1809−1865) zugeschrieben wird. Der Wohlhabende musste zähneknirschend auf sein Elektro-Zweirad verzichten. Ein diesbezüglicher Auslieferungsantrag liegt wohl immer noch irgendwo in einer Amtsstube.
Gerade in einem so der Kunst zugewandten Gemeinwesen wie dem Dorf Riehen herrscht diesbezüglich auch permanente kriminelle Erregung.
Einem Passanten stieg im Dorfzentrum ein köstlicher Essensgeruch in die Nase. Detektivisch eruierte er einen Eimer, den zwei Jugendliche trugen, als Quelle des Duftes. Die beiden Teenager wandten sich mit ihrer wohlschmeckenden Last aus der Fußgängerzone nach rechts in Richtung Lörrach.
Der aufmerksame Mitbürger studierte weiter, ob es eine Kartoffelsuppe war, er vermeinte auch Sellerie und Kohl zu riechen, als sich ein schrecklicher Verdacht in seine Gedanken stahl. An der Straße, in welche die Eimerträger abgebogen waren, lag auch das weltbekannte Museum für moderne und zeitgenössische Kunst, die Fondation Beyeler.
Aufgepasst, Kunst in Gefahr!
Auf Höhe der Fondation Beyeler schlugen dann die kantonalen Sicherheitskräfte mit einem Blitzeinsatz zu und die zwei jungen Leute wurden vorsichtshalber festgesetzt. Der Eimer mit seinem wohlriechenden Inhalt, in der Tat eine reichhaltige Kartoffelsuppe, wurde beschlagnahmt.
Denn wie der Anzeigenerstatter hegten auch die Ordnungskräfte den durchaus naheliegenden Verdacht, die jungen Leute würden zur terroristischen Klimajugend gehören und die mitgebrachte Kartoffelsuppe über etliche eminente Kunstwerke in der Fondation Beyeler schütten.
Den Beteuerungen der jungen Leute, dass sie mit der Kartoffelsuppe mitnichten Kunst besudeln, sondern das wohlschmeckende Geköche vielmehr in die eigenen Mägen verfrachten wollten, nämlich im genau dem Beyeler gegenüberliegenden idyllischen Sarasinpark, wurde kein Glaube geschenkt. Die Jugendlichen mussten aber gleichwohl nach Angabe der Personalien noch am selben Abend in die Freiheit entlassen werden.
Die Kartoffelsuppe als Corpus Delicti wurde längere Zeit in der Polizeiwache warm gehalten, bis sie so verführerisch duftete, dass nur noch ein ganz kleiner Rest zur Beweisaufnahme übrig blieb.
*
Zum letzten Mal der Hahn
Kurz darauf ging beim Kantonspolizeiposten Riehen via Online-Plattform eine Kleinanzeige über eine Sachbeschädigung ein. Der Haushahn, das liebe Tier, sei tot im Hühnerhaus gelegen, mit gebrochenem Genick. Es läge eine verbrecherische Tat vor, denn es gebe einen, wenn nicht gar zwei Verdächtige, die sich vom harmlosen Gesang des Tiers hätten stören lassen. Dann folgten Namen und ungefähre Adressen der mutmaßlichen Täter, und bald darauf setzte sich die Polizeimaschinerie in Bewegung. Da es sich bei der Tötung eines Tieres aber im rechtlichen Sinne um keine Sachbeschädigung handelte, kam es noch zu einem gewissen Kompetenzgerangel, weil auch die Rechtmäßigkeit der Hahn- und Hühnerhaltung in einem reinen Wohngebiet nicht klar war. So passierte eine klassische Verfahrensverschleppung, und am Schluss legten die Hühner auch ohne Hahn und dessen Krähen Eier.
Weiterhin jedoch gedieh das Verbrechen im großen grünen Dorf in all seinen Facetten. Bei der Verkehrsampel im Dorfzentrum wurden laufend Übertretungen der Straßenverkehrsordnung festgestellt, indem Menschen bei Rot die Fahrbahn wechselten. Und die schwerste Pest aller verbrecherischen Übertretungen, das Fahren mit dem Velo auf dem Trottoir vulgo Bürgersteig, nahm auch immer mehr zu. So manche Rentnerin, so mancher Rentner, gerade erst dem betrügerischen Wirken von Enkeltrick-Ganoven entkommen, rettete sich nunmehr in letzter Sekunde vor lautlos daherfedernden Fahrrädern und ihrer ruchlosen Fahrerschaft.
Größeres Aufsehen erregte allerdings ein Überfall auf die bereits oben erwähnte Fondation Beyeler. Die Straftat, die Entwendung eines Kunstwerks, aufgehängt in der Ausstellung eines recht bekannten amerikanischen Kunstmalers, wurde zügig verhindert. Der Mann, der das 66,7 mal 102,2 Zentimeter messende Gemälde nur notdürftig unter einem Regenmantel verborgen hielt, wurde gefasst, kurz nachdem der Alarm im Museum losgeheult hatte.
Mitnichten wolle er das Bild »Three Billboards out of Ebbing, Missouri« von Edward Hopper stehlen, jammerte der vermeintliche Dieb, er müsse sich nur versichern, ob es auch wirklich das Original sei. Denn es gebe gerade in Riehen eine Bande infamster internationaler Kunstfälscher, die ihre raffinierten Kopien in die Museen bringen würden, durchaus auch im Auftrage der jeweiligen Ausstellungsmacher und Kuratoren, denn wer könne sich heutzutage überhaupt noch diese teuren Originale leisten, die man zu horrenden Versicherungssummen aus der ganzen Welt holen müsse.
Den wackeren Kriminalisten der Basler Polizei schwirrten schon längst die Köpfe von den Ausführungen des ebenso engagierten wie enragierten Herrn. Ein Check bei Wikipedia ergab schließlich, dass »Three Billboards out of Ebbing, Missouri« keinesfalls der Titel eines Hopper-Bildes war.
Das verzweifelte Gejammer des merklich verwirrter werdenden Herren verhallte in dem Maße, wie sich der Krankenwagen entfernte, der ihn in die hiesige Psychiatrie überführte.
Beim Gemälde von Edward Hopper handelt es sich selbstverständlich um das 1940 entstandene Werk »Gas« (Benzin), welches drei rote Tanksäulen zeigt. Dass das Bild eine Fälschung sei, kam jedenfalls bis anhin niemandem in den Sinn.
»Eine Madame Zimmermann möchte einen Kommissar sprechen, um eine Anzeige zu erstatten«, teilte mir der Pförtner am Telefon mit.
»Gegen wen?«
»Die Leitung des Stadttheaters, eine Schauspielern, wegen Missbrauchs.«
»Herrje! Schicken Sie sie hoch.«
Da ich an diesem Wochenende im März 1986 Bereitschaftsdienst hatte, war es an mir, die eingehenden Anzeigen zu sortieren. Ich ging zur Fahrstuhltür, um die Klägerin in Empfang zu nehmen, und sah mich einer vollschlanken Frau in den Fünfzigern gegenüber, die unter ihrem roten Haarhelm ein strenges Gesicht hatte, ein kantiges Kinn und einen vor Wut geschwollenen Hals. Mein erster Eindruck war, dass sie sich im Falle eines Missbrauchsversuchs gut verteidigen könnte. Nachdem sie auf dem Metallstuhl vor meinem Schreibtisch Platz genommen hatte, erkannte ich meinen Fehler: Madame Zimmermann war nicht Opfer, sondern Anklägerin des – wie sie sagte – satanischen Paares, welches das Laviasky-Theater leitete und für die Leiden ihrer Tochter Stephanie verantwortlich war. Ich fasse den unmöglich einzudämmenden Wortschwall wie folgt zusammen: »Sie haben sie über alle Maßen missbraucht. Meine einzige Tochter, dreiundzwanzig Jahre alt, die ich allein und unehelich großgezogen habe, ist krank. Sie leidet an beginnender Multipler Sklerose. Die Direktorin des Theaters hat sich an sie herangemacht, sie hat sie eifrig umworben, sie und der Regisseur, ihr Geliebter, haben es sich in den Kopf gesetzt, sie nicht nur schauspielern zu lassen, sondern ihr auch die Hauptrolle in August Strindbergs Fräulein Julie zu geben. Es ist ein furchtbar dramatisches Stück, das mit dem Selbstmord der unglücklichen Julie endet. Die beiden Teufel haben gesehen, dass Stephanie manchmal das Gleichgewicht verliert und schwankt. Sie meinen, dass das Publikum dies als außergewöhnliche schauspielerische Leistung bejubeln würde. Sie beharren darauf, dass sie diese unmögliche Rolle spielt.«
Und ohne Luft zu holen, schoss die Anklägerin auf ihr Ziel zu, die Aufführung, deren öffentliche Generalprobe heute Abend stattfand, verbieten zu lassen. Daraufhin antwortete ich, dass es absolut unmöglich sei, eine Aufführung durch eine polizeiliche Anordnung in so kurzer Frist zu verbieten. Die Anzeige würde an einen Untersuchungsrichter weitergeleitet werden, dessen Urteil einige Zeit in Anspruch nehmen würde. Und da Stephanie volljährig war, lag es ohnehin an ihr, Anzeige zu erstatten, wenn sie es für nötig hielt.
»Das wird sie nicht tun, sie will mir nicht zuhören, die haben sie verzaubert. Sie will nicht einmal, dass ich an der Generalprobe teilnehme. Gehen Sie hin und sehen Sie selbst!« Sie klammerte sich an mich und flehte mich an, eine Untersuchung einzuleiten.
Dafür wäre nicht ich zuständig, da ich nach meinem Wochenenddienst wieder in die Finanzabteilung zurückkehren, der Fall aber von der Sittenpolizei bearbeitet werden müsste. Doch die Zimmermann rief laut: »Genau die Finanzen, um die geht es! Sie haben Stephanie ihres Geldes beraubt, all des Geldes, das sie zum Überleben brauchen wird, wenn sie verkrüppelt ist, was bei einer solchen Krankheit unausweichlich ist, man wird nie geheilt, man endet lebenslang bettlägerig.«
»Ihr ganzes Geld? Wie viel?«
»Zweihundertfünfzigtausend Franken!«
Donnerwetter, viel Geld! Es gelang mir, Madame mit dem Versprechen, mich am Montag wieder zu melden, zum Gehen zu bewegen, und ich begleitete sie zum Aufzug. Ihr zufriedener Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel daran, dass sie einen ersten Sieg genoss.
Ihre Geschichte ging mir den ganzen Samstag über nicht aus dem Kopf, sodass ich beschloss, am Abend ins Laviasky-Theater zu gehen und mir Fräulein Julie anzusehen.
*
Strindbergs Stück ist seit seiner Uraufführung im Jahr 1889 berühmt. Alles spielt sich in der Küche eines Schlosses in Schweden zwischen Fräulein Julie, der Tochter des Grafen, dem Diener Jean und der Köchin Christine ab. Julie provoziert Jean, einen gut aussehenden Mann, mit ihren Neckereien, bis sie sich ihm wie eine läufige Katze hingibt. Katastrophe. Als Liebende können sie nicht unter diesem Dach bleiben. Sie müssen fliehen. Aber als plötzlich die Glocke des Grafen ertönt, der seine Stiefel verlangt, der Herr und Gebieter, den man nie zu Gesicht bekommt, der seine Befehle durch ein Rohr von oben wie Gott selbst erteilt, unterwirft sich Jean. Er spielt den Hypnotiseur und drückt Julie das Rasiermesser für ihren Selbstmord in die Hand. Es gebe keinen anderen Ausweg. Sie geht nach draußen, um sich die Kehle durchzuschneiden. Grauenhaft. Vorhang.
*
Um zwanzig Uhr zwanzig betrat ich das Laviasky-Theater und nahm auf einem Klappsitz im hinteren Teil des Parketts Platz. Der Saal war gut gefüllt. Zu meinem Erstaunen sah ich, dass Madame Zimmermann in der Mitte der allerersten Reihe saß, mit einem Seidenschal um die Schultern und wie eine Herzogin frisiert. Sie hatte also den Wunsch ihrer Tochter nicht respektiert; ich hatte ein ungutes Gefühl.
Der Saal verdunkelte sich und es wurde still. Hinter dem roten Vorhang erklangen dumpfe Schläge schnell hintereinander. Dann zwei Schläge mit längeren Pausen dazwischen. Und perfekt synchronisiert mit dem dritten Schlag ertönte der Knall einer Schusswaffe.
Aus dem Publikum kamen überraschte Rufe, jemand lachte, weil er wohl an einen billigen Inszenierungseffekt dachte. Doch als nichts weiter geschah, breitete sich im Saal ein Stimmengewirr aus, das immer lauter wurde und den gedämpften Lärm hinter dem Vorhang übertönte.
Ein älterer Mann in einem grauen Kittel erschien am Bühnenrand.
»Ist ein Arzt im Saal?«, rief er laut und fügte hinzu: »Es ist gerade ein Unfall passiert, eine Schauspielerin muss dringend ins Krankenhaus gebracht werden. Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen, dass die Aufführung nicht stattfinden kann. Die Eintrittspreise werden an der Kasse zurückerstattet.«
Ich war bereits von meinem Klappsitz aufgesprungen. Der Bühnenarbeiter streckte mir den Arm entgegen und half mir, auf die Bühne zu klettern. Frau Zimmermann war ebenfalls herbeigeeilt und verlangte, dass man ihr hochhelfen solle. Ich hielt den alten Mann an der Schulter fest, um ihn von diesem Tun abzuhalten.
»Schnell, Doktor!«
Der Krankenwagen war in weniger als fünf Minuten da. Was für ein Gesicht der Hauptdarsteller Serge Loup machte, als ich ihm meinen Polizeiausweis unter die Nase hielt.
»Aber«, stammelte er, »das ist ein Selbstmordversuch, der Bühnenarbeiter ist Zeuge, Frau Laviasky ist Zeugin, wir alle sind Zeugen.«
Er hatte mich zunächst für den Arzt gehalten und verblüfft zugesehen, wie ich ein Spitzentaschentuch aufhob, das neben dem Revolver auf den Boden gefallen war, es einsteckte und die Stelle mit einem präzisen Kreuz markiert und dann mit demselben Stück Kreide die Umrisse der Schauspielerin nachgezeichnet hatte, die in ihrem langen, blutigen Kleid auf dem Boden lag.
Dann trugen die Sanitäter die Verletzte mit einem Druckverband auf dem Bauch weg. Die Regisseurin und der Bühnenarbeiter begleiteten den Krankentransport. Ich hielt den überraschten Schauspieler zurück und begann mit der Befragung.
In seinem Dienerkostüm hatte Loup hinter der Bühne gestanden und auf seinen Auftritt gewartet, als das Drama passierte. Mit einem Wortschwall versuchte er alles zu erklären, aber ich wollte nur meine Fragen beantwortet haben, eine nach der anderen.
»Wann haben Sie Stephanie Zimmermann kennengelernt?«
»Vor anderthalb Jahren, hier im Theater. Sie kam oft in unser Haus und war mit Frau Laviasky gut befreundet. Und sie hatte Potenzial.«
»Hatten Sie keine Konflikte untereinander?«
»Kleine Zusammenstöße. Stéphanie hatte noch nie Theater gespielt, es war nicht leicht für sie.«
»Warum haben Sie ausgerechnet sie ausgewählt?«
»Weil sie eine entwaffnende Natürlichkeit hatte, sie spielte nicht, besser als jede Schauspielerin war sie authentisch.«
Dann informiert er mich, dass das Stück Fräulein Julie bereits am Ende der Karriere von Clara Laviaskys inzwischen verstorbenem Vater Léon Laviasky aufgeführt worden war. Clara spielte damals die Julie.
»Sie ging auf die vierzig zu, sie sah nicht so aus, aber es war trotzdem schwierig, eine Fünfundzwanzigjährige zu verkörpern. Stéphanie hingegen war physisch und psychisch die Idealbesetzung.«
Er erklärte auch, dass Clara in der neuen Inszenierung die Rolle der Köchin übernahm und er die Rolle des Dieners behielt.
Ich fragte ihn, was er jetzt machen würde, da seine Show ins Wasser gefallen war. Er antwortete, dass ihm das egal sei, er wolle nur wissen, wie es Stephanie gehe.
»Kürzen Sie Ihre Befragung ab, ich muss zu ihr ins Krankenhaus.«
Auf keinen Fall durfte Loup den Tatort verlassen. Außerdem träfe er im Krankenhaus auf Stephanies Mutter, die einen Skandal verursachen würde. Deshalb bestand er nicht darauf. Er war nur erstaunt, dass ich ihn nicht nach dem Schuss fragte.
Der Bühnenarbeiter war gerade wieder aufgetaucht, und ich wollte zuerst die Version eines Zeugen hören, der weniger in das Drama verwickelt war.
*
Hector Boulin, neunundsechzig, seit zweiunddreißig Jahren am Theater, war allein für die Kulisse zuständig, das Budget war knapp bemessen. Nachdem er das Licht im Saal gedimmt hatte, war er nach vorn gegangen, um auf den Bühnenboden zu schlagen. Die junge Schauspielerin war bereits an ihrem Platz in der Mitte, nur einen Schritt vom Bühnenrand entfernt. Plötzlich sah Boulin, wie sie aufsprang, am Tisch die Schublade öffnete, den darin liegenden Revolver ergriff, ihn auf ihren Bauch richtete und – PENG!
»Ich verstehe das nicht«, meinte er. »Ich war es, der die Platzpatronen besorgt hat.«
Er zeigte mir die Schachtel: Zwei Patronen fehlten, eine war für eine Probe am späten Vormittag verwendet worden. Außer Boulin war bis Vorstellungsbeginn niemand mehr auf die Bühne gekommen.
»Wer könnte eine echte Kugel in den Revolver getan haben?«
»Clara, die Direktorin, ausgeschlossen, sie spielt die Köchin im Hintergrund, sie hat sich nicht von ihrem Platz bewegt. Ich konnte sie sehen.«
»Der Schauspieler-Regisseur?«
»Nein, der stand hinter mir, bereit, um zu gegebener Zeit zu Stephanie zu treten.«
Hector Boulin erklärte mir, dass Fräulein Julie zu Beginn in einem Lichtstrahl mitten im dunklen Bühnenbild der Schlossküche erscheinen sollte. Julie tanzte, allein. Der Diener Jean tauchte auf wie ein Insekt, das von einer Lampe angezogen wurde. Sie zog ihn in ihren Tanz hinein, sie gingen im Walzerschritt hinaus … Eine Art traumhaftes Präludium, vom Regisseur hinzugefügt.
»Hat er noch andere Änderungen vorgenommen?«
»Ja, ein Ballett wurde gestrichen und durch einen weiteren Tanz von Julie und dem Diener ersetzt, bis sie übereinander auf den Boden fallen – so versteht man, dass sie sich geliebt haben … Schwierige Szene, Stephanie ist erstarrt, die Probe musste abgebrochen und verschoben werden.«
»Und am nächsten Tag klappte alles?«