MUSICA FANTASTICA - Jörg Weigand - E-Book

MUSICA FANTASTICA E-Book

Jörg Weigand

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Beschreibung

Musik in Form von Melodien und Liedern, ein wesentlicher Bestandteil unserer Kultur, ist für viele Menschen ein wichtiger Bestandteil ihres Lebens. Im Gegensatz dazu ist Musik in all ihren Ausprägungen viel weniger ein Thema in der Literatur, noch weniger im Teilgebiet der Fantastik und der Science-Fiction. Jörg Weigand, seit Jahren selbst als Komponist – auch im fantastischen Bereich – tätig, legt hier eine Sammlung von Kurz- und Kürzestgeschichten vor, die sich in vielfacher Weise des Themas annehmen: eine gelungene Ergänzung seiner Komposition »Weltraummusik«, die zusammen mit Gedichten von Herbert W. Franke unter dem Titel »Astropoeticon« als CD erschienen ist (Freiburg 2017). Von der Entstehung des weltweiten Klassikers »Stille Nacht« über die Sphärenklänge des Saturn bis zur von Kirchenglocken eingeläuteten Interpretation von Beethoven-Kompositionen reicht die Themenbreite dieser Geschichtensammlung, eine Fundgrube für Musikliebhaber wie auch für Freunde der Fantastik und der Science-Fiction.

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EPUB
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Seitenzahl: 109

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Jörg Weigand

Musica Fantastica

Zweiundzwanzig utopisch-fantastische Erzählungen

AndroSF 166

Jörg Weigand

MUSICA FANTASTICA

Zweiundzwanzig utopisch-fantastische Erzählungen

AndroSF 166

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© dieser Ausgabe: Oktober 2023

p.machinery Michael Haitel

Titelbild: »Kommunikationsinfektion«, Rainer Schorm

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda

Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Norderweg 31, 25887 Winnert

www.pmachinery.de

für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu

ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 319 2

ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 785 5

Der Gesang der schwarzen Kiefern

Das Licht des Vollmondes stahl sich durch die nicht gänzlich geschlossenen Vorhänge und legte seidig hellen Glast über das Betttuch. Die junge Schläferin wälzte sich unruhig hin und her; Kopfkissen und Linnen waren schweißnass. Eine unhörbare Musik schwebte im Zimmer und rief sie …

Im Alter von etwa zwölf, dreizehn Jahren, genau wusste sie das nicht mehr, war Velda auf die Kiefern oben am Berg aufmerksam geworden. Als scherenschnittartige Silhouetten ragten sie hoch in den Himmel, reckten ihre dunklen Äste gleich Armen empor, wie in Anbetung versunken.

Der Sonntagsspaziergang mit den Eltern hatte das junge Mädchen des Öfteren an den borkigen Nadelbäumen vorbeigeführt, ehe ihm als Erstes aufgefallen war, dass es unter jedem der Bäume im Umkreis der Nadelkrone nur kahle Stellen gab, auf denen nichts wuchs. Nur abgefallene braune Nadeln und Zapfen vom Vorjahr bedeckten den Boden.

Schwarzkiefern, so lernte sie bald in der Schule aus einem botanischen Lehrbuch, werden bis zu dreißig Meter hoch und haben ihren Namen von der Rinde, die oft schon in jungen Jahren rußig schwarz werden kann.

In den ersten Monaten spürte Velda jedes Mal ein kleines Ziehen in der Brust, sooft sie die Kiefern oben auf dem Berg zu sehen bekam, ein kleines Ziehen nur, ganz tief in der Magengrube, das emporstieg, bis es ihr Herz erreichte. Nichts als dieses Ziehen, auf das sie nicht weiter achtete, und das erst in der Rückschau eigentliche Bedeutung gewann.

Der Vollmond stand nun genau über dem Haus, sein heller Schein war über das Bett gewandert und streifte knapp den Kopf der Schlafenden. Das Mädchen hatte sich auf den Bauch gewälzt, so als wollte es dem Drängen, dem unsichtbaren Locken entfliehen; die Hände mit den schmalen, langen Fingern waren zu Fäusten geballt, festgekrallt am Laken, das sich von der Matratze gelöst hatte und immer mehr wegrutschte.

Mit fünfzehn Jahren träumte Velda zum ersten Mal, sie sei in der Nacht allein auf den Berg gestiegen, habe sich unter die schwarzen Riesen mit ihren hochragenden Ästen gesetzt und ihrem unhörbaren Gesang gelauscht, der in langgeschweiften Harmonien in den hohen Himmel stieg, den Sternen entgegen, die in ihrer Fülle dem Licht des Mondes Konkurrenz machten.

Ein nie gekanntes Gefühl schmerzhafter Sehnsucht hatte ihr Herz ausgefüllt, hatte sie mitgerissen in einem Strudel der Emotionen und sie weit hinaus ins All geschleudert – hinweg in das geheimnisvolle Unbekannte zwischen den Galaxien. Nie schien ihr Gott so nahe wie in diesen Momenten, als sie im Traum ihre Seele zwischen den Sternen verlor. Und wiederfand.

Wie diese Reise ins Unerforschliche endete, wurde ihr nie bewusst. Als sie erwachte, stand sie ganz im Bann der Eindrücke, die ihr Leben veränderten. Sie wunderte sich nicht über ihre schmutzigen Füße, obgleich sie doch am Abend zuvor unter der Dusche gestanden hatte, und auch nicht darüber, dass vor und in ihrem Bett alles voller Kiefernnadeln war, braune, lange Nadeln, die zum Teil abgeknickt waren.

Durch jene Nacht änderte sich Veldas Leben grundlegend. Wie unter Zwang besorgte sie sich alle Literatur, die sie über die schwarzen Kiefern finden konnte. Sie lernte, dass die Kiefer der am häufigsten dargestellte Baum in der chinesischen Kunst ist. Als Symbol für langes Leben und geduldiges Ausharren inspirierte sie auch die Dichtkunst im »Reich der Mitte«, die das Rauschen der Kiefern im Abendwind besang. Durch diese Hinweise angeregt, begann Velda, sich in die Gedankenwelt Ostasiens einzulesen und fand selbst beim alten Philosophen Konfuzius Hinweise auf ihre schwarzen Freunde, die sie weiterhin anlockten, sie von Tag zu Tag mehr faszinierten.

Der Schein des Mondlichts war noch ein Stück weitergewandert und lag voll auf dem Kopf des Mädchens, das nun still lag und zu lauschen schien. Mit einer geschmeidigen Bewegung drehte es sich auf den Rücken, streifte das Betttuch vom Körper und richtete sich auf. Ohne aufzuwachen, ging Velda zum Fenster, zog den Vorhang zur Seite und stand nun im vollen Licht. Sie öffnete die Fensterflügel und kletterte aus dem ersten Stock das Gewirr des wilden Weins hinab in den Garten, wo sie abwartend verharrte. Sie schien zu lauschen, neigte leicht den Kopf, wie um besser zu hören, stand still und konzentrierte sich auf Töne, die außer ihr niemand vernahm.

Seitdem sie seit einigen Monaten mit der Lehre fertig war und im Beruf stand, hatte es sich Velda zur Gewohnheit gemacht, auch untertags oder abends, sooft es ihr die Zeit erlaubte, zu den schwarzen Kiefern auf den Berg zu steigen und sich an ihren Fuß zu setzen. Stundenlang konnte sie ihnen lauschen, erfüllt von einem tiefen Gefühl der Zufriedenheit und ausgerichtet auf die Unendlichkeit des Himmels. Oftmals vergaß sie die Zeit und verbrachte die halbe Nacht dort oben, bis sie fröstelte oder ein plötzlicher Regenschauer sie aus ihrer Versenkung riss.

Es schien ihr inzwischen ganz natürlich und selbstverständlich, dass diese Verbundenheit mit ihren schwarzen Freunden ihre anderen Kontakte unterband. Nun gut, man sprach über sie in dem kleinen Ort, wo sie ihre Wohnung genommen hatte, aber sprach man nicht über jeden? Ihr erschien es wichtiger, dass sie mit sich selbst im Reinen war, in einem unglaublich schönen, weil harmonischen Gleichgewicht.

Die Schläferin befand sich auf dem Weg hinauf auf den Berg, wo die schwarzen Kiefern ihr wehmütiges und zugleich hoffnungsfrohes Lied sangen. Der Drang, ihnen nah zu sein und ihnen zu lauschen, war stark wie noch nie und schien mit jedem Schritt zuzunehmen, den Velda den Berg hinauf tat. So komm doch, komm zu uns, lockte es und zog sie leichtfüßig den steilen Pfad hinan; sie folgte umso bereitwilliger, je näher sie kam, merkte nicht, wie sich die Steine des Wegs in ihre Fußsohlen bohrten.

Oben stand sie mitten unter ihnen und ließ sich erfüllen von der lautlosen Melodie, die von den schwarzen Kiefern ausgeschickt wurde. Und ohne sich dessen bewusst zu werden, breitete sie weit ihre Arme aus, hob sie gen Himmel und stimmte ein in den Lobgesang ihrer Freunde.

Die Spaziergänger, die am nächsten Tag an jenem Ort vorbeikamen, merkten nicht, dass es nun eine Kiefer mehr gab. Das Mädchen Velda aber blieb verschwunden und ward nie mehr gesehen.

Das sensible Klavier

Janna Herdegen, Rezeptionistin im Xantener Hotel van Bebber, hatte mit ihren über zwanzig Jahren Berufserfahrung einen Blick für die ankommenden Gäste. So erkannte sie sofort, dass der Anzug maßgeschneidert war, die Krawatte von Hermès stammte. Ihre Augen wanderten nach unten: Schuhe von Mephisto – sehr solide. Der alte Herr, Janna schätzte ihn auf etwa siebzig Jahre, war mit leichtem Gepäck unterwegs, er zog einen kleinen Koffer auf Rollen hinter sich her.

Gleich nach dem Entree blieb er stehen und sah sich um. Was er erblickte, schien ihm zu gefallen.

Mit wenigen Schritten stand er vor Janna, die ihn freundlich anlächelte.

»Kann ich Ihnen helfen?«

Der alte Herr zögerte kurz. »Äh, dürfte ich mich wohl einen Augenblick hinsetzen. Ich weiß noch nicht, ob ich hier ein Zimmer nehmen will.« Und dann, wie zur Entschuldigung: »Mir ist nicht gut, wissen Sie.«

Eine etwas ungewöhnliche Bitte, dennoch reagierte Janna sofort: »Aber sicher, gleich um die Ecke können Sie es sich im Raum Siegfried bequem machen.« Sie wies in die Richtung. »Kann ich Ihnen den Koffer abnehmen? Oder hätten Sie vielleicht gerne ein Glas Wasser?«

Der alte Herr sah sie bewundernd an: »Sie haben schöne Augen, dieses intensive Blau. Bitte entschuldigen Sie, wenn ich das sage. Fast wie der blaue Frühlingshimmel draußen. Hinreißend! Äh, nein, der Koffer ist nicht schwer.« Er wandte sich um, hielt dann inne und drehte den Kopf noch einmal zu ihr: »Aber ein Glas Wasser, ja danke, das nehme ich gerne.«

Nachdenklich sah die Rezeptionistin ihm hinterher. Irgendetwas machte ihr zu schaffen. Waren es die verhangenen Augen des Mannes, die latente Traurigkeit, die sie darin erkannte? Sie beschloss, ein Auge auf ihn zu haben, auch wenn sie von der Rezeption aus nicht direkt in den Raum Siegfried sehen konnte.

Das Glas Wasser war schnell eingeschenkt. Der alte Herr hatte sich dicht ans Fenster gesetzt und starrte hinaus. Als Janna das Glas absetzte, drehte er sich zu ihr hin.

»Danke, großen Dank! Könnte ich dazu ein Glas Rotwein bekommen, am liebsten einen Merlot«, bat er. Und fügte hinzu, als müsste er seine Zahlungsfähigkeit bekräftigen: »Ich zahle natürlich gleich!«

Und als Janna den gewünschten Wein vor ihn hingestellt hatte, zückte er sofort das Portemonnaie. Aber sie winkte ab.

»Das hat Zeit«, sagte sie und fügte in einem plötzlichen Entschluss hinzu: »Darf ich mich einen Augenblick zu Ihnen setzen?«

Das war zwar von der Geschäftsleitung nicht gerne gesehen, aber jetzt, am späten Vormittag, war es vergleichsweise ruhig: Die abreisenden Gäste hatten ausgecheckt, neue kamen normalerweise erst nach dem Mittagessen.

Der alte Herr sah sie kurz an, überrascht vielleicht, aber sichtlich erfreut: »Ich bitte Sie, ich würde mich freuen!« Und fügte hinzu: »Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle: Nils Petersen. Ihren Namen kenne ich ja.« Er deutete auf das Schild auf ihrer linken Brustseite. Dann nippte er am Wein. »Ausgezeichnet«, lobte er. »Ihr Kellermeister versteht etwas davon.«

Er blickte aus dem Fenster, nachdenklich, wie es schien, als wollte er etwas sagen.

»Ich bin hier in einem Traditionshotel, oder?« Er sah sie fragend an.

Janna nickte: »Unser Haus ist vor über zweihundertfünfzig Jahren gegründet worden.« Sie war froh, dass sie sich ein wenig um die Geschichte des Hotels gekümmert hatte, schon im Interesse der Gäste, die immer allerlei wissen wollten. »Schon Queen Victoria und Winston Churchill haben hier logiert.«

»So, so«, das klang nicht besonders aufmerksam. »Waren nicht auch die Römer hier?«

»Wenn Sie das interessiert: Wir haben in Xanten ein gut eingerichtetes Römermuseum; und der Archäologische Park findet auch immer sehr viel Anklang bei unseren Gästen.«

Irgendwie verhielt sich der Gast eigenartig. Er blickte wieder aus dem Fenster. Dann drehte er sich zu Janna um, offensichtlich entschlossen.

»Wissen Sie, ich bin nicht zum ersten Mal hier in Xanten. Es ist sehr lange her, damals war ich gerade einmal vier Jahre alt. Wir waren auf der Flucht vor den anrückenden Briten und Amerikanern, es hatte Gerüchte gegeben, dass diese Truppen sich gegenüber der Zivilbevölkerung nicht korrekt verhielten. Kurz, meine Mutter hatte beschlossen, mit uns in Richtung Ruhrgebiet auszuweichen. Auf den Straßen rund um den Dom hier in Xanten herrschte das Chaos.«

Janna hörte gespannt zu. Mit dieser Zeit hatte sie sich noch nicht befasst. Mit ihren gerade einmal neununddreißig Jahren war die Kriegszeit für sie ein relativ unbekannter Abschnitt der Geschichte, der sie bis dahin auch herzlich wenig berührt hatte. Herr Petersen sprach konzentriert weiter:

»Ganz schlimm wurde es, als die Stadt bombardiert wurde. Ich glaube mich zu erinnern, das war der zehnte Februar. Es pfiff ein eisiger Wind, die überall einschlagenden Bomben verursachten eine Panik. Dabei verlor meine Mutter …« Der alte Herr konnte nicht weitersprechen, vom Gefühl übermannt. Janna schwieg.

Nils Petersen wandte den Blick ab, der bis dahin direkt auf sie gerichtet gewesen war. Anscheinend zum ersten Mal sah er sich im Raum Siegfried um. Und zuckte zusammen.

»Ein Klavier!«, rief er. »Und auch noch ein Hoffmann-Klavier! Eines der besten … Darf ich …?« Er sah Janna wieder an.

Diese nickte: »Es ist erst vor wenigen Woche wieder gestimmt worden. Und es hat auch …«

Aber Nils Petersen hörte schon gar nicht mehr hin. Er hatte sich erhoben. Langsamen Schritts bewegte er sich auf das Klavier zu. Dabei sprach er, wobei es Janna unklar blieb, ob sie gemeint war oder ob der alte Mann mit sich selbst redete:

»Ich sollte damals Klavierspielen lernen, aber der Krieg und danach … Erst vor drei Jahren habe ich angefangen zu spielen. Mit einem Lehrer. Und seit einem Jahr …«

Er trat vor das Instrument und betrachtete es. »Jetzt schreibe ich meine eigene Musik.« Er drehte sich zu Janna um. »Wissen Sie, ich komponiere. Wenigstens versuche ich es …«

Er wandte sich wieder dem Klavier zu, fragte: »Darf ich?«, griff, ohne die Antwort abzuwarten, nach dem Deckel und klappte ihn zurück.

Er rückte den unter das Instrument geschobenen Hocker zurecht und setzte sich. Janna hatte den Eindruck, der alte Herr wolle anfangen zu spielen, doch ehe seine Finger die Tasten berühren konnten, begann das Klavier von sich aus zu spielen.

Schlagartig füllte eine Melodie den Raum, voll und getragen. Janna erinnerte sich. Sie hatte diese Melodie schon einmal gehört.

Der Alte war aufspringend zurückgewichen, war beinahe über den Hocker gestolpert. Er war bleich geworden, stierte auf die Tasten, die sich – wie von Geisterhand berührt – im Rhythmus der Musik bewegten.

»Das ist unmöglich«, stammelte er. »Das geht nicht. Das ist …«