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Eine herrlich witzige Lektüre über zweite Chancen, Liebe und Freundschaft – voller Wärme und Lebensweisheit
Endlich frei! Endlich reisen! Nun könnte dieser Traum wahr werden. Nach vierzig Jahren hängen Heather und ihr Mann Alan das Stethoskop an den Nagel und übergeben ihre Arztpraxis an einen Nachfolger. Schon lange hat Heather davon geträumt, die griechischen Inseln zu erkunden und aufregende Abenteuer zu erleben. Doch Reisen steht nicht auf Alans To-do-Liste. Er will sein eigenes Gemüse anbauen und den Haushalt neu organisieren – Pech nur, dass er von beidem so gar keine Ahnung hat … Irgendwann reicht es Heather. Sie begibt sich allein auf ihre ganz eigene Odyssee durch Griechenland, mit vielen zauberhaften Erlebnissen und amourösen Versuchungen – bis Alan auftaucht, und beide erkennen, dass es für einen Neuanfang nie zu spät ist.
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Seitenzahl: 408
Veröffentlichungsjahr: 2024
Joanna Nell
Mrs Winterbottom nimmt sich eine Auszeit
Roman
Aus dem Englischen von Sonja Hauser und Susanne Hornfeck
Insel Verlag
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eBook Insel Verlag Berlin 2024
Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2024.
© der deutschsprachigen AusgabeInsel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2024
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Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Umschlagabbildung: FinePic®, München
eISBN 978-3-458-78145-5
www.insel-verlag.de
Für Peter
Der Sinn des Reisens besteht darin, die Vorstellungen mit der Wirklichkeit abzugleichen und die Dinge so zu sehen, wie sie sind, und nicht, wie sie sein könnten.
Samuel Johnson
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Motto
Kapitel
1
Mit einem lachenden und einem weinenden Auge
Kapitel
2
Felicity Kendals Hintern
Kapitel
3
Unheimliche Begegnung im dritten Gang
Kapitel
4
Horror Homunculi. Cambridge,
1975
Kapitel
5
Man kommt sich näher
Kapitel
6
Nenn mich Al
Kapitel
7
Wie man eine Jungfer verführt
Kapitel
8
Er starb mit einer Pfeffernuss in der Hand. Netherwood,
1982
Kapitel
9
Heimkehr der verlorenen Tochter
Kapitel
10
Hüte dich vor den Sirenen
Kapitel
11
Vorspeise
Kapitel
12
Neues Leben, neues Glück. Netherwood
1983
Kapitel
13
Wo das wilde Ding wohnt
Kapitel
14
Breaking Bad
Kapitel
15
Mut zur Lücke
Kapitel
16
Rind oder Huhn?
Kapitel
17
Zimmer mit Aussicht
Kapitel
18
Wellenreiten und Weinseligkeit
Kapitel
19
Ein Mann namens Niemand
Kapitel
20
Calluna vulgaris, gemeines Heidekraut
Kapitel
21
Keep calm and carry on
Kapitel
22
Sklave der Liebe
Kapitel
23
Lass alle Vorsicht fahren
Kapitel
24
Ruiniert
Kapitel
25
Basierend auf einem wahren Mythos
Kapitel
26
Zwischen Baum und Borke
Kapitel
27
Sonne, Sand und Schalentiere
Kapitel
28
Zwischen Skylla und Charybdis
Kapitel
29
Verloren auf hoher See
Kapitel
30
Kleine Notlügen
Kapitel
31
Relevanzdeprivationsstörung
Kapitel
32
Eiland der Liebe
Kapitel
33
Corellis andere Mandoline
Kapitel
34
Die zweittollste Rede der Geschichte
Kapitel
35
Sprich mir von Homer
Epilog
Dank
Informationen zum Buch
Endlich frei! Endlich reisen! Nun könnte dieser Traum wahr werden. Nach vierzig Jahren hängen Heather und ihr Mann Alan das Stethoskop an den Nagel und übergeben ihre Arztpraxis an einen Nachfolger. Schon lange hat Heather davon geträumt, die griechischen Inseln zu erkunden und aufregende Abenteuer zu erleben. Doch Reisen steht nicht auf Alans To-do-Liste. Er will sein eigenes Gemüse anbauen und den Haushalt neu organisieren – Pech nur, dass er von beidem so gar keine Ahnung hat … Irgendwann reicht es Heather. Sie begibt sich allein auf ihre ganz eigene Odyssee durch Griechenland – mit vielen zauberhaften Erlebnissen und amourösen Versuchungen …
»Nimmt die Leser mit auf eine wunderbare Reise. Eine warmherzige Lektüre von Joanna Nell, die fesselnde Geschichten erzählt.«The Australian
»Ein Vergnügen. Warmherzige Charaktere und Beobachtungen und ein tolles Tempo.«Amanda Hampson
Joanna Nell ist Ärztin und eine international erfolgreiche Autorin. Sie hat bislang fünf Romane veröffentlicht; ihre Kurzgeschichten wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet und in Magazinen, Zeitschriften und Anthologien veröffentlicht. Die gebürtige Britin lebt seit 2003 mit ihrem Mann und ihrem Labrador an den Nordstränden von Sydney, Australien. www.joannanell.com
Kapitel1
Dr. Heather Winterbottom sagte oft im Scherz, sie sei an ihrem ersten Arbeitstag eine halbe Stunde in Rückstand geraten und habe es in den folgenden vierzig Jahren nicht geschafft, diese wieder aufzuholen. Ständig entschuldigte sie sich dafür, dass sie ihre Patienten warten ließ, selbst bei den wenigen Malen, an denen sie den Termin tatsächlich einhielt. Ihr Gesicht hatte einen Ausdruck dauerhafter Zerknirschung angenommen. Doch das würde sich jetzt ändern. Heute war ihr letzter Tag als Ärztin! Endlich konnte sie die kostbaren dreißig Minuten zurückbekommen und ihrem restlichen Leben zuschlagen. Eine neue Welt tat sich auf jenseits des Netherwood-Medical-Center, so viele Dinge, die sie tun und sehen wollte. Dieser Tag markierte den Beginn eines völlig neuen Kapitels, wenn nicht sogar eines gänzlich neuen Lebens. Zuvor jedoch musste sie einen Wattepfropf aus Mr Cliftons linkem Ohr entfernen.
Mrs Clifton hatte ihrem Mann noch nie zugetraut, ein effizienter Hüter seines eigenen Körpers zu sein, und begleitete ihn daher immer zu seinen Arztterminen. Gemeinsam brachten sie es auf genügend Stunden in Heathers Wartezimmer, um es als zweiten Wohnsitz beanspruchen zu können, und Mrs Clifton hatte in ihrer praktischen Art stets belegte Brote und eine Thermoskanne Tee dabei.
Die Cliftons gehörten zu jenen Paaren, die sich gegenseitig den Dreck von den Stiefeln kratzen, bevor sie ins Auto steigen. Sie trugen die gleichen Fleecejacken und beendeten ihre Sätze füreinander. Die Cliftons sah man so gut wie niemals getrennt – ganz anders als Heather und ihren Ehemann Alan, obwohl sie zusammenlebten und in derselben Praxis arbeiteten.
Heather rief Mr Cliftons Akte auf dem Bildschirm auf, während das Paar darüber diskutierte, wer auf welchem Stuhl sitzen sollte.
»Du bist der Patient, Bob«, beharrte Cynthia Clifton, wobei ihr Ton nicht zu ihrem lächelnden Gesicht passte.
»Aber du bist diejenige, die redet.« Bobs gezwungenes Lächeln spiegelte das seiner Frau.
»Wie lang sind Sie beide eigentlich verheiratet?«, fragte Heather, während sie mit gezückter Pinzette in den Ohrenspiegel spähte.
»Fünfzig Jahre«, antworteten sie unisono.
»Und nie ein böses Wort«, sagte Cynthia.
»Nur deshalb, weil wir kaum miteinander reden.« Bob lachte, und seine Frau gab ihm einen scherzhaften Klaps auf den Arm.
Heather inspizierte den Wattepfropfen am Ende der Pinzette. »Denken Sie dran, Bob, mit nichts Kleinerem im Ohr bohren als mit dem eigenen Ellbogen.«
»Ich habe es ihm schon wer weiß wie oft gesagt, Frau Doktor, aber er hört ja nicht auf mich.«
Bob schob das Kinn vor und rieb sein Ohr. »Weshalb, glaubst du, stopfe ich mir Watte in die Ohren?«
Heather lächelte. Die Muskeln um Augen und Mund fühlten sich angespannt und fremd an. Neben allgemeiner Fitness war einer ihrer Vorsätze für den Ruhestand, sich endlich die ewige Entschuldigung aus ihrem Gesichtsausdruck abzutrainieren.
»Das ist für Sie, Dr. Winterbottom«, sagte Cynthia und hielt ihr eine bunt gestreifte Geschenktüte hin.
»Wir werden Sie vermissen«, fügte Bob hinzu. »Sie sind die beste Ärztin, die wir je hatten.«
Die einzige Ärztin, die ihr je hattet, hätte Heather beinahe ergänzt, denn die Cliftons weigerten sich, zu anderen Kolleginnen oder Kollegen in der Gemeinschaftspraxis zu gehen. Bei den seltenen Urlauben, die ihr und Alan vergönnt gewesen waren, hatten Bob und Cynthia ihre kollektiven Gebrechen bis zu ihrer Rückkehr aufgespart. Trotzdem war es schön, zur Abwechslung statt einer Beschwerde auch mal ein Lob zu bekommen.
Heather öffnete die Tüte. Zunächst war sie sich nicht sicher, was sie von dem großen, gepolsterten Rechteck mit dem farbenfrohen Morris-Muster halten sollte.
»Es ist ein Kniekissen«, assistierte Cynthia, »zum Jäten der Rabatten.«
»Danke, das ist ganz reizend von Ihnen.« Heather versuchte sich zu erinnern, ob sie überhaupt Rabatten im Garten hatte.
»Wir könnten uns ein Leben ohne unseren Garten nicht vorstellen, nicht wahr, Bob?«
»Zumindest gibt er uns einen Grund, jeden Morgen aufzustehen.«
Heather hoffte, dass ihr und Alan künftig nicht das gleiche Leben aus Pflanzerde und Treppenlift beschieden sein würde.
Nach einer tränenreichen Abschiedsumarmung von Cynthia und einem stoischen Handschlag von Bob legte Heather das Kniekissen auf den wachsenden Stapel von Grußkarten und Gartenutensilien unter ihrem Schreibtisch. Eine ihrer Patientinnen hatte ihr einen Becher mit dem Cartoon eines Ehepaars neben einem blauen Wohnmobil und der Unterschrift »Lebe deinen Traum« geschenkt, einer ihrer einsichtigeren Stammkunden hatte sich für eine Flasche Sherry entschieden.
Es blieb gerade Zeit genug, um einen Schluck kalten Kaffee zu nehmen und ihn wieder auszuspucken, bevor sie den nächsten Patienten hereinrief. Noch nicht mal neun, und sie war bereits eine Dreiviertelstunde im Rückstand – eine persönliche Bestleistung. Morgen jedoch würde sie ihren Kaffee trinken, solange er noch heiß war. Bei einem gemütlichen Frühstück im Freien würden Alan und sie den Rest ihres Lebens planen. Sie freute sich darauf, endlich ein normales Gespräch mit ihrem Mann zu führen, anstatt sich über Patienten auszutauschen oder Begriffe wie »Rahmenplan« oder »Anteilseigner« im Mund zu führen, die eher in eine Vorstandsetage gehörten als in eine Arztpraxis. Eine andere Welt war zum Greifen nah. Sie musste nur noch die heutigen Termine abarbeiten und dreiundsiebzig Leute zurückrufen.
Um sich Mut zu machen, gestattete sie sich einen Blick auf den Reiseprospekt, den sie unter ungelesenen Nummern des British Medical Journal verborgen hielt. Schon seit Jahren fand sie keine Zeit mehr, das BMJ zu lesen, und sie würde mit Sicherheit keine Sekunde ihres Ruhestandes damit verschwenden, das nachzuholen. Nein, Wunderbare griechische Inselwelt hatte sie sich vor ein paar Wochen in dem Reisebüro gegenüber ihrem Friseur besorgt, das war der Lesestoff, der sie jetzt interessierte. Sie blätterte den Prospekt durch und warf einen sehnsüchtigen Blick auf einsame Strände, Olivenhaine und weiß gekalkte Häuser, bevor sie ihn wieder unter den Stapel schob.
Als sie den nächsten Namen auf der Liste sah, erwog sie kurz, den Sherry zu öffnen. Im Wartezimmer rannte Jaxon Smith zwischen den besetzten Stuhlreihen hin und her und drosch mit seiner Plastik-AK-47 aus auf die Knie der anderen Wartenden ein. Aus jedem Nasenloch rann eine Schneckenspur aus silbrigem Rotz, der auf seiner Oberlippe zu einer grünlichen Kruste getrocknet war. Als Heather ihn aufrief, zerrte ihn Mrs Smith, in Leggings wie in eine Wursthaut gepresst, am Pferdeschwanz des ansonsten kahlgeschorenen Hinterkopfes ins Sprechzimmer.
Sieben Minuten später gingen sie wieder, und Mrs Smith rief über die Schulter zurück: »Vergessen Sie nicht, dass Sie Ihr Geld mit mir verdienen!«
Heather verkniff es sich, darauf hinzuweisen, dass die einzigen Steuern, die die Smiths jemals gezahlt hatten, die unvermeidlichen Abgaben auf Alkohol und Kippen waren. Sie war vorrangig damit beschäftigt, ihr verwüstetes Sprechzimmer wieder in Ordnung zu bringen. Jeder Schrank war durchwühlt, eine ganze Rolle Papier für die Behandlungsliege kringelte sich in Schleifen auf dem Boden, und die Vorhangschiene um die Liege, die dem Gewicht eines kräftigen Vierjährigen nicht hatte standhalten können, lag dort wie ein kollabiertes Zelt am Ende des Glastonbury-Festivals. Dennoch war Heather dem jungen Berserker und seiner abscheulichen Mutter beinahe dankbar. Falls sie künftig ein schlechtes Gewissen bekäme, weil sie die Cliftons und Hunderte anderer Patienten, die sie mittlerweile als ihre Familie betrachtete, im Stich gelassen hatte, würde sie an Jaxon Smith denken.
Um die Mitte des Vormittags zwickte Heathers Plastikhaarklammer in ihre Kopfhaut, und sie fragte sich, wie es sein konnte, dass sie dehydriert war und trotzdem so dringend aufs Klo musste. Medizinstudenten gegenüber witzelte sie oft, dass man als erfolgreiche Allgemeinmedizinerin ein weiches Herz, ein dickes Fell und eine Vierzig-Liter-Blase brauche. Leider war ihr Fassungsvermögen nicht mehr das, was es einmal gewesen war, und der nächste Patient würde wohl oder übel warten müssen. Als sie über den Flur zur Toilette hastete, stieß sie beinahe mit Alan zusammen, der gerade aus seinem Sprechzimmer kam.
»Na, wie läuft dein letzter Tag?«, fragte er.
»Der übliche Kleinkrieg«, entgegnete Heather. »Aber ausnahmsweise habe ich es geschafft, den Papierstau am Drucker selbst zu beheben, also nicht allzu schlecht.«
Alan warf einen Blick auf seine Uhr. »Vergiss nicht, dass die Mädels für halb eine Überraschungsparty geplant haben.«
Die nicht ganz so überraschende Party. Schon den ganzen Morgen schwebten zwei Heliumballons mit der Aufschrift »Alles Gute für den Ruhestand« durch den Behandlungsraum, und jedes Mal, wenn die Tür zum Wartezimmer aufging, versuchten die grellbunten Luftschiffe in die Freiheit zu entkommen. Am liebsten hätte Heather die Eingangstür geöffnet, um sie endgültig entschwinden zu sehen. Einer der Ballons, schon etwas schlaff und schrumpelig, taumelte auf Augenhöhe, während der andere noch prall und elastisch unter der Decke hing. Sie konnte nicht umhin, das als Metapher zu sehen. Angetrieben von dem, was danach kam, ging Heather schwungvoll in die Zielgerade, während Alan ermattet wirkte und aussah, als schaffe er es nur mit Mühe bis zur Mittagspause.
»Alles in Ordnung bei dir?«, fragte Heather und forschte in seinem blassen Gesicht. Es war ein denkwürdiger Tag für ihn, der mehr bedeutete als das Ende eines Jobs. Heather war dankbar, es einigermaßen unbeschadet bis hierher geschafft zu haben, sie war sich aber darüber im Klaren, dass Alan die Dinge anders nahm.
»Alles gut«, erwiderte er. »Mir geht’s bestens.«
Das »gut« nahm sie ihm ab. Das »bestens« nicht. »Wirklich?«
Er nahm Haltung an, richtete sich ein paar Zentimeter auf und versteifte seine ohnehin schon steife Oberlippe. »Besser denn je. Ich bin gewappnet für die letzte Schlacht mit der Netherwood-Medical-Center-Patientenvertretung«, sagte er mit Bezug auf jene Gruppe Freiwilliger, die ihm allmonatlich erklärte, wie er die Praxis zu führen habe, die er und Heather die letzten vierzig Jahre erfolgreich geleitet hatten.
***
»Überraschung!«
Ein Partykracher knallte. Moleküle von Schwarzpulver hatten Heathers Nase kaum erreicht, die bunten Bänder kaum den Boden berührt, als Rita, die erschreckend effiziente Empfangskraft, bereits sämtliche Spuren mit Kehrbesen und Schaufel beseitigte.
»O mein Gott«, sagte Heather und schlug die Hände mit einer Geste vor die Brust, die der British Academy Film Awards in der Kategorie Melodrama würdig gewesen wäre. »All das hätte ich ja nie erwartet …«
All das. Das Fingerfood in liliputanischen Ausmaßen – Mini-Sandwiches, Mini-Wraps, Mini-Frittatas und Mini-Muffins – war eine erfreuliche Abwechslung zu Mr Kiplings üblichem Catering. Das einzige Zugeständnis an die Tradition war eine Platte mit den von Alan heißgeliebten Würstchen im Schlafrock.
»Tolles Buffet«, sagte Alan und leckte sich voller Vorfreude die Finger.
Jemand reichte Heather einen kleinen Schluck warmen Prosecco, der leicht in ein Abstrichröhrchen gepasst hätte, und sie nahm sich ein Sandwich. Sie nippte an ihrem Glas und sah in die Runde lächelnder Gesichter. Neben den Sprechstundenhilfen, den Pflegefachkräften und der Praktikantin waren auch die »bedrohten Fünf« im Außendienst vertreten: Gemeindeschwestern, Gesundheitsbetreuer, Physiotherapeuten, mehr Hebammen, als es derzeit Schwangere im Dorf gab, und sogar eine psychiatrische Fachschwester – eine Spezies, die man in freier Wildbahn nur selten antraf. Sie arbeiteten zwar alle freiberuflich, waren aber eine große Familie.
Ihr Herz wurde weit, als sie in die bekannten Gesichter sah, alles Menschen, die immer ein wenig mehr taten, als der Dienst es vorschrieb, und das tagein, tagaus. Nicht ihren Arbeitsort würde sie vermissen, die elegante, georgianische Fassade mit ihrer modernen Glaserweiterung, sondern die Belegschaft, die das Netherwood-Medical-Center so besonders machte. Bei dem Gedanken an den Abschied lag ihr das Kresse-Ei-Sandwich plötzlich schwer im Magen. All das – die Ballons, der Kuchen, die Rede, die Alan vorbereitet hatte – würde so endgültig sein. Keine Möglichkeit, es sich anders zu überlegen. Kein Weg zurück von den Mini-Frittatas.
Sie war bereit gewesen aufzuhören, überzeugt, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Jetzt war sie sich plötzlich nicht mehr so sicher, und der Blick auf die Zukunft schien verschwommen, als hätte sie das von ihr gemalte, perfekte Aquarell draußen im Regen liegen lassen. Sie durfte Alan ihre Zweifel nicht zeigen. Also mischte sie sich unter die Leute, lächelte viel und besorgte sich ein weiteres Glas des rasch schwindenden Prosecco.
Nach zehn Minuten identischer Unterhaltung mit unterschiedlichen Leuten – alles Variationen von: ja, sie freue sich auf den Ruhestand, und, nein, keiner von ihnen würde anfangen zu golfen – sah Heather sich nach Alan um. Er textete eine Hebamme in Ausbildung zu, die etwas gequält vorgab, über seine Scherze zu lachen. Zum Glück wurde sie von Pauline, der Praxismanagerin, gerettet, die jetzt mit einer Kuchengabel an ihr Glas klopfte.
»Meine Damen und Herren«, begann sie. »Im Namen der Belegschaft und der Freunde des Netherwood-Medical-Center möchte ich Heather und Alan gern unser Abschiedsgeschenk überreichen. Zum Dank für ihre harte Arbeit und ihr Engagement. Ich bin sicher, ihr stimmt alle mit ein in die besten Wünsche für einen glücklichen, wohlverdienten Ruhestand.«
Pauline trat mit zwei identischen Paketen vor, eines für Heather und eines für Alan, beide in Papiertaschentücher verpackt. Bitte nicht noch mehr Gartengeräte. Heather riss das Papier auf und stieß hörbar den Atem aus. Das rechteckige Namensschild, das am Eingang zur Praxis angebracht gewesen war, lag kalt und erstaunlich schwer in ihren Händen.
Dr. Heather Winterbottom BMBCh DCHDRCOGMRCGP
Diese ganzen Buchstaben hinter ihrem Namen. Die einst glänzende Oberfläche war über die Jahre verwittert, aber jemand hatte das Messing poliert, sodass es wie neu schimmerte, die eingravierten Buchstaben waren klar und präzise wie die Inschrift auf einem frisch gesetzten Grabstein. Sie und Alan waren offiziell demontiert.
Wie sie Rita kannte, waren die Löcher in dem zweihundert Jahre alten Mauerwerk bereits ausgefugt. Heather nahm es ihr nicht übel. In Hausarztpraxen blieb keine Zeit zum Luftholen oder Innehalten, schon gar nicht zum Trauern. Es war unmöglich, mit dem stetig wachsenden Berg an Bürokratie Schritt zu halten. Und es gab grundsätzlich mehr Patienten als Termine.
»Ich habe einen Kloß im Hals«, krächzte Alan.
Beruhigend zu wissen, dass auch er nur ein Mensch war, sprachlos vor Rührung und Schmerz.
»Ich auch, Liebling«, sagte Heather und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Nein.« Hustend schüttelte er den Kopf und deutete auf seinen Hals. »Würstchen.«
Er versuchte, es durch übertriebenes Schlucken freizubekommen, während ein ganzer Raum voll medizinischem Fachpersonal von stiller Panik erfasst wurde. Doch am Ende nahm Alan die Sache selbst in die Hand, indem er das Würstchen mit einem Stück Kuchen verscheuchte.
Heather war erleichtert, als sich die Gesichtsfarbe ihres Mannes wieder normalisierte, doch ihr Bedauern, die Unsicherheit und die aufkeimende Reue wichen nicht. Das war das Ende einer Ära. Sie konnte es kaum erwarten, endlich von hier zu verschwinden, aber wie sollte sie das alles hinter sich lassen? Die Tragweite dieser Erkenntnis ließ sich nicht einfach mit einem Stück frischer Biskuitrolle runterschlucken.
Pauline war noch nicht zum Ende gekommen. »Wir haben ein weiteres, ganz spezielles Geschenk für euch beide«, sagte sie und überreichte einen Umschlag.
Immer noch hustend riss Alan den Umschlag auf.
»Eine gemeinsame Mitgliedschaft im National Trust! Das ist wirklich etwas Besonderes«, sagte er, als könnte er es nicht erwarten, in die Welt der Rosengärten und Orangerien, Pflanzenmärkte und Geschenkshops einzutauchen.
Heather murmelte ihren Dank. Sie spürte, wie tief innen ein kleines Stückchen von ihr erstarb. Vergiss die Olivenhaine und rustikalen Tavernen Griechenlands, von nun an waren bequeme Schuhe und Thermosflaschen mit lauwarmem Tee an düsteren Dienstagnachmittagen angesagt. Alans Vorstellung vom perfekten Ruhestand war denkmalgeschützte Architektur, in der Clotted Cream serviert wurde.
Den Umschlag ans Herz gepresst trat Alan vor. »Vielen Dank euch allen. Ich bin sprachlos«, sagte er. Doch da er einem ihm ausgelieferten Publikum nicht lange widerstehen konnte, fand er seine Sprache sogleich wieder. Und nun kam sie. Die Rede. Keine Fluchtmöglichkeit. Alle Ausgänge verschlossen. Heather äugte zu der leeren Prosecco-Flasche hinüber, zu spät fiel ihr der Sherry ein.
»Wie ihr vielleicht wisst, hat mein Vater, Gordon Winterbottom, diese Praxis 1948 gegründet. Im selben Jahr wurde der National Health Service ins Leben gerufen, der erste Gesundheitsdienst auf der Welt, der seine Leistungen völlig kostenfrei zur Verfügung stellte. Lasst mich ein wenig in die Details gehen.«
Nein, Alan, bitte keine Details.
»Es war das Jahr der ersten künstlichen Hüfte. Polio wütete, und Penizillin, das erste Antibiotikum, steckte noch in den Kinderschuhen. Die Lebenserwartung für Männer lag bei fünfundsechzig Jahren, die von Frauen bei siebzig.«
Manche Zuhörer bekamen einen abwesenden Blick, doch Alan war in seinem Element; so lebhaft hatte Heather ihn seit Wochen nicht gesehen.
»Seither hat sich vieles geändert. Dank der frühen Impfungen, für die mein Vater sich leidenschaftlich einsetzte, ist Kinderlähmung heute praktisch ausgerottet. Männer werden im Durchschnitt achtzig Jahre alt, Frauen dreiundachtzig.«
»Verlass dich nicht drauf«, zischte Heather leise durch lächelnde Lippen.
»Wusstet ihr, dass es heute zehnmal so viele Ärzte gibt wie 1948, aber nur ein Viertel der Krankenhausbetten?«
Offenbar wusste das niemand. Und die Anwesenden waren, wie Heather vermutete, auch nicht besonders interessiert daran, zumal an einem Freitagnachmittag. Die Rede nahm immer mehr den Ton einer Parteiveranstaltung an. Sie räusperte sich.
Alan sah in ihre Richtung.
»Hier ist noch ein weiteres Detail, das euch vielleicht nicht so bewusst ist. Untersuchungen haben gezeigt, dass Ärzte ihre Patienten erst nach neunzig Sekunden unterbrechen. Ehefrauen gestehen ihren Männern nur sechzig Sekunden zu.« Die verheirateten Männer im Raum nickten bestätigend. »Doch zurück zu meinem Vater. Er war ein großzügiger Mann, und ihr seid alle zu jung, um zu wissen, wie man ihn im Dorf verehrte, nicht nur wegen des selbstgezogenen Gemüses, sondern auch wegen seines Umgangs mit Kranken.«
Alans Stimme versagte. Heather trat solidarisch und tröstend an seine Seite, aber auch, um ihn diskret an die Zeit zu erinnern.
»Ich sehe uns gern als eine große, glückliche Familie«, sagte er. »Heather und ich haben unser Bestes getan, um diese Praxis aufzubauen und fit zu machen für ein neues Jahrhundert, aber jetzt ist die Zeit gekommen, das Staffelholz an die jüngere Generation zu übergeben. Nur das Wissen, dass wir die Netherwood-Gemeinschaft in beste Hände weiterreichen, macht es Heather und mir einfacher, das Stethoskop endgültig an den Nagel zu hängen. Wir werden jetzt das Vergnügen haben, uns endlich wieder näher kennenzulernen.« Er drehte sich zu Heather um. »Entschuldigung, sind wir uns schon mal begegnet?«
Stichwort für den obligatorischen Applaus. Heather stieß die Luft aus, die sie unbewusst angehalten hatte. Gott sei Dank, das war’s dann wohl. Nur dass Alan noch längst nicht fertig war. Er entfaltete ein Blatt Papier und griff nach seiner Lesebrille. Heather deutete die Geste des Halsabschneidens an in der Hoffnung, Alan werde sie aus dem Augenwinkel wahrnehmen. Doch er schien Scheuklappen zu tragen und begann mit lauter Stimme zu lesen.
»Der griechische Staatsmann Perikles hat in seiner vielgepriesenen Gefallenenrede zum Gedenken an die Toten des Peloponnesischen Krieges gesagt: ›Nicht nur die Inschrift auf einer Steintafel zeugt von ihnen, auch die dem Gedächtnis der Lebenden eingeschriebene Erinnerung.‹«
»Ich finde, das ist ein wunderbares Schlusswort«, unterbrach ihn Heather und animierte das verwirrte Publikum zu einem hoffentlich finalen Applaus.
»Aber ich bin noch gar nicht fertig mit meiner Rede«, murmelte Alan geknickt und sah der sich auflösenden Menge nach. Seine ungesagten Worte füllten beide Seiten des zerknitterten Din-A4-Blatts in seinen Händen.
»Die Leute müssen zurück an die Arbeit, Alan. Sie haben keine Zeit, deinen Auslassungen über tote Griechen zu lauschen.«
»Aber die Gefallenenrede des Perikles ist eine der größten Reden der Geschichte.«
»Wann genau war das?«
»431 vor Christus.«
Das Bild von Alan als kleinem Jungen, der sein Wissen unbedingt mit einem stets beschäftigten Vater teilen wollte, stimmte sie milder. Sie stellte sich ihn als Siebenjährigen vor, den man in ein Internat schickte und dem man erzählte, wie glücklich er sich deshalb zu schätzen habe. Glücklich darüber, in denselben grimmigen, aber geheiligten Hallen dasselbe zu erleiden wie vor ihm sein Vater und sein Großvater. Alan sprach selten über seine Schulzeit, und wenn, dann nur als triste, aber charakterbildende Jahre. Er erzählte lieber davon, wie er an freien Wochenenden seinen Vater auf dessen Runden begleiten und seine ramponierte Arzttasche tragen durfte.
»Ich bin ja sehr für eine Reise nach Griechenland, Alan, aber wie wär’s mit dem einundzwanzigsten Jahrhundert?«
Sonne, Sand und Meer, eine jahrtausendealte Geschichte, und das nur dreieinhalb Flugstunden von Gatwick entfernt. Sie musste bloß den richtigen Moment erwischen, um ihm den Prospekt unter die Nase zu halten.
Kapitel2
Heather setzte sich so unvermittelt auf, dass sie Sternchen wegblinzeln musste. Hitze schoss aus ihren Adrenalin pumpenden Nebennieren bis in die Kopfhaut, die Fingerspitzen, die Zehen.
Sie hatte den Wecker verschlafen.
Zum ersten Mal in vierzig Jahren.
Die Patienten würden warten.
Es dauerte Sekunden, bis ihr Gehirn begriff, was los war, und das galoppierende Herz zügeln konnte. Von heute an gab es keine Weckrufe mehr, keine Termine, keinen Zeitplan, keine Fristen. Von nun an würden sie und Alan Dinge auf freiwilliger Basis tun, nicht weil sie mussten, sondern weil sie mochten. Heute war der erste Tag vom Rest ihres Lebens. Die Sonne war in ihrer alten Welt unter- und in einer neuen aufgegangen. Allerdings schien sie jetzt nicht. Zwischen den geöffneten Vorhängen begrüßte Heather ein trüber, wolkenverhangener Tag. Und aus unerfindlichen Gründen roch es nach Fisch.
Der neue Morgenmantel aus Waffelpiqué – einer des zweiteiligen Sets, das sie letzte Woche online bestellt hatte – lag noch immer ordentlich gefaltet in seiner Plastikverpackung. Sie hatte ihn für diesen Moment aufgespart, die scharfen Falten zeugten davon, wie lange sie ihn herbeigesehnt hatte. Als sie schließlich hineinschlüpfte, fühlte sich der Stoff enttäuschend streif und kratzig an. Heather knotete den Gürtel und machte sich auf die Suche nach der Quelle des mysteriösen Fischgeruchs.
Jemand, der wie Alan aussah – der kaum je einen Finger in der Küche rührte und mit geradezu religiöser Überzeugung auf seinem Frühstückstoast mit seiner Lieblings-Orangenmarmelade von Tiptree beharrte –, stand über eine Bratpfanne auf dem Herd gebeugt. Zu seinen Füßen wachte Stan wie eine steinerne Sphinx, Stalaktiten aus Sabber hingen ihm aus dem Maul. Stans hingebungsvolle Konzentration und das gelegentliche Lecken der Lefzen spiegelten auf komische Weise das Verhalten des Mannes. Von hinten glich dessen morgendlicher Strubbelkopf sogar dem drahtigen Fell des Jagdhundes. Glichen Hunde im Laufe der Zeit ihren Besitzern oder umgekehrt?
»Möchtest du einen, Liebes?«, rief Alan munter.
»Nein, vielen Dank.« Heather löffelte Kaffeepulver in die French-Press-Kanne und warf den Wasserkocher an. »Ich glaube, ich bleibe bei Müsli.«
»Komm schon, die sind ganz frisch, von Craster. Die besten Bücklinge der Welt.« Sie war sich nicht sicher, wie man die Frische von konserviertem Fisch bestimmte, äußerte sich aber nicht dazu. Heather hatte geduldig auf diesen Morgen gewartet, nichts würde ihn verderben.
Alan hielt ihr die Pfanne hin, wo die braunen Fische – die Augen glasig in den aufgeschnittenen Köpfen – in Butter schwammen. Sie wich zurück, als er die glitzernden Filets auf zwei Scheiben warmen Buttertoast gleiten ließ und sich dann die Fingerspitzen küsste wie ein Sternekoch. Stan folgte Alan auf dem Weg vom Herd zur Spüle, dann an den Küchentisch, den Teller stets fest im Auge.
»Ich dachte, wir könnten draußen frühstücken«, sagte Heather. Sie hatte Tassen und Unterteller samt Milchkännchen und Kaffeekanne auf ein Tablett gestellt.
Messer und Gabel im Anschlag entgegnete Alan schwach: »Aber wir haben doch immer in der Küche gefrühstückt.« Als wären weitere zwölf Schritte bis hinaus zu den Gartenmöbeln eindeutig zu viel.
»Also wirklich, Alan. Wo bleibt deine Abenteuerlust?«
Er überlegte kurz, nahm seinen Teller und folgte ihr nach draußen, ohne seinen Widerwillen zu verbergen. Stan trottete hinterher.
Der Himmel war in eine triste graue Wolkendecke gehüllt, und die Kälte kroch durch die dünne Baumwolle von Heathers neuem Morgenmantel. Sie gab sich Mühe, nicht zu frösteln. Wann hatten sie das letzte Mal auf der Terrasse gesessen? Das Wetter war dieses Jahr nicht danach gewesen. Selbst die Glyzinie, die um diese Jahreszeit normalerweise voll leuchtender lila Kerzen stand, lehnte schütter und praktisch blütenlos an der Mauer. Der Tisch und die Stühle aus Teak waren im Winterschatten auf der Rückseite des Hauses schwarz und moosig geworden, und das Holz begann zu splittern. Alan hatte immer wieder beteuert, mit dem Dampfstrahler über die stockigen Pflastersteine gehen zu wollen, war aber bisher nicht dazu gekommen.
Es war zwar nicht die perfekte Szene aus Homes & Gardens, die sie im Sinn gehabt hatte, aber immerhin ein gemeinsames Frühstück. Über Jahre hatte sich ihre Ehe angefühlt wie ein Stafettenlauf, jeder Tag ein neuer Sprint, bei dem die einzige Interaktion die Übergabe von Verantwortung war – für die Kinder, die Patienten oder für die Haushaltspflichten, die es zu erledigen galt. Nun endlich hatten sie die Ziellinie passiert und konnten im eigenen Tempo weitergehen, Seite an Seite.
»Wir sollten uns wirklich neue Gartenmöbel anschaffen«, sagte Heather, während sie sich vorsichtig auf dem vom Moos glitschigen Sitz niederließ.
»Wozu denn, wenn wir kaum draußen sitzen? Ich werde diesen hier eine gute Reinigung verpassen – eine letzte Ölung«, versprach Alan.
Er war offenbar entschlossen, in seine täglichen Rituale keine Outdooraktivitäten zu integrieren. Ihn dazu zu überreden, lebenslange Gewohnheiten zu ändern, würde immer von Neuem eine Herausforderung sein. Umso mehr hatten die Bücklinge Heather überrascht. Statt sich auf die stinkende, fettige Pfanne zu kaprizieren, die er in der Spüle zurückgelassen hatte, beschloss sie, darin ein Zeichen zu sehen; vielleicht, nur vielleicht, wäre er ja doch offen für Veränderung.
»Du weißt nicht, was du verpasst«, sagte Alan durch einen Bissen braunen Fisch. Als Gabel und Messer nicht reichten, um mit seinem Appetit mitzuhalten, schob er sich den Toast mit den Fingern in den Mund. Dabei stöhnte er so lustvoll, dass Heather befürchtete, es werde hier am Tisch zu einem Orgasmus kommen. Im Bett hatte sie schon seit Langem keine solchen Töne mehr von ihm gehört. Sie konnte sich nicht mal erinnern, wann sie das letzte Mal miteinander geschlafen hatten. Oder auch nur Händchen gehalten. In letzter Zeit gab es, abgesehen vom zufälligen Streifen von Ellbogen oder Schultern beim Umdrehen im Bett oder beim zeitgleichen Griff in den Küchenschrank, kaum Körperkontakt zwischen ihnen. Und wie beim Verblassen eines einst farbenfrohen Fotos war das so langsam vonstattengegangen, dass keiner von beiden es bemerkt hatte.
Es war leicht, dem Job die Schuld dafür zu geben.
Sie waren den ganzen Tag beschäftigt gewesen und völlig erschöpft, wenn sie abends heimkamen. Sie liebten sich noch immer, auch wenn sie es nicht zeigten. Das verstand sich doch von selbst, oder etwa nicht?
Es war Zeit, eine neue Seite aufzuschlagen, von vorn anzufangen, nicht als Kollegen und Geschäftspartner, sondern als Mann und Frau. Allerdings waren sie länger Kollegen gewesen als verheiratet. Was, wenn ihre Beziehung nur als Dr. und Dr. Winterbottom funktionierte und nicht als Mr und Mrs?
Heather vermied es, auf Alans fettglänzendes, unrasiertes Kinn zu blicken oder auf das Revers seines schmuddeligen alten Bademantels, auf dem sich in der Nachbarschaft verschiedener undefinierter Flecken eine dunkle Lache gebildet hatte.
»Warum ziehst du nicht den neuen Morgenmantel an, den ich dir gekauft habe?«
»Ich bevorzuge diesen hier. Das war schon immer mein Lieblingsbademantel. Ich dachte, ich hätte ihn verloren, bis ich ihn am Boden von Stans Korb gefunden habe. Keine Ahnung, wie er dort hingekommen ist.« Er warf Heather einen fragenden Blick zu. Sie sah weg.
»Dann lass ihn mich zumindest waschen«, sagte Heather und meinte, einen Geruch von Hund und Fisch wahrzunehmen.
»Wir wollen doch Mrs Gee nicht verunsichern.«
»Ich bin durchaus in der Lage, selbst eine Maschine Wäsche zu waschen, vielen Dank auch.« Heather kippte die Reste ihres Kaffees, der zu ihrem Unmut bereits kalt geworden war, in das steppenhohe Gras, das die Terrasse umschloss. »Genauso wie ich davon ausgehe, dass du in der Lage bist, diesen Rasen hier zu mähen.«
»Du weißt doch, wie Mr Gee reagiert, wenn jemand den Rasenmäher anrührt«, sagte Alan abwehrend.
»Das Problem ist, dass er es mittlerweile kaum noch von einem Ende des Rasens zum anderen schafft. Man kann seine Knie dabei knacken hören. Die beiden müssen mindestens achtzig sein.«
Immerhin hatte Alan Anstand genug, peinlich berührt auszusehen, während er die fischige Butter von seinem leeren Teller tupfte. Sie hatten Mr und Mrs Gee mit dem Haus übernommen, und ihre Anwesenheit war genauso wenig verhandelbar gewesen wie die von Alans alter Mutter Gwen oder der riesigen Glyzinie, die wie ein hölzernes Skelett die zerbröselnde Rückmauer zusammenhielt.
Zunächst hatte die Peinlichkeit, Hausangestellte zu haben, die unbestreitbaren Vorzüge überwogen – obwohl Heather die Gees lieber als Helfer mit großzügigem Trinkgeld denn als Personal sah. Heathers proletarische Mutter hatte nicht lange genug gelebt, um mitzukriegen, wie die Tochter jeden Freitagnachmittag beschämende braune Umschläge mit Bargeld als Gegenwert für ein blitzsauberes Haus und gleichermaßen blitzsaubere Kinder überreichte. Ebenso wenig ihr Vater, der sie gelehrt hatte, niemals einem Mann zu trauen, der seinen Rasen nicht selbst mähte. Aber der Tag hatte einfach nicht genug Stunden, um Mutter zweier Töchter, Hausfrau, Gwens Vollzeitpflegerin und Netherwoods einzige Ärztin zu sein.
»Wir müssen über die Gees reden, Alan. Sie sind die Nummer eins auf unserer Agenda.«
»Agenda? Ich hatte mich auf eine Zeit ohne Konferenzen gefreut.«
»Trotzdem gibt es Dinge, über die wir reden müssen. Wichtige Dinge, über die wir uns einig sein sollten. Zum Beispiel, wann wir Mr und Mrs Gee kündigen. Jetzt, wo wir pensioniert sind, gibt es keinen Grund mehr, warum wir diese Arbeiten nicht selbst erledigen könnten. Ich halte mich nicht für komplett unfähig, Domestos in die Kloschüssel zu spritzen.« Und mit Sicherheit wäre selbst Alan in der Lage, die Hecke zu stutzen, ohne in der Notaufnahme zu landen.
»Wir können sie nach all den Jahren doch nicht einfach auf die Straße setzen«, sagte er. »Sie waren immer so gut zu uns. Ich habe Mrs Gee versprochen, dass es hier in The Elms immer Arbeit für sie gibt, so lange sie das will. Und ein Versprechen ist …«
»… ein Versprechen, ich weiß.«
Gespräche wie dieses waren müßig. Heather brachte ein Problem zur Sprache. Alan sagte seine Meinung dazu. Heather hatte Einwände. Alan entkräftete sie. Und so langweilten sie sich gegenseitig in eine Pattsituation hinein. Der Status quo blieb, ebenso wie die Gees blieben.
»Was steht denn sonst noch auf der Agenda?«, fragte Alan und machte sich nicht die Mühe, seine Geringschätzung zu verbergen.
»Thema Nummer zwei sind unsere Finanzen.«
Jetzt hatte sie seine volle Aufmerksamkeit. Sie wusste genau, wie sie das anfangen musste. Brachte sie ein Argument vor, stellte er sich taub, um erst wieder aufzumerken, wenn er etwas hörte, mit dem er einverstanden war.
»Da hast du völlig recht«, sagte er. »Wir müssen vorsichtiger sein, jetzt wo wir Rentner sind.«
Heather hatte sich nie als Rentnerin gesehen, sicherlich nicht wie ihre Großmutter mit den blaustichigen Haaren, die jeden Freitag am Postschalter anstand, um ihre mageren Altersbezüge abzuholen. »Wir haben vorgesorgt, Alan. Wir haben doch nicht all die Jahre hart gearbeitet und kostbare Zeit mit den Mädchen verpasst, um am Lebensabend darben zu müssen. Die neuen Autos, die wir nie angeschafft haben, der nie verwirklichte Küchenanbau, die gestrichenen Urlaube. Ich habe alle diese Opfer mitgetragen, damit wir uns ein finanzielles Polster schaffen konnten. Was glaubst du, wieso ich mich mit der knausrigen Pauline abgefunden habe?«
Pauline, Alans finanzpolitische Seelenverwandte, hatte veranlasst, dass die Geleefrüchte auf »eins pro tapferem Kind« reduziert wurden, und E-Mails mit der Frage herumgeschickt: »Toilettenpapierverbrauch: Können wir da noch besser werden?«
»Wir haben es nicht zuletzt ihr zu verdanken, dass wir einen sorgenfreien Ruhestand genießen können.«
»Dann lass ihn uns auch genießen. Ich habe genug alte Patienten gesehen, die vor sich hin vegetierten, um ein kleines Vermögen anzuhäufen, mit dem sich die undankbaren Kinder dann ein Ferienhaus in Frankreich gekauft haben. Ich will anfangen zu leben, solange mir noch Zeit dazu bleibt.«
»Es war schließlich deine Idee, früh in den Ruhestand zu gehen, Heather.«
»Früh? Wovon redest du? Wir haben beide das offizielle Pensionsalter erreicht. Ich habe nur vorgeschlagen, die Praxis zu verkaufen, weil ich dachte, du wolltest es so, Alan.«
»Und ich habe nur zugestimmt, weil ich dachte, du wolltest es so.«
Das Kaufangebot für das Netherwood-Medical-Center war völlig unerwartet gekommen, aber beide hatten es für zu gut befunden, um abzulehnen. Die Praxis brauchte frisches Blut, hatte Heather argumentiert. Jemanden mit Energie und Visionen, der die Kapazitäten ausbauen konnte und die Kraft besaß, den Bedürfnissen einer wachsenden, rasch alternden Bevölkerung gerecht zu werden. Und jemanden, der das Kauderwelsch der Gesundheitsfürsorge im 21. Jahrhundert beherrschte.
»Es fühlt sich an wie eine Kapitulation«, hatte er leise gesagt. »Mein Vater hat niemals aufgegeben. Er ist bei harter Arbeit erst richtig aufgeblüht.«
Bis er im Sprechzimmer tot umfiel, hatte Heather sich verkniffen anzumerken.
Jetzt saßen sie in nichteinvernehmlichem Schweigen da. Rückblickend hätten sie das Gespräch vielleicht besser führen sollen, bevor sie übereinkamen, die Praxis zu verkaufen. Doch kaum hatten sich die Räder in Bewegung gesetzt, war der Ruhestandswahnsinn nicht mehr aufzuhalten gewesen. Der Handel war abgeschlossen, der Vertrag unterzeichnet, und da saßen sie nun auf ihren vermoosten Gartenstühlen und dachten über ihre minütlich schrumpfende Zukunft nach, während am Himmel Regen dräute.
»Jetzt ist es zu spät. Wir können nicht mehr zurück, machen wir also das Beste draus. Was wir brauchen, ist ein Aktionsplan.«
»Es geht um unseren Ruhestand, darum, nicht mehr jeden Tag zur Arbeit zu müssen«, erwiderte Alan. »Nicht um Unternehmensberatung.«
Heather geriet gefährlich nahe an den Rand ihrer Geduld. »Trotzdem kann es nicht schaden, ein paar Ziele zu haben, oder?«
»Wir sind doch hier nicht beim Leistungssport. Durchs erste Ziel sind wir schon. Ich freue mich darauf, ausnahmsweise mal keine Ziele mehr zu haben.«
Auf der anderen Seite des Dorfes schlug die Kirchturmuhr zur vollen Stunde. Es klang mehr wie Totengeläut.
»Na gut, ich lasse dir den Vortritt.« Alan lehnte sich zurück, eine der hölzernen Streben des Stuhls brach unter seinem Gewicht.
Es war verlockend, ihrem Mann den Reiseprospekt unter die Nase zu halten, aber es wäre besser, ihn nicht zu überrumpeln. Sie musste ihn langsam von ihrer Idee überzeugen, ihn mit List und Tücke dafür gewinnen. Im Lauf ihrer Ehe hatte sich die Taktik bewährt, ihn vor eine Wahl mit genau zwei Optionen zu stellen, von denen er eine automatisch zurückweisen würde und die Alternative ihrem Wunsch entspräche.
»Wir könnten eine Diät machen und etwas für unsere Fitness tun, oder wir könnten in Urlaub fahren.«
Misstrauisch kniff er die Augen zusammen.
»Ich nehme an, die Sache mit der Fitness ist an mich gerichtet.«
»An uns beide. Und an Stan. Sieh ihn dir doch an. Er wurde dafür gezüchtet, Hirsche übers schottische Hochland zu jagen.«
Durch die Küchentür sahen sie, wie der Hund den Boden vor dem Herd sauber leckte. Trotz Mrs Gees Beteuerungen, ihm niemals Leckerli zu geben, war er vermutlich der einzige fettleibige Deerhound, der im Kennel Club, dem britischen Züchterverband, registriert war.
Alan sah sie triumphierend an. »Nun, Dr. Winterbottom, da bin ich dir um eine Nasenlänge voraus. Wie du sicher weißt, ist der bescheidene Bückling reich an Omega-3-Fettsäuren, Vitamin A und D sowie Kalzium und Proteinen. Definitiv Superfood.«
»Würdest du nicht gern … na ja, besser in Form sein?«
»Was soll das heißen? Für einen Mann meines Alters bin ich gut in Form.« Alan streichelte seinen Bauch, als enthielte er ungeborenes Leben.
»Das kommt, weil die meisten Männer deines Alters zu viel sitzen und zu viel Früchtekuchen essen.«
»Ich durfte doch den Fanclub nicht enttäuschen.«
Er musste lächeln bei dem Gedanken an das Kränzchen treuer Verehrerinnen, die in ihm den Tom Jones des Dorfes sahen. Sie waren alle in einem gewissen Alter und konsultierten Heather in sogenannten »Frauenfragen«, ließen sie allerdings wissen, dass Alan zuständig war, sobald es sich um »etwas Ernstes« handelte. Vor einigen Jahren hatte er angedeutet, er habe eine Schwäche für Früchtekuchen. Was folgte, hatte Heather als den »Netherwood-Mega-Back-Event« bezeichnet. Und während Alans Verehrerinnen um seine Aufmerksamkeit buhlten, hatte sich seine Taille beträchtlich erweitert. Als sie ihn daraufhin an die Richtlinien der britischen Herzstiftung für den optimalen Taillenumfang erinnert hatte, behauptete er, durchaus noch in seine 36-Inches-Jeans zu passen. Natürlich tat er das. Solange man die 36 Inches auf Höhe des Schambeins ansetzte.
»Selber schuld, Alan. Du hast sie ermutigt.«
Alan stieß mit einem pffft die Luft aus, aber er lächelte. Sie gewann an Boden.
»Ist es nicht ein bisschen zu spät im Leben, um sich darüber Sorgen zu machen? In meinem jetzigen Alter war mein Vater bereits seit acht Jahren tot.«
»Genau mein Punkt. Wenn du auf dich aufpasst, kannst du locker noch zwanzig oder dreißig Jahre leben.«
Nach einigen Augenblicken verblüfften Schweigens sagte Alan: »Mag sein, aber bitte erspare mir schweißtreibende Aktivitäten vor den Augen von Fremden.«
»Dann wäre Pilates das Richtige.«
»Wieso Pilates?«
»Damit du allein wieder hochkommst, wenn du mal hinfällst«, murmelte Heather und versuchte, das Bild ihres Mannes mit neunzig zu vertreiben. Alan mit siebenundsechzig war schon schlimm genug.
Er stieß einen Seufzer aus, dessen Bedeutung klarer nicht hätte sein können, selbst wenn sie in Neon auf seiner Stirn gestanden hätte. Auch Heather seufzte. Sie waren vertraut mit dem Seufzen des jeweils anderen. Im Gegensatz zu Paaren, die sich anschrien und mit Gegenständen warfen, waren Alan und sie in der Lage, lediglich mit den Tönen ausgestoßener Atemluft zu kommunizieren.
»Schau, Heather, ich bin erschöpft. Der Stress der letzten Wochen hat mich fertiggemacht. Ich möchte es langsam angehen – entspannen und abschalten.«
»In dem Fall brauchst du einen Ortswechsel«, erwiderte Heather und versuchte, ihre Begeisterung im Zaum zu halten.
Alan räusperte sich. Er hatte jetzt Beine und Arme verschränkt und sah aus wie ein Entfesselungskünstler, der aus einer Frottee-Zwangsjacke zu entkommen sucht. Seine Körpersprache war ohrenbetäubend. »Wir fahren dieses Jahr schon weg, wie du dich wohl erinnerst. Zu Weihnachten besuchen wir Tilly in Neuseeland.«
»Aber das ist noch Monate hin. Wie wär’s mit etwas Näherem? Griechenland zum Beispiel. Stell dir vor: Sonne, See und Segeln. Wir könnten historische Stätten besichtigen und anschließend in einer dieser hübschen Tavernen zu Abend essen.«
Seiner schmerzlichen Miene nach zu urteilen hätte sie auch vorschlagen können, zwei Wochen lang ununterbrochen Filmklamotten aus den Fünfzigern anzusehen.
»Ich habe Griechenland abgehakt, Heather.«
»Du hast Griechenland abgehakt? Was heißt das?«
»Ich hatte Altgriechisch in der Schule, und in meinem freien Jahr vor der Uni bin ich mit einem Interrail-Ticket quer durch Europa und mit der Fähre von Brindisi nach Korfu gefahren, und von dort habe ich noch andere Inseln bereist.«
»Welche?«, fragte Heather interessehalber.
Alan tippte sich an die Stirn. »So genau kann ich das nicht mehr sagen. Ich erinnere mich nur, an verschiedenen Stränden mit einem Kater aufgewacht zu sein. Frag mich bitte nicht, wo das war.«
»Also wirklich, Alan. Du musst auf diesen Inseln doch mehr gesehen haben als das Innere der Bars.«
Er legte den Finger auf sein Kinngrübchen und schüttelte den Kopf. »Nicht viel. Damals war ich nur an Bier interessiert. Und an Mädchen.«
Alan bemerkte nicht, wie ihre Kiefermuskeln sich verhärteten. Während sie zu Hause ihre Mutter gepflegt hatte, die an der langwierigsten neurologischen Degeneration dahinsiechte, der die Medizin je einen unaussprechlichen Namen gegeben hat, hatte sich ihr künftiger Mann durch den griechischen Archipel gevögelt und dabei bestens amüsiert.
Heather versuchte nicht, den Sarkasmus in ihrer Erwiderung zu unterdrücken. »Tja, dann verstehe ich, warum du da nie wieder hinwillst.«
»Das habe ich nicht gesagt. Aber wieso die Eile? Du musst dir den Ruhestand wie einen Marathon vorstellen, nicht wie einen Sprint. Wir haben alle Zeit der Welt. Fahren wir doch nächstes Jahr. Oder übernächstes.«
»Und in der Zwischenzeit?« In ihrer Vorstellung dehnten sich formlose Tage, strukturiert nur durch das Nachmittagsprogramm Häuser unter dem Hammer und das Sieden und Abkühlen des Wasserkochers.
Alan entwirrte seine Gliedmaßen.
»Wo du schon fragst. Es gibt da durchaus ein Vorhaben. Ein Projekt, in das ich mich richtig verbeißen kann. Etwas, das ich immer schon tun wollte und wozu ich nie gekommen bin. Jetzt hindert mich nichts mehr daran, meine Träume zu verwirklichen.«
Sie nickte. »Okay, spuck’s aus. Wie gestaltet sich dein idealer Lebensabend?« Fallschirmspringen lernen? Eine verlassene Villa in der Toskana renovieren? Einen Roman schreiben? Was würde jetzt kommen? Sie hatte so sehr den Kontakt zu Alans Fantasien verloren, dass alles möglich war. Heather hoffte nur, dass es etwas sein würde, für das sie sich auch begeistern konnte.
Eine weitere Leiste splitterte unter Alans Gewicht, als er sich vorbeugte und verschwörerisch die Hände rieb. »Ich werde einen Gemüsegarten anlegen.«
Alle Achtung, Alan. Sie hatte ihn immer für total berechenbar gehalten. Das war nun wirklich eine Überraschung. Die sprühenden Synapsen ihrer linken Gehirnhälfte weigerten sich, ihr eine passende Erwiderung zu liefern.
Alans triumphierendes Lächeln welkte. »Und?«
»Ich weise nur ungern auf die offensichtliche Schwachstelle dieses Plans hin, Alan, aber du hasst Gartenarbeit.«
»Ich hasse Rasenmähen und Unkrautjäten.« Sie wollte ihn gerade darauf hinweisen, dass Mr Gee diese Arbeiten erledigte, aber er hob seinen Hör-mich-an-Finger. »Stell dir doch mal vor, Heather – eigenes Gemüse ziehen. Kartoffeln, Stangenbohnen, Karotten, Salat. Das ganze Programm!«
Er konnte sich das nicht erst gestern ausgedacht haben. Dahinter stand ein genauestens vorbereiteter Plan.
»Du willst also Netherwoods Äquivalent von Tom und Barbara aus Das gute Leben werden?«
»Jetzt, wo du’s sagt … ich hatte schon immer eine Schwäche für Felicity Kendals Hintern«, entgegnete er träumerisch.
Heather verdrehte die Augen.
»Das muss ich erst mal verarbeiten.«
»Und ich habe schon ziemlich genaue Vorstellungen.«
Alan zog den Gürtel seines Bademantels fest und begann, mit wedelnden Armen auf dem Rasen hin und her zu gehen. Seit Monaten hatte sie ihn nicht mehr so energiegeladen gesehen. Vielleicht würde er Pilates gar nicht brauchen. Atemlos stützte er sich auf den schmierigen Holztisch, um Heather in die Augen sehen zu können. »Und das Beste daran ist, dass wir unsere Tesco-Rechnung um drei Viertel reduzieren können. Ich habe es durchgerechnet«, verkündete er mit einem breiten Grinsen, das sein müdes Gesicht um ein Jahrzehnt verjüngte.
Jetzt war nicht der Moment, ihn daran zu erinnern, dass der nächstgelegene Tesco vor fünf Jahren dichtgemacht hatte.
Kapitel3
Glücklicherweise war Alan am Ende der ersten Woche vom Rest seines Lebens zu Toast und Orangenmarmelade als Frühstück zurückgekehrt. Er bekannte, die Bücklinge hätten ihre Faszination eingebüßt, doch Heather vermutete als Grund eher die Fischpfanne, die er jeden Morgen selber schrubben musste, nachdem sogar die stoische Mrs Gee diese Zumutung von sich gewiesen hatte. Unglücklicherweise gingen am Ende dieser Woche sowohl die Orangenmarmelade als auch die sonstigen Vorräte zur Neige. Kühlschrank und Speisekammer waren leer, denn Heathers üblicher Wocheneinkauf reichte nicht für zwei Erwachsene, die täglich drei Mahlzeiten zu Hause aßen. Es war Zeit, Nachschub zu besorgen.
Den regelmäßigen Einkauf im Supermarkt hatte sie nie an Mrs Gee delegiert, denn sie genoss die Zeit für sich, wenn sie allwöchentlich ungestört in den Regalen nach den immer gleichen Produkten stöberte.
Heather frischte im Garderobenspiegel ihr Make-up auf und sammelte im Schrank unter der Treppe wiederverwendbare Plastiktüten ein. Zu ihrer Überraschung erwartete Alan sie mit einer Liste.
»Aufgrund einer umfänglichen Inventarisierung des Lagerbestands habe ich eine spezifizierte Einkaufsliste erstellt«, verkündete er und verkomplizierte damit augenblicklich die Aufgabe, die Heather ihr gesamtes Eheleben lang klaglos und ohne viel Aufhebens erledigt hatte. Als sie erklärte, ein gleichermaßen detailliertes Inventarium im Kopf zu haben und keine Liste zu brauchen, hielt er ihr zwei identische Senfgläser hin.
»Zwei französische«, sagte er, als präsentierte er Geschworenen ein Beweisstück, »aber kein englischer.«
»Du magst keinen englischen Senf, Alan.«
»Man nennt das Patriotismus, Heather. Außerdem haben wir ja vielleicht auch mal Gäste.«
Heather versuchte, sich an das letzte Mal zu erinnern, als sie Gäste bewirtet hatten. Ein Echo der Einsamkeit, die sie nach dem Tod ihrer Eltern empfunden hatte, überkam sie.
»Dann schreib auch Freunde und ein geselliges Leben auf die Liste, wo du gerade dabei bist«, entgegnete sie nur halb im Scherz.
»Von nun an kaufen wir nur noch Sachen, die wir wirklich brauchen«, verkündete er. »Generische Medikamente helfen genauso gut wie Markenprodukte, weil sie dieselben Wirkstoffe, dieselben Moleküle enthalten. Daraus lässt sich ableiten, dass die Eigenmarken der Supermärkte unsere Ernährungsbedürfnisse ebenso befriedigen wie Artikel mit bekannten Namen oder aufwändigen Verpackungen.«
»Heißt das, du würdest auch Orangenmarmelade auf deinen generischen Toast schmieren, die nicht das Siegel eines Hoflieferanten hat?«
Er ignorierte sie.
Sie griff nach dem Zettel in Alans Hand, doch er rückte ihn nicht heraus.
»Das ist meine Liste«, sagte er.
»Und ich bin diejenige, die einkauft.«
»Von jetzt an kaufen wir zusammen ein«, sagte er.
»Aber du trägst doch bereits die Gartenklamotten.« Oder sollte sie besser sagen die Spuren des Gartens? Sie deutete auf die von Grasschnitt verklebte Hose, die kaum bis zu den Knöcheln reichte, das dünne Hemd mit dem Kragen und den ausgefransten Manschetten, dazu die ramponierten Deckschuhe, die sie ihres Wissens schon vor Ewigkeiten entsorgt hatte.
Alan inspizierte seinerseits Heathers Outfit und sagte: »Wir gehen in den Supermarkt, nicht in den Buckingham Palace.«
Sie überprüfte im Spiegel ihren Lippenstift. Wie viel Plum Passion war zu viel für Sainsbury’s? Bei der Arbeit hatte sie nie viel Make-up getragen, dies jedoch war der erste offizielle Ausgang der Woche – ihres Ruhestandes –, und sie hatte beschlossen, sich Mühe zu geben. Nun befürchtete sie allerdings, Alan könnte recht haben, und ihr einziges besseres Sommerkleid wäre zu förmlich für den Supermarkt, ihre Handtasche zu sehr »Fußballergattin«. Mit einer begrenzten Anzahl von Kleidungsstücken, in konsequentem Wechsel getragen, hatte sie sich bei der Wahl ihres beruflichen Outfits immer sicher gefühlt. Noch einmal begutachtete sie sich im Spiegel. Es blieb keine Zeit, sich umzuziehen. Alan klimperte bereits ungeduldig mit den Autoschlüsseln.
»Wir können meinen Wagen nehmen«, sagte sie.
»Mit meinem kann man besser ausparken.«
»Aber meiner ist vollgetankt.«
Kurz davor, mit zwei Autos zum Einkaufen zu fahren, einigten sie sich schließlich auf einen Kompromiss: Sie würden Heathers Wagen nehmen, und Alan würde fahren. Heather fühlte sich an die Streitereien zwischen ihren Töchtern Sarah und Tilly erinnert, wer vorn sitzen durfte. Alan besänftigte sie mit dem Angebot, sie könne auf dem Rückweg fahren.
Nach einem kurzen Stück verkündete Alan – er hatte inzwischen im Autoradio ihren Lieblingssender weggedreht –, dass sie jetzt als Rentner keine zwei Autos mehr bräuchten.