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Die Produktion von Gesellschaft E-Book

Ernst-Wilhelm Händler

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Beschreibung

Romancier Ernst-Wilhelm Händler bringt Philosophie und Soziologie wieder zusammen, indem er eine kühne und neue Theorie der Gesellschaft entwirft. Eine Theorie des sozialen Lebens, die den aktuellen Problemen Rechnung tragen möchte, muss den Ursachen für die ökologische Bedrohung einheitlich begegnen. Um das zu erreichen, entwickelt Ernst-Wilhelm Händler ein eigenständiges Modell der Gesellschaft, das von dem Begriff »Produktion« ausgeht. Eine tragende Rolle spielt dabei der Gedanke der Ersetzbarkeit, den Händler zum Kern seines formalen Systems entwickelt. In Auseinandersetzung mit den Theorien von Bourdieu, Luhmann, Latour, Harrison White und Dirk Baecker gelingt es ihm damit, Gesellschaftstheorie und Philosophie einander anzunähern und beiden neue Impulse zu verleihen.

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Ernst-Wilhelm Händler

Die Produktion von Gesellschaft

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Inhalt

[Motto]0 Vorbemerkung1 Netzwerke und Systeme 2 go2 Soziale Zersplitterung und Metabetrachtung3 Die Produktion von Ersetzbarkeit4 Produktionsumgebungen5 Einige Typen von Produktionsumgebungen6 Produzierte Produktion und der Zeitpfeil7 Metaproduktion8 Formalisierung9 Ontologie10 Herstellung und Zerstörung11 Gesellschaftliche Einzeltatsachen oder gesellschaftliche Gesetze12 Gesellschaft13 Subjekt und Objektivismus14 Ersetzbarkeit15 Subgesellschaften16 Feld, Kampf, Haltung, Leib17 Die Naturwissenschaften als Sehnsuchtsplanet?18 Constraints19 Kausalität20 Funktionalität21 Erfindung und Sinnüberschuss22 Die Transformation von Gesellschaften23 Ökonomie24 Einfachheit, Natürlichkeit, Schönheit25 Die Adäquatheit von sozialen Produktionsumgebungen26 Die Sprachen der Gesellschaften27 Das Symbol Grounding Problem28 Sehr kurzer Exkurs über die Gesellschaft der deutschen Gesellschaft29 Thesen für diese Gesellschaft und für die folgenden Gesellschaften30 Agency31 Komplexität32 Agency-Metaproduktionsgesellschaften33 Die eine BedrohungLiteratur

Everything is vague to a degree you do not realize till you have tried to make it precise.

 

Sir Bertrand Russell

0Vorbemerkung

Die Gesellschaften der Gegenwart sind zuallererst dadurch gekennzeichnet, dass auf allen Ebenen und unablässig produziert wird. Das geschieht ohne ein übergeordnetes Ziel und ohne Gesamtsinn. Gesellschaft besteht aus Produktionsumgebungen: Die hier vorgeschlagene Gesellschaftstheorie betrachtet Gesellschaft als eine je nach den historischen Gegebenheiten strukturierte Ansammlung beziehungsweise Abfolge von Produktionsumgebungen.

Wenn wir über Produktion sprechen, heißt das keineswegs, dass wir etwa gegenüber der kapitalistischen Ökonomie als Praxis und Theorie bedingungslos die weiße Flagge zeigen. Nichts liegt uns ferner, als einem Primat der Ökonomie das Wort zu reden, schon gar nicht in Bezug auf die Gesellschaftstheorie. Der Gedanke der Produktion ist in allen Gliederungen und Untergliederungen der Gesellschaft gegenwärtig. Er wirkt im Kleinen wie im Großen. Unser Ziel ist, den Gedanken der Produktion zu isolieren und seinen grundsätzlichen Einfluss auf Gesellschaft zu erkunden. Produktion ist nicht an ein spezifisches ökonomisches Regime gebunden. Weder an ein dezentralisiert kapitalistisches noch an ein sozialistisch zentralisiertes. Nicht an eine klassische Wettbewerbsökonomie mit Preissystem, aber auch nicht an andere Koordinationsmodelle wie zum Beispiel Matching Markets ohne Preise. Der Gedanke der Produktion ist völlig unabhängig von den Modellen der Profitmaximierung durch Firmen und der Nutzenmaximierung durch Konsumenten. Ökonomische Theorie bedeutet immer auch Optimierung, als Nahziel, Fernziel oder, wie bei Behavioral Economics, zumindest als Referenzpunkt. In der Gesellschaftstheorie können optimierende Modelle höchstens Spezialfälle darstellen.

Produktion und Optimierung müssen entkoppelt werden. Produktion meint nicht automatisch Optimierung. Produktion bedeutet: In einer Produktionsumgebung gibt es Handlungsalternativen, Pläne und realisierte Pläne. In einer Produktionsumgebung kann etwas produziert werden, in einer Produktionsumgebung werden Pläne gemacht, in einer Produktionsumgebung wird tatsächlich etwas produziert. Die Entscheidungsinstanz kann ein einzelner Mensch sein, eine Gruppe von Menschen oder auch Software. Innerhalb einer Produktionsumgebung gibt es Ziele und Sinn. Optimierung ist lediglich eins von unendlich vielen möglichen Zielen. Ökonomischer Sinn für einzelne Produktionsumgebungen oder für eine Ansammlung von Produktionsumgebungen ist nur eine Sorte von unendlich vielen möglichen Sinngebungen.

Wir werden einen Vorschlag machen, wie Produktion und Gesellschaft zweckmäßig formal modelliert werden können. Uns ist bewusst, dass formale gesellschaftstheoretische Modelle in der Soziologie nur geringen und in der Gesamtgesellschaft gar keinen Rückhalt haben. Die zur Begleitung bereiten Leser und Leserinnen mögen die Bemühung als ein Gedankenspiel sehen, das zu Denkwegen führt, die auf den ersten Blick abwegig erscheinen, die jedoch überraschende Anschlussmöglichkeiten bieten.

Die Versuche zu klären, ›was das Soziale eigentlich ist‹, sind Legion. Ein Forschungsprojekt, das alle Sozialtheorien katalogisiert, die in der Geschichte der Menschheit eine Rolle gespielt haben beziehungsweise vorgeschlagen wurden, wäre ein Unterfangen, das nie an ein Ende kommen würde. Zur Nomenklatur: Wir unterscheiden zwischen Sozialtheorie und Gesellschaftstheorie. Alle Gesellschaftstheorien sind auch Sozialtheorien, aber nicht jede Sozialtheorie stellt auch eine Gesellschaftstheorie auf.

Jede Gesellschaft und jede Subgesellschaft bastelt sich ihre eigene mehr oder weniger komplexe Gesellschaftstheorie. Wir berücksichtigen in diesem Buch die Systeme Niklas Luhmanns, die Netzwerke von Harrison White und Bruno Latour, die verschiedenen Soziologien Pierre Bourdieus, die Handlungstheorie von Gabriel Tarde und die Sinnüberschuss-Theorie von Dirk Baecker. Wir gehen ausschließlich auf Ansätze ein, die ein Minimum an formaler Entschlossenheit aufweisen.

Luhmanns Ziel ist ein klassisches: Er will klären, was Gesellschaft ist. Gesellschaften und Subgesellschaften sind soziale Systeme. Die Netzwerke von White und Latour sind soziale Situationen. Gesellschaft kann als ein besonderer Typ von Netzwerk oder als eine Zusammenballung von Netzwerken aufgefasst werden. Aber weder White noch Latour sind wirklich daran interessiert, einen Gesellschaftsbegriff zu definieren. Man könnte formulieren: Sie bieten Gesellschaftstheorien ohne Gesellschaften an. Wir glauben, dass das ein Fehler ist. Ein Gesellschaftsbegriff ist nötiger denn je: Die Bedrohung der Ökologie des Planeten erfordert Gegenmaßnahmen, über die sich möglichst viele Verursacher einigen müssen. Es geht hier nicht um den Konflikt zwischen Zusammenballungen von Menschen, zwischen sozialen Systemen oder sozialen Netzwerken. Alle Zusammenballungen von Menschen, alle sozialen Systeme und alle sozialen Netzwerke sehen sich der Möglichkeit des Untergangs gegenüber, wenn die Ökologie des Planeten weiter in die lebensfeindliche Richtung umgestaltet wird. Der einen Bedrohung muss einheitlich begegnet werden, dazu gehört auch eine prononcierte Gesellschaftstheorie. Eine in der gegenwärtigen Situation adäquate Theorie des sozialen Lebens muss einen Beitrag leisten, die Zersplitterung der Ursachen für die ökologische Bedrohung nicht zu maximieren, sondern zu reduzieren.

Die in diesem Buch aufgestellte Gesellschaftstheorie schlägt in Bezug auf zwei sehr heterogene Tendenzen des soziologischen Gegenwartsdenkens die Gegenrichtung ein: Gesellschaftliche Dynamik und nicht Stasis bildet den Orientierungspunkt. Unabhängig davon wird angestrebt, dass sich die Gesellschaftstheorie der Philosophie annähert, anstatt den Abstand zwischen den beiden weiter zu vergrößern.

Die aktuellen Formalisierungsvorschläge soziales System, Network und Actor-Network sind ihrer verbalen Intention nach dynamisch, in ihrer tatsächlichen Performance jedoch statisch. Sie haben nur geringe Anstöße zur empirischen Untersuchung der Dynamik sozialer Entwicklung gegeben. Das im Folgenden vorgeschlagene Begriffsgerüst, die Produktionstheorie der Gesellschaft, versucht dezidiert, der gesellschaftlichen Dynamik den ihr zukommenden Raum zu geben. Eine tragende Rolle spielen hier Ersetzbarkeit und Ersetzung. Die Ersetzbarkeit von Individuen ist eine der besonders eingängigen Eigenschaften des Begriffes Gesellschaft. Gesellschaftliche Differenzierung führt dazu, dass auch ganz andere Entitäten Kandidaten für Ersetzungen werden. Ersetzbarkeit wird zum Kern unseres Begriffsgerüsts zählen.

In der Gegenwart ist die Kommunikation zwischen der Philosophie und der Sozialtheorie durchaus prekär. Bis zum Aufstieg der Analytischen Philosophie im 20. Jahrhundert waren Philosophie und Gesellschaftstheorie untrennbar verbunden. Ziel der Analytischen Philosophie war, philosophische Probleme möglichst durch den Rückgriff auf mengentheoretische und entsprechende logische Methoden zu lösen. Weil Mathematik und Logik essenziell zeitlos sind, koppelte sich die Analytische Philosophie von der Position der Beobachterin in der Zeit und ihrer Vorgeschichte ab. Da eine zeitlose gesellschaftliche Position keinen Sinn macht, war damit eine Absage der Analytischen Philosophie an die Gesellschaftstheorie verbunden. Der Verzicht wurde von der Analytischen Philosophie mit einem generellen physikalischen Reduktionismus verbunden, der Beschäftigung mit Gesellschaftstheorie weitgehend überflüssig machen sollte. Alle biologischen und sozialen Phänomene sollten auf physikalische zurückgeführt werden, der Akt der Rückführung wurde als eine reine Fleißaufgabe betrachtet. Angesichts der unzähligen Emergenzphänomene bereits in der Physik erscheint diese Geisteshaltung nicht erst heute unbegreiflich. Als Folge des Schismas zwischen Gesellschaftstheorie und Analytischer Philosophie fanden wichtige Einsichten der Analytischen Philosophie über die Sprache, über das interne Funktionieren von wissenschaftlichen Theorien und über die Kognition von Individuen keinen Eingang in die Sozialtheorie.

In der Gegenwart hakt die Kommunikation zwischen Sozialtheorie und Philosophie sowohl auf der Makro- als auch auf der Mikroebene. Auf der Makroebene stehen sich der neue philosophische Realismus und der Konstruktivismus der Gesellschaftstheoretiker und Gesellschaftstheoretikerinnen unversöhnlich gegenüber. Die neuen Realisten des 21. Jahrhunderts unter den Philosophen und Philosophinnen insistieren auf der Existenz einer vom Beobachter unabhängigen Wirklichkeit. Dagegen nimmt es die überwiegende Mehrzahl der Gesellschaftstheoretiker und Gesellschaftstheoretikerinnen als gesichert, dass der Beobachter oder die Beobachterin die jeweilige Wirklichkeit konstruieren. Auf der Mikroebene herrscht eine Berührungsphobie zwischen den Detailuntersuchungen der neuen Analytischen Philosophen und den philosophischen Anstrengungen der Physiker und Physikerinnen auf der einen Seite und den soziologischen Studien des Wissenschaftsbetriebs auf der anderen Seite. Dabei ist zu berücksichtigen, dass in ständig größer werdendem Ausmaß Philosophie innerhalb der Naturwissenschaften betrieben wird. Physiker und Physikerinnen, Philosophen und Philosophinnen blenden gleichermaßen aus, dass hinter Formeln Scientific Communities stehen. Soziologen und Soziologinnen behandeln Scientific Communities als Stammesgesellschaften, die unzugängliche Sprachen sprechen.

Indem die Produktionstheorie der Gesellschaft Möglichkeiten und realisierte Möglichkeiten immer unter einem Handlungsgesichtspunkt betrachtet, ist sie in der Lage, die Kommunikationsstörungen zwischen Sozialtheorie und Philosophie wirkungsvoll anzugehen. Die Produktionstheorie der Gesellschaft stellt außerdem die Begriffe bereit, um die Dichotomie zwischen Naturwissenschaften und Sozialtheorie für beide Gebiete fruchtbar zu machen. In diesem Zusammenhang werden wir insbesondere die Rolle der Naturwissenschaften als methodologischer Orientierungspunkt für die Sozialtheorie beleuchten.

1Netzwerke und Systeme 2 go

Wozu braucht man einen allgemeinen Gesellschaftsbegriff?

Der Mensch in den westlichen Gegenwartsgesellschaften nimmt seine Situation so wahr: Er ist in seinen Entschlüssen frei. Es ist seine Entscheidung, ob er Rihanna oder Taylor Swift hört. Ob er Serien von HBO oder von Netflix verfolgt. Ob er oder sie als Hardwaretechniker oder -technikerin oder als Softwaretechniker oder -technikerin arbeitet. Der moderne Mensch kontrolliert sein Leben im Rahmen seiner physischen Möglichkeiten – nicht jeder ist in der Lage, Marathon zu laufen – und innerhalb der Budgetbegrenzung –, er kann nicht viel mehr Geld ausgeben, als er hat.

Aber der Mensch gibt auch einen nicht geringen Teil der Kontrolle über sein Leben ab. Das ist ihm bei verschiedenen Gelegenheiten unterschiedlich bewusst. Der Mensch wird in bestimmte Verhältnisse hineingeboren. Er ist Bestandteil eines Zusammenhangs von kognitiven und emotionalen Inhalten sowie von Handlungszusammenhängen, die er sich nicht ausgesucht hat. Er kann nicht in jeder Situation jeden Gedanken und jede Handlung in Frage stellen. Dem Menschen der Gegenwart stehen ungleich mehr mögliche Lebensentwürfe offen als allen seinen Vorgängern. Darüber legt er sich jedoch nur im Ausnahmefall Rechenschaft ab – wenn er an einem Scheideweg steht und eine persönliche oder berufliche Entscheidung zwischen miteinander unvereinbaren Alternativen treffen muss.

Ob es ihm voll bewusst wird oder nicht: Der Mensch akzeptiert ein Normen- und Institutionssystem, das er nicht selbst aufgebaut hat und das er über den demokratischen Prozess nur marginal beeinflussen kann. Jeder Mensch muss Kontrollverzicht üben, sonst wäre ein auch nur halbwegs berechenbarer Alltag nicht möglich. An wen oder was gibt der Mensch Kontrolle ab? Der Mensch gibt Kontrolle nur in genau definierten ökonomischen oder technologischen Prozesszusammenhängen an andere Menschen ab, an den Flugkapitän oder an den Abteilungsleiter der Firma, in der er arbeitet. Der Mensch räumt anderen Menschen keine generellen Kontrollbefugnisse ein. Auch demokratisches Gewähltsein bedeutet lediglich spezifische Befugnisse. Der Mensch gibt generelle Kontrolle an etwas ab, was nicht einfach die anderen Menschen ist. Der religiöse Mensch unterwirft sich göttlichen Normen. Der nicht komplett religiöse Mensch gibt generelle Kontrolle an eine nicht göttliche Entität ab: an die Gesellschaft.

Selbst wenn Gesellschaft alles durchdringt: Gesellschaft muss auch in irgendeiner Form eine abgesonderte Einheit bedeuten. Denn wie sähe die Alternative aus? Warum sollte sich der aufgeklärte Mensch unmittelbar Normen und Institutionen unterwerfen? Warum sollte der Mensch Gedanken und Handlungen um ihrer selbst willen akzeptieren? 

Die aktuellen formal orientierten Sozialtheorien betrachten Netzwerke und Systeme. Der Schöpfer der soziologischen Netzwerktheorie ist Harrison C. White mit Identity & Control. Obwohl Netzwerktheoretiker, besteht Whites Anspruch darin, kein statischer, sondern ein Prozess-Denker zu sein. Die Knoten des Netzwerks sind gerade nicht sein Ausgangspunkt. Die elementaren Einheiten der White’schen Ontologie sind Kontrollversuche. Aus den Kontrollversuchen ergeben sich temporäre Identitäten:

»An Identitiy emerges for each of us only out of efforts at control amid contingencies and contentions of interaction. These control efforts need not have anything to do with domination over other identities. Before anything else, control is about finding footings among other entities. […] A firm, a community, a crowd, oneself on the tennis court, encounters of strangers on a sidewalk – each may be identities. Identity here is not restricted to our everyday notion of a person, of self, which takes for granted consciousness and integration, and presupposes personality. Instead I generalize identity to any source of action, any entity to which observers can attribute meaning not explicable from biophysical regularities. Those regularities are subsidiary to social context as environment, and persons will appear as bundles of identities.«[1]

Die Welt besteht zuerst weder aus den Identitäten der klassischen Philosophie noch aus strukturalistischen oder poststrukturalistischen Differenzen, sondern aus einer spezifischen Art von Operationen, aus Kontrollversuchen. Die sich aus diesen Operationen ergebenden Identitäten (und Differenzen) sind nicht statisch:

»My central claim entails that the lives of these identities are stochastic flows over time whose primary shapers and switchers come from the others, not just in local detail but also as overall patterns and dynamics – as co-constituted context.«[2]

Unter bestimmten Umständen können die Identitäten Strukturen bilden. Die Identitäten werden dann zu Knoten eines Netzwerks. Das White’sche Netzwerk soll dabei jedoch kein statisches Gitter darstellen. Die Knotenpunkte sind keine präexistenten Leerstellen, die später ausgefüllt werden. Sie entstehen erst durch das Wirken der Kontrollkräfte.

White verortet hegelsche Widersprüche im Alltagsleben:

»Regular life is shot full of contradictions. They are less obtrusive to adults than they are to children. The contradictions may even become invisible. Everyday life has trained us and supplies us with nice packages of stories. At any given time, we have learned to apply just some one of the set, and suppress memories of the switchbacks and changes that at other times we use and embroider to get along. Much of social science has been an auxiliary to this provision of packages of stories sufficient to account for most anything we find – but only by suitable ex post selection of one rather than another story.«[3]

Alle Widersprüche, egal, ob im Materiellen oder im Ideellen, sind letztlich Lebenswidersprüche. Es ist die Literatur, die inhaltliche und formale Erzählmuster liefert, mit deren Hilfe der Einzelne und die Netzwerke die Widersprüche managen. Wobei im Augenblick die Erzählmuster von Fernsehserien besonders einflussreich sind, die sich allerdings fast ausnahmslos aus der Literatur herleiten. Bei Wilhelm von Humboldt ist die Sprache natürlich, bei White ist Protoliteratur natürlich:

»Regular life in some account is a utopia. Regular life seems to support you at any time with an accounting, a story of what is going on and where you fit. If this were the whole story, there would be no triggering by happenstance, and you would not be in existence as an entity outside of prediction. You would not have an identity; you would not need it – any more than you would need an identity in a utopia.«[4]

Es muss betont werden, dass die White’schen Identitäten keineswegs nur auf Individuen beziehungsweise Personen hinauslaufen. Alle Arten von sozialen Gruppierungen, vom Stammtisch bis zum Staat, können Knoten im Netzwerk bilden.

Bruno Latour hat die nächste Generation der Netzwerke geprägt. Die aktuelle Version seiner Sozialtheorie findet sich in Enquête sur les modes d’existence. Die Knotenpunkte seiner Netzwerke sind nicht nur Menschen, sondern auch Dinge und Verfahren, z.B. Computerprogramme. Das Soziale besteht in den Relationen zwischen diesen Knotenpunkten. Dingen, Verfahren und Menschen wird gleichermaßen Agency zugeschrieben, es gibt keinen kategorialen Unterschied in Bezug auf den Akteursstatus.

Die Latour’schen Netzwerke breiten sich nicht aus, weil Menschen versuchen, Dinge und Vorgänge zu erfassen und sie zu gestalten. Die Einteilung der klassischen Philosophie in erkennende Subjekte und erkannte und erzeugte Objekte ist nach Latour völlig obsolet. Subjekte und Objekte sind nicht Anfangs- und Endpunkte einer Kausalkette, sondern werden von sich entfaltenden Netzwerken hervorgebracht. Alles, was es gibt, befindet sich in einem Netzwerk oder ist über ein Netzwerk zugänglich. Über die Netzwerke hinaus gibt es – nichts. Da ist kein Jenseits der Erkenntnis.

Das Netzwerksegment Ökonomie ist etwa durch das ständige Schreiben und Neuschreiben von Skripten gekennzeichnet. Der Einkauf im Supermarkt, die Fusion zweier Milliardenunternehmen wie auch das High Frequency Trading eines Hedge Fund vollziehen sich gemäß Skripten, die im Zeitablauf mehr oder weniger stark variieren. Die Wirtschaftssubjekte, die Computer und die Programme sind unablässig sowohl Autoren als auch Figuren in den entsprechenden Erzählungen. Allen Elementen des ökonomischen Netzwerksegments ist gemeinsam: Niemals beschreiben sie lediglich, niemals berechnen sie nur, immer agieren sie mit ihrer Beschreibung, ihrer Berechnung. Eine Bilanz ist nicht lediglich die Schilderung der ökonomischen Situation einer Firma, sondern eine Handlung der Geschäftsführung.

Der Ausgangspunkt der Luhmann’schen Gesellschaftstheorie ist die Differenz zwischen System und Umwelt. Das System beherrscht seine Umwelt nicht, seine Operationen sind in Bezug auf die Umwelt kontingent. Die Differenz erzeugt ein Komplexitätsgefälle, welches das System zu ständigen Selektionen zwingt. Gesellschafts- wie Bewusstseinssysteme bestehen aus Kommunikationen und nichts anderem. Nur weil in Gesellschaften, bis jetzt, Menschen involviert sind, müssen sie noch lange nicht aus Menschen bestehen. Die Gesellschaft ist das System, das alle Kommunikationen außerhalb der Bewusstseinssysteme umfasst. Es gibt keine Kommunikation außerhalb der Gesellschaft. In Abwandlung von Wittgensteins Tractatus könnte die original luhmannsche Gesellschaft sagen: Die Grenzen meiner Kommunikation bedeuten die Grenzen meiner Welt.

Luhmann besteht darauf, dass das, was wir intern und extern äußern, alles ist, und wir sind nichts. Gesellschafts- und Bewusstseinssysteme erzeugen selbst ihre Bausteine, sie sind autopoietisch: Kommunikationen produzieren Kommunikationen, Gedanken produzieren Gedanken. Soziale Systeme sind mit der Umwelt strukturell gekoppelt. Der Begriff der strukturellen Kopplung beschreibt die notwendige Einbettung des Systems in seine Umwelt. Jedes System muss in dem Sinn an seine Umwelt angepasst sein, dass es in Lage ist, seine Operationen durchzuführen. Die Umwelt kann nicht direkt auf die Operationen des Systems einwirken. Nicht die Umwelt stört das System, das System stört sich selbst. Soziale Systeme sind mit Bewusstseinssystemen gekoppelt. Ohne Bewusstseinssysteme keine sozialen Systeme, wobei die Umkehrung gerade nicht gilt.

Die Luhmann’sche Theorie liefert unter anderem eine überzeugende Explikation des gesellschaftlichen Hintergrundes. Die Gesellschaft ist jeweils dasjenige soziale System, welches die fundamentalen Prinzipien für das Operieren aller anderen Subsysteme liefert, indem es die fundamentalen Komplexitätsreduktionen liefert. Die Selektivität der Gesellschaft ermöglicht erst die Selektivität aller andern sozialen Systeme.

Die Luhmann-Rezeption wird durch ein ontologisches und ein Ingenieurs-Missverständnis beeinträchtigt. Am Anfang aller größeren Werke Luhmanns steht eine Variation des Satzes: Ein System ist … Für das ontologische Fehlverständnis ist der Gesellschaftstheoretiker aus Bielefeld selbst verantwortlich. Denn es ist nicht wirklich wichtig, was ein System ist oder nicht ist, woraus ein System besteht und wie im Einzelnen die Elemente gekoppelt sind. Wichtig ist allein: Zwischen System und Umwelt muss eine klare Grenze existieren. Diese Grenze darf niemals unscharf sein. Die Leistung der Luhmann’schen Gesellschaftstheorie liegt gerade nicht darin, die Welt mit Systemen zu möblieren und nachzuweisen, aus welchen Katalogen die Möbel stammen. Luhmaniacs mögen sich schütteln, aber soziale Systeme müssen nicht unbedingt aus Kommunikationen bestehen. Durchaus geeignete Kandidaten wären zum Beispiel auch Handlungen. Der Ontologe Luhmann ist nicht nur überflüssig, unglückseligerweise beschädigt er den Funktionalisten Luhmann, und das in nicht geringem Ausmaß.

Luhmanns Gedankengebäude ist auf zwei separaten Fundamenten situiert: auf der Differenz von System und Umwelt und auf einer radikal funktionalen Betrachtungsweise. Ihn interessiert nicht: Warum ist irgendetwas so und nicht anders? Er will auch nicht wissen: Warum gibt es die sozialen Gebilde, auf die man stößt? Er möchte wissen: Unter welchen Bedingungen gibt es die sozialen Gebilde, die es gibt, weiterhin? Man möchte sagen, Luhmann hat eine Phobie: Er ist von der Vorstellung heimgesucht, dass die Gesellschaft jeweils bei der nächsten Gelegenheit auseinanderfallen könnte. Alles, aber auch wirklich alles wird unter dem Gesichtspunkt beurteilt, was es dazu beiträgt, dass das betrachtete soziale Gebilde in dieser oder jener Form weiterexistiert.

Der Begriff der Funktion impliziert, dass die Stellen in einer Gesellschaft anders, aber nicht beliebig anders besetzt werden können. Gesellschaftstheorie ist auch eine Theorie der Leerstellen und wie sie besetzt oder nicht besetzt werden. Nicht alles, was ist, wäre anders möglich. Das, was anders möglich ist, kann aber nicht beliebig anders sein. Das Ingenieurs-Fehlverständnis ging schon so weit, Luhmann als Sozialingenieur zu bezeichnen. Ein Ingenieur konstruiert, indem er kausale Zusammenhänge nützt. Nichts liegt Luhmann ferner, als kausal zu denken. Wer trotz allem die funktionalistische mit einer fundamentalontologischen Perspektive vereinigen will, muss Willard Van Orman Quine mit On What There Is abwandeln: To be is to be the value of a functional explanation.

Luhmann, White und Latour haben eine klare Marschroute: Erst kommen die Systeme beziehungsweise die Netzwerke, dann – wenn überhaupt – das Individuum. Daraus folgt, dass ihnen das individuell Innerliche nicht viel bedeuten kann. Der Funktionalist Luhmann gewährt dem Innerlichen über die Autopoiesis noch einen gewissen Spielraum: Wenn es so etwas wie eine menschliche Innenwelt gibt, dann sorgt sie auch selbst dafür, dass sie weiterexistiert. Dagegen bestehen die Netzwerktheoretiker White und Latour darauf, dass das Innerliche komplett von außen produziert wird. Weder existiert eine unabhängige Außenwelt noch eine unabhängige Innenwelt. Bei Latour ist das menschliche Bewusstsein ein psychogenes Netzwerk. In den modes d’existence überträgt er die Einführung des Lesers in sein Theoriegebäude einer fiktiven Anthropologin. Sie zeigt auf eine riesige Apparatur, die zur Fabrikation des Inneren der Menschen notwendig sei: »Les Modernes ont de gros ego, c’est vrai, mais en prêtant l’oreille, on entend le ronronnement régulier des pompes d’exhaure qui mantiennent le vide de leur si précieuse intériorité.«[5] Spricht die Anthropologin Deutsch? Wenn ja, dann würde sie natürlich auch einen beträchtlichen Teil der deutschsprachigen Literatur zu den »fabriques d’intériorité«[6] rechnen.

Was Luhmanns Auffassung von Innerlichkeit als psychisches System betrifft, muss eine starke Einschränkung gemacht werden. Es ist nur sehr begrenzt fruchtbar, Innerpsychisches mit individuumsinternen Kommunikationen gleichzusetzen. Die individuumsinternen Kommunikationen werden von Luhmann als sprachliche Operationen begriffen. Gedanken sollen sprachliche Form besitzen. Oswald Wiener hat es sich zu einer Lebensaufgabe gemacht aufzuzeigen, dass viele Denkvorgänge eben nicht sprachlicher Natur sind.[7]

White und Latour wollen keine Denker der Statik sein. Das gilt auch für Luhmann. Netzwerke und Systeme schreiten in der Zeit voran, indem sie laufend neue Anschlüsse suchen und finden. Die Übergänge zwischen den Zeitpunkten geschehen durch Kommunikationen und Handlungen. Jede neue Kommunikation muss sich mindestens durch einen minimalen neuen Aspekt von den vorangegangenen Kommunikationen unterscheiden. Die Regeln für Kommunikationen und Handlungen werden in den System- und Netzwerktheorien als Strukturen bezeichnet.[8] Obwohl die jeweiligen mathematischen Apparate präzise ausformuliert sind, bieten jedoch weder die sozialen Netzwerktheorien noch die sozialen Systemtheorien Differenzengleichungen oder stetige, nach der Zeit differenzierbare Gleichungen an. Das stellt den naturwissenschaftlichen Idealfall dar, wenn dynamische Entwicklungen erfasst werden sollen. In den Sozialwissenschaften kommen Differenzen- und Differentialgleichungen praktisch nur in der Ökonomie vor.

Differentialgleichungen sind sinnvoll für die Erfassung isolierter, abgeschlossener Systeme mit wenigen Parametern und wenigen Variablen – mit der modernen IT können es auch ziemlich viele werden –, in denen die Parameter kontrolliert und die Variablen beobachtet werden können. Die Gleichungen beschreiben den Zeitverlauf der Beziehungen zwischen den Variablen in Abhängigkeit von den Parametern. Netzwerke und soziale Systeme haben immer zu viele Parameter und Variablen. Die moderne IT kann prinzipiell mit vielen Parametern und vielen Variablen fertig werden. Die Problematik besteht in der Erfassung der Vielzahl der Wechselwirkungen.

Auch wenn man zugesteht, dass es mehr als schwierig ist, die Dynamik von sozialen Systemen und Netzwerken mathematisch zu modellieren: Bei den Theoretikern und bei den von ihnen inspirierten Forschungsvorhaben existiert ein starkes Ungleichgewicht zwischen den statischen und den dynamischen Einlassungen. Viel Energie wird auf die Beschreibung konkreter Netzwerke und Systeme verwendet. Insbesondere die Netzwerktheorie, egal in welcher Version, glänzt mit empirischen Studien, die aussagefähige, detaillierte Momentaufnahmen liefern.[9] Keineswegs mit der gleichen Intensität werden jedoch die mehr als naheliegenden Fragen angegangen: Wie entwickelt sich das Netzwerk, das System im Zeitablauf? Wie genau vollzieht sich der Übergang des Systems, des Netzwerks von seinem Zustand zum Zeitpunkt t1zu seinem Zustand zum Zeitpunkt t2? Gibt es generelle, lokale oder temporäre Regeln für die Übergänge der Netzwerke, der Systeme für die Übergänge von tzu t+1?

2Soziale Zersplitterung und Metabetrachtung

Alle rezenten Sozialtheorien weisen zwei zentrale Gemeinsamkeiten auf: Sie betonen die Irreversibilität der sozialen Zersplitterung und die Notwendigkeit der sozialtheoretischen Metabetrachtung.

Sozialtheorien, die explizit Gesellschaftstheorien aufstellen, behandeln die soziale Zersplitterung als gesellschaftliche Differenzierung. Üblicherweise werden vier Typen von Differenzierung unterschieden: Segmentation, also Differenzierung in gleichrangige gesellschaftliche Teileinheiten, Differenzierung in Zentrum und Peripherie, hierarchische Differenzierung in Schichten und funktionale Differenzierung. Die ersten drei Typen haben stark an Bedeutung eingebüßt. Dafür gibt es in den Gesellschaften der Gegenwart eine anscheinend universale Drift zu funktionaler Differenzierung in Teileinheiten, die in ständig mehr Hinsichten voneinander unabhängig werden. Differenzierung ist auch die Antwort Luhmanns auf die Frage nach der Entwicklung von Gesellschaft in der Zeit. Für Luhmann gibt es nicht die vielen Gesellschaften, sondern nur eine Gesellschaft: die Weltgesellschaft. Die Spezifizierung der näheren Umstände bleibt er allerdings schuldig: Wann kommt es zu gesellschaftlicher Differenzierung, welche Bedingungen fördern sie, welche Bedingungen verhindern sie? Welche sind die Determinanten ihrer Geschwindigkeit? Ist es möglich, einen detaillierten Katalog möglicher Versionen von Differenzierung aufzustellen? Gibt es formale Gemeinsamkeiten zwischen inhaltlich verschiedenen Differenzierungsarten?

Merkwürdigerweise behandelt Luhmann das Thema Dynamik kaum für isolierte Systeme, sondern vor allem im Rahmen der Interaktion von Systemen: Die Interpenetration als Spezialfall der strukturellen Kopplung beschreibt den Fall der wechselseitigen Ko-Evolution von Systemen. Die Systeme sind aufeinander angewiesen, keins kann ohne das andere existieren. Auch Gehirne sind Systeme, Gehirne sowie Bewusstseinssysteme und Bewusstseinssysteme und soziale Systeme stehen zueinander im Verhältnis der Interpenetration. Luhmann begründet sein Vorgehen nicht explizit, etwa mit der Hypothese, dass Systemdynamik nur als Interaktion von Systemen auftritt.

Für White und Latour gibt es zuallererst soziale Situationen, die durch Netzwerke erfasst werden. Die so verschiedenen Netzwerke sind die soziale Zersplitterung. Auf der Basis von Netzwerken kann man Gesellschaft – Gesellschaften – definieren. White und Latour halten das für überflüssig. Wenn man trotzdem Gesellschaften denkt, dann findet gesellschaftliche Differenzierung auf zwei sehr verschiedenen Ebenen statt: Einerseits stellen die Netzwerke die radikale theoretische Konsequenz aus der Ubiquität der gesellschaftlichen Differenzierung dar. Andererseits rekonstruieren einzelne Netzwerke oder Cluster von Netzwerken bestimmte Arten von gesellschaftlicher Differenzierung. Bei White ergeben sich gesellschaftliche Differenzierungen als Spezialfälle der durch Kontrollversuche entstehenden Identitäten. Die modes d’existence von Latour sind als überzeitlich konzipiert, hier scheinen gesellschaftliche Differenzierungen ausschließlich innerhalb der jeweiligen Existenzweisen auf.

Die gesellschaftliche Metabetrachtung erfolgt in einem Kontinuum zwischen zwei Polen. Am einen Pol gibt es kein Außen der Gesellschaft, am entgegengesetzten Pol ist jedes Außen der Gesellschaft zulässig. Luhmann vertritt kompromisslos die Ansicht, dass eine einheitliche Beschreibung von Gesellschaften nicht möglich ist, weil es überhaupt keinen Standpunkt außerhalb der Gesellschaft und auch keine sinnvoll privilegierte Beobachterposition in der Gesellschaft gibt. Der Beobachter erster Ordnung ist per definitionem nicht in der Lage, die Unterscheidungen, die er verwendet, selbst zu beobachten. Um die Möglichkeitsbedingungen für Beobachtungen zu erkunden, braucht es den Beobachter zweiter Ordnung. Der Beobachter zweiter Ordnung beobachtet den Beobachter erster Ordnung, ohne mit dessen Beobachtungen übereinzustimmen. Die Beobachtung zweiter Ordnung sieht, dass die Beobachtung erster Ordnung nicht sieht, und sie sieht, was die Beobachtung erster Ordnung nicht sieht. Die Gesellschaft hat kein Außerhalb, es gibt nur die vielen Gesellschaften. Die Einheit einer Gesellschaft ist das Produkt der Selbstbeobachtung der Gesellschaft oder der Beobachtung durch andere Gesellschaften.

John Levi Martin beschreibt die konträre Position. In The Explanation of Social Action weist er darauf hin, dass viele Gesellschaftstheoretiker bewusst oder unbewusst die Attitüde eines Therapeuten gegenüber seinem Patientengut annehmen. Der Patient meint nur, er handle aus diesen und jenen Beweggründen. Der Therapeut weiß es besser, er kennt die wirklichen Gründe für die Handlungen des Patienten. Als Beispiel führt Martin einen Soziologenkollegen an, der die Ertüchtigung durch Jogging direkt kausal mit den Erfordernissen der kapitalistischen Gesellschaft erklärt, unter expliziter Negation persönlicher Motive wie etwa Spaß am Sport. Martin ist konsistent, er genügt seiner Theorie: Man müsse bei der Erklärung von sozialen Phänomenen grundsätzlich das persönliche Motiv einbeziehen, entweder als Explanandum oder als Explanans. Martin weiß es besser als seine Kollegen, er ist der Metatherapeut.[10] Hier wäre anzumerken, dass Martin den autoritären Therapeuten nach dem Vorbild von Jean-Martin Charcot und seines Schülers Sigmund Freud konstruiert. Die Zeit ist über diese Form der Therapie hinweggegangen. Der moderne Therapeut betont die in vielen Dimensionen gleichberechtigte Interaktion mit seinem Klienten.

Der Antrieb für die sozialtheoretische Metabetrachtung, gleich in welcher Variante, speist sich aus zwei Energiequellen. Zum einen ist sie nicht unabhängig von der sozialen Zersplitterung. Wenn das Soziale aus immer mehr Einheiten besteht, wenn sich die Gesellschaft zunehmend in Teileinheiten aufspaltet, dann liegt es nahe, sowohl die Unterschiede als auch die Gemeinsamkeiten der Einheiten zu analysieren. Das betrifft auch die Art, wie die Einheiten beobachten. Damit ist man automatisch bei der Metabeobachtung. Zum anderen nehmen alle Akteure die Rolle von Sozialtheorie heute viel bewusster als früher wahr. Ein aktuelles Beispiel sind die Pläne für gesellschaftliche Experimente der Tech-Gründer im Silicon Valley und die Reaktionen darauf. Ohne soziale Einheiten geht gar nichts. Früher hat die Metaebene vor allem in Form von Verfassungstheorien auf die Objektebene zurückgewirkt. Der einschlägige Diskurs wurde vorzugsweise von Spezialisten geführt. Jetzt nimmt die Metaebene über mannigfache Kommunikationskreise Einfluss auf die Objektebene.

Obwohl sich die Sozialtheoretiker und Sozialtheoretikerinnen in Bezug auf die Wichtigkeit der Differenzierung und der Metabetrachtung einig sind, spiegeln sich beide Themen in den empirischen Studien, die die aktuellen Theoriegebäude begleiten, nicht wider. Das gilt sowohl für die Systemtheorie als auch für die Netzwerktheorien. Die soziale Zersplitterung kommt wie ein von den Göttern verhängtes Schicksal über Gegenstände der Studien. Die Metabetrachtung spielt keine Rolle. Die von den empirischen Studien verwendeten Bausteine aus der Systemtheorie und den Netzwerktheorien sind gegenüber der Differenzierung und der Metabetrachtung weitgehend invariant.

Systeme und Netzwerke bilden das Leben zu jeweils bestimmten Zeitpunkten sehr anspruchsvoll ab. Aber sie bieten keinen Zugang zu dem Leben dazwischen. Der Komplexitätsgrad der Momentaufnahmen von Systemen und Netzwerken ist sehr hoch, aber für alles, was über den definierten Moment hinausgeht, sehr niedrig. Luhmann blendet aus, wie einzelne soziale Systeme zustandekommen, und er untersucht die Mechanismen der Differenzierung von Gesellschaften nicht näher. Latour beschreibt zwar grosso modo, wie sich Netzwerke entfalten, aber die Verbindung zu den von ihm inaugurierten Feldstudien ist eine durchaus lockere. White denkt prinzipiell dynamisch, aber auch hier wird keine Brücke von der Theorie zu den empirischen Untersuchungen geschlagen. Warum sind bestimmte Kontrollversuche erfolgreich und andere nicht? Warum kommen bestimmte whitesche und latoursche Netzwerke ins Leben und andere nicht? Diese Fragen werden nicht einmal angegangen. Whites Wettbewerb der Kontrollversuche ist der Versuch einer grundsätzlichen Erklärung, die nicht mit konkreten Beispielen unterfüttert wird. Gesellschaften haben einen Anfang und ein Ende. Gesellschaften entfalten sich in der Zeit. Ein Gesellschaftsbegriff darf das Thema des Anfangs und des Endes nicht völlig im Ungefähren lassen. Das ist nicht Ausfluss einer Sehnsucht nach Geschichtsphilosophie. Sowohl in den Natur- als auch in den Geisteswissenschaften hat es sich als klarheitsfördernd erwiesen, die jeweiligen Beobachtungsbereiche zeitlich einzuschränken.

3Die Produktion von Ersetzbarkeit

Im Folgenden soll versucht werden, eine Begrifflichkeit zu entwickeln, bei der die Tendenz zur gesellschaftlichen Differenzierung und die gesellschaftliche Metabetrachtung nicht nur äußerlich sind, sondern die vielmehr die beiden Phänomene als Fundamente des Theoriedesigns nutzt.

Die Lösung des Dynamikproblems muss darin bestehen, die Momentaufnahmen zu den Zeitpunkten tund t+1 nicht nur per Alltags- oder Fachsprache, sondern auch formal zu verknüpfen. Welche sind die Regeln, die dazu imstande sind, Gesellschaft zu t und t+1 zu verbinden? Es geht um Ersetzbarkeit. Egal, woraus Gesellschaft besteht: Bestimmte Komponenten können durch andere ersetzt werden, und man spricht noch von derselben Gesellschaft. Wogegen andere Ersetzungen dazu führen, dass die Gesellschaft eine andere oder gar keine mehr ist.

Bei diesem Thema ploppt natürlich sofort der Begriff der sozialen Rolle in seinen verschiedenen Versionen und mit seinen sehr unterschiedlichen Implikationen hoch: die Marx’sche ›Charaktermaske‹, die soziale Position Georg Simmels, die Pattern Variables von Talcott Parsons, der Role Set bei Robert K. Merton und der Mensch ohne Rollen, Ralph Dahrendorfs Homo sociologicus. Das Theaterstück bleibt dasselbe, wenn andere Schauspieler die Rollen spielen und der Regisseur den Text nicht bearbeitet. Aber bei diesen Begriffsbildungen ist die Ersetzbarkeit vor allem Heuristik: Man möchte die Gesamtgesellschaft erfassen. Die setzt sich aus vielen Bestandteilen zusammen und ist unübersichtlich. Man kategorisiert die Bestandteile. Alles, was innerhalb einer Kategorie bleibt, ist gegeneinander austauschbar. Jetzt besteht die Gesellschaft aus einer begrenzten Anzahl von Kategorien und ist übersichtlich.

Mit der Rollentheorie ist das Thema Ersetzbarkeit jedoch nur angetippt. Ersetzbarkeit ist keineswegs lediglich ein Ordnungsprinzip für vorliegende Gesellschaften. Zuvörderst ist Ersetzbarkeit ein kognitives Prinzip, das Gesellschaft überhaupt erst möglich macht. Alles spricht dafür, dass der Ursprung dieses kognitiven Prinzips in dem liegt, was der Anthropologe Michael Tomasello – von 1998 bis 2017 Kodirektor des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig – kollektive Intentionalität nennt.[11]

Tomasello nennt die Vorstufe zur kollektiven Intentionalität gemeinsame Intentionalität. Bei der Jagd der Frühmenschen gab es ein gemeinsames Ziel, das erreicht wurde, indem jedes Gruppenmitglied eine eigene Rolle spielte, wobei die Rollen wechselseitig voneinander abhingen. Individualität und Gemeinsamkeit koexistierten. Für die gemeinsame Intentionalität ist entscheidend: Es gibt einen Zielgegenstand, dem alle Gruppenmitglieder ihre ungeteilte Aufmerksamkeit widmen, den die Gruppenmitglieder jedoch aus verschiedenen Perspektiven betrachten.

Menschenaffen verstehen, dass andere Ziele haben, unter Umständen helfen sie anderen. Aber sie arbeiten nicht auf ein gemeinsames Ziel in dem Sinne hin, dass sie sich sowohl auf die Absicht des anderen als auch unabhängig davon auf eine gemeinsame Absicht beziehen. Menschenaffen haben keine gemeinsame Intentionalität. Wenn Menschenaffen zusammenarbeiten, gibt es so gut wie keine Kommunikation über Absichten. Dagegen benutzen kleine Kinder bereits im Alter von vierzehn bis achtzehn Monaten die Zeigegeste, um gemeinsame Tätigkeiten miteinander abzustimmen. In diesem Zusammenhang ist auch wichtig: Unter den mehr als zweihundert Primatenarten ist nur beim Menschen die Ausrichtung der Augen gut sichtbar. Weil der Augapfel weiß ist, kann die Stellung der Pupillen und damit das Ziel der Aufmerksamkeit beim anderen jeweils ziemlich präzise identifiziert werden.

Gesellschaft beginnt nicht mit dem Wir und ist keineswegs dasselbe wie das Wir. Gesellschaft ist eine besondere Sorte von Wir. Gemeinsame Intentionalität ist noch nicht Gesellschaft. Denn mit der Erreichung des Zieles zerfällt die Gruppe. Erst mit einem anderen Ziel kommt es erneut zu gemeinsamer Intentionalität. Gemeinsame Intentionalität ist der erste, kollektive Intentionalität der zweite Entwicklungsschritt. Im Gegensatz zu gemeinsamer Intentionalität ist kollektive Intentionalität dauerhaft: Die Individuen koordinieren sich nicht nur synchron, sondern auch diachron. Praktiken und Wissen werden weitergegeben, das Ergebnis ist das, was wir als zivilisatorische oder kulturelle Praktiken bezeichnen.

Bei den Frühmenschen bedeutete das Wir allein diejenigen Mitglieder der Gruppe, die von Angesicht zu Angesicht Umgang miteinander hatten. Gesellschaft beginnt jedoch erst da, wo das Individuum in der Lage sein muss, sich mit jedem beliebigen Individuum zu koordinieren, das als Gruppenmitglied in Frage kommt. Die kollektive Intentionalität ist der Ursprung des ›Objektiven‹: Das ›Objektive‹ ist dasjenige, was in den Perspektiven aller Individuen das Gleiche ist. Wird in irgendeinem Kontext ein Individuum durch ein anderes ersetzt, eine Perspektive durch eine andere abgelöst, dann ist ›objektiv‹, was für jede beliebige Person, für jede beliebige Perspektive gleichbleibt.

Die Herausbildung kollektiver Intentionalität wurde durch mehrere Faktoren begünstigt. Die Konkurrenz mit anderen Menschen um knappe Ressourcen, vor allem um Nahrung, förderte die dauerhafte Gruppenbildung. Die Gruppe lernte, sie musste nicht mit jedem neuen Ziel wieder bei Adam und Eva beginnen. Schließlich begünstigten die zunehmenden Populationsgrößen die Aufspaltung in weitere Gruppen. Die verschiedenen Gruppen lernten, sich verschiedener Hilfsmittel zu bedienen, auf diese Weise konnten sich die großen Populationen koordinieren.

Mit der kollektiven Intentionalität treten auch soziale Normen im engeren Sinn auf: Menschenaffen üben Vergeltung, wenn ihnen etwas angetan wird, aber sie bestrafen nicht andere für Handlungen gegenüber Dritten. Soziale Normen funktionieren, wenn sie ihren Namen tatsächlich verdienen, in einem ›objektiven‹ Modus: Sie gelten für jede beliebige Person. Im Vergleich zur gemeinsamen Intentionalität unterliegt bei der kollektiven Intentionalität alles einem Prozess der Verallgemeinerung. Der Prozess ist zunächst in keiner Weise ein begrifflicher. Er erfolgt vielmehr durch Handlungen, durch Operationen: durch Ersetzung.

Die historisch frühesten Ersetzungen betrafen Objekte und Menschen: Ein zweites Objekt wird an die Stelle eines ersten gesetzt. Das zweite Objekt übernimmt die Funktion des ersten. Ein zweiter Mensch rückt an die Stelle des ersten. Der zweite Mensch übernimmt die Perspektive des ersten. Dabei kann es nicht darum gehen, ein Objekt durch ein gleiches zu ersetzen. Zwei gleiche Objekte sind ein und dasselbe Objekt. Bei den Menschen stellt sich die Frage nicht: Zwei Menschen sind nie gleich, auch wenn es eineiige Zwillinge sind oder es Klone sein sollten.

Die kollektive Intentionalität Tomasellos scheint zunächst völlig inkompatibel mit den System- und Netzwerktheorien von Luhmann, White und Latour zu sein. Denn sie lässt an etwas wie eine kollektive Rationalität denken. Diesen Leitgedanken hat die Sozialtheorie überwunden, weil er die dementsprechend möglichen Sozialtheorien viel zu sehr beengte. Uns interessiert an der kollektiven Rationalität Tomasellos ausschließlich ein Aspekt: derjenige der Ersetzung. Es ist völlig egal, welche Richtung die kollektive Intentionalität einschlägt, sie ist die Voraussetzung für das Praktizieren von Ersetzung, ohne das Gesellschaft nicht denkbar ist.

In den frühesten abstrakten Gesellschaftstheorien bedeutete Gesellschaft Konstanz bei der Ersetzbarkeit von Individuen. Auf der nächsten Entwicklungsstufe meinte Gesellschaft eine definierte Varianz bei Individuentausch. Die Gesellschaft der Zukunft dehnt die Ersetzbarkeit auf Entitäten aus, die vom klassischen Bild des Individuums sehr weit weg sind.

Die Grundüberlegung dieses Buches lautet deshalb: Gesellschaft ist die Produktion von nicht identischer Ersetzbarkeit.

4Produktionsumgebungen

Der Begriff der Produktion bietet einen Ansatzpunkt, um die Unzulänglichkeiten der aktuell kursierenden Sozial- und Gesellschaftstheorien effektiv anzugehen. Produktion ist grundsätzlich dynamisch: Produktion ist mit einem Prozess verbunden, der einen definierbaren Anfang und ein definierbares Ende hat. Es gibt ein Vorher und ein Nachher. Produktionstheorie kann gar nicht statisch sein, sie muss schon vom Begriff her Dynamik berücksichtigen.

Wir bauen auf dem Begriff der Produktionsfunktion auf, der den Betriebswirten und den Volkswirten vertraut ist. Zwei Dinge seien vorausgeschickt. Die Betriebswirtschaftslehre untersucht vor allem materielle Produktion. Das ist eine für unseren Zweck untragbare Einschränkung. Wir berücksichtigen auch jegliche Form von immaterieller Produktion, die Erstellung von Software genauso wie das Verfassen von Gedichten. Aber vor allem: Unsere Argumentation läuft in keiner Weise etwa darauf hinaus, dass Gesellschaft, sei es die Gesamtgesellschaft, seien es Subgesellschaften, produziert, ›gemacht‹ ist oder sind. Gesellschaft bildet sich. Für die Bildung und für den Fortbestand von Gesellschaft spielt jedoch Produktion in allen ihren Versionen eine Schlüsselrolle.

Eine klassische Produktionsfunktion beschreibt die Beziehung zwischen den Inputs und den Outputs eines Produktionsprozesses: Für jede Kombination von Inputs gibt die Produktionsfunktion die größte Produktmenge an, die mit Hilfe der Inputkombination erzeugt werden kann. Die Inputs sind die Produktionsfaktoren, die Outputs die Produktionsergebnisse. Der Begriff der Produktionsfunktion kam mit der industriellen Fertigung auf. Die Produktionsfaktoren waren die verwendeten Rohstoffe und die Arbeitskräfte, die Produktionsergebnisse die Endprodukte.

Differenzierung und Metabetrachtung gehören zum Kern der klassischen Produktionstheorie. Im betriebswirtschaftlichen Schrifttum wurde zunächst jeder Firma eine Produktionsfunktion zugeordnet. Die komplette maschinelle Ausrüstung und das gesamte Knowhow der Firma wurden durch die Produktionsfunktion erfasst. Die Differenzierung erfolgt entlang von zwei Hauptlinien: Produktionsprozesse spalten sich auf, als Folge sind Firmen durch eine ständig zunehmende Anzahl von Produktionsfunktionen zu charakterisieren. Die Produktionsprozesse werden zunehmend komplexer, es gibt ständig mehr Produktionsfaktoren und Produktionsergebnisse. Die Metabetrachtung ist im prinzipiell rekursiven Charakter der Produktionstheorie angelegt. Sehr elementar können Produktionsergebnisse zu Produktionsfaktoren werden. Weniger elementar können Produktionsergebnisse auch in Produktionsprozessen bestehen: Produktion produziert Produktion.

Unser Zentralbegriff ist derjenige der Produktionsumgebung. Eine Produktionsumgebung steht für einen Auswahlmechanismus oder, vermenschlicht formuliert, für eine handelnde Entscheidungsinstanz. Das kann ein einzelner Mensch sein, eine Gruppe von Menschen oder etwa auch Software. Die Entscheidungsinstanz verfügt über Handlungsalternativen, die aufgezählt oder eingegrenzt werden können. Die Entscheidungsinstanz macht Pläne. Ein Teil der Pläne wird verwirklicht: Es wird etwas produziert. Produktionsumgebungen enthalten keine Produktionsfunktionen, die anerkannten mathematischen und Naturgesetzen widersprechen.

Jeder Produktionsumgebung ist ein Raumzeitabschnitt zugeordnet. Die Länge des Zeitintervalls hängt davon ab, wie lange die Entscheidungsinstanz braucht, um ihre Pläne zu realisieren. Der Raumabschnitt muss so groß sein, dass die Produktionsfaktoren, die Produktionsverfahren und die Produktionsergebnisse darin untergebracht werden können. Die Entscheidungsinstanz selbst und der Raumzeitabschnitt kommen in der Produktionsumgebung nicht vor. Die Entscheidungsinstanz ist die Produktionsumgebung. Der Raumzeitabschnitt wird per Indexierung hinzugefügt.

Möge die Reise durch Formel-Mordor beginnen. Wir werden die zentralen Begriffe zunächst intuitiv einführen und dann jeweils am Kapitelende die präzisen formalen Definitionen geben.

Eine Produktionsumgebung besteht aus einer Menge von Produktionsfunktionen, einer Menge von Intentionen und einer Menge von Aktualisierungen:

PU = 〈P, I, A〉.

P ist eine Menge von Produktionsfunktionen p. Produktionsfunktionen repräsentieren Produktionsverfahren. Der ursprüngliche Begriff der Produktionsfunktion kann nach zahlreichen Seiten hin verallgemeinert werden. Die Produktionsfaktoren wie die Produktionsergebnisse müssen keineswegs materieller Natur sein. Geistige Leistungen wie naturwissenschaftliche Forschung, geisteswissenschaftliche Betrachtung und künstlerische beziehungsweise ästhetische Anstrengung können gleichfalls als Fälle von Produktion modelliert werden. Die zuerst untersuchten Produktionsfunktionen waren quantitativ und vorzugsweise stetig. Generell hängt die Stetigkeit einer Funktion mit der Topologie der abgebildeten und abbildenden Räume zusammen. Um den Produktionsgedanken möglichst universal anzuwenden, verwenden wir im Folgenden diskrete Produktionsfunktionen. Auch für diskrete Räume gibt es einen Stetigkeitsbegriff.

Verschiedene Produktionsfaktoren werden kombiniert, um ein eindeutiges Produktionsergebnis zu erzielen. p1und p2 seien etwa zwei Produktionsfunktionen aus P. Die Anwendung von p1auf f1und f2ergibt das Ergebnis e1, während die Produktionmit der Kombination von f1, f3und f5durch p2zu den Ergebnissen e2und e4führt. Das wird geschrieben als:

p1({f1, f2}) = {e1}.Und: p2({f1, f3,f5}) = {e2, e4}.

I istdie Menge der Intentionen der Produktionsumgebung. Produktionsvorgänge werden geplant. Der Auswahlmechanismus, die Entscheidungsinstanz selektiert bestimmte Produktionsfunktionen und Produktionsfaktoren. Die Produktionsfunktionen sollen auf die Produktionsfaktoren angewendet werden. Der Begriff der Intention ist hier in keiner Weise psychologisch gemeint: Auch eine nicht menschliche Entität kann Produktionspläne machen, man denke etwa an die automatische Produktionsauslösung aufgrund der Bestelleingänge in der Industrie.

Es ist geplant, e1unter Einsatz von p1 und f1, f2 sowie e2 und e4unter Einsatz von p2 und f1, f3,f5 zu produzieren. Es sollen also die Produktionen p1({f1, f2}) = {e1}und p2({f1, f3,f5}) = {e2, e4}durchgeführt werden. Das wird ausgedrückt als:

〈p1, f1, f2, e1〉 ist Element von I und 〈p2, f1, f3,f5, e2, e4〉 ist Element von I.

A ist die Menge der Aktualisierungen der Produktionsumgebung. Pläne werden ausgeführt oder nicht. A ist eine Teilmenge von I. Nicht alle Intentionen müssen aktualisiert werden. Alle Aktualisierungen sind intendiert.

Die Produktionen p1({f1, f2}) = {e1} und p2({f1, f3,f5}) = {e2, e4