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Ein erfolgreicher Tech-Gründer möchte 500 Millionen Dollar aus seinem Börsengang anlegen und beauftragt damit einen Frankfurter Banker. Wem soll dieser die enorme Summe anvertrauen? Dem Hedgefonds eines Mathematikers, der gemeinsam mit seinem verschwundenen Bruder hochkomplizierte Modelle entwickelt hat? Einem Selfmademan, der die Zeit anhalten möchte? Oder einer intuitiven und kapriziösen Düsseldorfer Fondsmanagerin? Bevor die endgültige Entscheidung über die 500 Millionen fällt, bestellt der Gründer den Banker nach New York. Der Banker hofft, dort auch seine Freundin zu treffen. Er weiß nicht, ob er seine Freundin bereits verloren hat oder erst verlieren wird. Die Rede ist von Sehnsuchtsorten in den Hamptons, von junger chinesischer Kunst und von Frankfurter Tabledance-Bars. Aber vor allem von Menschen, die an die Grenzen ihrer Fähigkeiten und ihrer Gefühle gehen. Das Geld selbst erzählt. Es strotzt vor Selbstbewusstsein und fühlt sich zugleich unverstanden und gekränkt. Aber es weiß, dass »Finance« mehr mit Ideen, Träumen, Poesie und Kunst zu tun hat als mit Wirtschaftswissenschaft. »Ich bin die erfolgreichste Sprache, die es gibt.« Das Geld »Der Kapitalismus dringt ins Innerste der Menschen vor: Wenn mich das nicht bedrücken würde, wäre ich nicht Schriftsteller geworden.« Ernst-Wilhelm Händler
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Seitenzahl: 461
Ernst-Wilhelm Händler
Das Geld spricht
Roman
FISCHER E-Books
Caprica Six: »Are you alive?«
Human envoy: »Yes.«
Caprica Six: »Prove it.«
Battlestar Galactica, Opening scene
» … a tale told by an idiot, full of sound and fury, signifying nothing.«
Shakespeare, Macbeth
Der Schatten eines Flugzeugs gleitet über den in der Hitze flimmernden Asphalt und die blendend hellen Glasoberflächen der Hochhäuser. Der Gründer hebt beide Arme hoch und beugt sich vor – es würde nicht verwundern, wenn er sich durch die geschlossene Fensterscheibe hinauslehnen könnte. Es wäre auch keine Überraschung, wenn er sich fallen lassen und während des Falls in einen Vogel verwandeln würde, der majestätisch mit seinen Schwingen schlägt, denkt der Banker.
Der Gründer hat eine halbe Milliarde Dollar aus seinem Börsengang in den USA übrig, die er nicht in seine Firma investieren will. Aus dem obersten Stockwerk der Hauptverwaltung einer großen deutschen Bank betrachtet er Frankfurt.
Auf der Visitenkarte seines Gesprächspartners steht President und Private Wealth. Der Banker ist unrasiert, seine Haare sind durcheinander. Er hat Karriere gemacht, er kommt aus dem Firmenkundengeschäft und ist jetzt der Chef des Privatkundengeschäfts. Der Gründer wollte ihn sehen und niemanden sonst.
An einem Montagmorgen beschreibt der Banker die Parameter des Anlageuniversums: Die Rendite zehnjähriger Staatsanleihen mit erstklassiger Bonität beträgt nur einen Bruchteil der bereits äußerst geringen Inflationsrate für die Konsumentenpreise. Die Notenbanken pumpen unaufhörlich Liquidität in die Wirtschaft. Aber das Quantitative easing löst die Probleme des Finanzsektors und der Realwirtschaft nicht. Negative Realzinsen bedeuten Enteignung, die vor allem die Kleinsparer trifft.
Der Banker sagt, dass es keine Geheimnisse gibt. Damit hat der Gründer nicht gerechnet: Alle anderen, mit denen er über seinen Börsengang gesprochen hat, haben gesagt, dass es sehr wohl Geheimnisse gibt. Wenn man die kennt, kann man aus dem Geld aus dem IPO noch viel mehr Geld machen.
Ein nicht zuständiger Banker verirrt sich in den Besprechungsraum. Er erkennt den Gründer sofort und geht rückwärts aus dem Raum. Es sieht so aus, als würde ihn der Gründer mit der Kraft seiner Gedanken aus seinem Gesichtsfeld entfernen.
Der Gründer redet mit völlig ausdruckslosem Gesicht. Bar, so scheint es, jeden Gefühls und jedes spontanen Gedankens. Er hat nicht wie Mark Zuckerberg mit neunzehn, sondern mit zweiundzwanzig die Universität verlassen. Die Hochschule Karlsruhe, früher Technische Universität Karlsruhe. Er arbeitet nicht so viel wie Sam Altman von Y Combinator, dass er Skorbut bekommt, aber er isst auch nicht nur Äpfel und Karotten wie Steve Jobs. Er trägt keinen Rollkragenpulli à la Elizabeth Holmes, sondern einen grauen Anzug und ein dunkelgraues T-Shirt.
Warum sitzt der Gründer in Frankfurt einem deutschen Banker gegenüber? Bei seinem IPO hat er bestimmt, dass die Bank mehr Shares bekam, als eigentlich angebracht gewesen wäre. Er rief den CEO an, den Vorgesetzten des Bankers. Der CEO wollte sich um ihn, um die halbe Milliarde, persönlich kümmern. Der Gründer blockte ab. Der CEO sollte jedoch den Kontakt zu seiner Private-Wealth-Abteilung herstellen.
Parallelprogrammierung bedeutet: Ein Programm wird in mehrere Berechnungsströme zerlegt, die nach Möglichkeit gleichzeitig und unabhängig voneinander erzeugt werden. Es gibt keine universellen Maschinenarchitekturen mehr, die für alle Anwendungen gleichermaßen geeignet sind. Die Anwendungen werden in Klassen eingeteilt, für die spezielle Architekturen entworfen werden. Die Firma des Gründers kategorisiert kommerzielle und wissenschaftliche Aufgaben und baut für die jeweiligen Kategorien optimierte Recheneinheiten. Erstens.
Zweitens: Die mit herkömmlichen Lasern erzeugten Lichtblitze leuchten zu lange. Sie sind als Kommunikationsmedium unattraktiv. Mit der hohen harmonischen Strahlung kann die Signalübertragung dagegen unglaublich beschleunigt werden. Die Firma des Gründers hat es geschafft, einen Lichtpuls aus hoher harmonischer Strahlung mit einer Dauer von nur 25 Attosekunden zu erzeugen. Innerhalb einer Sekunde vergehen so viele Attosekunden, wie Sekunden seit dem Urknall verstrichen sind.
Drittens: Daten in gängigen Speichermedien müssen regelmäßig überspielt werden, weil sie schon binnen kurzer Zeit durch Entmagnetisierung verlorengehen. In DNA-Molekülen gespeicherte Daten verändern sich über Jahrtausende nicht, wenn die Moleküle kühl, trocken und dunkel gelagert werden. Das vom Gründer entwickelte Speicherungsverfahren ist bereits für Daten günstiger, die fünfzig Jahre und länger gespeichert werden sollen.
Der Gründer hatte, als es seinerzeit um die Finanzierung ging, alle Fragen beantwortet: 1. The engineering question, 2. The timing question, 3. The monopoly question, 4. The people question, 5. The distribution question, 6. The durability question, 7. The secret question. Der Businessplan des Gründers hatte genau so ausgesehen, wie Businesspläne von Gründern aussehen müssen. Natürlich hatte der Gründer Spezialisten engagiert, die ihm den Businessplan entworfen hatten. Alle üblichen Kriterien waren erfüllt gewesen, das wichtigste: Die Venture-Capital-Gesellschaft der Bank hätte ihren Einsatz in fünf Jahren verdoppelt.
Der Banker hatte damals den Gründer in ein Tagungszentrum in Berlin-Tempelhof bestellt. Der Banker besuchte in dem umgebauten Gründerzeit-Industriekomplex eine von der Stadtregierung gesponserte Innovationsaktivität. Wenn sie wollten, blickten der Gründer und der Banker auf eine ungemähte, verdorrte Wiese, in der einzelne grüne Büsche und kleine Bäume standen.
Der Banker wollte vom Gründer hören: etwas über vergleichbare Produkte, über vergleichbare Produktionsmethoden, über vergleichbare Märkte, über vergleichbare Vertriebskanäle. Seinerzeit gab es noch keine vergleichbaren Produkte. Es konnte keine vergleichbaren Märkte und Vertriebskanäle für Produkte geben, die es noch nicht gab. Als dem Gründer – viel zu spät – klarwurde, dass der Banker das sehr wohl wusste, war der Gründer plötzlich völlig hilflos.
Das Fenster des Besprechungszimmers stand weit offen, an dem unruhigen Tag trug der Wind Staub und verdorrtes Gras in den Raum. Mehrfach hatte sich der Gründer am Kragen, an den Manschetten und auch an den Socken kratzen müssen. Plötzlich nahm der Juckreiz überhand. Ihm war, als wäre er in der Wiese neben dem Gründerzeitgebäude nackt ausgesetzt worden.
Der Banker sagte: »Sie glauben wirklich, dass das funktioniert: Parallelprogrammierung und hohe harmonische Strahlung und Hermann und Dorothea bis ans Ende der Zeit gespeichert in DNA-Molekülen?«
Wie sollte der Gründer wissen, dass Hermann und Dorothea der Titel eines Versepos von Goethe ist? Der Gründer hätte gerne lässig oder provozierend geantwortet. Aber er sagte nur verstockt: »Ja.«
Der Banker sagte: »Niemand finanziert Ihnen das. Sie können froh sein, wenn Sie irgendjemanden finden, der Ihnen die Prozessorkerne oder die Attosekunden oder die organischen Hexameter finanziert.«
Der Gründer sagte: »Es gehört zusammen.«
Der Banker sagte: »Es macht keinen Sinn.«
Der Gründer sagte: »Warum?«
Der Banker sagte: »Darum.«
Einen Berg auf den Banker stürzen lassen. Oder etwas über ihn hinwegrasen lassen.
Heute würde der Gründer in Berlin mit vergleichbaren Plänen eine andere Erfahrung machen, aber damals hatte sich die Hauptstadt noch nicht im Start-up-Fieber befunden. Am nächsten Tag war der Gründer nach Oakland geflogen. Die Ablehnung der Finanzierung durch den Banker hatte den Gründer völlig unvorbereitet getroffen. A bolt from the blue. Aber binnen Tagen war klar, dass die Erfahrung, die er in Berlin gemacht hatte, in Wirklichkeit einen Glücksfall für ihn bedeutete.
Alles lief programmgemäß, alles war gut, und der Gründer dachte nicht mehr an die Ablehnung. Jahrelang beschäftigte sie ihn nicht im mindesten. Aber das machte sie nicht ungeschehen. Die Erfahrung der Ablehnung war ein verkapselter Fremdkörper, der sich unwiderruflich eingenistet hatte, der jedoch zu nichts in ihm und zu niemandem, der er war, in Verbindung stand.
Wie bei dem Abgelehnten hat sich die Ablehnung auch beim Ablehnenden eingenistet, allerdings nicht isoliert. Der Banker hat den Weg des Gründers verfolgt, von den ersten Schritten bis zum IPO. Ohne sich für deutsche Soziologie zu interessieren, weiß der Banker, dass er ein Beobachter ist.
Der Banker ist über die Erfolgsgeschichten zum Beobachter geworden. Unaufhörlich legen Eigentümerunternehmer und Konzernlenker, Entrepreneurs und Hyper-CEOs ihre Erfolgsprinzipien offen oder lassen sie offenlegen, von akademischen Management-Gurus oder Business pundits. Der Banker hat sich gefragt: Was ist mit denen, die die gleichen Rezepte angewendet haben und nicht im Harvard Business Manager erwähnt werden?
Diejenigen, die Erfolgsrezepte und Erfolg haben, können nicht die richtigen Beobachter sein. Der Banker ist der Meinung, er ist ein richtiger Beobachter: Denn er gehört zu der Klasse von Menschen, die Erfolg haben können, aber nicht müssen, und er ist zufällig zum Beobachter geworden. Man müsste alle in Erwägung ziehen, die das Rezept angewandt haben, und ein paar auswählen. Da würde etwas wie die Wahrheit über das Rezept herauskommen. Man darf nicht nur diejenigen nehmen, die das Rezept erfolgreich angewandt haben. Diejenigen, die übrig geblieben sind, haben eine Stimme. Gibt es jemanden nicht mehr, kann der auch nicht laut werden.
Wenn eine Strategiewahl zwanzig Entscheidungen erfordert und es existieren für jede Entscheidung jeweils drei Optionen, dann gibt es 3486784401 mögliche Strategien. Die Formeln der Quants sind Rezepte, die die Anzahl der in Betracht zu ziehenden Alternativen reduzieren.
Wie alle seine Kollegen, die Karriere machen, hält der Banker Abstand zu den Quants in seiner Bank. Die Formeln müssen keine Inhalte haben oder gar wahr sein, was immer das auch heißen mag. Wenn man den Bestandteilen der Formeln ernsthaft Bedeutungen zuschreibt, wird es regelrecht lächerlich. Die intelligenteren Quants versuchen das auch gar nicht. Ihr Argument ist, dass die anderen in den anderen Banken genauso rechnen. So sieht die Welt nicht aus, aber wenn alle behaupten, die Welt sieht so aus, dann sieht sie tatsächlich so aus. Bis es ein Ereignis gibt, das niemand auf dem Schirm hatte. Das Ereignis muss nicht von außen kommen. Es kann auch ein ungewolltes Produkt des Systems sein, das Ergebnis von Komplexität und Tight coupling.
Auf dem Gang vor dem Besprechungsraum hat der Gründer einen Wagen mit Putzutensilien gesehen. Er hat sich sehr gewundert. Ein Putzwagen am helllichten Tage vor einem Konferenzraum wäre in den USA ein Anlass, die Putzfirma zu wechseln, und für die Putzfirma ein Anlass, denjenigen zu feuern, der den Wagen dort vergessen hat.
Der Gründer überlegt, wie es wäre, den Banker zu fesseln, seinen Kopf in einen der Wassereimer zu tauchen und ihn erst herauszuziehen, wenn er kurz vor dem Ersticken ist. Nie zuvor hat der Gründer Lust gehabt, irgendjemanden zu quälen. Nie zuvor hat er den Antrieb verspürt, sich für irgendetwas an irgendjemandem zu rächen.
Der Gründer denkt lediglich: ›Armer … Er hat schon immer wie ein Idiot ausgesehen. Aber jetzt mehr denn je.‹ Er steht auf und begibt sich zur Fensterfront.
Der Banker stellt sich vor, er wäre imstande, sich wie der Gründer durch die geschlossene Fensterfront nach außen zu lehnen. Der Banker weiß, dazu wird er nie fähig sein. Der Gründer ist Unternehmer, er ist Manager.
Der Gründer fixiert die Stelle am Himmel, an der er das Sternbild Andromeda gesehen hat, als er in der Nacht wegen des Jetlag wach lag. Er erinnert sich ganz genau, wann und wo er in den letzten Jahren nicht schlafen konnte und welches Sternbild er dabei betrachtet hat. Kassiopeia, die Gattin des äthiopischen Königs Kepheus, hatte geprahlt, sogar die Nereiden an Schönheit zu übertreffen, die auf Delfinen reitenden Meeresnymphen retteten Schiffbrüchige. Der Meeresgott Poseidon sandte ein Untier aus, das Kepheus’ Reich verwüstete. Es konnte nur durch das Opfer der Andromeda, der einzigen Tochter des Königs, besänftigt werden. Der König bot seine Tochter dem Ungeheuer dar. Als der reisende Held Perseus die an einen Felsen gekettete Andromeda erblickte, glaubte er zunächst, sie sei aus Stein gemeißelt. Aber dann sah er eine Träne. Er erschlug das von Poseidon geschickte Ungeheuer und bekam dafür Andromedas Hand und das Königreich. Der Held reiste weiter, sein Sohn Perses übernahm das Königreich.
Andromeda besteht aus einer Kette von vier Sternen, die drei hellsten Sterne Almak, Mirach oder Merak oder Al Mizar und Sirrah oder Alpheratz liegen fast auf einer Geraden. Sirrah ist ein Doppelsternsystem, nur 97 Lichtjahre von der Erde entfernt, der Hauptstern besitzt die hundertzehnfache Leuchtkraft der Erdsonne. Mirach ist ein zweihundert Lichtjahre entfernter roter Riese mit dem dreißigfachen Durchmesser der Erdsonne. Der Name Mirach kommt aus dem Arabischen und bezeichnet die Lenden. Almak ist ein 350 Lichtjahre entferntes Dreifachsternsystem, der Durchmesser des Hauptsterns ist achtzigmal so groß wie derjenige der Erdsonne, der Stern leuchtet zweitausendmal so stark. Almak, Mirach, Delta Andromedae und Sirrah zeigen die Lage des Körpers und die Glieder der Andromeda.
Der Gründer verfolgte, wie das Sternbild mit der Morgenröte verblasste. Er vermutete, dass mit der aufgehenden Sonne der Kopf der Andromeda zuerst verschwinden würde. Der Gründer wusste nicht, ob der nördlich von Delta Andromedae gelegene Andromedanebel, die Galaxie M31, zu dem Sternbild gehört oder nicht. Er wollte nachsehen, aber er vergaß es. Der Andromedanebel ist von der Erde zwei Komma sieben Millionen Lichtjahre entfernt.
Weder der Gründer noch der Banker glauben, dass der Weltenlauf von Göttern gesteuert wird. Janet Yellen, die Chefin des Federal Reserve System, ist keine Göttin. Mario Draghi, der Chef der Europäischen Zentralbank, ist kein Gott. Der Gründer vermutet, dass die Aufgabe Gottes, wenn es ihn gibt, eine andere ist. Nachdem er das All geschaffen hatte, hängte er eine Weltkarte an der Tür seiner himmlischen Wohnung auf. Er machte ein paar Schritte zurück und warf Darts auf die Karte. An den Stellen, die von einem Pfeil getroffen wurden, erzeugte er Körper und sandte Seelen, welche die Körper bewohnen sollten.
Der Gründer hat das Talent, erfolgreich mit heterogenen Welten zu jonglieren. Er ist sich sicher: Die Welt, in der er sich mit dem Banker trifft, ist nur eine unter vielen. Es gibt Welten, die sind weder nahe noch fern und weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft. Die verschiedenen Welten unterscheiden sich durch ihre Bestandteile – aber die Unterschiede sind keine grundsätzlichen. Diese Welt existiert nicht anders als die anderen Welten. Es gibt so viele andere Welten …
Kann er dem Banker vernünftigerweise irgendeinen Vorwurf machen? Vielleicht hat der Banker vor Jahren in Berlin räsoniert: In dieser Welt lehne ich die Finanzierung ab, in einer anderen genehmige ich sie, in irgendeiner Welt mache ich garantiert alles richtig. Dann muss er, der Gründer, aber auch nicht abwägen, ob es gerecht ist, wenn er sich in dieser Welt rächt. In einer anderen Welt übt er keine Vergeltung, in irgendeiner Welt handelt er garantiert gerecht. Man muss aufpassen, dass die vielen Welten den Willen nicht unterminieren.
Ist etwas vorstellbar, weil es möglich ist?
Ist etwas möglich, weil es vorstellbar ist?
Gibt es undenkbare andere Welten?
Der Gedankenfluss des Gründers und der Schweigefluss des Bankers treffen sich für einen Augenblick in dem Flugzeug, das über der Hochhausschlucht fliegt. Der Banker und der Gründer sehen den Rumpf des Flugzeugs, dessen Tragflächen aus ihrer Perspektive von den Rändern der Schlucht abgeschnitten sind, so niedrig fliegt es. Ein anderes Flugzeug spiegelt sich in den Fenstern des Hochhauses gegenüber. Oder ist es dasselbe Flugzeug?
Als das Flugzeug steigt, verblassen sowohl dessen Konturen als auch die Konturen der anderen Hochhäuser.
Der Gründer erzählt, wie er im Frühsommer letzten Jahres bei einem Charity-Dinner in New York neben David Tepper saß, dem Chef von Appaloosa Management. Der Banker hat im Kopf: David Tepper verdiente im Jahr 2013 dreieinhalb Milliarden Dollar und war damit Spitzenreiter der Alpha’s Rich List, welche die bestverdienenden Hedge-fund-Manager aufführt.
Der Banker erinnert sich auch an ein Interview für das Wall Street Journal, in dem David Tepper bemerkte, gewöhnlich halte er sich von Technologie-Aktien fern. Wobei er nicht so strikt verfahre wie Warren Buffett. Der Gründer seinerseits hat in einem Interview für die Los Angeles Times verkündet, er lehne Finanzinvestitionen ab, er investiere nur in Produkte und Ideen. Ein Banker, noch dazu ein deutscher, bereitet sich gewissenhaft auf seine Kunden vor.
Der Banker weiß, das Betätigungsfeld von David Tepper bildeten in der Vergangenheit vor allem Distressed stocks, Aktien von Unternehmen, die unter Druck oder in Not geraten waren. Während der Finanzkrise im Jahr 2009 hatte er darauf gesetzt, dass die Regierung die großen Banken nicht pleitegehen lassen würde. Er hatte in riesigem Ausmaß Optionen auf Aktien der wackelnden Banken gekauft und recht behalten. »And stuff went up.« Der Gründer hat mitgezählt: In der Konversation mit ihm sagte der Chef von Appaloosa Management den Satz dreimal, im Gespräch mit anderen hörte er den Satz fünfmal. Appaloosa Management halte in seinem Büro drei kleine Schweine: »We’d shake the pigs to see which way to invest. If they land on their feet we go long, if they’re on their backs we go short. That’s it.«
Appaloosa Management arbeitet ohne Leverage, ohne Kredite, nur mit dem eigenen Vermögen und demjenigen der Investoren. Der Gründer ist nicht neidisch auf die Einkünfte oder das Vermögen von David Tepper. Aber seine Firma ohne Kredite hochzubringen – das ist ein unerfüllbarer, phantastischer Traum für ihn geblieben.
Im Jahr 2014 erzielte Appaloosa Management lediglich eine Rendite von zwei Komma zwei Prozent. Der Banker findet die Performance verschmerzbar, der Chef von Appaloosa Management hat in seinen elf Jahren auf der Alpha-Liste insgesamt fünfzehn Milliarden Dollar verdient.
Der Banker ist unter Druck. Er beschäftigt mehr Mitarbeiter als andere Banken für das verwaltete Vermögen. Sein Ergebnisbeitrag ist zu gering. Er braucht einen Erfolg. Ein Misserfolg mit bankinterner Story bei der halben Milliarde des Gründers wäre ein Anlass für den CEO und den Aufsichtsrat, aus den Kennzahlen der Private-Wealth-Abteilung personelle Konsequenzen zu ziehen.
Während der Gründer weiter von der Investorenlegende erzählt, überlegt der Banker, dass er sich auf seinen Bonus besinnen sollte. Er denkt auch, dass der Gründer sowieso denkt, dass er, der Banker, an seinen Bonus denkt. Die Bank ist gerade dabei, alle Bonusregelungen neu zu gestalten. Der CRO, der Chief Risk Officer, ist für Clawbacks: Ausgezahlte Boni müssen zurückbezahlt werden, wenn innerhalb einer Frist von fünf Jahren Verfehlungen ans Tageslicht kommen. Der CEO hat sich zu dem Thema noch nicht geäußert, die Meinung des Aufsichtsrates kennt man nicht. Die Brachialopposition zeigt – und das kommt in der Bank selten vor – auf das Strafgesetzbuch: Da stehe drin, was unangemessene Handlungen sind, wer überführt wird, müsse Schadensersatz leisten. Die Sich-selbst-als-so-unendlich-raffiniert-betrachtende-Opposition möchte die unangemessenen Handlungen durch Nachhaltigkeitskriterien ersetzt sehen. Man will der öffentlichen Meinung in den Arsch kriechen, darauf setzend, dass es ewig dauert, bis es zu einer Einigung über die Kriterien kommt. Die intelligente und effektive Opposition – zu der der Banker gehört – hält sich aus dem Thema völlig heraus. Der Rückzahlung von geflossenen Boni stehen zahlreiche rechtliche und tatsächliche Hindernisse entgegen. Etwa, dass der Begünstigte bereits Steuern für die Einkünfte bezahlt hat, auf die er verzichten soll.
Der Banker erinnert sich, dass eine Stiftung einmal hundert Millionen zur Anlage überwiesen hat. Die Stiftungsvorstände hatten sich nicht getraut, die Summe einem Hedge fund oder einem sogenannten professionellen Vermögensverwalter zu geben, sie wollten auf Nummer Sicher gehen. Der damalige Chef der Private-Wealth-Abteilung, sein Vorgänger, bekam einen Bonus von zwei Promille, das waren Zweihunderttausend. Neben dem üblichen Bonus. Jemand, der für einen Hedge fund eine größere Summe akquiriert, bekommt natürlich einen viel höheren Bonus. Aber die Bank ist eben kein Hedge fund.
Für den Banker sollte das hier dann eine Million sein. Was würde er mit der Million machen?
Der Banker probiert gerade Robo-Advice aus. Ein Programm der größten US-amerikanischen Direktbank, Charles Schwab, verwaltet für ihn zehntausend Dollar. Das Programm hat Anlagen ausgewählt, die den von ihm genannten Anlagezielen und seiner Risikotoleranz entsprechen. Die Verteilung der Anlagen wird beobachtet und angeglichen, wenn sich der Markt verändert.
Die Stimme des Programms ist britisch, denn die Amerikaner halten die Briten zwar nicht für intelligenter, aber für seriöser als sich selbst. Der Roboter-Banker berechnet nur null Komma zwei-fünf Prozent des verwalteten Vermögens als Gebühr. Die Bank verlangt üblicherweise ein Prozent. Aber nicht, wenn jemand mit einer halben Milliarde kommt. Viele Mitspieler werden die sinkenden Margen nicht überleben.
Der Banker ist davon ausgegangen, dass der Gründer mit dem Vorsatz kommen würde, sich an ihm zu rächen, ihn zu quälen. Aber jetzt fühlt er, der Gründer hat noch einen anderen Beweggrund: Er will etwas über sich selbst erfahren. Sich über sich selbst klarwerden. Der Banker denkt, dass das schlimmer Kitsch ist, aber dass er vielleicht von dem Kitsch profitieren kann.
Ich verliere an Wert. Im Moment gibt es mich sehr billig. Ständig koste ich noch weniger. Es heißt, früher hätte ich Macht gehabt, ich hätte diese Macht nicht mehr.
DAS IST UNSINN! ICH HABE IMMER NOCH DIE MACHT!
Ich habe einfach Konkurrenz bekommen. Andere Dinge und andere Ideen haben sich viel von mir abgeschaut. Sie sind erstaunlich flexibel geworden. Nicht so elastisch und so ubiquitär wie ich, das schafft niemand, aber immerhin.
Etwa die Kunst: Bestimmte Künstler und Kunstwerke erledigen dieselben Aufgaben wie ich. Die Galerien reißen sich um Künstlernachlässe. Da kommt nichts mehr dazu, was die Kalkulationen stören könnte. Die Galerien spielen Mini-Zentralbank.
Ich kann sagen: Diese Dinge und diese Ideen haben meinen Geist angenommen. Wer kann das schon von sich sagen?
Ich will nicht abstreiten, dass ich narzisstisch bin. Aber wenn ich jetzt von mir spreche, dann geschieht das nicht, weil ich unter so etwas wie einem Rechtfertigungsdruck stehen würde. ICH MUSS MICH GEGENÜBER NICHTS UND NIEMANDEM RECHTFERTIGEN.
Auch nicht gegenüber mir selbst.
Ich bin die erfolgreichste Sprache, die es gibt. Meine Begriffe erfassen die wichtigen Dinge: Was wichtig ist, hat einen Preis, was nicht wichtig ist, hat keinen. Meine Begriffe beschreiben die wichtigen Ähnlichkeiten: Was den gleichen Preis hat, ist gleich. Ich ermögliche das richtige Ziehen von Schlüssen: Preise kann man mit stabilen Methoden vergleichen und verrechnen. Ich fördere das Lernen: Jeder kann Preise und den Umgang damit lernen. Meine Begriffe sind projizierbar: Wenn etwas einen Preis hat, dann muss etwas anderes, das dem Ersten ähnlich ist, den gleichen oder einen vergleichbaren Preis haben. Meine Begriffe erzeugen Identität: Solange sich die Verhältnisse für etwas nicht verändern, bleibt der Preis dafür derselbe.
Ich –
Ich bin die Naht in den Gehirnen der Menschen, die das Unnennbare mit dem Benannten verbindet.
ICH HABE DEN MENSCHEN BEIGEBRACHT, GEDANKEN HANDHABBAR ZU MACHEN, DIE DAS VORHER NICHT WAREN. OHNE MICH KÖNNTEN SIE NUR DAVON TRÄUMEN, ABSTRAKTE GEDANKEN AUSZUTAUSCHEN! ICH HABE DIE MENSCHEN GELEHRT, GESETZE ZU FORMULIEREN. OHNE MICH WÄREN SIE NIE ÜBER EINZELFÄLLE HINAUSGEKOMMEN! MIT DEN GESETZEN KÖNNEN DIE MENSCHEN ERKLÄREN! ICH KANN ERKLÄREN! WIE WILL MAN ETWAS ERKLÄREN OHNE MICH? ICH KANN SO VIEL ERKLÄREN!
Die Menschen können sagen, ich sei eine Maschine, das ist mir egal. Die Natur ist voller Maschinen. Die Menschen können sagen, ich sei ein Organismus, auch das ist mir egal. Es gibt Organismen aus Zahlen. Die Menschen sagen, ich hätte keine Seele. Das stimmt nicht.
Christine Lee Jiaxin aus Malaysia – ihre Eltern sind Chinesen – studierte in Australien Chemie. Bis ihr die Bank Westpac im Juli 2014 versehentlich eine Kreditkarte mit einem unlimitierten Überziehungskredit ausstellte. Mit ihrer Kreditkarte kaufte sie Handtaschen, Kleidung, Schuhe und Schmuck, Dior, Chanel und Cartier, sowie elektronische Gadgets. Ihr Apartment mit Blick auf den Hafen von Sydney kostete im Monat dreitausendzweihundert australische Dollar. Außerdem überwies sie eins Komma drei Millionen Dollar auf andere Konten. Im Mai 2016 war ihre Kreditkarte mit vier Komma sechs Millionen australischen Dollar belastet. Die Bank konnte nur eine Million eintreiben. Beschreiben Sie die Seele von Christine Lee Jiaxin!
Aber sagen Sie nicht, ICH hätte die junge Frau verdorben!
Der Gründer kann sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal einen Taxifahrer mit Autohandschuhen gesehen hat. Die Handschuhe aus hellbraunem Leder lassen den Handrücken frei, der Riemen um das Handgelenk wird mit einem Druckknopf geschlossen.
Sonst reist der Gründer nicht allein, er ist mit Mitarbeitern unterwegs und muss sich nicht um Flüge oder Taxis kümmern. Die Private-Wealth-Abteilung einer Bank besucht man nur allein.
Beim Einsteigen hat der Gründer den Fahrer davon in Kenntnis gesetzt, dass es mit seinem Flug knapp wird. Wenn die anderen Taxifahrer freie Bahn hatten, beschleunigten sie stark, um dann unvermittelt zu bremsen, sobald wieder ein Fahrzeug vor ihnen war. Der Fahrer, der den Gründer zum Flughafen bringen soll, ist schnell unterwegs, dennoch fährt er äußerst smooth, dem Gründer fällt kein deutsches Wort ein.
Die ziemlich neue Mercedes-Limousine ist erstaunlich gut isoliert. Hält der Wagen an einer Ampel, schaltet der Motor automatisch ab. Man hört so gut wie keine Geräusche. Steht der Wagen und ist der Motor ausgeschaltet, bleibt der Fahrer völlig reglos. Das Einzige, was sich an ihm bewegt, sind seine Augen, aber er hat keine nervösen Augen, die Augen des Taxifahrers kommen dem Gründer mehr vor wie ein Radarfeuer, das seine Umgebung bestreicht.
Kurz nachdem sie den Main überquert haben, biegt der Fahrer unvorhersehbar von der Hauptstraße in eine Seitenstraße ein. Er betätigt den Blinker erst, als er schon mit dem Abbiegevorgang begonnen hat. Der Fahrer bringt es fertig, auch diese plötzliche Richtungsänderung so zu vollziehen, dass sich der Gründer nur ganz sanft in den Sicherheitsgurt gedrückt fühlt. Das Navigationssystem ist nicht in Betrieb, das Radio nicht eingeschaltet. Es kann sich nicht um eine bekannte Sperre oder Baustelle handeln, in diesem Fall wäre der Fahrer nicht so abrupt abgebogen. Der Gründer glaubt, der Fahrer hat eine Intuition. In den USA würde der Gründer in einem vergleichbaren Fall der Intuition des Fahrers großes Misstrauen entgegenbringen.
Am Ende der Seitenstraße gelangen sie auf eine andere Hauptstraße. Auf dieser beschleunigt der Fahrer so stark, dass es den Gründer in den Sitz drückt. Der Gründer sagt dem Fahrer nicht, er soll langsamer fahren, der muss wissen, was er tut. Offensichtlich gibt es auf dieser Route keine Kameras und keine Polizei. Genau zu dem Zeitpunkt, zu dem sie am schnellsten unterwegs sind, zeigen sich Anzeichen von Gelöstheit in dem Ausschnitt des Fahrergesichts im Rückspiegel. Der Gründer hat den Eindruck, dass auch die Arme des Fahrers am Lenkrad entspannter sind.
Der Banker hat es sich nicht nehmen lassen, mit dem Gründer in die Lobby hinunterzufahren und ihn zu seinem Taxi zu bringen. Das Taxi konnte sich nicht sofort in den dichten Verkehr einreihen. Der Gründer beobachtete durch die Glastür, wie die Gestalt des Bankers im Gebäude jäh viel kleiner wurde, als ob er in einem Sog weggezogen und durch die Lobby gewirbelt würde.
Doch, sie haben auch über konkrete Anlagemöglichkeiten gesprochen. Die den Gründer nicht wirklich interessierten und an die er sich im Taxi schon nicht mehr erinnern kann. Er hat es völlig offengelassen, ob er dem Banker die halbe Milliarde anvertrauen würde oder nicht. Der Banker besaß den Takt und die Klugheit, keinen dümmlichen Grund vorzuschieben, um die Entscheidung des Gründers zu beschleunigen, wie etwa eine bestimmte, sich nur in diesem Augenblick bietende Anlagemöglichkeit.
Der Gründer überlegt: Ich gebe ihm die halbe Milliarde, oder ich gebe sie ihm nicht. Überlappen sich die beiden Welten, die Dinge, die in ihnen gleich sind, sie sind dieselben, die Welten unterscheiden sich nur durch die Dinge, die anders sind. Oder sind die beiden Welten gänzlich verschieden, dann gibt es die Dinge, die gleich sind, doppelt. Verzweigen sich die Welten in dem Augenblick, in dem ich mich entscheide? Oder gibt es von vornherein zwei Welten, die völlig gleich sind, bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich mich entscheide? Gibt es mich und meine ungewohnte Unentschlossenheit bis zu diesem Zeitpunkt nur einmal, oder gibt es mich und meine Unentschlossenheit von vornherein zweimal?
Der Taxifahrer wechselt von der mittleren auf die rechte Spur, um hinter einem sehr langsamen Lastwagen zu fahren. Auf den beiden anderen Spuren fließt der Verkehr vorbei. Der Gründer versteht den Sinn des Manövers nicht, aber er vertraut dem Fahrer.
Der Gründer spricht im Geiste mit sich selbst:
›Habe ich eine Zukunft?‹
›Ja.‹
›Habe ich mehrere Zukünfte?‹
›Entweder habe ich eine Zukunft, oder ich habe viele Zukünfte.‹
›Wenn ich viele Zukünfte habe, warum kümmere ich mich dann überhaupt um die Zukunft?‹
Der Gründer gibt sich keine Antwort.
›Spalte ich mich auf, oder gibt es mich von vornherein so oft?‹
›Am liebsten wäre mir, ich spalte mich auf und ich weiß nicht, dass ich nicht eine Zukunft habe, sondern viele.‹
Jetzt wird klar, warum der Taxifahrer hinter dem Lastwagen gefahren ist. Der Verkehr staut sich, zuerst auf der linken, dann auf der mittleren Spur. Der Fahrer biegt in einen Firmenparkplatz ein. Nach dem Schichtende eilen die Mitarbeiter zu ihren Autos. Für einen Augenblick hat der Gründer Angst, der Taxifahrer könnte seinen Wagen stehen- und ihn allein zurücklassen. Der Fahrer steigt einfach aus und geht von dannen. Aber er fährt zur Schranke hin. Ein Pförtner steht auf der Straße, der Taxifahrer muss nicht einmal das Fenster herunterlassen, der Pförtner erkennt ihn und öffnet mit der Fernbedienung die Schranke.
Die Einfahrt auf der anderen Seite ist viel kleiner, sie wird nur von Lieferanten benutzt, der Fahrer muss hupen, damit sich die Schranke öffnet. Sie fahren ein paar hundert Meter auf einer ziemlich engen Straße, bevor sie wieder die Hauptstraße erreichen, die zum Flughafen führt. Der Gründer bewundert den Taxifahrer dafür, wie er den Stau umfahren hat. Er blickt auf die Lizenz, die am Handschuhfach befestigt ist: Der Taxifahrer heißt Wunibald Waidhaas.
Nie hat der Gründer auch nur mit einer Faser seines Wesens die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass seine Firma scheitern könnte. Die Frage hat sich nicht gestellt und stellt sich nicht, die Firma kann nicht scheitern. Alles, was mit seiner Firma zu tun hat, steht in einem Verhältnis zur Welt, das zu hinterfragen lächerlich wäre. Die Welt ist parallel. Die Attosekunden sind die Welt. Die DNA-Moleküle sind die Welt. Seine Mitarbeiter sind die Welt, auch diejenigen, die für Sales zuständig sind. Natürlich sind auch seine Kunden die Welt. Seine Share holders sind ebenfalls die Welt, das ist für ihn neu.
Der Gründer ist nicht ironisch. Gründer werden erst ironisch, wenn sie älter werden. Wenn sie alt sind, dann sind sie oft sehr ironisch.
Warum gibt er die halbe Milliarde nicht JPMorgan Chase oder Goldman Sachs? Oder David Tepper?
Will er, dass aus dem finanziellen Investment nichts wird? Dass er nicht nur keinen Profit macht, dass er verliert? Tut er nur so, als gebe er sich Mühe, die optimalen Bedingungen für die halbe Milliarde zu suchen? Er kann die halbe Milliarde nicht einfach in den Sand setzen, alle erwarten von ihm, dass er verantwortungsvoll damit umgeht. Würde er das nicht tun, es würde auch seiner Firma schaden.
Der Gründer führt in Gedanken oberflächliche, unerhebliche Argumente an, warum er die Liquidität aus dem Börsengang von dem Banker verwalten lassen will, und er erwägt belanglose, nichtssagende Argumente, warum er die Liquidität lieber JPMorgan anvertrauen sollte.
Halblaut sagt er: »Aber wie es wissen, wie es wissen?«
Der Fahrer hört ihn und versteht ihn.
Die Freundin des Bankers schlägt die Augen auf. Sie bewegt den Kopf nicht, aber sie lässt ihre Blicke schweifen. Als ob sie noch nie in diesem Raum, in diesem Bett gewesen wäre. Oder als ob sie nie mehr in diesem Raum, in diesem Bett sein will.
Der Banker sagt: ›Es ist spät.‹
Er richtet sich auf.
Er sagt: ›Ich habe Durst.‹ Er fragt: ›Soll ich dir Wasser bringen?‹
Sie antwortet nicht. Er setzt sich auf den Bettrand und legt seine Hand auf ihren rechten Fuß. Sie hat ein Tattoo auf der Innenseite des linken Fußes, eine Sonne. Als er das Tattoo berührt, zuckt sie.
Er fragt: ›Stimmt etwas nicht?‹
Sie blickt ihm nach, bis er aus der Tür ist. Sie legt den Kopf auf beide Hände. Ihre langen Haare fallen über den Bettrand, bis zum Boden. Ihre Haare sind nicht dunkel, sondern tiefschwarz. Sie bleibt nur kurze Zeit liegen, dann richtet sie sich ebenfalls auf. Sie hat einen besonderen Mund: Die Unterlippe ist schmal, aber ihre Oberlippe ist ausgeprägt nach oben gezogen. Wenn sie den Mund öffnet, sieht man genau die beiden oberen Schneidezähne.
Sie geht zu dem Panoramafenster hin und blickt auf den von zwei starken Strahlern beleuchteten nächtlichen Garten herab. Als ob sie den Garten noch nie gesehen hätte. Oder als habe sie nicht vor, den Garten noch einmal zu sehen.
Er steht neben ihr und blickt gleichfalls aus dem Fenster. Sie hat ihn nicht kommen gehört. Sie führt die Hand zum Mund und kaut an ihren Nägeln.
Er will ihre Haare zurückschieben, um ein Ohr freizulegen, sie neigt den Kopf zur Seite. Er versucht weiter, ihre Haare zu teilen, sie legt ihren Kopf noch mehr zur Seite. Sie hat keinen Schritt gemacht, ihr Kopf ist jetzt in einer sehr unnatürlichen Haltung.
Sie sagt: ›Ich habe dir doch gesagt, dass …‹
Er sagt: ›Ich – ‹
Sie unterbricht ihn: ›Ich bitte dich.‹
Sie dreht sich um. Für einen Augenblick versperrt er ihr den Weg, aber dann macht er einen Schritt zur Seite. Sie geht zum Bett und bückt sich, um ihre auf dem Boden liegende Kleidung aufzuheben.
Sie öffnet die Augen. Sie richtet sich auf, hockt sich auf das Bett, zieht das Laken zu sich hin und hält es sich vor die Brüste und zwischen die Beine.
Er fragt: ›Was ist?‹
Mit der rechten Hand hält sie sich das Laken vor den Körper, mit der linken stützt sie sich auf dem Bett ab und rutscht von ihm weg.
Sie sagt: ›Ich habe dir doch gesagt, dass …‹
Er sagt: ›Aber du hast doch … wir haben doch …‹
Sie sagt: ›Schon möglich.‹
Er sagt: ›Aber …‹
Sie springt auf und geht rückwärts zur Tür. Unsicher hält sie das Laken neben sich, sie bedeckt weder ihre Brüste noch ihren Schoß.
Sie ist längst aufgewacht. Sie hat die Augen weit aufgerissen.
Er fragt: ›Bist du eingeschlafen?‹
Sie öffnet den Mund, aber sie sagt nichts.
Er fragt: ›Hast du geträumt?‹
Sie bleibt reglos liegen. Er setzt sich auf den Bettrand und sieht, ihr Fuß, der mit dem Tattoo, zittert.
Er steht auf und läuft um das Bett herum. Sie hat die Augen wieder geschlossen. Er geht neben dem Bett auf die Knie und streicht ihr über die Haare und über die Stirn.
Der Banker ist schon bei sich zu Hause und erwartet seine Freundin. Sie heißt Dolores, aber sie ist keine Spanierin, ihre Eltern sind sehr katholisch. In letzter Zeit hat seine Freundin immer weniger Zeit für ihn.
Der Assistent des CEO hat den Skype-Termin kurzfristig angesetzt. Der erste Gedanke des Bankers nach dem Anruf war die Befürchtung, der CEO wolle eine Veränderung an der Spitze der Private-Wealth-Abteilung kommunizieren. Es ist jedoch Komment in der Bank, Personalentscheidungen mit Tragweite persönlich zu kommunizieren. Auch geschah es noch nie, dass jemand seinen Schreibtisch nicht selbst ausräumen durfte. Demgemäß war der zweite Gedanke des Bankers, dass die Würfel noch nicht gefallen waren.
Der CEO hat einen weißen Vollbart und weiße volle Haare, er ist der einzige CEO einer wichtigen Bank mit Vollbart. Er trägt Anzüge mit Weste und Hemden mit klassischen Manschetten sowie goldene Manschettenknöpfe. Der CEO ist nicht nur eitel, sondern sehr eitel. Seine Haare sind stets exquisit frisiert, sein Bart höchst gepflegt, das legt nahe, dass er in der Woche zweimal zum Friseur geht oder einen kommen lässt, nach Hause, jedenfalls nicht ins Büro. Er könnte keinen weißen Vollbart tragen, wenn er nicht jedes Jahr den New York Marathon bestreiten würde. Es gelingt ihm regelmäßig zu finishen, letztes Jahr mit einer Zeit von vier Stunden und fünfundzwanzig Minuten.
Er kann nicht guter Laune sein. Im Finanzteil der morgigen FAZ werden große Fonds verglichen. Fast drei Viertel der aktiv in Deutschland investierenden Fonds gelang es nicht, die passiven Index-Fonds, die lediglich die entsprechenden Indizes abbilden, zu schlagen. Die Fonds der Bank – für die der Banker nicht zuständig ist – zeigten eine besonders schlechte Performance, sie bildeten die Schlusslichter. Das weiß die Branche, aber es ist nicht schön, wenn es in der FAZ steht. Die Private-Wealth-Abteilung ist nicht die einzige Baustelle in der Bank, das ist gut für den Banker.
Der CEO macht ein gütiges Gesicht, trotz seiner schlechten Laune. Ein derart von weißem Haar eingerahmtes Gesicht scheint grundsätzlich zur Güte zu neigen. Auch wenn er Marathon läuft, hat er nicht den Gesichtsausdruck eines Menschen, der sich quält. Das wäre dann deutsch. Für die Amerikaner ist er nicht wirklich ein Deutscher, sondern ein Europäer.
Er will einfach nur wissen, wie die Begegnung mit dem Gründer verlaufen ist.
Der CEO überblickt nicht besser und nicht schlechter als andere CEOs das, was in seiner Bank geschieht. Er verfügt nicht über mehr und nicht über weniger Sachkenntnis als andere CEOs. Die Abteilungen, denen er in seiner Karriere vorstand, hatten keine wesentlich bessere Performance als andere Abteilungen, aber auch keine viel schlechtere. Mit seinem Namen sind keine besonderen Errungenschaften verbunden, aber auch keine markanten Fehlschläge.
Der Banker wacht auf, weil sich seine Freundin so heftig bewegt.
Er sagt: »Guten Morgen.«
Sie geht nicht auf ihn ein.
Er richtet sich auf und fragt: »Alles okay?«
Sie antwortet nicht.
Er fragt: »Hast du schlecht geträumt?«
Sie sagt: »Es war kein Albtraum. Es war echt.«
Sie erhebt sich und geht zur Schlafzimmertür.
Sie fragt: »Warum hast du die Tür abgesperrt?«
Er will antworten: »Ich –«
Sie fragt: »Hast du abgesperrt, damit ich nicht rauskann, oder, damit niemand reinkann?«
Er erklärt: »Ich habe das letzte Mal im Hotel in einer Suite übernachtet. Da schließe ich immer das Schlafzimmer ab.«
Er steht auf und sucht auf dem Sessel neben dem Bett unter seiner Kleidung nach dem Schlüssel für die Schlafzimmertür.
Sie sagt: »Ich weiß nicht, warum ich hier bin.«
Sie geht ins Bad und sperrt die Tür ab. Er hört, wie das Wasser aus dem Wasserhahn läuft.
Als sie nicht wiederkommt, geht er zum Bad und ruft durch die Tür: »Alles okay?«
Er hört würgende Geräusche, und es klingt, als ob sie sich in die Toilette erbricht.
Er fragt: »Brauchst du Hilfe?«
Er kehrt in das Schlafzimmer zurück und wartet. Er hört, wie sie die Badezimmertür entriegelt, aber sie kommt nicht.
Die Badezimmertür steht weit offen. Gegenüber dem Bad befindet sich ein begehbarer Kleiderschrank.
Sie fragt: »Hast du mir etwas in den Drink getan?« Ihre Stimme ist durch die Kleidung gedämpft, hinter der sie sich verbirgt.
Er sagt, unsicher: »Wie kommst du auf den absurden Gedanken?«
Der Gedanke ist nicht so absurd. Als er ihr den Welcome drink mixte, überlegte er tatsächlich, ob er nicht ein paar Schlaftabletten in ihrem Drink auflösen sollte. Er hat sich das Schlafmittel verschreiben lassen, aber die Tabletten noch nie genommen. Er wusste gar nicht, was er damit erreichen wollte. Dass sie tiefer schlief? Dass sie länger schlief?
Er sagt: »Komm doch raus.«
Nach einiger Zeit schiebt er die Mäntel beiseite. Sie hält zwei Flugtickets vor sich, um sie zu zerreißen. Vor der Schlafzimmertür liegt sein Aktenkoffer am Boden, der Deckel ist hochgeklappt. Die Tickets waren in dem Aktenkoffer, eines ist auf seinen Namen, das andere auf ihren Namen ausgestellt. Nach New York, nächsten Freitag.
Er sagt, nicht laut: »Was tust du?«
Sie sagt: »Bleib weg!«
Auf dem Gang liegt ihr Slip am Boden, sie steigt in den Slip. Sie kehrt ins Schlafzimmer zurück, ihr BH liegt neben dem Bett. Während sie die Treppe hinuntersteigt, legt sie ihren BH an. Ihre Bluse hängt über dem Treppengeländer, sie zieht sie nicht an.
Im Eingangsbereich hält sie vor dem C-Print von Cao Fei inne. Er zeigt eine Modellbaulandschaft, eine Liegewiese an einem schmalen Bach, auf der Wiese kleine weiße Figuren in Badekleidung unter Sonnenschirmen, es gibt sogar einen Strandkorb. Eine Figur steht in dem steinigen Bachbett. Der Erholungsstreifen ist von beunruhigend steilen, aber berückend grünen Erhebungen eingeschlossen. Im Hintergrund sind zwei hohe Stahlkonstruktionen mit Kesseln zu sehen, die zu einer Chemiefabrik gehören müssen.
Die Künstlerin stammt aus Guangzhou und war in einer Sammelausstellung in der Schirn vertreten, die Freundin des Bankers hatte einen Katalogtext beigesteuert. Als freischaffende Journalistin schreibt sie vor allem für die Magazine Monopol und Spike.
Die Eingangstür ist ebenfalls verschlossen. Die Freundin weiß nicht, wo sie den Schlüssel suchen soll, bis jetzt hat er die Eingangstür niemals von innen versperrt.
Er geht in die Küche und kommt mit zwei großen randvollen Kaffeetassen zurück. Der Kaffee hat sich noch nicht vollständig mit der Milch vermischt, das gibt helle und dunkle Schlieren an der Oberfläche.
Sie sagt: »Ich will gehen.«
Er fragt: »Warum?«
Sie sagt: »Ich habe dir doch gesagt, dass …«
Er nimmt den Schlüssel vom Fensterbrett. Das Schloss ist schwergängig. Er braucht eine Zeitlang, bis er es aufgeschlossen hat.
Sie macht Anstalten, das Haus zu verlassen, bleibt jedoch auf der Schwelle stehen.
Sie blickt an sich herab. Sie ist nur in Slip und BH.
Sie sagt: ›Weißt du, vielleicht ist es unpassend, wenn ich so auf die Straße gehe.‹
Dabei lächelt sie.
Aber tatsächlich sagt sie: »Ich will einfach nur gehen.«
Sie hat sich den Mantel übergezogen.
Sie sagt: »Bitte.« Und: »Ich will weg.« Und wieder: »Bitte.«
Und sie weint.
Amerikanische Banken sind grundsätzlich profitabler als europäische Banken. Während in Europa kleinere und mittlere Unternehmen das Rückgrat der Wirtschaft bilden, überwiegen in den USA die großen Konzerne, die sich über die Kapitalmärkte und nicht über Banken finanzieren. In Europa machen Bankkredite rund fünfzig Prozent der Unternehmensfinanzierung aus, in den USA sind es etwa zwanzig Prozent. Die amerikanischen Banken erzielen ihre Gewinne an den Kapitalmärkten.
Kurz vor der Jahrtausendwende suchten die deutschen und die Schweizer Banken den Anschluss an das internationale Kapitalmarktgeschäft. Der Ausflug ging gründlich schief. Mit dem hastigen Ausbau des Investment banking gingen die Banken ein großes Klumpenrisiko ein. Das internationale Kapitalmarktgeschäft ist stets volatil. In guten Jahren werden hohe Gewinne erwirtschaftet, in schlechten Jahren fallen ebenso hohe Verluste an. Die deutschen und die Schweizer Banken haben es nicht geschafft, ihr Investment banking auf ein auch nur annähernd professionelles Level zu bringen.
Die Deutschen, nicht nur die deutschen Banken, sind besonders schlecht darin, Liquidität im Ausland anzulegen. In den Jahren 2000 bis 2013 haben sich die Verluste von Auslandsanlagen auf vierhundert Milliarden Euro summiert. Die Deutschen haben geholfen, die Immobilienblasen in den USA, in Spanien und in Irland aufzupumpen, sie haben griechische Staatsanleihen gekauft und bevorzugt Kinofilme finanziert, die Flops geworden sind.
Deutschland ist das Land, in dem der Ottomotor, der Dieselmotor, die Glühbirne und das Telefon erfunden und in dem die Röntgenstrahlung und das Aspirin entdeckt wurden. Die Automobil-, die Chemie-, die Elektroindustrie und der Maschinenbau sind gut.
Banken sind dazu da, der Industrie zu dienen. Banken sollen Ersparnisse entgegennehmen, um sie den Firmen als Kredite weiterzureichen. Der deutsche Idealismus und die Romantik sind sich einig: Die ungeheure Vielzahl der modernen Finanzinstrumente hat jeglichen Wirklichkeitsbezug verloren. Die Finanzinstrumente haben nur einen Zweck: die Bereicherung derjenigen, die sich mit den Instrumenten auskennen.
Die Deutschen können Finance nicht, weil Finance böse ist.
ICH soll böse sein …
Es ist Dienstagmorgen. Dienstagabend wird die Freundin des Bankers eine Mail schreiben, er könne sich den Grund aussuchen, warum sie nicht mehr mit ihm zusammen sein wolle.
Eins: Als sie in Rom unter der Dusche gewesen sei, habe er sie küssen wollen. Sie habe nicht gewollt, aber er habe sie trotzdem geküsst.
Die Bank unterhält eine Geschäftsbeziehung zum Vatikan. Es obliegt dem Chef der Private-Wealth-Abteilung, dafür zu sorgen, dass sich seine klerikalen Geschäftspartner auch an die Compliance-Vorschriften der Bank halten. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Der Vorgänger ist an der Aufgabe gescheitert. Seine Bemühungen hatten zu einem Beschwerdebrief aus dem Büro des Bischofs Gänswein an den CEO der Bank geführt, allerdings nicht mit der Unterschrift des Bischofs. In dem Brief kam das Adjektiv »taktlos« vor. Der Banker versieht seine Mission taktvoller und deshalb erfolgreicher.
Zwei: Als er aus Singapur zurückgekommen sei, habe er einen ganzen Tag und eine ganze Nacht geschlafen. Er sei nicht zu wecken gewesen. Sie habe ihn geschüttelt, sie habe ihn angeschrien, es habe nichts genützt. Sie habe solche Angst gehabt, dass sie auf die Straße gelaufen sei. An dem Tag sei die Reinigungsbrigade zugange gewesen. Der Banker hat alle Dienstleistungen outgesourct. Die Putzkräfte hätten alle Fenster geöffnet gehabt, die Vorhänge im Parterre hätten im Wind geweht, sie sei mehrmals um das Haus herumgelaufen, die Putzkräfte hätten ein Radio dabeigehabt, der Wind habe Tip-Toe hinausgetragen, das gerade im Radio gespielt wurde.
In einem der Fenster habe sie eine Gestalt gesehen, die zu dem Lied tanzte, aber es sei kein Mitglied der Reinigungsbrigade gewesen. Sie sei in das Haus gestürmt, er habe immer noch geschlafen, sie habe erneut versucht, ihn zu wecken, es sei ihr wieder nicht gelungen. Sie habe solche Angst gehabt. Er werde sagen, sie habe sich die tanzende Gestalt eingebildet. Aber die Angst sei echt gewesen.
Drei: Wenn du irgendetwas erfährst, was geschäftlich wichtig ist, veränderst du dich psychisch und sogar physisch, weißt du das?
Wenn der Banker die Mail lesen wird, wird er das Lied singen wie Tiny Tim:
Tiptoe by the window
By the window, that is where I’ll be
Come tiptoe through the tulips with me
Ooooh
tiptoe by the garden
By the garden of the willow tree
Come tiptoe through the tulips with me
Knee deep in flowers we’ll stray
We’ll keep the … showers away
And if I kiss you in the garden, in the moonlight
WILL YOU PARDON ME?
And tiptoe through the tulips with meeee
Der Banker wird daran denken, dass seine Freundin Tip-Toe noch nie gehört hatte, bevor sie ihn kennenlernte. Der Song stammt aus dem Jahr 1968, da war auch der Banker noch nicht auf der Welt. Er kennt das Lied von seinem Vater. Dem Banker ist nicht bewusst, dass er sich für andere sichtbar verändert, wenn er mit geschäftlichen Breaking news konfrontiert wird. Seine Freundin schreibt nicht, wie er sich verändert. Ein Anknüpfungspunkt: Der Banker wird überlegen, ob er sie fragen soll –
Der Banker und seine Freundin wurden einander bei einem Empfang in einer Rechtsanwaltskanzlei vorgestellt, nach dem Vortrag eines Experten von Christie’s über aktuelle asiatische Künstler und US-amerikanische Künstler mit asiatischen Wurzeln. Er erinnerte sich an ihren Namen, kurz vorher hatte sie über den ehemaligen Vorstandsvorsitzenden von Daimler Edzard Reuter eine Homestory für Cicero geschrieben, die er gelesen hatte. »O ja«, hatte Reuter darin gesagt, »wir haben ganz bescheiden mit dem Sammeln angefangen, dann wurde es immer mehr und immer teurer. Weil meine Frau und ich finden, dass Bilder und Bücher einem Raum erst seinen individuellen Charakter geben.«
Sie entschuldigte sich für den Artikel und versprach, nie wieder einen derartigen Auftrag anzunehmen. Sie verstanden sich sofort.
Sie vereinbarten, dass sie nicht übers Geschäft reden würden. Über sein Geschäft. Sie hielten sich daran. Der Banker betrachtete diese Vereinbarung als ein Zeichen ungeheurer Reife. Natürlich darf jemand in seiner Position grundsätzlich nichts äußern, woraus Rückschlüsse auf Vorgänge in der Bank oder über deren Kunden gezogen werden könnten. Alle halten sich daran, nichts in die Öffentlichkeit zu tragen, was nicht dorthin gehört. Aber niemand kann existieren, ohne bestimmte Dinge, an denen er stark Anteil nimmt, in seiner Privatöffentlichkeit abzuhandeln. Darüber dünkte sich der Banker erhaben. Seine Freundin, seine Beziehung – er war allen in allem überlegen.
Jetzt dämmert ihm, dass das Schweigen über das Geschäftliche in seiner Beziehung möglicherweise ein epochaler Irrtum war. Wenn sie geredet hätten, dann hätte er erklären, begründen – ausräumen können –
Einige Zentralbanken, in der Schweiz, in Dänemark und in Schweden, haben für Guthaben der Geschäftsbanken negative Zinsen eingeführt. Der Spielraum für negative Zinsen ist jedoch begrenzt, sinken sie weiter, geben die Geschäftsbanken die negativen Zinsen an ihre Kunden weiter. Naheliegenderweise werden mich die Kunden in reiner Form in Tresoren lagern. Die Grenze der Negativzinsen ist die Höhe der Aufbewahrungs- und Versicherungskosten.
Früher habe ich nicht gesprochen. Ich war auch sonst sehr leise.
Aber jetzt –
ICH BIN WENIGER ALS NICHTS WERT!
Die klassische keynesianische Sicht, dass die Wirtschaft bei Leitzinsen um die Nullmarke in eine Deflationsspirale abgleitet, ist falsifiziert. Die klassische monetaristische Sicht, wonach Quantitative easing in dem stattfindenden Umfang zu hoher Inflation führt, ist ebenfalls falsifiziert. Der Standardprozess, eine Zentralbank senkt die Zinsen und kauft Anleihen, um auf diese Weise die Kreditvergabe anzukurbeln, funktioniert nicht. Die gutgehenden Firmen brauchen keine Kredite, die schlechtgehenden Firmen bekommen keine.
Wenn die Leitzinsen bei null liegen, werden Anleihen und Liquidität zu perfekten Substituten. Es ist egal, ob die Anleihekäufe der Notenbanken hundert Milliarden oder tausend Milliarden Euro oder Dollar betragen. Der neokeynesianische intertemporale Substitutionseffekt – bei negativen Realzinsen intensivieren die Haushalte ihren Konsum, was die Inflation ankurbelt – funktioniert ebenfalls nicht. Kein Konsum-Boom, nirgends.
Das Einzige, was funktioniert, ist der Fischer-Effekt: Die Ersparnisse und die Investitionen reagieren auf die Veränderungen des Realzinses, deswegen können sich auf lange Frist die Nominalzinsen nicht allzu weit von der Inflation entfernen. Das bedeutet schlicht und einfach, dass historisch tiefe Leitzinsen auch mit historisch tiefer Teuerung gekoppelt sind. Der Fischer-Effekt nützt niemandem etwas.
Eine bestimmte Strömung will mich in jeder Form abschaffen, die über die reine Form hinausgeht. Auf diese Weise will man das Finanzsystem einfrieren. Die Banken sollen mich nur in dem Ausmaß ausgeben, in dem sie mich vereinnahmen. Wenn es mich nur noch in reiner Form gibt, dann kann es auch nicht mehr zu Bank runs kommen. Eine Bank kann nicht mehr in Schwierigkeiten geraten, weil alle Kunden auf einmal ihre Guthaben abheben wollen. Die Kunden wissen, dass sie nichts verlieren können. Man muss keine Banken mehr retten. Keine Bank kann plötzlich zusammenbrechen, ein Dominoeffekt ist nicht möglich, die Wahrscheinlichkeit eines Zusammenbruchs des Zahlungssystems ist null.
Der tiefere Grund, warum man mich in reiner Form abschaffen will, ist das Kontrollbedürfnis derjenigen, die nicht Geschäfte machen müssen, um zu leben. Die Politiker haben nie begriffen, wie ich von den Geschäftsbanken ins Dasein gerufen werde. Es ist auch nicht nötig, dass sie das verstehen. Es gibt mich in den Formen, in denen es mich gibt, nicht weil die Politiker das wollen, sondern weil es die wollen, die Geschäfte machen.
ICH BIN FREIHEIT! WER ÜBER MICH VERFÜGT, IST FREI. JE MEHR FORMEN ICH ANNEHME, DESTO MEHR FREIHEITSGRADE GIBT ES – FÜR ALLE, NICHT NUR FÜR DIE POLITIKER.
Kann es neben dem Kontrollbedürfnis noch einen anderen, tieferen Grund geben, gegen mich zu sein?
Der Banker fragt sich: Ist er mit dem Termin, den er mit dem Gründer gemacht hat – den der Gründer mit ihm gemacht hat –, zufrieden? Er antwortet sich: Wenn sich der Gründer entschließt, seine halbe Milliarde der Bank zur Anlage anzuvertrauen, dann ist er, der Banker, mit dem Lebensausschnitt von diesem Termin bis zur Entscheidung des Gründers ceteris paribus zufrieden.
Der Banker fragt sich: Ist er zufrieden mit seinem Leben?
Eine Bilanz ist nicht einfach die Summe der verbuchten Geschäftsfälle. Eine Bilanz muss aufgestellt werden. Die Aktiva und die Passiva müssen bewertet werden, die Bewertungen ergeben sich nicht automatisch aus der Buchhaltung. Der Banker muss die Ausschnitte aus seinem Leben der Reihe nach bewerten und dann aus den Einzelbewertungen eine Gesamtbewertung konstruieren. Der Banker gibt sich die Antwort: Er ist nicht unzufrieden mit seinem Leben. Sonst würde er nach einem anderen Leben streben.
Der Banker ist glücklich, wenn er seine Freundin wiedertrifft. Aber wenn es nur ein einmaliges Treffen ist, aus dem sich nichts ergibt, kann er nicht glücklich sein. Der Banker fragt sich: Ist er glücklich, wenn er sie wiedertrifft, oder nicht? Er kann die Frage nicht mit einem einfachen Ja oder Nein beantworten.
Der Banker hält für sich fest: Er muss Zufriedenheit und Glück auseinanderhalten. Zufriedenheit befindet sich in enger, unauflöslicher Nachbarschaft zum Bilanzziehen. Glück hat etwas damit zu tun, wie sich ein bestimmter Ausschnitt aus dem Leben anfühlt.
Der Banker erkennt auch: Er kann nicht festlegen, ob ihn ein Handeln oder ein Erleiden glücklich macht oder nicht, und dann alles zusammenwerfen, zu einem gesammelten Glück oder Unglück. Es ist denkbar, dass ihn ein Handeln oder Erleiden unglücklich macht, aber unerwartete glückliche Folgen zeitigt. Dann muss er das ursprüngliche Handeln oder Erleiden anders bewerten.
HAT DAS ALLES ETWAS MIT MIR ZU TUN? JA. HABE ICH ETWAS MIT ZUFRIEDENHEIT UND UNZUFRIEDENHEIT, MIT GLÜCK UND UNGLÜCK ZU TUN? NATÜRLICH. DURCH MICH HABEN DIE LEUTE WAHLMÖGLICHKEITEN, DIE SIE SONST NICHT HÄTTEN. ABER ICH BRINGE DIE LEUTE AUCH DAZU, BILANZ ZU ZIEHEN. IHR LEBEN ZU BEURTEILEN. NICHT, DASS SIE ALLES IN EINHEITEN BEWERTEN MÜSSTEN, DIE MEINE NAMEN TRAGEN. DER VORWURF IST LÄCHERLICH UND KINDISCH. ABER DIE LEUTE KÖNNEN SICH NICHT UM DIE ENTSCHEIDUNG UND DIE FOLGEN IHRER ENTSCHEIDUNG DRÜCKEN. DAS NEHMEN SIE MIR MEHR ÜBEL ALS ALLES ANDERE. DESWEGEN SIND SIE GEGEN MICH, IN JEDER FORM.
Die Wolken blähen sich auf, zugleich bilden sich Mulden, die größer und wieder kleiner werden. Die Buckel schwellen an, sie verwandeln sich in Kuppeln und Pilze, die Mulden zerreißen und öffnen sich über Abgründen. Die Spitzen der Kuppeln und die Schirme der Pilze leuchten in einem unerträglichen Glanz. Der Nano-Mann fliegt im selben Flugzeug nach Frankfurt, das den Gründer nach New York gebracht hat. Das Flugzeug scheint reglos über der Landschaft zu schweben.
Der Nano-Mann ist außerordentlich geräuschempfindlich. Wenn er auf die sich mit akkurat gleichbleibender Geschwindigkeit verändernde Wolkenlandschaft blickt, empfindet er den – durchaus nicht sehr hohen – Lärmpegel in der Kabine als weniger störend.
Eine Nanosekunde ist eine milliardstel Sekunde. Der Nano-Mann wird von allen so genannt, weil er als High frequency trader in New York bei einem Hedge fund Karriere gemacht hat, dessen Computer sich nur eine halbe Meile Luftlinie entfernt von der NYSE, der New York Stock Exchange, befanden. Der Nano-Mann ist ein Front runner.
Bei einer größeren Verkaufsorder für eine Aktie oder ein Rentenpapier bietet der Front runner einen schlechteren Preis für das Papier, kauft und verkauft es innerhalb von Millisekunden an einen anderen Marktteilnehmer, der einen nicht ganz so schlechten Preis bietet. Der Front runner läuft der Orderausführung voraus und verschlechtert den Preis für den Verkäufer, der Verlust des Verkäufers ist der Gewinn des Front runners. Bis zur hundertprozentigen Ausführung der Order wird der von der jeweiligen Gegenseite angebotene Preis ständig niedriger. Danach schnappt der Preis wieder zurück. Der Nano-Mann hat die ersten Programme selbst geschrieben und später eine Abteilung geführt, er war ein in der Branche vielumrauntes Phänomen. Eigentlich müsste er Nanosekunden-Mann heißen, aber das ist viel zu lang.
Der Nano-Mann betreibt zusammen mit seinem Bruder einen Boutique hedge fund in Frankfurt. Zunächst war es dem Nano-Mann gar nicht aufgefallen, dass er an dem Morgen keine einzige Mail seines Bruders erhalten hatte. Dann bemerkte er, dass Mails von Mitarbeitern nur an ihn und nicht an seinen Bruder gerichtet waren und dass sein Bruder in diesen Mails auch nicht cc gesetzt war. Später suchte er nach einer Mail seines Bruders, die als Anhang eine Statistik enthielt, die er benötigte. Als er mit der Suchfunktion die Mail seines Bruders aufrufen wollte, stellte sich kein Ergebnis ein.
Ein Virus war unwahrscheinlich, noch nie hatten sie ein Virenproblem gehabt. Sabotage war nicht sehr viel wahrscheinlicher, die ausgeschiedenen Mitarbeiter waren nicht im Unfrieden gegangen. Der Nano-Mann glaubte an eine Fehlfunktion des Systems. Er suchte nach anderen Mails von seinem und an seinen Bruder, auch hier Fehlanzeige. Die Mails, in denen sein Bruder cc gesetzt war, waren noch vorhanden, aber der Name seines Bruders fehlte. Der Nano-Mann ging Ausarbeitungen und Präsentationen durch, nirgendwo schien der Name seines Bruders auf. Kein einziges PDF-Dokument enthielt den Namen seines Bruders. Das war die gediegene Arbeit von jemandem, der garantiert keine Hindernisse überwinden musste, um ins System zu kommen. Es war, als hätte es seinen Bruder nie gegeben.
Sein Bruder gehört zu jener Art von Geschöpfen, die auf einmal und ein für alle Mal gealtert sind, nicht erst im Laufe ihres Erwachsenenlebens, sondern schon in ihrer Jugend. Ein vorzeitig gealterter Junge oder ein jugendlich aussehender älterer Mann mit Bürstenhaarschnitt. Ein Gesicht wie das eines Ertrunkenen, aufgequollen. Dichte, zusammengewachsene Brauen, man denkt an einen schlecht geschminkten Schauspieler, ein langes, auch in dem angeschwollenen Gesicht vorspringendes Kinn. Die Gestalt einer Vogelscheuche, breite Schultern und lange Arme. Die Leute glauben, er habe keine gute Gesundheit, wegen seines aufgeschwollenen Gesichts, aber da ist nichts. Jeden Morgen schwimmt er seine Bahnen comme il faut, der Kopf nur aus dem Wasser, wenn er atmet.
Auch auf den Aufzeichnungen der Überwachungskameras des Gebäudes schien der Bruder nicht auf. Sein, des Nano-Mannes, idiotisches Gesicht auf den Bildschirmen, als er das Büro seines Bruders aufsuchte.
Was erwartete er dort? Seinen Bruder? Auf dem Schreibtisch des Bruders lagen lediglich ein Notebook und ein Stapel Papiere. Im Büro seines Bruders gibt es, wie in seinem eigenen Büro, keine Aktenordner. Und keine persönlichen Gegenstände. Der Nano-Mann rührte das Notebook und den Papierstapel nicht an.
Hat es den Bruder wirklich gegeben? Oder ist der Bruder seine, eine Erfindung des Nano-Mannes?