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Ernst-Wilhelm Händler

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Beschreibung

Thaddea, Anfang 30, sehr wohlhabend, hat ihr Leben unter Kontrolle. Sie besitzt zwei spektakuläre Häuser in Grünwald und Schwabing und setzt ihre ersten Schritte in ein Leben als freie Therapeutin. Doch als ihre beste Freundin Kata sie mit ihrem Freund Ben-Luca betrügt, stürzt sie in ein Gefühlschaos. Sie beschließt sich von beiden zu trennen und nähert sich stattdessen Pimpi an, Ben-Lucas bestem Freund. Sie besucht Empfänge und Events der Münchner Society: die Party eines Fernsehproduzenten, eine Ausstellungseröffnung auf Schloss Herrenchiemsee. Der Schmerz bleibt. Hochsensibel beginnt sie zu erkunden, wo das eigene Ich die Welt berührt. »Meine Romane sind Experimente. Wenn ich schon vorher wüsste, wie sie ausgehen, würde ich sie nicht schreiben.« Ernst-Wilhelm Händler

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Ernst-Wilhelm Händler

München

Gesellschaftsroman

FISCHER E-Books

Inhalt

MottoDie Schatten der [...]Thaddeas von Kata [...]Kata und Ben-Luca – [...]Der Gastgeber trug [...]– Keine Macht. [...]»Ich war lange [...]Das rasende Knospen [...]Der Junge wusste, [...]Roberta Blankovic besaß [...]Thaddea konnte erst [...]Auf der Separatparty [...]Wollte sie grundsätzlich [...]»Guck mal!« [...]Wie alles harmonierte. [...]Die Kontinente der [...]Ben-Luca lag im [...]Niemand trottete oder [...]Thaddea entsann sich [...]Anna Arbogast und [...]»Ich baue dir [...]Als ob er [...]Kühling – es gab [...]So hatte sich [...]Niemals nahm Thaddea [...]Thaddea wartete vor [...]Thaddea stand vor [...]

»Man kann nicht nicht wissen wollen!«

 

Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften

Die Schatten der Eschen und der Trompetenbäume wurden rasch länger. Eigenartig die Unberührtheit, die Unbeflecktheit der in der Dämmerung lilafarbenen Kieswege. Keine Prägungen durch Schuhwerk, keine Ziselierungen durch Fahrradreifen. Keine Lebenslinien. Hier sollte die Perfektion einer anderen Welt herrschen.

Der Wald dagegen ein Zauberwald, die Wünsche der Beobachterin erratend und schürend. Niemals würde sich der Wald damit zufriedengeben, betrachtet zu werden. Er wollte aufstacheln, doppelt auf Gedanken bringen. Wer beobachtete wen?

Thaddea hatte die Geschirrspülmaschine ausgeräumt, auf der Arbeitsfläche war der Besteckkorb umgefallen, gedankenlos hatte Thaddea nach dem zu Boden fallenden Küchenmesser gegriffen und sich in den rechten Zeigefinger geschnitten. Sie hatte den Finger unter kaltes Wasser gehalten, das hatte die Blutung gestoppt. Aber als der Finger warm wurde, begann die Wunde wieder zu bluten. Sie hatte ein Stück Papier von der Küchenrolle um den Finger gewickelt und überwachte unentschlossen, wie das Blut das Papier durchtränkte und zugleich das Dämmerungsstück vor dem Westfenster ihres Hauses.

Die Kieswege zwischen den überaus schlanken Bäumen bildeten eine auf der Seite liegende Acht oder das mathematische Symbol für Unendlichkeit. An diesem Abend im frühen Mai, noch nie vorher, war Thaddea der Gedanke gekommen: Dasselbe Zeichen wurde auch in Familienstammbäumen verwendet, um den Ehestatus anzuzeigen.

Nichts hatte darauf hingedeutet, dass sie sich am Abend gerade dieses Tages in so merkwürdiger Stimmung befinden würde. Der allererste Tag in ihrem ganz neuen Studio! Thaddea hatte keinen Tag länger in der Klinik gearbeitet, als es die Ausbildung zum Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie erforderte.

Sie hatte die Eingangstür geöffnet, und ihr erster Klient hatte ihr den Rücken zugedreht. Alle bisherigen Besucher, Bekannte und die Handwerker, waren von der Anmutung des Stadthauses so in Beschlag genommen, dass sie für anderes keine Augen mehr hatten. Als sich der Klient umdrehte, musste Thaddea schlucken. Dem etwa fünfundsechzigjährigen Mann fehlte ein Teil seines Gesichts.

Nach der Schilderung hatte er Anfälle von Herzrasen ohne organische Ursache. Er war von der Klinik überwiesen worden, in der sie die letzten beiden Jahre gearbeitet hatte. Sie hatte aus den lieblos zusammengestellten Unterlagen herausgelesen, dass er sich einbildete, beim Wandern von einem Blitz getroffen worden zu sein. Der Blitz war keine Idée fixe, doch die Versehrung wurde in den Unterlagen nicht erwähnt. Anstelle der linken Backe bot sich eine Aushöhlung dar, die vom Mund bis zum Ohr und vom Backenknochen bis zum Hals ging, der entsprechende Teil der Kinnlade war nicht mehr existent. Man hatte keinen Versuch unternommen, das Manko kosmetisch zu behandeln. Thaddea starrte in ein Gewirr von Muskelbündeln, Sehnen und Hautlappen, sie vermeinte sogar, eine Zahnreihe zu erkennen. Das konnte nicht sein, in der offenen Mundhöhle wäre die Schleimhaut eingetrocknet. Thaddea war Ärztin für psychosomatische Medizin, weil sie nichts mit physischen Verletzungen und Krankheiten zu tun haben wollte.

Der Mann stellte sich mit seinem Namen vor. Thaddea brachte es nicht fertig, ihn zu begrüßen, mit einer stummen Geste forderte sie ihn auf einzutreten. Sie wusste, sie verhielt sich nicht professionell. Mit seinem grauen Anzug, seinem weißen Hemd und der hellgrauen Krawatte wirkte der Mann wie ein altmodischer Handelsvertreter. Entgegen ihrer ursprünglichen Absicht ließ die Hausfrau den Handelsvertreter herein. Die Versehrung stieß sie ab, aber sie konnte sich nicht gegen den Vertreter wehren.

Der Mann folgte ihr auf die Ebene, die für die Sitzungen vorgesehen war. Thaddea war routiniert genug, um zu horchen, ob der Mann hinter ihr beim Treppensteigen außer Atem geriet, das war nicht der Fall.

Während sie sinnlos zögerte, ihm einen Platz auf der weißen Couch anzubieten, sagte er, sie solle sich nicht wegen seines Aussehens ängstigen. Die Andeutung eines Lächelns in dem beschädigten Gesicht zielte darauf, eine Verbindung zwischen ihm und ihr herzustellen. Wahrscheinlich sagte er sonst, sein Gegenüber solle nicht erschrecken, aber sie war ja schon über die Maßen erschrocken. Nicht er hatte ein Problem, sie hatte eins. Mit einer derartigen Prüfung war nicht zu rechnen gewesen.

Bevor sie sich hinsetzte rückte sie ihren Sessel so zurecht, dass sie den Mann nicht von der linken Seite betrachten musste. Für eine unverbindliche Konversation war es viel zu spät. Allein der Versuch hätte die Peinlichkeit ins Unerträgliche gesteigert. Sie wollte ohne Vorrede beginnen, da merkte sie, dass sie weder die Unterlagen zur Hand noch die Utensilien parat hatte, mit denen sie sich Notizen machen konnte. Ohne Erklärung erhob sie sich. Das Bücherregal befand sich auf einer höheren Ebene. Sie nahm die Stufen zu der Zwischenebene und überquerte diese, als ihr auf den nächsten Stufen plötzlich bewusst wurde, dass sie leicht humpelte.

Sie humpelte sonst nie. Sie hatte sich in der Gewalt gehabt, als sie vor dem Besucher die Treppe hochgestiegen war. Aber jetzt hatte sie ihre Körperbeherrschung verloren. Während sie die Unterlagen aus dem Regal nahm, hörte sie ganz deutlich, wie der Mann erregt atmete. Sie wandte sich um und war nicht überrascht zu sehen, dass er sich von der Couch erhoben hatte. Ruckhaft zog er den Knoten seiner Krawatte fester.

Den Rückweg bestritt Thaddea gewohnt beherrscht. Starr und stählern sah ihr der Mann in die Augen. Thaddea war überzeugt, er tat das nur, damit er ihr nicht auf die Beine blicken musste.

Mit mechanischer Stimme bat er sie, ihn zu entschuldigen. Er habe einen anstrengenden Vormittag gehabt, er sehe sich nicht in der Lage, jetzt eine Sitzung – Er beendete den Satz nicht. Ohne eine Äußerung Thaddeas abzuwarten, ging er zur Eingangstreppe. Eine Unhöflichkeit, die nicht zu ihm passte. Er wollte vor ihr die Treppe hinuntersteigen und vor ihr den Eingangsbereich durchqueren, damit er nicht gezwungen war, zu beobachten, wie sie sich bewegte. Er wollte nicht riskieren, noch einmal verfolgen zu müssen, wie sie humpelte.

Er öffnete selbst die Eingangstür, eine gesteigerte Unhöflichkeit, und drehte sich erst um, als er schon aus der Tür war. Er gab ihr nicht die Hand. Mit einem Ton sehr fernen Bedauerns sagte er, er werde sich melden.

Natürlich würde sich ihr erster Klient nicht melden. Es gelang ihr nicht, sich an den Namen zu erinnern, während sie auf den dinglosen Horizont über den Bäumen neben ihrem Haus blickte. Der zweite Klient war gar nicht erst aufgetaucht, er hatte es nicht einmal für nötig gehalten abzusagen. Das Brausen des Anfangs hatte sie sich anders vorgestellt.

Thaddea sprach nicht über das, was wichtig war. Sie sprach lieber über etwas anderes – aber mit Kata hätte sie natürlich über den ersten Tag gesprochen. Warum war Kata nach China verschwunden, ohne ein Wort zu sagen? Es hatte nur den Anruf ihrer Sekretärin gegeben, Kata baue ein Greenhouse in Xi’an, sie sei schlecht erreichbar. Kata hatte sowohl das Haus in Grünwald entworfen, aus dem heraus Thaddea sich mit der umgebenden Landschaft trotz deren unmittelbarer Nähe stets nur fernverständigte, als auch das gerade fertiggestellte Stadthaus in Schwabing, in dem sie ihren Klienten dabei assistieren wollte, nicht auseinanderzufallen – dies allerdings nicht im wörtlichen Sinn – und ihre Erinnerungen an Vergangenheit und Zukunft neu zu arrangieren. Niemand außer Kata hätte es fertiggebracht, dass die Entwürfe auch gebaut wurden.

Kata war nicht nur Thaddeas beste Freundin, Kata war auch Thaddeas einzige Freundin. Die Sekretärin hatte sich so angehört, als ob Kata nur zwei oder drei Wochen in China verbringen würde. Kata hatte immer die Mailbox eingeschaltet, aber sie rief nicht zurück, SMS und E-Mails beantwortete sie nicht. Thaddea erkundigte sich im Büro, die Sekretärin antwortete ausweichend. Thaddea googelte und entdeckte, dass es sich bei dem Greenhouse um ein ziemlich großes Projekt handelte. Etwa hundert Meter lang lag es wie ein Kristall auf einem Hang in einer nichtssagenden Landschaft.

Aus den zwei bis drei Wochen war ein halbes Jahr geworden. Einem Newsletter hatte Thaddea entnommen, dass Kata in Shenzhen ein Büro eröffnet hatte. Am Morgen bevor Thaddea ihre beiden ersten und vorerst einzigen Klienten zu empfangen gedachte, hatte die Abnahmebesprechung im fertigen Stadthaus stattgefunden. Katas Mitarbeiter hatte en passant erwähnt, seine Chefin sei seit einer Woche wieder in ihrem Münchner Büro. Thaddea war wie vor den Kopf gestoßen. Sie verstand schon nicht, dass Kata während der ganzen Zeit in China kein Zeichen gegeben hatte. Doch dass Kata sich auch nicht meldete, nachdem sie wieder zurück war –

 

 

Kata und sie waren unzertrennlich gewesen.

Das letzte Mal waren sie gemeinsam ausgegangen, als Kata ihre neue Brille im Einser, eigentlich P1, eingeweiht hatte. Kata benötigte weder eine Lesebrille noch eine Brille für die Fernsicht. Aber es war ihr fast immer zu hell. Das Violett der Gläser färbte auf ihre über die Schultern fallenden Haare ab. Nicht nur Thaddea, alle Frauen beneideten Kata um ihre starken, schwarzen Haare. Es war irgendwie unvorstellbar, dass sich darunter jemals auch nur ein weißes Haar befinden würde. Bei jeder anderen Frau hätte ein violetter Ton der Haare chri chri oder, horribile dictu, hippiemäßig gewirkt. Bei Kata nahm der Effekt den Haaren lediglich etwas von ihrer fast übermenschlichen Stärke.

In Katas Gesicht gab es keine Falten. Ihre Haut war völlig glatt, ihre natürlichen schwarzen Augenbrauen wirkten wie nachgezogen, ihre Haut war hell und fleckenlos, ohne dabei ungesund zu wirken. Kata bevorzugte dunkelrote Lippenstifte, sie zog die Konturen nicht nach. Das Rot des Mundes ging in das Weiß der Haut über, ohne dass das verwischt gewirkt hätte. Die eckige schwarze Brille ließ ihr Gesicht bei den gegebenen Lichtverhältnissen wie eine überbelichtete Aufnahme erscheinen. Zur Steigerung der Wirkung war Kata komplett in Schwarz gekleidet. The New Bauchfrei.

»Es gibt diese Männer«, sagte Kata, »die in ihren flaumweichen Pullovern extralaut in Clubs herumklackern.«

Kata und Thaddea hatten sich an einen Tisch gesetzt, auf dem nur ein einsamer Screwball stand. Es kam häufiger vor, dass sich Männer Metallteile in die Absätze und Sohlen ihrer Schuhe einbauen ließen, um ihre Auftritte nachdrücklicher zu gestalten. So auch der himmelblaue Pullover, der eine Konversation mit dem Personal hinter dem Bartresen abrupt unterbrochen hatte und zu seinem Screwball zurückgekehrt war, nachdem er gesehen hatte, in welcher Gesellschaft dieser sich jetzt befand.

Der blaue Pullover, dessen Gesicht genauso faltenlos war wie das Katas und der nicht sehr groß war – sexy Schnitte –, nannte seinen Namen und streckte die Hand aus. Nur Thaddea ergriff sie und nannte ihren Namen. Der blaue Pullover fragte Thaddea und Kata, was er ihnen bestellen dürfe.

Kata sagte: »Etwas, was uns nicht ausknockt.«

Als Thaddea und Kata noch studierten, hatten sie sich öfter als Zwillinge hergerichtet. Sie sahen sich nicht wirklich ähnlich, aber sie waren etwa gleich groß und hatten anpassungsfähige Gesichter. Thaddea hatte uninteressante, dunkelblonde Haare, seit Menschengedenken trug sie einen Long Bob mit Pony. Eher selten hatte Thaddea eine schwarze Perücke übergezogen und sich als Kata verkleidet, überzeugender hatte Kata die Zwillingsschwester Thaddeas gespielt. Thaddeas Haut war bei weitem nicht so glatt und makellos wie die Katas, in der Jugend hatte sie unter Akne gelitten, die Spuren hinterlassen hatte. Kata imitierte diese Spuren, indem sie sich puderte und den Puder unregelmäßig verrieb. Als Thaddeas Zwillingsschwester musste sie unauffällige Lippenstifte verwenden. Allerdings weigerte sie sich entschieden, wie Thaddea die Umrisse der Lippen nachzuziehen.

Jetzt, mit Anfang dreißig, wäre es für sie nicht mehr so einfach, die Zwillingsschwestern zu geben. Das lag vor allem an Thaddea. Während Kata sich fast nicht verändert hatte, waren die Konturen in Thaddeas Gesicht inzwischen deutlicher ausgeprägt. Unter den Augen zeichneten die Backenknochen Linien, die ihrem Blick etwas sehr Konzentriertes, sehr Seriöses verliehen. Eigentlich hätte Thaddea eine Lesebrille benötigt. Aber sie befürchtete, mit Brille älter, zu konzentriert, zu seriös, zu alt zu wirken.

Der blaue Pullover arbeitete für die Munich Re und kam gerade aus der Antarktis. Die Versicherung unterstützte Forschungsprojekte, die sich mit dem Klimawandel und der Erderwärmung beschäftigten. Der Nerd 2.0 wollte unbedingt ein Forschungsprojekt namens Cracice erläutern. Die Abkürzung stand für Cooperative Research into Antarctic Calving and Iceberg Evolution. Kata sagte: »Spritz ab.«

In einem Gebiet der Antarktis, das George-V.-Land hieß, war ein B-9B genannter Eisberg mit der Mertz-Gletscherzunge zusammengestoßen und hatte sie abgebrochen. Ein neuer Eisberg von der Fläche Luxemburgs war entstanden. Modellrechnungen legten nahe, dass der neue Eisberg die Ozeanzirkulation beeinflusste und dass sich das Klima auf der Südhalbkugel verändern würde. Die Eiszunge war nicht unerwartet abgerissen. In den neunziger Jahren hatte sich an der Ostseite ein Riss gebildet, nach dem Millennium ein zweiter auf der Westseite, beide hatten sich stetig verlängert. Auch ohne B-9B hätten sich die beiden Risse irgendwann getroffen, und die Zunge wäre vom Gletscher abgetrennt worden.

Kata sagte »Ich bin die Wetterfee« und ging zur Tanzfläche.

Sie machte einen ausgreifenden Schritt und streckte beide Arme schräg nach unten aus, um innezuhalten, bis der nächste Take begann. Sie drehte sich um die eigene Achse, einmal stand sie auf dem rechten Bein, einmal auf dem linken, das jeweils andere Bein winkelte sie an, abwechselnd nahm sie die Arme hoch. Sie kniete mit einem Bein auf dem Boden, das andere war ausgestreckt. Sie sprang mit nach oben gestreckten Armen so weit hoch, dass Thaddea Angst hatte, sie würde an der Decke anstoßen. Dabei schob sich ihr Crop Top bedenklich nach oben. Eine Gruppe von Jungen und Mädchen, die offensichtlich dem Gymnasialalter noch nicht entwachsen waren – die Mädchen trugen kurze Kleidchen, die Jungen Pullover mit Schlips –, hatte sich Thaddea genähert. Sie tanzten in Normalgeschwindigkeit zu der Elektromusik. Erst bildeten sie einen Halbkreis um Kata, dann nahmen sie sie in die Mitte. Als Kata abrupt zu tanzen aufhörte, ließen sie sich ebenso abrupt auf den Boden fallen. Auf dem Rücken liegend, bildeten sie einen Stern um Kata.

Thaddea tanzte nicht, weil –

 

 

Sie hatte vor dem Kindergarten auf ihre Mutter gewartet, die sich verspätete.

Vor einer Litfaßsäule parkte ein Handwerker seinen Lieferwagen ein. Die Autoreifen waren aus Gummi, und Gummi war weich. Die Litfaßsäule und ein daneben stehendes Motorrad nahmen dem Fahrer die Sicht, er bemerkte nicht, wie Thaddea einen Fuß vor dem Gehsteig auf die Straße stellte. Wie würde es sein, den weichen Gummireifen zu spüren? Thaddea ließ ihren linken Fuß vom rechten Hinterreifen des Lieferwagens überrollen. Der Reifen war nicht weich, der Lieferwagen schwer beladen. Es tat entsetzlich weh, Thaddea wurde schwarz vor Augen. Sie konnte sich nur auf den Beinen halten, indem sie die Litfaßsäule mit beiden Armen umklammerte.

Als sie wieder etwas wahrnehmen konnte, sah sie sich zuerst um, ob jemand sie beobachtet hatte. Der Fahrer des Lieferwagens war eilig ausgestiegen und hatte hastig die Fahrbahn überquert. Auf dem Gehweg war niemand unterwegs, die vorbeifahrenden Autofahrer hatten natürlich nichts bemerkt, aus dem gegenüberliegenden Haus hatte niemand zugesehen. Sie trug weiße Tennisschuhe, der Lieferwagen war vorher durch eine Pfütze gefahren, überdeutlich zeichnete sich das Reifenprofil auf ihrem Schuh ab. Sie bückte sich, für einen Moment wurde ihr wieder schwarz vor Augen, und strich mit der Hand über den Schuh, um den Abdruck des Reifenprofils zu verwischen. Was ihr nicht gelang. Erneut lehnte sie sich an die Litfaßsäule. Wie blöd, wie blöd.

Schließlich humpelte sie zum Eingang des Kindergartens zurück. Angstvoll blickte sie auf ihren linken Fuß, sie erwartete, dass sich der Schuh blutig rot verfärben würde. Der Fuß war heiß, der Schmerz ungeheuerlich. Aber sie hatte nicht das Gefühl, dass sich im Schuh Blut ausbreitete.

Der Mutter erklärte sie, sie habe neben dem Klettergerüst gespielt, ein Junge sei herabgesprungen und genau auf ihrem Fuß gelandet. Es tue weh, aber es sei nicht schlimm. Die Mutter, in Eile und anderen Gedanken, erkundigte sich nicht weiter. Der Reifenabdruck auf dem Schuh fiel ihr nicht auf.

Das Mittel der Wahl war Herumstehen. Wenn sie sich nicht fortbewegte, humpelte sie auch nicht. Erst am nächsten Tag zog sie die Socken aus. Alle Zehen waren blutig, das Blut war geronnen. Die Socken ließ sie verschwinden, fehlende Socken warfen weniger Fragen auf als Blutspuren. Sie hielt den sich verfärbenden Fuß jeden Tag unter kaltes Wasser und wickelte Papiertaschentücher um die Zehen. Sie hätte wohl noch länger durchgehalten, aber ihre Mutter überraschte sie im Badezimmer, wo sie gerade die Socken wechselte. Die Mutter brachte sie ins Krankenhaus, sie wurde sofort operiert. Alle Zehen waren kompliziert gebrochen, der große Zeh und die beiden danebenliegenden Zehen mussten amputiert werden. Die Ärzte sprachen von einer beginnenden Blutvergiftung. Sie musste zwei Wochen im Krankenhaus bleiben und war anschließend für ihre gesamte Schulkarriere vom Turnunterricht befreit.

Sie wehrte sich erfolgreich gegen prothetische Ansinnen von Eltern- und Orthopädenseite. Den leeren Raum in ihrem linken Schuh füllte sie mit zusammengeknüllten Papiertaschentüchern. Sie hatte nicht das, was in der Literatur als Phantomgefühl beschrieben wurde. Ihre Zehen waren einfach nicht mehr da, das war alles.

Auch unter Verzicht auf prothetische Mittel entwickelte sie die Routine, jeweils einen Fuß in konstantem Abstand vor den anderen zu setzen ohne einzuknicken, so dass niemand, nicht einmal ein Orthopäde, auf den Gedanken kommen konnte, sie sei behindert. Sie schlief mit Socken und ging nur mit Socken an den Strand oder in den Hotelpool.

Es bedurfte strotzender Willenskraft, aber sie beherrschte ihren Körper so weit, dass sie sogar Ballerinas tragen konnte. Für ihr Studio hatte sie sich Ballerinas von Bottega Veneta in hell- und dunkelbraun gekauft, mit cremeweißer Kappe und Schleife.

Sie konnte nicht angeben, warum sie in den Schuhen von Bottega Veneta besser lief als in anderen. Vielleicht war es eine Illusion. Das Flechtmuster vermittelte ihr ein Gefühl der Angebrachtheit. Sie hatte nach einem anderen Wort gesucht, aber keins gefunden. Ganz glatte Schuhe kamen ihr – für sie – unangebracht vor. Sie hätte das Gefühl gehabt, etwas vorzuspiegeln.

Sie humpelte sonst nie. Aber in Gegenwart ihres ersten, blitzgetroffenen Klienten war ihre Körperbeherrschung plötzlich dahingewesen.

Thaddeas von Kata entworfenes Haus in Grünwald hatte die Form eines griechischen Kreuzes. Ein nicht überdachter, verglaster Lichthof bildete die Mitte. In jedem Schenkel des Kreuzes bot ein raumhohes Panoramafenster ohne Unterteilung die Aussicht in die jeweilige Himmelsrichtung. Der Mittelpunkt des Kreuzes war das Fundament der Betonkonstruktion, die vier Schenkel schwebten wie Keile über einem betonierten Abstellplatz für zwei oder drei Fahrzeuge und über dem Rasen.

Wenn Thaddea Besuch hatte – was so gut wie nie vorkam –, spielten die Bäume vor dem Westfenster Freiheit. Sie stellten sich auf, wie es ihnen gefiel. Die Trompetenbäume gerierten sich als genuin verrückte Darsteller. Es gehörte zu ihrer Performance, dass der Beobachter oder die Beobachterin ihre Position kaum mehr ausmachen konnte. Im Gegensatz dazu setzten die Eschen ihren Ehrgeiz daran, dass Thaddea oder Ben-Luca, wenn er zu Gast war, nicht bemerkte, wie sie ihre Positionen wechselten. Das Bewegen in outrierten Figuren war ihre Sache nicht.

Ben-Luca saß mit dem Rücken zum Ostfenster am Esstisch. Geräuschlos hatte er die mitgebrachte Sushi-Portion ausgepackt und auf der rechteckigen weißen Porzellanplatte platziert, deren Ränder leicht erhaben waren. Das mitgebrachte Erdbeereis hatte er in eine ebenfalls weiße Porzellanschüssel gefüllt. Sie aßen immer Erdbeereis, niemals Matcha-Eis nach dem Sushi. Ben-Luca nahm keine Notiz von der eintretenden Thaddea, unverwandt blickte er auf das Eis. Thaddea fand, er hätte das Eis besser in den Kühlschrank stellen und erst später auf den Tisch bringen sollen, aber sie enthielt sich eines Kommentars.

Niemals sagte Ben-Luca als erster etwas, wenn sie zusammenkamen. Freunde und Bekannte waren daran gewöhnt, dass er nicht von sich aus das Wort an jemanden richtete, dass er nur auf Fragen antwortete und auch dies nicht immer. Erkundigte sich jemand nach dem Grund für seine Schweigsamkeit – was nur im Kontext des Nachtlebens vorkam –, sagte er, er glaube nicht, dass er irgendetwas Interessantes zu sagen habe. Ihn interessierten die Meinungen der anderen, er höre lieber zu. Was er nicht sagte: Er registrierte und protokollierte alle Aktionen und Reaktionen seines Gegenübers hypergenau. Auf diesen Gedanken kam sein Gegenüber nicht.

Ben-Luca hatte kurzes blondes Haar. Die Haarfarbe war, soweit das möglich war, identisch mit dem Ton seiner Haut. Seine Augenbrauen und seine Wimpern waren kaum wahrzunehmen. Seine immer leicht glänzenden Augen schienen das Licht anzuziehen. Nie fixierte Ben-Luca sein Gegenüber. Er blickte nicht an ihm vorbei und auch nicht durch das Gegenüber hindurch. Wenn er nicht sprach, und er sprach ja fast nie, hatte er den Mund ganz leicht geöffnet. Das wirkte nicht etwa hilflos, sondern zusammen mit seinem nahfernen Blick auf eine ungewöhnliche Weise konzentriert. Der Betrachter bezog diese Konzentration auf sich und nahm ihm deshalb seinen notorischen Widerstand gegen zu äußernde Wörter nicht übel.

Das verband Thaddea und Ben-Luca: Beiden kam es darauf an, Dinge geschehen zu lassen. Thaddea redete nicht viel während ihrer Sitzungen, viel weniger als alle Kollegen und Kolleginnen. Sie wollte einen Raum entstehen lassen, in dem ein ernstgemeinter Entschluss möglich war, das galt für ihr Gegenüber, aber auch für sie selbst. Thaddea wollte nicht die Axt für das gefrorene Meer in jemand anderem sein. Natürlich auch nicht für das Meer in sich selber. Sie fand es unschön, die Leute zu bedrängen, ob beruflich oder privat, das machte keinen Unterschied. Eigentlich lag es ihr fern, jemandem auch nur einen Nudge zu geben. Die Leute sollten sich selbst bedrängen, um sich – zu reinigen.

Es gab jedoch einen wesentlichen Unterschied zwischen Thaddea und Ben-Luca: Thaddea war sich immer sicher, dass sie und ihr Gegenüber existierten. Davon war Ben-Luca nicht überzeugt. Je mehr er protokollierte und registrierte, desto fragwürdiger wurde für ihn, ob es das Gegenüber gab und als Folge, ob es ihn selbst gab. Vielleicht existierten er und sein Gegenüber gar nicht.

Sie, Thaddea, war nicht grundsätzlich gelassen, aber nie aufgeregt. Was nicht hieß, dass sie nie erregt gewesen wäre. Aber es wäre auch falsch zu sagen, sie beherrschte sich. Sie musste sich nicht im Zaum halten. Was war sie? Sie suchte nach einem Wort. Das englische detached schien ihr zu passen, man konnte auch detachiert sagen, aber das klang deutlich kühler als das englische Wort. Das italienische disinvolto fiel ihr ein. Das hieß eigentlich nur lässig, aber ein italienisches lässig war ein gänzlich anderes als ein deutsches. Sie hatte immer vorgehabt, Italienisch zu lernen. Als sie Ben-Luca kennengelernt hatte, hatte sie begonnen, das Vorhaben in die Tat umzusetzen und sich eine Italienisch-Lehrerin genommen. Ben-Luca sprach gut Italienisch, eine Nebenwirkung seiner kunstgeschichtlichen Ausbildung. Aber sie hatte die Sache versickern lassen.

»Ich muss dir etwas sagen.«

Ben-Luca sagte als erster etwas – Thaddea blickte ihn unverstellt erwartungsvoll an. Ben-Luca hielt sich immer völlig gerade, ob er stand oder saß, ob er am Schreibtisch arbeitete oder sich bewegte. Seine Wirbelsäule war kaum geschwungen, der medizinische Fachausdruck fiel Thaddea nicht ein. Die Wirbelsäule federte Belastungen nicht genügend ab, wenn er älter würde, dann würden sich Rückenbeschwerden einstellen. Es war unerlässlich, dass er Übungen zur Stärkung der Rückenmuskulatur machte. Thaddea wusste nicht, ob sich sein Fitnesstrainer in Leo’s Sports Club an diese Vorgabe hielt. Dabei wirkte Ben-Luca niemals steif, er brachte es fertig, seine gerade Haltung als lässig erscheinen zu lassen.

»Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll –«

Ben-Luca blickte nicht in die Ferne, sondern eindeutig in die Nähe. Auf die Zigarettenkippe in dem mittlerweile über die gesamte Oberfläche geschmolzenen rosafarbenen Eis, die Thaddea vorher gar nicht bemerkt hatte. Als sie sich kennengelernt hatten, war Ben-Luca Raucher gewesen. Thaddea ertrug Raucher nicht, und Ben-Luca gewöhnte sich das Rauchen ab. Hin und wieder rauchte er noch eine oder zwei Zigaretten, niemals in Gegenwart Thaddeas.

Thaddea reichte Ben-Luca die in Papier eingepackten Stäbchen.

Ben-Luca sagte: »Ich habe den ganzen Tag nichts gegessen.«

Er ließ die Stäbchen aus der Papierhülle gleiten, indem er diese schräg und ohne Druck hielt.

Beide begannen mit den California Rolls. Ben-Luca brachte immer Asahi- oder Kirin-Bier in Flaschen mit. Diesmal hatte er Kirin besorgt, aber in Dosen. Thaddea schmeckte das Bier aus der Flasche weit besser.

Ben-Luca sagte: »Im Auktionshaus gibt es Probleme.« Er nannte den Namen seiner Mitarbeiterin. Er sagte: »Die Schwangerschaft ist kompliziert. Sie kann nicht mehr arbeiten.«

Thaddea fragte: »Was ist der Plan?«

Ben-Luca sagte: »Ich mache den Katalog für die Herbstauktion allein.«

Ben-Luca fragte: »Wie war der erste Tag?«

Thaddea hub an: »Mein erster Klient –«, um unvermittelt abzubrechen.

Sie wollte nicht schildern, was sich begeben hatte, sie wollte erzählen, was ihr widerfahren war. Aber in dem, was sie dann erzählen würde, steckte schon eine Leistung: Geistes- und Gefühlsarbeit. Wenn sie das sagte, was sie eben noch hatte sagen wollen, würde sich Ben-Luca ihrer Gefühls- und Geistesarbeit bemächtigen. Einfach so.

Es gab drei Möglichkeiten: Sie erzählte überhaupt nichts, dann gab sie sich keine Blöße. Sie berichtete alles in allen Einzelheiten, natürlich nur von außen, dann musste sich Ben-Luca selbst einen Reim darauf machen. Wenn sie wollte, konnte sie ihn dabei in die Irre führen, indem sie sich auf Einzelheiten konzentrierte, die gar nicht wichtig waren. Sie konnte auch einfach lügen. Sie konnte etwa sagen: ›Es ist ganz okay gewesen.‹ Es würden ja nicht alle absagen – oder?

Wenn sie gar nichts erzählte, gab sie sich doch eine Blöße. Dann musste Ben-Luca richtigerweise annehmen, dass etwas geschehen war, was nicht ihren Erwartungen entsprochen hatte. Sie hatte keine Lust, alles in allen Einzelheiten zu erzählen, das hätte dazu geführt, dass sie den Tag noch einmal durchlebt hätte. Sie log nicht gern. Lügen war anstrengend, nicht im Augenblick, aber auf längere Sicht, man musste im Gedächtnis behalten, was man gesagt hatte, und dazu in der Lage sein, es jederzeit abzurufen.

Thaddea dachte: ›Keiner wird kommen! – Es gibt nur mich!‹ Aber es gelang ihr, den Gedanken schnell zu verscheuchen.

Sie begann: »Mein erster Klient ist von einem Blitz getroffen worden. Er sah auch so aus –«

Sie hatte vorgehabt, Ben-Luca durch Einzelheiten abzulenken. Aber welche andere Einzelheit konnte noch von derjenigen ablenken, dass ein Mann vom Blitz getroffen worden war. Thaddea hätte alles zurücksetzen können, indem sie nachgeschoben hätte, der Mann habe nur behauptet, vom Blitz getroffen worden zu sein. Für einen Moment war sie bereit zu lügen, aber ihr stand das Bild des Mannes vor Augen: Wenn man ihn von der anderen Seite fixierte, sah man die Verwundung nicht. Die Wunde hatte keine Ränder. Es fehlte einfach ein Teil des Gesichts unterhalb des Backenknochens, oder man blickte an dieser Stelle durch das Gesicht hindurch. Beide Möglichkeiten waren gleichermaßen irritierend.

Thaddea brachte es nicht fertig, zu lügen. Sie schob auch keine ablenkenden Einzelheiten vor. Sie erzählte Ben-Luca, wie der erste Tag verlaufen war, das äußere Geschehen, ihre innere Beteiligung. Sie offenbarte ihm den Verwirrungsnebel, in den sie seither eingetaucht war. Es war ihr egal, dass sie Ben-Luca alle Arbeit abnahm.

Der Rasen um Thaddeas Haus war gemäht, aber sonst ungepflegt. In unmittelbarer Nachbarschaft zum Wald war das Gras stark mit Klee und Unkraut durchsetzt. Es hatte eine Woche nicht geregnet. Wind kam auf, über dem Rasen schwebte im Licht der Strahler eine rötliche Staubwolke.

Ben-Luca sagte: »Bald wird es Sommer.« Und: »Lass uns mal wieder an den Starnberger See fahren.«

Thaddea sagte: »Es ist dort so voll. Ich habe überhaupt keine Lust auf die vielen Leute.«

Ben-Luca sagte: »Vielleicht hast du Recht.«

Der Wind bog die Bäume, sie schickten sich an, über die Staubwolke hinweg nach Thaddea und Ben-Luca zu greifen.

Ben-Luca nannte Thaddeas Stadthaus in Schwabing immer »die Struktur«. Er erkundigte sich, ob alle Arbeiten in der Struktur abgeschlossen waren. Die Verglasung der obersten Ebene hatte komplett ausgetauscht werden müssen, die Glasscheiben waren beim Einbau beschädigt worden. Die Lieferzeit für die Ersatzscheiben war ziemlich lang gewesen. Als Thaddea in einem Nebensatz Kata erwähnte, sprang Ben-Luca von seinem Stuhl auf, griff über den Tisch hinüber, umfasste Thaddeas rechten Arm mit beiden Händen und fragte sie: »Hat Kata dich angerufen?« Dabei blickte er jedoch Thaddea nicht an, sondern sah zurück über seine Schulter nach draußen.

 

 

Sie hatten im November den PIN-Ball besucht, Ben-Luca, Thaddea und Kata. Der PIN-Ball war eins der wenigen gesellschaftlichen Ereignisse in München, die zu Recht als solche bezeichnet wurden. Er wurde vom Verein PIN Freunde der Pinakothek der Moderne im Museum veranstaltet und hatte den Zweck, Geld für den Ankauf eines neuen Kunstwerks zu sammeln. Galerien, Firmen und Privatleute stifteten etwa fünfzig Kunstwerke, die versteigert wurden, die Hälfte durch einen Auktionator, die andere Hälfte im Rahmen einer Silent auction. In der Eingangshalle des Museums waren ein Podium und Stehtische aufgebaut, studentisches Hilfspersonal brachte den Gästen Finger food. In den Nebenräumen waren Tische aufgestellt, an denen man sitzend essen konnte. Nach der Auktion spielte eine Live Band, und in der Rotunde wurde getanzt. Mit den Eintrittskarten, die trotz des Preises immer sehr schnell ausverkauft waren, trugen die Gäste ebenfalls zum Erwerb des ins Auge gefassten Kunstwerks bei.

Beim vorhergegangenen PIN-Fest waren durch Auktion und Eintritt etwa eine Dreiviertelmillion Euro zusammengekommen, mit der ein Gemälde von Georg Baselitz aus der Remix-Serie gekauft worden war. In diesem Zyklus malte der Maler frühere Bilder noch einmal. Das Sujet blieb gleich, aber die Gestaltung war anders. Neuer.

Thaddea war später als geplant aus der Klinik gekommen. Als sie hastig in das lange Abendkleid schlüpfte, trat sie auf den Saum, den sie erst wieder festnähen musste. Sie konnte sich gar nicht erinnern, wann sie zum letzten Mal Nadel und Faden in der Hand gehabt hatte. Sie traf erst ein, als die Auktion schon in vollem Gange war.

Ben-Luca sollte für einen guten Kunden des Auktionshauses, der nicht öffentlich auftreten wollte, eine Arbeit von Elmgreen & Dragset ersteigern. Die bekannteste Arbeit des dänisch-norwegischen Duos war Prada Marfa: Ein rechteckiger Quader mit zwei Schaufenstern und einer Eingangstür in der Mitte, die Schaufenster durch weiße Markisen gegen die Sonne geschützt, stand als Prada shop einsam in der Wüste.

Der Kunde hatte ein Limit gesetzt, über das Ben-Luca noch gescherzt hatte, weil es ihm so hoch erschien. Zunächst bot er nicht mit, wurde aber dann unruhig, weil der Preis sehr schnell nach oben ging. Er war schließlich erfolgreich, obwohl er selbst kaum mehr damit gerechnet hatte, der Zuschlag erfolgte nur knapp unter dem Limit des Kunden. Danach war er sichtlich erleichtert, vorher hatte er nur Mineralwasser zu sich genommen, jetzt trank er mehrere Gläser Champagner in schneller Folge hintereinander. Thaddea war nicht beunruhigt, das tat seinen sozialen Beziehungen gut. Kata leistete ihm beim Champagner Gesellschaft. Thaddea trank nur ein Glas, sie vertrug Alkohol nicht gut, es war eine Qual, am Montag mit Hangover den Dienst anzutreten.

Die Arbeit von Elmgreen & Dragset, die Ben-Luca ersteigert hatte, zeigte einen Vogel auf dem Rücken mit nach oben gestreckten Beinchen und geöffnetem Schnabel. Thaddea hatte immer wieder fragen wollen, ob es eine Bleistiftzeichnung oder ein Foto war.

Nach der Auktion war Ben-Luca von mehreren Kunden in Beschlag genommen, die sich unbedingt mit ihm über die Auktionsergebnisse austauschen wollten. Kata hatte im Gedränge einen Stadtrat erspäht und ihn in eine Diskussion verwickelt. Weil Thaddea nichts für ihr berufliches Fortkommen tun musste oder konnte, entschloss sie sich zu gehen.

Ben-Luca ließ nicht zu, dass sie allein den Heimweg antrat, es war ihm auch eine willkommene Gelegenheit, sich aus der Konversation mit den Kunden zu lösen. Er bestand darauf, Thaddea nach Hause zu begleiten, danach musste er allerdings zurück, um die ersteigerte Arbeit zu bezahlen und mitzunehmen, der Kunde wollte sie unbedingt am nächsten Tag geliefert bekommen.

In der folgenden Woche hatten sie sich nicht gesehen. Thaddea arbeitete bis zum späten Abend in der Klinik, Ben-Luca tat das gleiche im Auktionshaus, Kata hatte einen Abgabetermin bei einem Architektenwettbewerb. Danach war Kata nach China geflogen, ohne sich noch einmal zu melden.

 

 

Der Ben-Luca der Gegenwart in Thaddeas Haus hielt die linke Hand vor sein Gesicht. So, dass er Thaddea nicht in die Augen blicken musste und auch Thaddea ihm nicht in die Augen sehen konnte. Er fixierte seine Hand mit solcher Intensität, dass die Konturen seines Gesichts und seines Körpers verschwammen und sich sein Körper und sein Gesicht auflösten. Nur die Augen und die Hand blieben übrig.

Der Ben-Luca der Vergangenheit auf dem PIN-Ball stand neben dem Tresen der Garderobe im Keller des Museums. Leicht schwankend sah er Kata zu, die auf dem Tresen wie ein Model auf dem Catwalk ihr Kleid präsentierte. Thaddea konnte sich später nicht an die Worte oder die Sätze erinnern, mit denen Ben-Luca es ihr erzählt hatte. Das, was er schilderte, sah sie im Fenster hinter ihm gespiegelt.

Kata hatte auf dem PIN-Fest ein kurzes schwarzes Kleid im Gothic look von Etro getragen. Auf dem langärmeligen durchsichtigen Chiffon-Oberteil rankten sich in der Mitte des Dekolletés und unter den Schultern Lilien. Ein breiter schwarzer Ledergürtel presste die Körpermitte zusammen. Zwei oder drei Lagen eines gerüschten, schwarzglänzenden Stoffes mit einem gestanzten, semisakralen Muster waren auf Höhe der Oberschenkel angesetzt und endeten kurz über den Knien. Kata war barfuß und hielt eine noch nicht entkorkte Magnumflasche Champagner in der Hand.

Ben-Luca rief Kata etwas zu, sie schüttelte den Kopf, ihre langen schwarzen Haare flogen. Es gab keinen Ton zu der Spiegelung im Fenster.

Ben-Luca begab sich zu dem Catwalk, der keiner war, und umfasste das linke Bein Katas mit beiden Händen an der Fessel, so dass sie nicht weitergehen konnte. Dann hielt er sie nur noch mit einer Hand fest, mit der anderen griff er nach der Champagnerflasche. Kata drehte sich weg, Ben-Luca ließ ihr Bein los und griff mit beiden Händen nach der Flasche. Kata ließ die Champagnerflasche nicht los und setzte sich auf den Tresen.

Während die beiden um die Flasche rangelten, ploppte der Korken, und die Flasche schäumte über. Ben-Luca fuhr mit der Hand über Katas Mund, sie leckte den Champagner ab. Kata steckte einen Zeigefinger in den Mund von Ben-Luca. Sie einigten sich, die Champagnerflasche beiseite zu stellen. Kata umfasste Ben-Lucas Kopf mit beiden Händen, zog ihn zu sich hin, und sie küssten sich.

Ben-Luca hatte Thaddea nach Hause gebracht und war dann auf den Ball zurückgekehrt. Kata war noch dort gewesen. Sie hatten getanzt, Ben-Luca hatte weiter getrunken. Sie waren schließlich unter den letzten gewesen, die den Ball verlassen hatten. An der Garderobe hatten Ben-Luca und Kata einen gemeinsamen Bekannten getroffen, der sie in ein Gespräch verwickelt hatte. Als sie schon im Taxi saßen – Ben-Luca wollte auch Kata nach Hause bringen –, fiel Kata ein, dass Ben-Luca das ersteigerte Bild in der Garderobe zurückgelassen hatte.

Der Taxifahrer musste umkehren. Die Türen des Museums waren nicht versperrt, eine Frau von der Security ließ sie passieren. Das eingepackte Bild stand noch dort, wo Ben-Luca es hingestellt hatte, während er sich den Mantel übergezogen hatte. Beide suchten die Waschräume im Tiefgeschoss auf. Als sie wieder zur Rotunde hoch stiegen, war diese zwar noch beleuchtet, aber die Eingangstüren waren zugesperrt. Die Security hatte sie vergessen, sie waren allein im Gebäude und konnten nicht heraus. Erst am Morgen würde der Catering Service sein Equipment und die übrig gebliebenen Getränke einsammeln.

Thaddea sagte: »Ihr habt euch geküsst?«

Und: »War das alles?«

Ben-Luca sprang auf, beugte sich zu Thaddea hinüber, packte sie an den Schultern, schlang seine Arme um ihren Hals und versuchte, sie zu sich herüber zu ziehen. Er öffnete seinen Mund, um etwas zu sagen, aber er brachte kein Wort heraus. Schließlich ließ er Thaddea los und ging mit unsicheren Schritten, wie jemand, der lange seine Beine nicht benutzt hat, aus dem Raum.

Ben-Luca hatte seinen Wagen auf der Straße geparkt, er strebte dem Einfahrtstor zu. Der Wind war schwächer geworden, trieb jedoch weiter Staub durch den Garten. Ben-Luca ging sehr langsam, der Schleier, der das Haus umgab, wollte Glauben machen, dass er gar nicht den Boden berührte. Als Ben-Luca das Tor erreicht hatte, hielt er inne und drehte sich um. Thaddea wusste, ihre Gestalt zeichnete sich deutlich in dem hellen Haus ab. Ben-Luca musste sehen, dass sie ihm nachblickte. In diesem Moment wirbelte eine Windbö die oberste Lage eines neben der Einfahrt aufgeschütteten Erdhaufens hoch – Thaddea hatte ein massiveres Tor mit Videoüberwachung und Sicherheitsbeleuchtung errichten lassen – und hüllte Ben-Luca fast ein. Er nahm beide Hände hoch und hielt sie an den Kopf. War ihm etwas in die Augen gekommen, oder war das eine Geste? Die Staubteilchen, die um ihn herumflogen, glitzerten im Licht der Strahler auf der Torbefestigung. Das Ende der Welt hatte bereits stattgefunden.

 

 

In der Nacht konnte Thaddea nicht schlafen. Unter dem Pflaster am Finger pochte die Schnittwunde, die sie sich durch ihre Unachtsamkeit beigebracht hatte. Sonst konnte Thaddea immer schlafen. Eigentlich erinnerte sie sich nur an eine Ausnahme: Als Kind hatte sie an einem Sommernachmittag zu lange in der prallen Sonne im Garten gespielt und einen Sonnenstich bekommen. Sie konnte erst einschlafen, als der Morgen des nächsten Tages graute. Natürlich hatte sie ihren Eltern nichts gesagt.

Das Nachdenken über das Leben war nicht notgedrungen endlos. Es gab einen möglichen Schlusspunkt. Thaddea dachte an Selbstmord.

War der Tod nicht auch eine zweckmäßige Lösung? Die Menschen fanden doch sonst immer einen Weg, etwas, was ihnen wirklich unangenehm war, zu umgehen. Musste der Tod nicht das Leben lieben, als Entertainment?

In der Klinik hatte Thaddea einmal mit einem Kranführer zu tun gehabt, der erst nicht schlafen konnte und sich dann umgebracht hatte. Jedes Mal, wenn er seinen Kran bestieg, setzte ein massives Zittern ein, seine Arme begannen regelrecht zu schlagen. Dabei sah der Mann aus wie das blühende Leben. Seine Diagnose stellte er selbst, unter Zuhilfenahme von Ratgeberliteratur und mit Unterstützung seiner Freundin: Er war unverbrüchlich davon überzeugt, seelisch gesund zu sein, er hatte es, wie er sich ausdrückte, nur an den Nerven. Er brauchte und wollte keine Hilfe und verhielt sich gegenüber Thaddea und ihren Kollegen und Kolleginnen entsprechend abwertend. Das bescherte ihm einen Sympathiebonus bei Thaddea, der allerdings seine tatsächlichen Aussichten nicht verbesserte. Sie konnte nicht anders, sie musste seine unverbrüchliche Verachtung der Ursachenforschung und der Ursachenforscher bewundern.

Der Kranführer ließ sich zum Feinmechaniker umschulen. Das Zittern trat nicht mehr auf. Er kam wieder, weil er nicht schlafen konnte. Er behauptete, er schlafe überhaupt nicht mehr. Das war natürlich unmöglich. Aber jetzt sah er wirklich schlecht aus. Thaddea blieb nichts anderes übrig, als nach Anlässen und Ursachen zu suchen. Wann er zum ersten Mal nicht hatte schlafen können, was er unternahm, bevor er ins Bett ging etc. Er erteilte bereitwillig Auskunft, aber es ergab sich nichts, was aussagekräftig gewesen wäre. Thaddea wusste, sie taugte nicht als Ursachenforscherin. Sie hegte den Verdacht, dass der Ex-Kranführer Angst vor dem Einschlafen hatte, dass er befürchtete, nicht wieder aufzuwachen.

Schließlich erhielt Thaddea die Mitteilung seiner Freundin, dass er sich im Keller des Mietshauses, in dem er wohnte – er lebte allein –, erhängt hatte. Der Ex-Kranführer hatte die Möglichkeit, sich etwas anzutun, nie auch nur erwähnt. Thaddea war überzeugt, der Mann hatte so große Angst vor dem Tod gehabt, dass er ihn gesucht hatte. Der Selbstmord war die einzige Möglichkeit, der Furcht vor dem Tod ein Ende zu setzen. Thaddea bewunderte den Mann. Die Angst vor dem Tod hatte ihn zum Herrn seines Schicksals gemacht.

Diejenigen, die von der Zukunft ausgeschlossen waren, machten sich gewöhnlich ein eher düsteres Bild davon. Thaddea hatte doch gar nicht genügend Jahre angehäuft, um diesen Tröstungsmechanismus anzuwerfen. Hatte die Zeit sie vielleicht schneller zermahlen als andere? Sie zitterte. Nicht ihr Körper, ihre Seele – wie abstoßend!

Man schaffte seelische Not aus der Welt, und man würde keine Seele mehr antreffen, nirgendwo … Sie hatte den Knopf für den nächsten Tröstungsmechanismus gedrückt. Sie kam sich unaufrichtig vor.

Kata und Ben-Luca – war das Ekstase gewesen?

Der Gastgeber trug eine Hose aus goldglänzendem Material und ein durchgehend mit goldfarbenen Pailletten besetztes Jackett, das unterhalb von zwei hochgesetzten Knöpfen auf Brusthöhe auseinanderging und den Blick auf ein T-Shirt aus dem gleichen Material wie die Hose freigab. Oder war das Ganze ein Overall? Die Schuhe waren natürlich ebenfalls aus einem goldfarbenen Material, mit Klettverschlüssen. Thaddea besuchte eine Party, auf der sie garantiert niemanden traf, den sie ernstnehmen konnte.

Der Gastgeber produzierte eine Show für RTL, weder Thaddea noch Ben-Luca besaßen Fernseher, Kata allerdings schon. Thaddea und Kata hatten den Gastgeber und seine Frau nach einem Clubbesuch im Cosmogrill kennengelernt, das war ein kleines Lokal hinter der Maximilianstraße mit nur wenigen Sitzplätzen auf hohen Hockern, in dem man zu jeder Nacht- und beginnenden Tageszeit luxuriöse Hamburger bekam. Der Gastgeber war damals durch einen Anzug in leuchtendroter Farbe aufgefallen, alle Knöpfe waren mit rotem Stoff bezogen gewesen.

War es zu erwarten, dass ein Mann, der einen roten Anzug trug, in einem Tudor-Bungalow wohnte, oder konnte man von einem Mann in einem roten Anzug nicht doch mehr Geschmack erwarten? Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts hatte es in Grünwald die Manie der sogenannten Tudor-Bungalows gegeben. Das meinte moderne, weiß oder gelb gestrichene Bungalows mit großflächigen, unterteilten Fenstern und hell gestrichenen Rahmen, dazu ein säulenverzierter Eingang. Im Tudorstil und in der Tudor Revival Architecture gab es keine einheitlich hellen Fassaden, und die Säulenvorbauten waren fragil und nicht pompös.

Der Tag nach demjenigen, an dem Thaddea mit Kata und Ben-Luca abgeschlossen hatte – sie hatte unbedingt mit ihnen abgeschlossen –, hatte mit der Absage ihrer dritten und letzten Klientin begonnen. Das war umso unerwarteter gekommen, als sie die Frau aus der Klinik kannte.

Bei einem Hawaii-Urlaub hatte die Frau, die etwa im Alter Thaddeas war, mit ihrem Freund einen Ausflug zu einem naturbelassenen Strand auf Oahu gemacht. In dem Meeresabschnitt vor dem Strand ereignete sich ein Seebeben, das eine Flutwelle auslöste. Die Tsunami-Warnung bekamen die Frau und ihr Freund nicht mit, weil das Radio in ihrem Mietwagen defekt war. Sie wunderten sich, dass sie die einzigen am Strand waren. Als sie das Nachbeben spürten, packten sie sofort ihre Sachen zusammen und wollten davonfahren. Die Ausläufer der Flutwelle überschwemmten die Uferstraße, der Wagen wurde erfasst und landeinwärts getragen. Als die Welle zurückfloss, hätte sie den Wagen hinaus aufs Meer gespült, wenn er nicht an einer Felsspitze neben der Straße hängengeblieben wäre.

Noch im selben Jahr hatte die Frau ihre Schwester besucht, die in der Nähe von Chicago lebte. Dabei geriet ihr Flugzeug in einen Wirbelsturm, es wurde derart hin und her geschleudert, dass mehrere Systeme ausfielen. Die Piloten konnten das Flugzeug jedoch mit manueller Steuerung sicher auf den Boden bringen. Ein anderes Flugzeug, das von dem Wirbelsturm erfasst wurde, stürzte ab.

Zwei oder drei Jahre später verbrachte die Frau mit ihrem Freund einen Skiurlaub in Zermatt. Als sie nach einem frühlingshaften Skitag in ihr Appartement zurückkehrten und den Fernseher einschalteten, unterbrach der lokale Sender sein Programm, um live von einem Lawinenunglück zu berichten, das sich gerade ereignet hatte. Die Mitglieder der Pistenrettung und zufällig vorbeikommende Skifahrer gruben mit bloßen Händen nach Verschütteten. Bei der Abfahrt ins Tal hatten die Frau und ihr Freund den Hang gequert, auf dem sich unmittelbar danach die Lawine gelöst hatte.

Die Frau litt unter Angstzuständen. Thaddea kam einfach nicht zu einem endgültigen Urteil darüber, ob sie die Wahrheit sagte oder ob sie die Geschichten erfunden hatte. Sie konnte ihre Schilderungen nicht belegen. Es war allerdings nicht verwunderlich, dass sie in den Situationen anderes im Kopf gehabt hatte, als Beweisfotos zu machen. Weil Thaddea zweifelte, brachte die Frau sogar das Flugticket nach Chicago mit, das sie aufgehoben hatte. An dem Tag hatte es einen Hurricane auf der Flugroute gegeben, das war nachzuvollziehen. Aber das Ticket bewies natürlich noch nicht, dass ihr Flugzeug tatsächlich in den Wirbelsturm geraten war.

Thaddea wurde damals in der Klinik zu einem Gespräch zitiert, weil sie in den Unterlagen festgehalten hatte, dass sie nicht entscheiden konnte, ob die Patientin die Wahrheit sagte oder nicht. Der Oberarzt verlangte von ihr, sich zu entscheiden. Er wollte ein Exempel statuieren, Thaddea merkte schnell, dass die anderen über die Sache Bescheid wussten. Sie schrieb, es gebe Anhaltspunkte, dass die Patientin nicht die Wahrheit sage. Das war nicht genug. Der Oberarzt zwang sie zu schreiben, die Frau konfabuliere.

Von alldem bekam die Frau nichts mit, aber sie fühlte Thaddeas doppelte Ratlosigkeit: dass Thaddea nicht wusste, ob sie ihr glauben sollte oder nicht, und dass Thaddea gezwungen wurde, Dinge zu tun, die sie sonst nicht getan hätte. Als Thaddea die Frau über ihr bevorstehendes Ausscheiden aus der Klinik informiert hatte, war sie sehr interessiert gewesen, die Gespräche unter anderen äußeren Bedingungen fortzusetzen. Ihre Absage war, wie die des zweiten Klienten, begründungslos geblieben. Thaddea hatte die SMS mit der Absage erhalten, als sie gerade im Bad war. Ihr Spiegelbild hatte sie ruhig angeblickt, als ob ihm ihre Lage klar wäre. Thaddea hatte ausgesehen wie eine Plastikpuppe, deren Oberkörper und Kopf aus einem einzigen Teil bestanden.

Wissen war für Thaddea immer mit einem Coup de foudre verbunden. Man wusste nichts, plötzlich wusste man etwas. Da war kein Übergang. Es gab den Zustand des Nichtwissens, den Zustand des Wissens und einen Schalter, den irgendwer oder irgendetwas betätigte, und aus dem einen Zustand wurde der andere. Konnte aus dem Zustand des Wissens auch derjenige des Nichtwissens werden? Das war Thaddea noch nie passiert.

Auf einmal war es Thaddea unerträglich geworden, dass sie nicht wusste, ob die Frau, die ständig um Haaresbreite dem Tod entrann, die Wahrheit sagte oder nicht. Thaddeas Welt klaffte auseinander, totenstill.

Aber der Münchner Föhnhimmel machte das Ferne und das Nahe gleich. Die Eindrücke unter dem Föhnhimmel waren das, was den Leistungen eines absoluten Sinnes am nächsten kam. Dabei unterschied der Föhnhimmel ganz genau: Dies blieb, jenes verging gerade. Nähe oder Ferne spielten dafür keine Rolle.

Im Münchner Himmel kreisten hauchfeine Schleier. Da hatte Thaddea sich entschlossen, der Einladung des RTL-Produzenten zu folgen und unter laute Menschen zu gehen.

Tatsächlich wurde Thaddea Zeugin einer veritablen Schreierei. Das Gespräch der anderen Gäste war verstummt, alle blickten zu der Frau mit der Helmfrisur und dem Schriftsteller hin. Thaddea hatte einen seiner Romane gelesen, den Ben-Luca aus naheliegenden Gründen empfohlen hatte: Es ging um ein Galeristenehepaar aus New York, sie betrieben eine Galerie für dekoratives Glas aus der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Frau auf der Party – Thaddea verstand gar nicht, wie sie es anstellte, dass die Haare auch unter dem Kinnbogen so eng am Kopf anlagen, eben wie ein Helm – war Script doctor. Sie hatte ihren Tischnachbarn erklärt, sie überarbeite Drehbücher für Filme und Fernsehserien. Man engagiere sie, wenn die Produzenten mit einem vorliegenden Drehbuch nicht zufrieden seien. Die Überarbeitung sei in der Regel ziemlich weitgehend. Meistens schreibe sie das Drehbuch völlig um, sie setze andere Schwerpunkte bei der Handlung, sie ändere das Ende, manchmal führe sie sogar neue Personen ein, um die Handlung schlüssiger zu gestalten.

Thaddea hatte mit halbem Ohr gehört, wie der Schriftsteller erzählt hatte, dass er mit der Hand schreibe. Er hatte etwas gesagt wie: dass seine handschriftlichen Sätze ein Geflecht bildeten, in dem Dinge, Menschen, Ideen aufschienen. Seine Hand gebe seiner Schrift nach, während seine Gedanken abschweiften. Seine Hand fahre einfach über das Blatt.

Die behelmte Frau hatte mehrere Gläser Rotwein getrunken. Sie sagte laut: »Das ist nicht wahr. Ihr Blick leitet Sie, nicht Ihre Hand! – Sie möchten immer und überall alles sehen. Schreiben ist für Sie anschauen –«

Der Schriftsteller wandte ein: »Ein Roman besteht aus Beschreibungen und vielleicht aus Dialogen. Ihre Drehbücher enthalten nur Dialoge und keine Beschreibungen. Höchstens Regieanweisungen. Um zu beschreiben, muss man beobachten. Wissen Sie überhaupt, was eine Beobachtung, was eine Beschreibung ist?«

»Man muss sehen, man muss hören, man muss riechen.«

Die Frau hatte einen auffällig kleinen Mund. Es war erstaunlich, dass sie jetzt so überlaut und immer noch artikuliert sprechen konnte.

»Dann überlegen Sie: dass nicht Sie beobachten, sondern dass Ihre Augen und Ihr Gehirn beobachten, dass nicht Sie lauschen, sondern Ihre Ohren und Ihr Gehirn, und dass nicht Sie riechen, sondern –. Sie sind nicht Ihre Augen und Ihre Ohren, Sie können auch nicht Ihr Gehirn sein, denn es ist ja Ihres. Nichts bleibt übrig. Außer dem Beobachteten!«