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Mut - Theater der Lust (erotischer Roman) Um der Leere ihres Lebens zu entkommen, nimmt die Mediengestalterin Viktoria ein einmaliges Engagement im Lilith Secrets Theatre an. Hier wird keine erotische Revue mit Glitzer und Glamour inszeniert, sondern die dunkle Seite der Lust. Bei diesem intensiven Spiel um Dominanz und Unterwerfung trifft sie allerdings auch auf den "Fürsten der Hölle", der bislang nur in ihrer Vorstellung existiert und dort Macht über sie ausgeübt hat. Von dieser dämonischen inneren Welt ist Gil, die Intendantin des Theaters fasziniert. Sie schlägt Viktoria vor, Begegnungen zu arrangieren, die davon inspiriert sind. Viktoria lässt sich darauf ein, und je mehr sie von sich offenbart, desto mehr erhält sie Zugang zu einer Welt voller sinnlicher Abenteuer. Darin begegnet sie schließlich auch Ralf, dem Geliebten Gils … Doch der Fürst greift ebenfalls ins Spiel ein. Imagination und Wirklichkeit tauschen immer wieder die Plätze. Wird sich Viktoria in einer Zwischenwelt verlieren? Mascha Hülsewig von FRAU BLUM – Boutique Erotique, Stuttgart: "Ich bewundere die Offenheit mit der Ines Witka über eines der letzten Tabus in der erotischen Literatur erzählt: Was denkt Frau beim Sex und warum?"
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Seitenzahl: 277
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MUT
Theater der Lust
Band 1
Roman
Copyright © Ines Witka im Gatzanis Verlag, Stuttgart 2019
www.ineswitka.de; www.gatzanis.com
Copyright ©2019 by Ines Witka
Autorin: Ines Witka
Gestaltung: Ines Witka
Fotografie: © Vince Voltage; www.vincevoltage.com/
Model: ITA – It's art; http://ita-its-art.wixsite.com/ita-its-art
Gesamtherstellung: Gatzanis GmbH, Stuttgart
Die Verwertung der Texte (im Print und digital), auch auszugsweise, ist ohne Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.
Printed in Germany
ISBN: 978-3-932855-93-1
Das klingt verrückt, absolut verrückt, was da steht.
Attraktive Darstellerin für experimentelle Bühnenperformance gesucht. Rufen Sie an.
Natürlich wäre so ein Angebot nicht weiter auffallend, würde es in der Rubrik Beruf & Karriere stehen. Dort steht es aber nicht, sondern unter Liebe & Triebe. Weiße Schrift auf grauem Hintergrund, ausgewogenes Schriftbild. Klare Typografie soll dem Aufruf wohl einen seriösen Anstrich geben. Doch die dazugehörenden tanzenden schwarzen Silhouetten sprechen eine andere Sprache. Noch verrückter ist, dass die Darstellungen mein Herz schneller schlagen lassen und mich gleichzeitig verlegen machen. Auf einer Bühne angeblickt werden. Den Blicken standhalten. Eine Leinwand für Projektionen sein. Als Darstellerin verschiedener Leben immer wieder eine andere sein, Vertrauen in meine Fähigkeiten haben. In mich haben. Das alles wäre wunderbar.
Was verbirgt sich hinter der Anzeige? Vielleicht rufe ich an, später. Wie immer später, was meist gleichbedeutend mit nie ist. Außerdem ist es Samstagvormittag, da wird niemand zu erreichen sein.
Ich werfe die Zeitschrift zurück zu den anderen Magazinen, die neben Hautschere, Hufstäbchen, Nagelhautmesser und einem Maniküre-Etui aus Kalbsleder in Kroko-Optik auf der Decke liegen. Meine Tasse mit Tee steht unberührt auf dem Tablett. Vorsichtig prüfe ich, ob der Nagellack schon trocken ist. Mit angezogenen Beinen, die Füße auf einem Handtuch, habe ich die Fußnägel in einem beigen Pastellton lackiert. Wattebällchen zwischen den Zehen halten sie auf Abstand. Eigentlich ist der Lack überflüssig, denn ich habe die Nägel bereits zwanzig Minuten mit der Polierfeile bearbeitet. Der Lack ist noch nicht trocken. Also greife ich noch einmal nach dem Stadtmagazin und lese die Zeilen erneut. Sie gefallen mir immer noch, genauso wie die Aufregung, in die sie mich versetzen. Um mich abzulenken, lasse ich den Blick über weitere Annoncen schweifen:
Martin sucht einen leidenschaftlichen Seitensprung …
Netter Junge möchte einfach Lust erleben und sich in einen Rausch der Sinnlichkeit fallen lassen …
Ein schlanker Er hat Zärtlichkeit zu verschenken und steht auf hemmungslosen, ausdauernden Sex …
Seit wann habe ich keinen Sex mehr? Seit der Scheidung von Alexander. Und in der Ehe? Es hätte besser laufen können. Und davor? Da war ich definitiv gut dabei. Vielleicht sollte ich auf eine der Anzeigen reagieren und an die Zeit von damals anknüpfen. Diese klingt nicht schlecht: Fantasien ausleben! Suche Frau, die bei angelehnter Tür halbnackt auf mich wartet und deren Lust ich in ungeahnte Höhen treiben darf. Gerne auch tagsüber.
Oder vielleicht doch lieber selbst eine aufgeben: Perle, in Auster versteckt. Nur für Genießer. Wer den Schatz heben will, muss erst die Schale knacken. Introvertierte, schlanke Sie, 170 cm, Mitte dreißig sucht sensiblen Partner für …
Was suche ich eigentlich? Wen suche ich? Mich! Mit Bedacht schreibe ich dieses Wort mit dem Nagellack in großen Druckbuchstaben auf meinen Oberschenkel. Der beige Farbton ist zwar nicht deutlich zu sehen, doch es ist ein Anfang.
Seit ich denken kann, ging es nie um mich. Auf einem Bauernhof lernt man schnell, dass die Ernte, das Vieh, das Wetter, alles wichtiger ist als man selbst. Zuerst kam der Hof, dann die Schule. Um meine Hausaufgaben machen zu können, versteckte ich mich auf der Bühne. An der Universität verschleierte ich wiederum die dörfliche Herkunft, und als ich einen der Professoren für Medienwissenschaft heiratete, und zwar in dem Jahr, als er Professor des Jahres wurde, trat ich in seinen Schatten. Sein Erfolg war wichtiger als meiner, und nun verkrieche ich mich in dieser Wohnung. Sinnlos über einen Text für eine Kontaktanzeige nachzudenken; ich werde keine aufgeben, so wie ich auch Online-Dating-Portale und Tinder nicht nutze. Und was ist mit den Stellenanzeigen? Warum zauderst du? Warum lässt du dich ablenken und stöberst bei Lust & Triebe? Schau sie dir wenigstens an, mahnt meine innere Stimme. Steh auf. Wolltest du nicht zum Sport?
Ja, wollte ich, zur Belohnung, wenn die Sache mit den Bewerbungen erledigt ist.
Erst die Pflicht, dann das Vergnügen, vergiss diesen blöden Spruch deines Vaters, du hältst dich eh nicht daran.
Die Möglichkeiten der Freiheit überfordern mich.
Du spinnst.
Stimmt, das glaube ich langsam auch. Du spinnst, haben alle gesagt, als ich mich von Alexander trennte. Du spinnst, als ich aus dem luxuriösen Haus aus- und in diese Altbauwohnung einzog. Du spinnst! Aber sie kennen mein wohlgehütetes Geheimnis nicht. Ich musste es tun, musste einen Versuch unternehmen, mich zu retten, Zuversicht und Freude zurückzugewinnen. Deswegen sind die Türen des Kleiderschrankes, der gegenüber dem Bett passgenau eingebaut wurde, in einem optimistischen, freundlichen Gelb. Schrank und Bett sind die einzigen Möbelstücke, die ich nach der Scheidung gekauft habe, denn überraschenderweise verhielt sich Alexander großzügig, und ich durfte an Möbeln und Geschirr mitnehmen, was immer ich benötigte. Selbst bei den Hochzeitsgeschenken kam es zu keinem Streit. Auch nicht über die kostbare Teekanne, ein Geschenk seiner Mutter. Gut, für ihn war sie ohnehin wertlos, da sie am Griff angeschlagen war. In Alexanders Welt passt nur das Makellose. So ist mein kleines Refugium mit dänischen Designermöbeln und wenigen antiken Stücken eingerichtet, die ich von einer Tante geerbt habe.
Ich stehe auf, lege die Hand auf das gelbe Glas der Schiebetür und lasse sie aufgleiten. Dahinter drängen sich Hosen, Kleider und Blazer aneinander, von hell nach dunkel sortiert. Auf der Ablage darüber sind Pullover und T-Shirts nach Farben und Formen aufeinandergeschichtet. In den Schubladen liegt meine Wäsche: kleine Stapel aus Strings, Pantys, Taillengürteln, Bustiers, Bodys und BHs, gefertigt aus hochwertiger Spitze, aus Samt und Tüll oder Leder. Kunstwerke der Lingerie, jedes einzelne kostbar und auf seine eigene Weise verziert mit Stickereien, Glassteinen, Perlen oder Bändern. Jedes Teil hat eine Geschichte, ich weiß genau, wann und wo ich es gekauft habe und wie ich mich fühlen werde, sobald ich den Stoff auf der Haut spüre. Ich komme an keinem Dessousgeschäft vorbei, ohne zu stöbern, immer bin ich auf der Suche nach neuen Formen. Um sie zu tragen, brauche ich keinen besonderen Anlass oder eine bestimmte Tageszeit. Das, was ich direkt auf der Haut trage, ist überraschender als das darüber. Das, was mir am nächsten ist, knisternd unter der Kleidung liegt, ist das Ehrlichste an mir.
Eine Sekunde lang schwebt meine Hand über der Wäsche, bis ich ein kleines, schlichtes, schwarzes Dreieck ergreife und anziehe. Glitzernde Bänder aus Strasssteinen schmiegen sich um meine Hüften, mehrere Strassbänder, geschickt miteinander verknüpft, legen sich als ein auf den Kopf gestelltes Diadem über die Pobacken. Zur Vollendung schmiegt sich ein kleiner Kristalltropfen in die Kuhle, an der Po und Rücken ineinander übergehen.
Prüfend gleitet mein Blick über die Reihe von Mänteln und Jacketts und bleibt beim frech blitzenden Rot eines Ledermantels hängen. Seltsam, dass ich ihn in dieser Farbe gekauft habe, obwohl ich doch versuche, nicht aufzufallen. Die Erinnerung, wie ich in diesem leuchtenden Rot glücklich lächelnd durch die Innenstadt spaziert war, taucht vor meinem inneren Auge auf. Überrascht bemerkte ich damals die enorme Wirkung der Farbe. Da hätte ich gleich mit einem blinkenden Neonpfeil über meinem Kopf durch die Straßen gehen können. Das Grinsen der Männer war nicht schwer zu deuten. Danach gab es für den Mantel und mich kein zweites Mal.
Nun bekommt er einen weiteren Auftritt vor dem großen silbergerahmten Spiegel im Flur. Ich ziehe ihn über die nackte Haut. Seine Farbe lässt mein blondes Haar heller leuchten, verleiht der Haut Lebendigkeit. Nur die Lippen sind zu blass. Aus dem Schminkzeug im Badezimmer wähle ich einen bordeauxroten Lippenstift, schwarzen Mascara und Eyeliner. Mit jedem Strich sehe ich die unscheinbare Viktoria verschwinden. Freundlich betrachte ich mich, genieße mein Spiegelbild, finde diese andere Viktoria gut aussehend. Dieses Spiel mit meinem Äußeren erinnert mich an die Anzeige. Ich werde anrufen. Ich habe schon in der Schule gern in der Theater-AG gespielt. Dieses Ausprobieren eines anderen Lebens ist fast wie einen anderen Körper zu bewohnen. Und diese Aussicht macht mich wach und aktiv. Das ist doch ein gutes Zeichen. Mit dem Telefon in der Hand stelle ich mich vor den Spiegel und lächle mich an. Nur Mut, was soll schon passieren? Du musst nicht hingehen, wenn dir das Angebot nicht gefällt. Genau! Ich tippe mit der größten Selbstverständlichkeit die Nummer ein.
Während ich warte, versuche ich, den optimistischen Blick in meinem Gesicht zu halten, richte mich auf und strecke mich. Nur nicht klein werden.
Eine angenehme Männerstimme meldet sich: »Liliths Secret Theatre, guten Tag!«
»Ich rufe wegen der Anzeige im Stadtmagazin an. Bin ich da bei Ihnen richtig?«
Er lacht: »Das weiß ich nicht.«
»Moment, hier steht: ›Attraktive Darstellerin für experimentelle Bühnenperformance gesucht.‹ Haben Sie nichts damit zu tun?«
»Die Annonce ist von uns, aber ob Sie richtig sind, weiß ich nicht. Sind Sie denn attraktiv?«
Das Spiegelbild nickt eifrig: Ja, du siehst gut aus, mach dir keinen Kopf, du bist hübsch. Blondes Haar, blaue Augen, alles passt zusammen. Und dein Körper ist sexy. Deine Brüste haben genau die richtige Größe, dein trainierter Bauch ist flach, die langen schlanken Beine sind ohne Makel. Selbst deine Füße mit den lackierten Fußnägeln sind wohlgeformt. Es gibt nichts zu meckern.
Doch die andere Viktoria, die vor dem Spiegel, widerspricht: Zieh diesen Mantel sofort aus. Wie kannst du dich mit dem albernen String vor den Spiegel stellen und dich bewundern?
Das Spiegelbild klingt leicht verärgert: Dieser kleine schwarze String wird schon keinen anlocken. Genügt doch, wenn du dich draußen so unauffällig verhältst, dass dich alle sofort wieder vergessen, wenn du überhaupt ins Blickfeld gerätst. Komm, sag ihm, dass du attraktiv bist.
»Hallo?«, höre ich seine Stimme. »Sind Sie noch da?«
»Ja.«
Was jetzt? Attraktiv? Nicht attraktiv? Ich weiß es nicht.
»Soll ich mir ein eigenes Bild machen?«
Obwohl er mein Schweigen richtig interpretiert, ziehe ich es vor, diese Frage zu übergehen.
»Was genau veranstalten Sie? Vielleicht ist es nichts für mich.«
»Wir sind ein experimentelles Theater. Offensichtlich waren Sie noch in keiner Vorstellung.« Seine Stimme klingt freundlich. »Wir inszenieren auch private Vorstellungen. Für die Aufführung, auf die sich das Inserat bezieht, möchten wir speziell mit Laien arbeiten, die es genießen, sich zu zeigen.«
Nach all den Jahren, in denen es darum ging, nur das zu tun, was von mir erwartet wird, Alexander als den Mittelpunkt meiner Existenz zu sehen, wäre dies ein großer Schritt. Ein Ausprobieren von Wirkung und Folgen. Vergnügen daran zu finden, wäre zu viel erwartet.
»Wenn Sie interessiert sind, kommen Sie persönlich vorbei. Mehr verrate ich am Telefon nicht. Es ist ein geheimes Projekt. Außerdem müssen wir das mit der Attraktivität klären.«
In der Art, wie er das sagt, sehe ich sein Grinsen fast vor mir.
»Liliths Secret – seltsamer Name für ein Theater. Sind Sie eine Art religiöse Sekte?«
»Sie wissen, um wen es sich bei Lilith handelt?« Er klingt überrascht. »Es gibt die unterschiedlichsten Interpretationen über diese Frau, sodass man fast meinen könnte, es handele sich dabei um mehrere Frauen mit demselben Namen. Erzählen Sie mal, welche Ihnen bekannt ist.«
Ich überlege. »Ursprünglich war sie eine mythische Göttin, klug und mächtig. Machten die Christen sie nicht zu Adams erster Frau?«
»Sehr gut.« Er lacht. »Weiter!«
»Sie war ihm wohl zu wenig unterwürfig, wahrscheinlich steckte noch zu viel Göttin in ihr. Deswegen hat er sie verstoßen.« Mein Spiegelbild lächelt göttinnengleich, und ich fahre fort: »Vielleicht fand sie Adam einfach langweilig und ist ihm mit ihren Göttinnenflügeln, die sie nicht hergegeben hat, davongeflogen. Danach hat man sie dämonisiert, gesagt, sie sei böse, töte ihre eigenen Kinder, verführe Männer, paare sich mit dem Teufel.«
Er antwortet: »Für uns, mich, ist Lilith eine sinnenfreudige, selbstbewusste Frau, die sich ihre Liebhaber frei wählt. Deswegen habe ich nichts dagegen, wenn sie sich selbst mit dem Teufel einlässt. Im Gegenteil, das klingt vielversprechend.«
Deswegen habe ich nichts dagegen, wenn sie sich selbst mit dem Teufel einlässt. Weiß er, was er da sagt? Mich warnt ein pochendes Klopfen im Kopf. »Sie suchen wirklich Laien für ein Theater und nicht etwa für einen Nachtclub oder eine Strip-Bar? Die tanzenden Silhouetten …«
Er lacht wieder. »Sexy Eyecatcher, nicht wahr? Nein, kein Sex-Club, kein religiöser Verein, kein feministisches Café. Überzeugen Sie sich vor Ort. Wäre es möglich, dass Sie sofort kommen? Eigentlich ist das Auswahlverfahren schon abgeschlossen. Doch Ihre Stimme klingt vielversprechend; ich bin neugierig auf Sie.«
Damit keine innere Einflüsterin eine Chance hat zu widersprechen, verspreche ich, in einer Stunde da zu sein.
Rasch tausche ich den glitzernden String gegen den Body, dessen Träger mit kleinen, in verschiedenen Rottönen gestickten Rosen besetzt sind. Der Busen wird von zwei Schalen gehalten, die jeweils mit einer großen blühenden Rose geschmückt ist. Die Blätter ranken am Rand der Schalen nach unten, gehen nach hinten über in den Verschluss. Auf dem Po wachsen ebenfalls Rosen. Über diesen Garten ziehe ich ein schlichtes beiges T-Shirt und eine Jeans. Nur wenn ich mich strecke, ist zwischen Hosenbund und Shirt ein Hauch von Tüll zu entdecken.
Das Theater ist ein Eckgebäude, ein mit einer Sandsteinfassade versehener Bau aus der Jahrhundertwende. Ein gebogener Schriftzug aus Glühbirnen, wie es Nobelhotels in den 1920er-Jahren hatten, wölbt sich über ein doppeltüriges schwarzlackiertes Portal aus massivem Holz. Nur steht da nicht The Ritz, sondern Liliths Secret Theatre. Vier Stufen führen zum Eingang hinauf. Eine messingglänzende Hand, die einen Lorbeerkranz mit Löwenkopf hält, ziert jeweils eine der Flügeltüren. Eine Tür lässt sich öffnen, und ich trete ein. Auf einen Windfang folgt die Halle mit Kasse und Garderobe. Sie ist mit ein paar Stehtischen und mit zwei auf Sockeln stehenden Statuen möbliert, einem Jüngling und einer jungen Frau. Gemeinsam mit dem Unterbau erreichen sie eine Höhe von zwei Metern. Ganz im Stil der römischen Kunst sind ihre nackten marmornen Körper teilweise mit Schleiern und Tüchern umhüllt.
Durch zwei große Fenster fällt Tageslicht. Der unter der dunkelrot gestrichenen Decke prunkvolle Kronleuchter bildet einen Kontrast zu den weiß gehaltenen Wänden. Am Ende der Halle führen weitere Treppen zu einer kleineren Ausführung des Hauptportals, darüber ein Gesims mit Theatermasken. An manchen Stellen ist noch eine Vergoldung zu sehen. Vermutlich ist dies der Eingang zum Theatersaal. Doch ich soll dem Gang nach rechts folgen, um dort eine mit dem Wort BAR beschriftete Tür zu finden. Sie ist nicht zu übersehen, und ich trete ein.
Die Bar hat nichts von einem Nachtclub. Sofas, Sessel, Hocker und diverse Beistelltische sind zu Wohlfühlinseln arrangiert, an denen sicher angenehme Gespräche stattfinden. Von der Decke hängt eine kleinere Version des Kronleuchters aus der Halle. An weiß gestrichenen Wänden hängen Schwarz-Weiß-Fotos und bunte Plakate. An der dem Eingang gegenüberliegenden Wand steht ein Tresen, auf dessen Schieferfront die Getränke und Snacks beworben werden: Whiskey Sour, Bijou Cocktail, Liliths Choice, Gin Basil Smash, Craft Beer, Bier und Tonics. Dahinter erhebt sich ein mit Alkoholika bestens bestücktes Regal. Ein Teil der Theke wird von einer traditionellen italienischen Handhebelmaschine vereinnahmt. Hinter dieser Maschine steht ein hochgewachsener Mann, der sofort einen Nerv in mir zum Vibrieren bringt. Dichtes, wild wucherndes Haar, hohe Stirn, leichte Hakennase, jugendliche schiefergraue Augen, obwohl er sicher Anfang vierzig sein muss, entschlossenes Kinn. Er trägt ein gut geschnittenes weißes Hemd zur schwarzen Jeans. Der Inbegriff des Frauenverführers fragt freundlich: »Hallo, Lady in Red! Espresso? Cappuccino? Latte?«
Um die Distanz zwischen Tür und Tresen zu überwinden, umschiffe ich die einzelnen Möbel, als seien sie Hindernisse auf einem langen Parcours.
»Ein Cappuccino mit viel Schaum wäre schön«, wünsche ich mir und hoffe, dass er die Aufregung in meiner Stimme nicht hört. Dabei ziehe ich den roten Mantel aus und lege ihn auf einen der Barhocker.
Um die Maschine zu bedienen, beugt er sich leicht vor, dabei fallen ihm seine hellen Haare weich ins Gesicht. Während die kaffeezelebrierende Maschine heißes Wasser durch duftendes Pulver drückt, und das mit stolzem Lärm, kann ich den Mann noch gründlicher betrachten: Die großen blassen Hände, die die Hebel bedienen, bestätigen sein Alter, die Lachfalten verstärken meine spontane Sympathie für ihn. Als er mir die schaumgekrönte Tasse reicht, wendet er sich mir wieder zu, kommt um den Tresen herum und weist mit dem Kinn in Richtung eines Tisches, auf dem diverse Papiere neben einem aufgeklappten Laptop liegen. Während ich die Tasse vorsichtig vor mir her trage, spüre ich seinen Blick auf meinem Po. Er nimmt mir gegenüber Platz und betrachtet ohne Zurückhaltung schweigend mein Gesicht. Kurz kreuzen sich unsere Blicke. In seinen Augen ist keine Aufdringlichkeit zu lesen, nur aufrichtiges Interesse.
»Lange Nacht gewesen, zumindest bei mir. Du siehst ausgeschlafen aus. Wir können doch zum Du wechseln?« Mit ausgestreckter Hand stellt er sich vor: »Ralf. Ralf Sandman.«
Ich erwidere seinen Händedruck. »Viktoria.«
»Viktoria.« Dabei leckt er sich mit einer kleinen spitzen Zunge, die nicht zu dem langen Körper und dem flächigen Gesicht passt, über die Oberlippe. »Habe ich am Telefon erwähnt, dass es sich um keine öffentliche Aufführung handelt, sondern um eine private? Es kommen nur geladene Gäste, die uns mehr oder weniger bekannt sind. Erzähl was von dir, hast du schon Spiel-Erfahrung?«
Unsicher blicke ich zu meinem Mantel. Interessiert betrachtet er ihn ebenfalls: »Rot trägt nicht jede, dazu gehört Mut. Sie ist die eindringlichste Farbe, die wir kennen. Signalrot, scharlachrot, rubinrot, purpurrot, korallenrot, erdbeerrot, kirschrot, tomatenrot, weinrot. Was fällt dir zu Rot ein?«
»Schneeweißchen und Rosenrot. Rote Lippen soll man küssen. Rot ist die Liebe«, antworte ich spontan.
Er nickt. »Feuerrot. Schamrot.«
Bin ich rot geworden? Ich hoffe nicht.
»Rot symbolisiert Blut und Gefahr. Bist du gefährlich?«, fragt er mich ernsthaft. Ohne eine Antwort abzuwarten, doziert er weiter. »Diese Farbe steht für große Gefühle. Ja, die Liebe kann nur rot sein und die Leidenschaft ist es sowieso. Was ist mit dem Begehren?«
Verwirrt starre ich ihn an. »Keine Ahnung.«
Er trinkt einen Schluck Kaffee, sieht erst nachdenklich aus dem Fenster, dann fragend zu mir. »Was möchtest du mit dieser Farbe bewirken? Lass mich raten. Du bist Single und Rot erregt immer Aufmerksamkeit, signalisiert Flirtbereitschaft. Jeans und langweiliges T-Shirt widersprechen dieser Interpretation, zurückhaltende Farben und unauffällige Kleidung lassen eher auf verheiratet schließen.«
»Ich bin Single, ja, aber auffallen möchte ich nicht. Der Kauf war ein Versehen«, stottere ich.
»Ein Missverständnis? Bei einer so eindeutigen Signalfarbe? Mal sehen, wofür Rot in der psychologischen Farbenlehre steht.«
Während er auf der Tastatur des Laptops tippt, nutze ich die Zeit, die Ankündigungen auf den Plakaten zu lesen.
Burlesque-Show der Paradiesvögel – Eine Revue mit grandiosen Tänzerinnen und charmanten Sängerinnen und Frivole Angelegenheiten, Artistik und Comedy. Sinnlichkeit und Humor. Atemberaubende Bilder aus menschlichen Körpern.
Vielleicht suchen sie dafür Statisten? Wie diese Tänzerinnen ihren Körpern präsentieren, ungeniert und frech, das gefällt mir.
»Da haben wir es schon: ›Menschen mit Vorliebe zu Rot-Tönen sind temperamentvoll, offen, voller Tatendrang, besitzen Mut, Leidenschaft und ein starkes Ich-Bewusstsein.‹ Überraschung: ›Sie sind erlebnisbereit, mehr noch, sie sind auf ein sexuelles Abenteuer aus.‹« Zufrieden klappt er den Deckel des Laptops zu. »Komm mit, ich zeige dir das Theater und erzähle dir dabei, worum es geht.«
Mit großen Schritten eilt er den Gang entlang zum Foyer, hastet die wenigen Stufen zum Theatersaal hinauf, öffnet eine der Flügeltüren und lässt mich vorgehen. Nachdem er mehrere Schalter umgelegt hat, flammt sparsam die Bühnenbeleuchtung auf, und mit ihr gehen die symmetrisch entlang der Seitenwände angebrachten Lampen an, deren Licht sowohl nach oben als auch nach unten strahlt. Nach oben beleuchten sie einen sich an der Wand entlang windenden Girlandenstuck und erreichen dann die als Nachthimmel ausgemalte Decke, nach unten erhellen sie einen auf Holzstufen gelegten trittsicheren robusten Teppich. Die Lampen wechseln sich mit antiken Gemälden und alten Spiegeln ab.
»Du siehst, es ist ein Theater und kein Sex-Club. Wir haben knapp dreihundertfünfzig Sitzplätze.«
Ich folge seinem Blick die klassisch roten Samtsitze entlang. Anfangs ist noch jede zweite Reihe tiefer gelegen, die ersten Reihen hingegen sind alle auf einer Höhe. Die Bühne ist leicht geschwungen, besitzt rechts und links einen schwarzen Samtvorhang und einen schwarzen Rückaushang, sodass die Tiefe nicht zu schätzen ist.
»Alles hoch professionell. Wir hatten für die Renovierung aus einem Staatstopf Gelder erhalten. Dafür verpflichteten wir uns gewisse Denkmalauflagen einzuhalten, wie zum Beispiel die beiden Balkone.« Er zeigt nach oben. Seinen sachlichen Tonfall beibehaltend, spricht er weiter: »Bei diesem Engagement bist du Teil eines kleinen Ensembles. Mit dir wären wir sechs. Unsere Gäste werden nicht nur eure Vorführung, sondern auch ein exquisites Dinner genießen, das wir im Zuschauerraum servieren.« Er weist auf die gepolsterten Sitze. »Diese werden entfernt und – ach, lass dich überraschen.«
Durch die fehlende Dramatik in der Stimme will er mir wohl vermitteln: Es ist okay, alles harmlos.
»Was müssen die Darsteller denn tun?«, will ich wissen.
»Meinen Anweisungen folgen, um durch verschiedene erotische Szenen geführt zu werden«, ist seine vage Antwort.
Auch ich bleibe bei der nächsten Frage in dieser sachlichen Tonlage, obwohl ich ein leises Pochen zwischen meinen Beinen spüre. »Gibt es Proben?«
»Nein, es ist Impro-Theater, die Funken zwischen euch, den Zuschauenden und mir springen hin und her. Alles entsteht spontan. Gefühle werden nicht gespielt, sondern sind authentisch. Ihr sollt euch als euch selbst verhalten, nicht als Schauspieler. Durch Proben ginge ein Teil der kreativen Energien verloren. Am besten, du lässt dich einfach in die Situation fallen, wenn es so weit ist.«
Ich verstehe nicht, worauf er hinaus will. »Du erwartest nichts Bestimmtes?«
»Doch, schon: Spontanität, Mut, erotische Ausstrahlung«, sagt er mit einem jungenhaften Grinsen. »Eigenes Begehren zulassen, den Kuss eines Fremden genießen, vielleicht mehr. Du entscheidest dich für eine Berührung, eine weitere kommt hinzu. Keiner weiß, wohin dies führt. Jeder wird sich einbringen. Es wird etwas Unverwechselbares entstehen. Ich weiß zu Beginn selbst noch nicht genau, was, das ist nicht festgelegt. Das Publikum wiederum wird sich durch die Darbietung animiert fühlen, eigene Fantasien auszuleben. Wie weit sie dabei gehen werden, kann ich nicht vorhersagen.«
Während ich ihn entgeistert anstarre, denn seine Beschreibung klingt mehr nach einer Orgie als nach einer Theateraufführung, fügt er beruhigend hinzu: »Die Bühne wird vom Zuschauerraum durch einen schimmernden Vorhang getrennt sein, sodass die Szenerie traumbildartig erscheint. Die Scheinwerfer auf und vor der Bühne werden den Eindruck verstärken, dass ihr entrückt seid. Dazu kommen die Kostüme. Alles zusammen erregt uns, die Gäste. Du wirst selbst erfahren, wie die Bühne zum ekstatischen und schamfreien Raum wird.«
Unfähig etwas zu sagen, nicke ich und schüttle dann den Kopf. Warum renne ich nicht davon? Weil es mich anmacht! Weil ich ausgehungert bin nach Berührung, weil ich ein sexuelles Verlangen spüre, ein nagendes Bedürfnis nach positiver Befriedigung, das schon seit langer Zeit nicht mehr erfüllt wurde. Das nicht erfüllt werden kann, weil ich niemanden treffe. Ich kann mit keinem Mann mitgehen, weil ich es nicht wage, allein mit ihm zu sein. Aber hier wäre ich nicht allein. Viele Menschen wären um mich herum.
»Niemand wird dich erkennen, falls dies deine Befürchtung ist. Fotografieren ist nicht erlaubt, es besteht also keine Gefahr, hinterher im Internet aufzutauchen. Und die fünf Minuten Ruhm auf der Bühne für den einzelnen Zuschauer sind auch nicht eingeplant. Wir haben Saalwächter und unsere Gäste wissen, was sich gehört. Es gibt Regeln. Hier bist du vor unerlaubtem Antatschen sicherer als in jeder U-Bahn, Disko oder Einkaufsstraße. «
»Warum machst du das?«
»Ich könnte dir jetzt was von der intensiven Wechselwirkung zwischen dem Drang, sich darzustellen, also dem Exhibitionismus auf der Seite der Schauspieler und der erotischen Neugier, also dem Voyeurismus auf der anderen Seite, erzählen. Etwas über die kreative Kraft der beiden Pole, die immer wieder dafür sorgen, dass große Kunst geschaffen wird. Doch wenn ich über mich sprechen soll: Ich bin einfach am Tabubruch interessiert. Sieh mich als Rebell, der das Unberechenbare, das Chaotische sucht. Nur außerhalb der Regeln findet Sexualität zurück zum Rausch. Starre Ansichten wie, wo und in welchem Reinheitsgrad Sexualität stattfinden soll, langweilen mich.« Mit einer Spur von Ironie in der Stimme fügt er hinzu: »Du fragst dich sicher, was du erleben kannst? Erregung, Leidenschaft? Im besten Fall dreißig Minuten reinste Ekstase. Du wirst es danach immer wieder und wieder brauchen. Bist du erst einmal infiziert, gibt es kein Entkommen mehr.«
Überlegte ich vor einer Stunde nicht erst, wie schön es wäre, Sex zu haben? Ist das nicht die Chance für mich? Onlinedating oder eine Annonce kann ich nie versuchen, das weiß ich. Hier bekomme ich das Abenteuer auf dem Silbertablett serviert. In meinem Unterleib zieht es heftig.
Ja, ja, ja, mach das, lass dich darauf ein. Mach was Verrücktes. Alles ist besser, als noch länger diese verdammte Einsamkeit auszuhalten und dieses Leben im Niemandsland. Und hier brauchst du keine Angst zu haben. Zumindest nicht vor denen, die du fürchtest. Hierher werden sie nicht kommen.
»Doch mehr kann ich dir über das Projekt nicht erzählen, erst musst du das unterschreiben. Das müssen übrigens alle unterschreiben, die an diesen geheimen Veranstaltungen teilnehmen, sowohl Gäste als auch Künstler.«
Er nimmt eine Mappe von einem der Theatersitze und reicht sie mir aufgeschlagen. In schwarzen fetten Lettern steht da auf weißem Papier: Verschwiegenheitserklärung. Zusätzlich unterstrichen. Ich verpflichte mich des absoluten Stillschweigens gegenüber dritten, nicht eingeweihten Personen. Unter den Linien, in denen man Namen und Adresse eintragen soll, befindet sich eine lang ausformulierte Urheberrechtsklausel. Fragend blicke ich Ralf an.
Er zuckt lässig mit den Schultern. »Dies ist eine Vorsichtsmaßnahme, um uns alle vor nicht autorisierten Berichterstattungen in den Medien zu schützen. Auch wenn es sex sells heißt, möchten wir bei dieser Veranstaltung die Presse komplett heraushalten. Wir machen lieber unauffällig unser Ding.«
Fast schon bin ich zu diesem Experiment bereit. Da versetzt mir der letzte Passus einen Stich: Ich bin darauf hingewiesen worden, dass die Liliths Secret GbR keinerlei Haftung für psychische oder physische Schäden übernimmt, die eventuell bei der Teilnahme an einer der Veranstaltungen entstehen.
Mit der Veranstaltung kann etwas nicht stimmen.
»Das ist heftig. Wozu die Warnung vor physischen Schäden? Ich meine, man hört so viel von schlimmen Übergriffen –«
»Stopp. Ich bin kein Krimineller. Wir ziehen hier nichts Brutales auf oder haben die Absicht, jemanden zu verletzen. Wir Akteure gehen achtsam miteinander um. Jedoch schützen wir uns davor, dass Paare, die untereinander zu heftig spielen, sich nachher bei uns beschweren.«
»Trotzdem, das will ich nicht unterschreiben.«
»Bist du Journalistin?«
»Nein.«
»Warum dann nicht? Es verpflichtet dich nur zum Schweigen, sonst zu nichts. Wenn dir nicht gefällt, was ich noch erzähle, gehst du einfach, und ich kann dennoch beruhigt sein, dass das Gespräch unter uns bleiben wird. Wenn es dir gefällt und du mitmachst, ist es ebenso wichtig, dass alles mit der notwendigen Diskretion behandelt wird.« Trotz der Lachfältchen um die grauen Augen herum, schaut er mich ernst an. Die markanten Brauen verstärken die Seriosität. »Entscheide dich. Bist du risikobereit und leidenschaftlich, dann unterschreibe. Bist du es nicht, dann geh. So einfach ist das.«
»Ich werde es keinem Menschen erzählen.«
»Ein Versprechen genügt nicht.« Auffordernd legt er einen Stift auf das Blatt.
Und dann tue ich es einfach. Meine Neugierde, Genaueres zu erfahren, ist so groß, dass ich die Erklärung ausfülle, meine Unterschrift darunter setze und ihm die Mappe zurückreiche. Ich bekomme einen Durchschlag.
»Okay, beim erotischen Theater kann es nicht um how to make sex gehen. Das wäre zum einen ziemlich langweilig und zum anderen für alle Beteiligten schwierig. Wie sollte der Mann auf ein bestimmtes Stichwort hin körperlich dazu in der Lage sein? Und welche Frau ist auf Zuruf so erregt, dass sie gleich Lust auf realen Sex hat? Also müsste alles Fake sein, was wiederum ziemlich lächerlich rüber käme. Die andere Möglichkeit wäre, irgendeine Handlung vorzugeben und den Schauspielern zu sagen: Wenn ihr bereit seid, dann zieht euch aus oder auch nicht, Hauptsache ihr habt Sex. Was dann zu absurden Fragen führt wie: Warum liegt hier überhaupt Stroh?«
Ich verstehe rein gar nichts, und das sieht man mir wohl an.
»Kennst du nicht? Schaust wohl keine Pornos?« Ralf grinst, ich schüttele den Kopf.
»Stammt aus Achtzehneinhalb. Also ein Typ kommt mit Maske in einen Hobbykeller, um einen Stromkasten zu reparieren. Die Frau hat schon kein Kleid mehr an, klar weil jede Frau Handwerker in Strapsen empfängt. Sie fragt ›Warum hast du ’ne Maske auf?‹ Er dann: ›Mmm, pfff. Dann blas mir doch einen.‹ Der Dialog wurde Kult. Kannst du dir im Internet anschauen. Das grenzt schon an Kabarett. Das wollen wir nicht. Trotzdem sollen Liebesspiele stattfinden. Meine Vision ist es, mit sadomasochistischen Elementen zu spielen«, sagt er.
Obwohl er das nüchtern ausspricht, als sei das so normal wie spazieren gehen, durchfährt die Information meinen Körper wie einen kleinen Stromschlag: »Deshalb also die Verschwiegenheitserklärung und die Warnung.«
Er lacht. »Sei versichert, wir auf der Bühne werden nur salonfähigen Sadomasochismus ausagieren. Ja, das trifft es ganz gut. Und sicher weißt du, dass dabei alles auf Freiwilligkeit beruht. Wenn du eine Rolle haben möchtest, mache ich mir Gedanken, ob und wie du bei uns hineinpasst. Denke in Ruhe darüber nach, ich melde mich ungefähr in einer Woche bei dir.«
Seitdem ich das Theater verlassen habe, denke ich darüber nach, was Ralf mir erzählt hat, und vor allem darüber, ob ich etwas derart Verrücktes, Obszönes, Skandalöses tun soll. Dabei ist es nicht die Ankündigung des sadomasochistischen Settings in der Show, die mich schreckt. In Büchern, weit weg von der Realität, finde ich solche Inszenierungen spannend. Es fasziniert mich die Frage nach Macht und Unterwerfung. Allerdings hatte ich nie das Bedürfnis, solche Sexspiele mit Alexander auszuprobieren. Da er egozentrisch ist, hätte er das Spiel sicher falsch gespielt. Nein, es ist mein Geheimnis, das mich zögern lässt. Alexanders quälende unterschwellige Aggressionen, sein Anspruch, alles in Besitz zu nehmen und seine Forderung, nach meiner ständigen Verfügbarkeit, die ich erfüllt habe, haben dazu geführt, dass zuweilen etwas Unheimliches mit mir geschieht.
In der Küche steht ein Wasserkessel in Form eines spitzen Kegels mit einer Plastikpfeife in Gestalt eines Vogels. Früher war er glänzend, nun ist er angelaufen. Sein durchgeglühter Boden erinnert mich täglich daran, was ich auch so nicht vergesse.
Jederzeit kann es geschehen, dass ich Besuch erhalte.
Besuch, über den ich nicht spreche.
Besuch, der immer wiederkommt, manchmal ungebeten, manchmal mit Einladung.
»Deswegen habe ich nichts dagegen, wenn sie sich selbst mit dem Teufel einlässt«, gehen mir wieder die Worte von Ralf durch den Kopf. Er konnte nicht ahnen, was er damit in mir ausgelöst hat. Es war, als ob er von meinem Besuch wisse. Der Besuch, wegen dem einmal beinahe ein Brand entstanden wäre, weil ich aufgesetztes Wasser verdampfen ließ. Zwar signalisierte der anschwellende Ton des Vogels an der Tülle, dass es kochte. Auch wurden die Abstände immer kürzer, der Ton lauter und schriller, bis er in einen langangezogenen Signalton wechselte. Doch wegen meines Besuches konnte ich nicht in die Küche.
Als der Besuch das erste Mal aus meiner Fantasie herausgetreten war und im Wohnzimmer von Alexanders luxuriösen Villa stand, dachte ich, nun bin ich durchgeknallt. Das darf ich Alexander nicht erzählen, niemandem darf ich das erzählen. Jeder wird sofort mit irgendeiner Diagnose daherkommen. Je nachdem, welche eigenen Probleme er hat. Die einen werden fragen, wie viel ich trinke, die anderen, ob ich heimlich irgendwelche Drogen nehme. Meine Mutter wird mich an die religiösen Wahnvorstellungen meiner Großtante erinnern. Sie wird sich sorgen, ob das erblich sei. Ganz normal wäre ich nie gewesen, und das nur, weil in meiner Prioritätenliste nicht als oberstes Lebensziel stand, eine Familie zu gründen. Das machte sie daran fest, dass ich unbedingt studieren wollte und dass ich ein paar Männergeschichten mehr als andere hatte. Es geschah aus lauter Langeweile. Es erschienen mir die jungen Männer am interessantesten, die zu den Dorffesten mit dem Motorrad kamen oder bei den Fahrgeschäften auf den durchziehenden Jahrmärkten arbeiteten. Was will man außer Arbeit sonst machen, als wilde Fantasie zu entwickeln und ab und zu feiern gehen. Meine Vorstellungskraft schulte ich an den Ideen für ein Leben ohne Tiere und Verpflichtungen im Familienbetrieb, an einem Leben im Reichtum und an vielen erotischen Abenteuern.
Als ich aus diesem traumartigen Zustand damals auf dem Sofa im Wohnzimmer wieder nach oben glitt, war ich in Panik, verrückt geworden zu sein. Bis auf meine Großtante, die Stimmen hörte, kannte ich niemanden, dem so etwas außerhalb des Rausches geschah. Ich habe das dann gegoogelt und erschrak, wie viele Internetseiten bei mir eine Psychose diagnostizierten.
Zu meiner eigenen Beruhigung suchte ich Dr. Kiesel auf, eine Psychologin, die sich auf Psychosen spezialisiert hat.
Sie fragte nach Migräne oder Epilepsie, nach Drogen oder Medikamentenmissbrauch. Sie fragte nach Stress, nach Liebeskummer und ob ich aus der Halluzination wieder heraustreten könne. Sie fragte, ob ich wisse, dass dieser Besuch nicht real ist und ob ich wisse dass er wieder verschwinde. Da sagte ich ja. Und das stimmt auch.
Sie fragte, ob mich die Geschehnisse überwältigen oder ob ich sie aktiv gestalte. Da zögerte ich mit der Antwort. Ich weiß, dass ich sie aktiv gestalte, doch dafür schäme ich mich. Es ist wie bei einem Abend, an dem man zu viel trinkt. Man weiß, dass dies nicht gut ist, und trinkt doch, und am anderen Tag kommt der Kater, und man schämt sich.
Dr. Kiesel fragte, ob es da was gegeben habe, eine Reizüberflutung oder ein traumatisches Erlebnis. Da log ich und sagte Nein. Sie sah mich an und schien zu wissen, dass ich log.