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Jede dritte Schwangerschaft endet in einer Fehlgeburt – und niemand spricht darüber Eva Lindner ist in der sechzehnten Woche schwanger, als sie ihr Kind verliert, vollkommen unvorbereitet. Ihre Geschichte findet sich tausendfach in Deutschland. Schätzungsweise jede dritte schwangere Frau erlebt eine Fehlgeburt. Trotzdem wird darüber kaum gesprochen. Stattdessen befeuern Mythen über die Ursachen von Fehlgeburten die Schuldgefühle und das Leiden der Frauen. Was muss sich ändern? Die Journalistin Eva Lindner hat mit Expert*innen und Betroffenen geredet und zeigt, wie wichtig es für uns alle ist, dass wir einen Weg aus dem Schweigen finden. Eine Fehlgeburt ist die häufigste Schwangerschaftskomplikation. Statistisch gesehen kennt jede Person mindestens eine Frau, die während der Schwangerschaft eine Fehlgeburt erlebt hat – oder noch erleben wird. Warum kommt den meisten Betroffenen ihr Verlust dennoch wie ein katastrophaler Einzelfall vor? Die Journalistin Eva Lindner gibt Antwort: Weil wir nicht darüber sprechen. Fehlgeburten zählen zu den letzten Tabus in unserer Gesellschaft. Die Folge sind eine dürftige Studienlage, kaum Forschungsgelder, mangelnde medizinische Betreuung und fehlender rechtlicher Schutz für die Betroffenen. In ihrem Buch gibt Eva Lindner ihnen eine Stimme. Sie spricht mit langjährigen Hebammen, Gynäkolog*innen und Anwält*innen, zeigt Missstände auf und verdeutlicht die politische Relevanz von Schwangerschaftsverlusten. Sie stellt klar, was sich ändern muss, um einen längst überfälligen Diskurs in die Mitte unserer Gesellschaft zu holen. »Eva Lindner findet Worte für etwas, wofür es eigentlich keine Worte gibt. Und bricht mit einem der letzten Tabus unserer Zeit. Endlich.« Alexandra Zykunov, Autorin des Spiegel-Bestsellers Wir sind doch alle längst gleichberechtigt!
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Seitenzahl: 306
Eva Lindner
Mutter ohne Kind
Das Tabu Fehlgeburt und was sich ändern muss
Tropen Sachbuch
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Tropen
www.tropen.de
© 2024 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Cover: Favoritbuero, München
unter Verwendung einer Adaption des Kunstwerks »First love« von Olga Luzea, © 2023 Olga Luzea, Barcelona
Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen
Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-608-50222-0
E-Book ISBN 978-3-608-12252-7
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Einleitung
»Eva« – Trauma und Kontrollverlust
»Isa« – Die Frage nach dem Warum
»Julia« – Drei Optionen und doch keine Wahl
»Mia« – Von Forschungslücken und »Frauenleiden«
»Greta« – Jede Mutter ist schützenswert
»Hannelore« – Das Narrativ der Trauer
»Teodora« – Im Würgegriff des Patriarchats
»Lilli« – Entscheidung über Leben und Tod
»Aileen« – Gemeinsam einsam
»Merle« – Folgeschwangerschaft zwischen Angst und Hoffnung
»Tim und Sophie« – Nennt die Kinder beim Namen!
Ausblick
Danke
Anmerkungen
Einleitung
»Eva« – Trauma und Kontrollverlust
»Isa« – Die Frage nach dem Warum
»Julia« – Drei Optionen und doch keine Wahl
»Mia« – Von Forschungslücken und »Frauenleiden«
»Greta« – Jede Mutter ist schützenswert
»Hannelore« – Das Narrativ der Trauer
»Teodora« – Im Würgegriff des Patriarchats
»Lilli« – Entscheidung über Leben und Tod
»Aileen« – Gemeinsam einsam
»Merle« – Folgeschwangerschaft zwischen Angst und Hoffnung
»Tim und Sophie« – Nennt die Kinder beim Namen!
Für Lana, Laura und unser Sternenkind.Und für alle Mamas, die ihre Kinder nur im Herzen statt auf dem Arm tragen.
»Wenn Frauen aus dem Schatten treten und ihre Stimmen hören lassen, beginnen sich die Dinge zu ändern.«
Caroline Criado-Perez
Der 13. Februar 2021 ist sowohl der Geburts- als auch der Todestag meines zweiten Kindes. Alles daran fühlt sich falsch an. Eine Mutter sollte ihr Kind nicht zu Grabe tragen müssen. Sein Leben außerhalb meines Körpers hätte am 1. August begonnen, ein Sommerkind sollte es werden, ein Geschwisterchen für meine kleine Tochter. Alles kam anders. Im vierten Monat der Schwangerschaft habe ich mein Baby nachts zu Hause in meinem Badezimmer zur Welt gebracht.
Nichts hat mich auf das vorbereitet, was ich an diesem 13. Februar erleben sollte. Alle Vorsorgeuntersuchungen waren unauffällig, ich sprach regelmäßig mit meiner Frauenärztin und meiner Hebamme, nahm meine Nahrungsergänzungsmittel, blieb in Bewegung, ernährte mich gesund.
An besagtem Abend sind wir bei unseren Nachbarn zu Besuch, unterhalten uns bis in die Nacht. Als wir nach Hause kommen, sehe ich ein paar Tropfen Blut in meiner Unterhose. Ich bin beunruhigt und weiß gleichzeitig, dass das mal vorkommen kann. Mein Mann sagt, das sei bestimmt nichts Schlimmes. Wir sind müde und legen uns schlafen.
Ein paar Stunden später wache ich plötzlich auf, Wasser läuft aus mir heraus. Ich stürze ins Badezimmer, weiß, es ist Fruchtwasser, ein Blasensprung. Wie bei meiner Tochter ein paar Jahre zuvor, nur platzte die Blase damals in der 38. Woche … Am Ende hielt ich ein gesundes Kind in den Armen. Diesmal ist es die 16. Woche. Schnell mischt sich Blut unter das Wasser, ich bekomme Krämpfe, Wehen, Schmerzen. Ich schreie: »Nein, bitte nicht!«, schreie: »Ich verliere unser Kind!«, presse meine Hand gegen das, was aus meinem Körper kommt, als könnte ich aufhalten, was schon längst haltlos ist.
Mein Mann schließt die Fenster und die Badezimmertür, unsere Tochter darf auf keinen Fall aufwachen. Gewebestücke kommen aus mir heraus, Blut fließt, mein Körper bebt, ist außer Kontrolle. Ich weiß nicht, was schon in der Toilette gelandet ist, auf der ich sitze, was noch in mir ist. Mein Mann verliert plötzlich das Bewusstsein, liegt vor mir auf dem Badezimmerboden und ist kurzzeitig nicht ansprechbar. Was tun?
Meine Hebamme geht nach dem ersten Anklingeln ans Telefon. Sie weiß sofort, was passiert ist, sagt, es tue ihr leid. »Ich bin doch schon fast im fünften Monat«, rufe ich ins Telefon. »Alle wissen Bescheid.« Sie sagt, ich müsse mich jetzt um mich kümmern. Mein Mann solle mir helfen, das Kind aus mir herauszuziehen, wir sollten schauen, ob es lebt, es einwickeln und den Krankenwagen rufen. Ich weine, schreie unter Schmerzen und Verzweiflung. Gemeinsam holen wir unser Baby auf die Welt. »Schau nicht hin«, sagt mein Mann und wickelt es ein. Unser Kind ist tot.
Als die Sanitäter kommen, übergibt er ihnen unser lebloses Baby, klingelt unsere Nachbarn wach und drückt ihnen das Babyphon in die Hand. Im Krankenwagen muss er sich übergeben. Ich bekomme nichts davon mit, wimmere vor mich hin: »Mein Baby, mein Baby.«
Auf dem Weg in den OP zur Ausschabung weine ich noch immer. Die Krankenpfleger*innen und der Anästhesist scherzen währenddessen neben meinem Bett miteinander. »Ach Benni, du so früh schon hier heute? Mensch, was verschafft uns die Ehre?« Gelächter. Ich kann es nicht fassen. Das Leben der anderen geht ganz normal weiter, während das meines Kindes – und auch mein eigenes, wie ich es bisher kannte – zu Ende ist.
Irgendwann legt mir eine Pflegerin ihre Hand auf den Arm und sagt: »Dieses schreckliche Jahr, Corona und alles. Das sollte wohl nicht sein. Beim nächsten Mal klappt es bestimmt.« Etwas Brutaleres hätte sie in diesem Moment nicht zu mir sagen können. Als wäre ein Kind etwas, das ich austausche, als könnte ich mir ein neues holen, weil das andere nicht gut genug war.
Ich will nicht irgendein Kind, ich will dieses Kind, ich will mein Kind.
Als ich aufwache, ist mein Körper mir fremd, mein Bauch leer, mein Kopf dumpf. Vor ein paar Stunden war ich eine werdende Mutter, die ein Baby unter dem Herzen trug. Jetzt bin ich eine leere Hülle. »Warum?«, frage ich die Ärztin. Sie sagt, es gab Durchblutungsstörungen in der Plazenta. Etwas, das sie sehr häufig sieht. Ja, auch in diesem Stadium. Nein, es hätte nichts geändert, gleich ins Krankenhaus zu kommen, als ich das Blut gesehen habe. Niemand hätte es verhindern können.
Was passiert ist, ist ein Routinefall für sie und alle im Krankenhaus. Für mich ist es eine Katastrophe. Ich fühle mich, als wäre ich selbst nicht mehr da. Alles um mich herum ist nebelig und weit weg. Die Ärztin fragt, ob ich mit einem Seelsorger sprechen möchte. Kirche? Eher nicht. Sie sagt, er sei sehr freundlich und habe schon vielen Paaren geholfen.
Zwei Stunden bleibt der Seelsorger bei uns. Er hört zu, fühlt mit und zeigt uns auf, wie es jetzt weitergeht: In einer Sammelbestattung könnten wir gemeinsam mit anderen betroffenen Eltern unser Kind beerdigen. Er rät uns, was wir unserer knapp dreijährigen Tochter sagen können, die sich schon so auf ihr Geschwisterchen gefreut hat. Dass unser Kind nicht zu uns kommen konnte, obwohl wir das alle so sehr wollten. Dass es jetzt auf einem Stern ist und auf uns herunterblickt. Dass es nicht allein sei, sondern eines von vielen »Sternenkindern«. Ich höre den Ausdruck zum ersten Mal in meinem Leben.
Ein paar Tage später untersucht mich meine Frauenärztin, sagt, meine Gebärmutter sei in Ordnung, ich könnte in ein paar Monaten wieder schwanger werden. Sie schreibt mich für zwei Wochen krank. Ich solle wiederkommen, wenn ich erneut schwanger bin. Mein Risiko, eine weitere Fehlgeburt zu erleiden, sei zwar nun leider höher, aber es gäbe Möglichkeiten: Mit einer Operation könne man den Muttermund verschließen, sodass es weniger leicht zu einer Infektion komme – ein häufiger Grund für Fehlgeburten. Das sollte mir Hoffnung machen, mir signalisieren, wir tun medizinisch alles, damit das nicht wieder passiert. Was bei mir hängenbleibt, ist: Nächstes Mal – sollte es ein nächstes Mal geben – wird alles noch riskanter und komplizierter. Schon dieses Mal stand aufgrund meines Alters und einer Vorerkrankung »Risikoschwangerschaft« in meinem Mutterpass. Nach der Fehlgeburt, so scheint mir, bin ich ein wirklich schwieriger Fall.
Mit keinem Wort erwähnt sie, was psychisch auf mich zukommen könnte und was mich überrollen sollte wie ein Steinschlag. Während mein Körper wenige Tage nach dem Verlust meines Kindes schmerzfrei ist und so tut, als wäre nichts gewesen, beginnt mein Kopf erst langsam zu verstehen, was eigentlich passiert ist. Tagelang liege ich im Bett und weine, schäme mich, misstraue meinem Körper, hasse ihn für sein Versagen, fühle mich schuldig und unter Druck, »den Fehler«, den mein Körper gemacht hat, wieder gut zu machen, also so schnell wie möglich wieder schwanger zu werden.
Viele Frauen erleben täglich das, was ich erlebt habe. Weltweit kommt es jährlich zu 23 Millionen Fehlgeburten. In jeder Minute, die verstreicht, verlieren 44 Frauen auf dieser Welt ihre Schwangerschaft.[1] Auch jetzt gerade, in dieser Minute.
Das deutsche Gesetz unterscheidet in nüchternen Zahlen und seiner bürokratischen Sprache zwischen »Fehlgeburt« und »Totgeburt«. Die beiden Bezeichnungen kritisieren viele Hebammen, Sterneneltern-Vereine und Aktivist*innen zu Recht, weil sie zur Stigmatisierung beitragen. Sie ersetzen den Ausdruck »Totgeburt« durch »Stille Geburt« oder »Stillgeburt«, da er empathischer und würdevoller ist. Auch ich verwende im Folgenden »Stille Geburt« und schreibe ihn groß, um dazu beizutragen, ihn als festen Begriff zu etablieren. Alternativ setze ich den Ausdruck »Totgeburt« in Anführungszeichen, um zu verdeutlichen, dass er nicht von mir stammt.
In »Fehlgeburt« steckt das Wort »Fehler« oder etwas »Fehlerhaftes«, was weder die Mutter noch das Kind sind. Die Bezeichnung ist Ausdruck patriarchaler Machtstrukturen und des männlichen Blicks auf das weibliche Erleben. Sie symbolisiert, wie sehr sich unser Gesundheitssystem an Effizienz orientiert. »Fehlgeburt« spricht den Betroffenen ihre Elternschaft ab und kann mit Unfähigkeit oder Schuld in Verbindung gebracht werden. Genau dagegen möchte ich in diesem Buch anschreiben.
Gleichzeitig kommen wir noch nicht ohne den Ausdruck aus. Denn eine »Fehlgeburt« ist in Abgrenzung zu einer »Totgeburt« genau definiert und wird in Medizin und Recht verwendet. Der Ausdruck ist in unserer Gesellschaft geläufig. Ich sehe meine Aufgabe als Journalistin darin, Menschen dort abzuholen, wo sie mit ihrem Wissen stehen. Von dort aus können wir gemeinsam weitergehen – in eine Zukunft, die das Wort »Fehlgeburt« durch Bezeichnungen wie »kleine Geburt« ersetzt hat. Diesen Ausdruck verwenden Hebammen, Aktivist*innen und Betroffene zunehmend, wenn auch uneinheitlich und weniger trennscharf zur Stillen Geburt. Gleichzeitig gibt es Bestrebungen, den Begriff »Fehlgeburt« umzudeuten und ihn weniger auf einen »Fehler« als vielmehr auf ein »Fehlen« des Kindes hin zu begreifen. All dies sind lobenswerte Bemühungen, die bejahen, dass es sich um eine Geburt handelt, auch wenn das Baby nicht mehr lebt.
Zwischen der 12. und 24. Schwangerschaftswoche sprechen Ärzt*innen von einem »Spätabort«. Das in der Medizin gängige Wort »Abort« verwende ich nicht, da es altertümlich auch eine Toilette bezeichnet. Und auch wenn das Geschehen leider oftmals genau an diesem Ort stattfindet, ist er der Bezeichnung eines Kindsverlustes unwürdig. Alternativ verwende ich den Begriff »Schwangerschaftsverlust« – allerdings unabhängig von der Schwangerschaftswoche, in der dieser eingetreten ist.
In Paragraf 31 der Personenstandsverordnung heißt es: »Die Leibesfrucht« gilt »als ein tot geborenes Kind«, wenn »das Gewicht des Kindes mindestens 500 Gramm beträgt oder das Gewicht des Kindes unter 500 Gramm beträgt, aber die 24. Schwangerschaftswoche erreicht wurde.« Die Bezeichnung »Totgeburt« bezieht sich medizinisch auf den Zeitpunkt, zu dem das Kind außerhalb der Gebärmutter potenziell lebensfähig gewesen wäre. Das ist mit etwa 500 Gramm der Fall, geht jedoch meist mit starken gesundheitlichen Beeinträchtigungen einher. Ist die »Leibesfrucht« leichter und vor diesem Zeitpunkt gestorben, handelt es sich um eine Fehlgeburt.
In Deutschland werden nach Angaben des Statistischen Bundesamts jedes Jahr etwa 3400 Kinder, die mehr als 500 Gramm wiegen, tot geboren. Zwischen 2007 und 2022 stieg die Zahl der »Totgeburten« je tausend Geborenen um 24 Prozent.[2] Dafür gibt es mehrere Ursachen: Die Definition für eine »Totgeburt« ist erst seit 2018 wie oben beschrieben. Durch die veränderte Zählweise fallen mehr Kinder in die Statistik. Außerdem ist das zunehmende Alter der Frauen bei der Geburt eine Ursache für den Anstieg. Allerdings ist die Quote in allen Altersgruppen seit 2012 tendenziell gestiegen. Auch stieg die Zahl der Geburten von Frauen mit Migrationsgeschichte. Sie haben ein höheres Risiko, eine Stille Geburt zu erleiden. Darüber hinaus wird vermutet, dass heute mithilfe der modernen Medizin immer mehr Frauen schwanger werden, denen man früher aufgrund von Erkrankungen wie Adipositas oder Diabetes von einer Schwangerschaft abgeraten hätte oder die nicht schwanger geworden wären. Diese Frauen haben ein höheres Risiko, Schwangerschaftskomplikationen zu erleiden.[3]
Offizielle Statistiken, wie viele Schwangerschaften in Deutschland mit einer Fehlgeburt enden, gibt es nicht, da sie – anders als Stille Geburten – nicht meldepflichtig sind. Das Robert-Koch-Institut wertet Zahlen des Statistischen Bundesamts, der Krankenhausdiagnosestatistik und Berechnungen der natürlichen Bevölkerungsbewegung aus. Demnach kamen im Jahr 2021 knapp 800 000 Kinder in Deutschland lebend zur Welt. Auf tausend Lebendgeburten kamen etwa 32 Fehlgeburten, also 3 Prozent.[4] Doch diese Zahl trügt, da alle in Frauenarztpraxen oder ambulant in Kliniken behandelten Fehlgeburten nicht in die Statistik eingehen. Fehlgeburten in sehr frühen Schwangerschaftswochen bemerken Frauen manchmal gar nicht. Der Abgang wirkt wie eine verspätete Regelblutung.
Realistischere Zahlen beruhen auf Schätzungen: 2016 schätzte der Berufsverband der Frauenärzte, dass jede dritte Frau in den ersten zwölf Wochen einer Schwangerschaft eine Fehlgeburt erleidet.[5] Seitdem arbeitet auch der Deutsche Bundestag mit dieser Zahl.[6] Fehl- und Stille Geburten nach der 12. Woche, die etwa 1 bis 4 Prozent ausmachen,[7] kommen noch hinzu. Auch die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) und die Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Frauenheilkunde und Geburtshilfe (DGPFG) geben an, dass 30 Prozent der schwangeren Frauen eine Fehlgeburt erleben.[8] In der US-amerikanischen Studie »Women’s Health Initiative Observation« erhoben Wissenschaftler*innen Daten von mehr als 80 000 Frauen. Alle waren mindestens einmal schwanger. Mehr als 32 Prozent der Frauen erlitten mindestens eine Fehlgeburt.[9] In der britischen Studie »Early Pregnancy Failure« heißt es, dass etwa 25 bis 50 Prozent aller Frauen mindestens eine Fehlgeburt während ihres gebärfähigen Alters erfahren.
Fest steht: Wir sind viele, sehr viele Frauen und Familien, die ein Kind verloren haben. Eine Fehlgeburt ist die häufigste Schwangerschaftskomplikation. Statistisch gesehen kennen wir alle mindestens eine Frau, die bereits eine Fehlgeburt erlebt hat – oder noch erleben wird. Warum kommt den meisten Betroffenen ihr Verlust dennoch wie ein katastrophaler Einzelfall vor? Wie kann es sein, dass sie häufig von keiner anderen Frau wissen, der das auch passiert ist?
Wenn so viele Menschen betroffen sind, wenn so viele Menschen leiden, geht uns das alle an. Fehlgeburten sind keine Privatsache, die eingeschlossen gehören in die Kliniken dieses Landes oder in die Wohnungen der Familien. Sie sollten keine Geheimnisse sein, die man sich hinter verdeckter Hand zuflüstert. Das Gespräch darüber, was mit jeder dritten schwangeren Frau in unserem Land passiert, wie man sie am besten medizinisch versorgen, sozial unterstützen und rechtlich absichern kann, gehört an einen prominenten Ort: in die Mitte unserer Gesellschaft.
Das Private ist politisch, das galt in der zweiten feministischen Welle der 70er-Jahre genauso wie heute. Wenn wir von reproduktiven Rechten sprechen, müssen wir auch über Schwangerschaften reden, die nicht nach Plan verlaufen, die sich weit weg von den politischen Vorstellungen einer idealen Familie bewegen. Eine Fehlgeburt ist eine der schmerzhaftesten Erfahrungen im Leben einer Mutter. Diese Erfahrungen müssen sichtbar werden.
Schwangerschaften werden in unserer Gesellschaft als etwas gesehen, bei dem alle mitreden dürfen. Das habe ich selbst erlebt: Fremde sagten mir ungebeten anhand meiner Bauchform, welches Geschlecht mein Kind haben wird, fassten ungefragt meinen Bauch an, wiesen mich am Käsestand darauf hin, welchen Käse ich essen »darf« und welchen nicht, im Café brachte man mir einen koffeinfreien Kaffee, obwohl ich einfach nur einen Kaffee bestellt hatte.
Viele Frauen, die ein Kind verlieren, hören den Satz: »Fehlgeburten gehören zum Schwangersein dazu.« Wenn das stimmt, warum wird darüber dann in der Öffentlichkeit so selten gesprochen? Ein Teil der Antwort ist: Weil eine Frau, die eine Fehlgeburt erlebt und nicht mehr schwanger ist, weniger wert ist. Sie wird medizinisch vernachlässigt, in der deutschen Forschung ignoriert, gesellschaftlich isoliert und rechtlich benachteiligt. Das Tabu um Fehlgeburten ist vielleicht eines der letzten unserer Gesellschaft und zieht sich durch alle ihre Bereiche. Warum das so ist, möchte ich in diesem Buch erklären.
Ich will betroffenen Frauen eine Stimme geben und ihre Erfahrungen sichtbar machen. Ihre Geschichten stehen stellvertretend für alle betroffenen Frauen, deren Erfahrungen ganz unterschiedlich sind und doch eine Gemeinsamkeit haben: Sie enden mit einer Mutter ohne Kind. Ich will Missstände aufzeigen und die politische Relevanz von Schwangerschaftsverlusten verdeutlichen. Und ich will Mythen entlarven, Wissen zur Verfügung stellen und konkrete Vorschläge für Veränderungen machen.
Ich schreibe in diesem Buch von »Frauen« in dem Wissen und der Anerkennung, dass auch trans Männer, nicht-binäre und intergeschlechtliche Menschen schwanger sein und Fehlgeburten erleiden können. Auch um ihre individuellen Erfahrungen der Diskriminierung geht es in diesem Buch.
Die Frauen, die für dieses Buch ihre Erfahrungen mit mir geteilt haben, bewundere ich für ihre Kraft, das alles auszuhalten, und für ihren Mut, nicht aufzugeben. Schmerzvolle Erfahrungen öffentlich preiszugeben, macht verletzlich. Und auch wenn viele der Frauen mir gesagt haben, ich dürfe ihren Klarnamen verwenden, habe ich mich meist dafür entschieden, sie und ihre Kinder zu anonymisieren, um sie zu schützen.
Die betroffenen Frauen und mich selbst bezeichne ich in diesem Buch als »Mutter«, was wir verloren haben als unser »Kind« oder »Baby«. Das ist unsere Selbstzuschreibung. Der Diskurs darüber, wann Leben beginnt, ist politisch höchst aufgeladen. Wir müssen uns gegen Abtreibungsgegner*innen, sogenannte Lebensschützer*innen, Identitäre und Rechte stellen, die wollen, dass sich Frauen, sobald sie schwanger sind, als »Mütter« fühlen und Verantwortung für ihre »Kinder« übernehmen. Sie instrumentalisieren Fehlgeburten, um Abtreibungen noch stärker zu stigmatisieren. Sie wollen Frauen bevormunden und ihre Körper kontrollieren. Wir dürfen nicht zulassen, dass sie unsere Sprache stehlen, uns einschüchtern und zum Schweigen bringen. Denn geschwiegen haben wir viel zu lange.
Wir müssen frei über Fehlgeburten sprechen können, genau wie über Abtreibungen und Frauenrechte. Denn Frauen dürfen alles. Sie dürfen sich als Mutter fühlen, wenn die Schwangerschaft nicht hält, den verlorenen Embryo oder Fötus als »Baby« bezeichnen, wenn es sich so anfühlt. Sie dürfen traurig sein, unabhängig davon wie lange sie schwanger waren. Auch ein Kind nicht zu wollen, nach einer Fehlgeburt erleichtert zu sein oder »die Eizelle in meinem Körper ist noch kein vollwertiger Mensch« zu sagen und eine Schwangerschaft abzubrechen, muss die freie Entscheidung einer jeden Frau sein. Es gilt immer, ihr Recht auf Selbstbestimmung zu respektieren und zu achten.
Ich wünsche mir, dass sich Frauen, die ihre Kinder verloren haben, nach dieser Lektüre weniger einsam, in ihrem Schmerz gesehen und vielleicht sogar etwas getröstet fühlen. Ich wünsche mir, dass Personen, die Einfluss haben, dieses Buch lesen und sich für die betroffenen Frauen und Familien einsetzen. Und ich wünsche mir, dass wir offener über Fehlgeburten sprechen. Dass wir gemeinsam das Schweigen brechen. Dieses Buch ist der Versuch, für das tägliche Leid und den Schmerz von Frauen Worte zu finden und ein Aufruf, gemeinsam etwas zu verändern.
Schon lebende, gesunde Kinder spielen in unseren gesellschaftlichen Debatten eine untergeordnete Rolle. Kinderarmut, ungleiche Chancen auf Bildung, stagnierendes Elterngeld und mangelnde Kinderbetreuung sind dafür nur einige von unzähligen Beispielen. Gerade während der Corona-Pandemie haben wir gesehen, wie wenig Bedeutung Kindern in unserer Gesellschaft beigemessen wird.
Kinder, die nicht mehr leben, werden oft gänzlich ignoriert. Zu hilflos ist unser Umgang mit ihrem Tod, zu schmerzhaft der Gedanke an ein gestorbenes Kind, zu sprachlos unsere Reaktion auf Trauer. Das Bild liebevoller Väter und erfüllter Mütter ist das, was wir offen leben und reproduzieren. Schicksalsschläge – auch wenn sie noch so häufig eintreten – sind tabu. Das führt im schlimmsten Fall dazu, dass Menschen unsichtbar werden und aus der Wahrnehmung der anderen verschwinden.
»Wir sollten viel mehr darüber sprechen, dass es vollkommen normal ist, wenn Schwangerschaften nicht weiterwachsen«, sagt Professorin Mandy Mangler. Sie ist Chefärztin der Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe am Auguste-Viktoria-Klinikum und am Klinikum Neukölln in Berlin. In ihrem Podcast Gyncast befasst sie sich monatlich mit dem weiblichen Zyklus, Kinderwunsch, Endometriose oder anderen Themen rund um Frauengesundheit. 2022 hat sie »für ihre innovative Aufklärung zur Gesundheit von Frauen und Mädchen und ihr Engagement für mehr Gleichberechtigung in der Medizin«[1] den Berliner Frauenpreis bekommen.
Mangler setzt die Anzahl der Fehlgeburten noch höher an. 50 Prozent der biochemischen Schwangerschaften, also derer, die direkt nach Ausbleiben der Menstruation per Blut- oder Urintest bestimmt werden können, entwickeln sich nicht weiter. Kommen später Schwangerschaftsanzeichen wie Übelkeit hinzu, sind es noch rund 30 Prozent. Ist im Ultraschall ein Herzschlag zu finden, liegt die Anzahl der Abgänge noch bei 10 Prozent. »Für mich ist es fast normaler, dass Schwangerschaften nicht weiterwachsen, als dass sie weiterwachsen. Die Verschmelzung von Spermium und Eizelle ist so ein komplexer Prozess, der häufig nicht fehlerfrei abläuft«, sagt sie. Trotzdem werden Frauen, deren Schwangerschaften nicht halten, genau beobachtet: Wie gehen sie mit der Situation um? Werden sie danach wieder schwanger? Und wenn ja, zu welchem Zeitpunkt? »Das Thema gehört normalisiert und enttabuisiert. Schwangerschaften, die nicht weiterwachsen, gehören dazu, das ist auch okay, das entspricht der Natur«, sagt Mangler.
Ein Grund für das Tabu ist, dass die meisten Paare mindestens zwölf Wochen warten, bevor sie anderen von der Schwangerschaft erzählen. Weil die werdenden Eltern niemanden eingeweiht haben, trauern sie nach einer Fehlgeburt häufig im Stillen und allein um ihr Baby. Für Außenstehende und Nicht-Betroffene wirkt eine Fehlgeburt infolgedessen wie eine schreckliche Ausnahme.
Und während draußen das Leben tobt, bleibt an einem Ort, an dem Eltern ihr Kind verloren haben, die Zeit stehen. Sie trauern um jemanden, der für andere noch gar nicht existiert hat. Sie trauern um eine Vorstellung von einem zukünftigen Leben, von dem die anderen nichts wussten. Sie trauern um eine Liebe, die für andere nicht spürbar ist.
Selbst Freund*innen öffnen sich Betroffene oft erst, wenn sie wissen, dass sie mit dem Erlebten nicht allein sind. Dann wird aus dem Club der werdenden Eltern, die sich die erste Fahrt mit dem Kinderwagen ausmalen, von spielenden Geschwistern und minikleinen Bodys auf der Wäscheleine träumen, ein neuer Club. Ein Club der trauernden Eltern. Ein Club, dem niemand beitreten wollte. Zugang bekommt nur, wer das Gleiche erlebt hat und wer das Codewort sagt, das nur schwer über die Lippen kommt: Fehlgeburt.
In der Zeit danach telefoniere ich mit ein paar Freundinnen, gehe lange mit meinem Mann im Wald spazieren, klammere mich an meine lebende Tochter, wenn sie schläft. Ich kenne keine Frau, die eine Fehlgeburt erlebt hat, erfahre also wenig echtes Verständnis, sondern vor allem Mitleid und ratloses Schweigen. Viele haben Angst, etwas Falsches zu sagen und damit meine Situation zu verschlimmern. Viele gehen mit den Worten »Melde dich, wenn du was brauchst« auf Distanz, warten darauf, dass ich auf sie zukomme – und lassen mich so mit meiner Trauer allein.
Mit schlechtem Gewissen verlängere ich meine Krankschreibung, nehme schließlich meine Arbeit wieder auf und versuche mich selbst von dem zu überzeugen, was die Ärztinnen zu mir gesagt haben: Fehlgeburten kommen häufig vor, sie gehören zum Kinderkriegen dazu, ich solle es »einfach wieder versuchen«. Gleichzeitig fühle ich mich unverstanden in meiner anhaltenden Trauer und isoliert. Durch die Arbeit meines Mannes kann ich die telefonische Akutsprechstunde einer Therapeutin in Anspruch nehmen. Sie gibt dem, was ich erlebt habe, einen Namen, der meinem Empfinden gerecht wird: »Sie haben ein Trauma.«
Im Alltag funktioniere ich, kümmere mich um meine Familie und meine Arbeit. Die Zeit heilt, ja, aber nicht alle Wunden. Nach einem halben Jahr, als ich mit einer Freundin bei einem Glas Wein zusammensitze, scheint alles, was in mir wie eine zerbrochene Keramikvase notdürftig zusammengeklebt war, zu zerfallen und in Scherben vor mir zu liegen. Ich weine, erzähle ihr von meiner Einsamkeit, davon, dass ich meine Erfahrung mit niemandem teilen kann, dass ich mich unverstanden fühle, von dem unermesslichen Druck, den ich mir selbst mache, wieder schwanger zu werden, der Angst davor, dass es nie mehr klappen könnte und falls doch – würde ich das alles noch einmal durchmachen müssen?
Medizinisch gesehen ist eine Fehlgeburt keine große Sache. Eine Schwangerschaft, die sich nicht weiterentwickelt, gehört zum Alltag in jeder Praxis und Klinik. Für die Betroffenen kann sie allerdings traumatisierend, gesundheitsschädlich und lebensverändernd sein.
In der medizinischen Fachzeitschrift The Lancet erschien 2021 eine viel beachtete Sammlung wissenschaftlicher Beiträge zum Thema »Fehlgeburten«.[2] Sie ist mit fast fünf Millionen Schwangerschaften in den USA, Kanada, Norwegen, Schweden, Dänemark und dem Vereinigten Königreich eine der umfangreichsten Datenanalysen, die es je zu dem Thema gab. Die Herausgeber*innen kritisieren, dass Fehlgeburten zu lange heruntergespielt und vernachlässigt worden sind. Der Stand der Forschung sei schockierend. Viel zu oft werde Betroffenen einfach nur geraten, es noch einmal zu versuchen. So wie mir.
Die Mahnung ist deutlich und für Wissenschaftler*innen, die sich sonst eher nüchtern ausdrücken, leidenschaftlich formuliert: Mediziner*innen verharmlosen Fehlgeburten und nehmen sie hin. Frauen werden medizinisch unterversorgt. Dahinter steckt keine wissenschaftliche Evidenz, sondern eine Ideologie, die uns immer wieder begegnet. Durch die Nichtbeachtung geschlechtsspezifischer Unterschiede in der Medizin und den Mangel an wissenschaftlichen Daten herrscht eine riesige Wissenslücke über die Vorgänge im Körper der Frau.
Die britische Autorin Caroline Criado-Perez erläutert in ihrem Buch Unsichtbare Frauen, wie es zu dieser Nichtbeachtung kam: »Über Jahrtausende hinweg fußte die Medizin auf der Annahme, der männliche Körper stehe für den menschlichen Körper an sich.«[3] Noch bis in die 90er-Jahre galt der Körper des Mannes als die Norm, der weibliche Körper wurde von ihm abgeleitet und als männlicher Körper »in klein« betrachtet. Simone de Beauvoir schrieb schon 1949: »Die Menschheit ist männlich, und der Mann definiert die Frau nicht als solche, sondern im Vergleich zu sich selbst: Sie wird nicht als autonomes Wesen angesehen. […] Er ist das Subjekt, er ist das Absolute: Sie ist das Andere.«[4]
Erst mit der Entwicklung der Gendermedizin haben Forschende den Missstand in den Blick genommen. Doch weil die Auswirkungen der XX-Chromosomen, der Einfluss der Hormone, die Reaktionen auf bestimmte Medikamente und vieles mehr so lange nicht beachtet wurden, werden die Schmerzen und Symptome von Frauen bis heute systematisch verharmlost und übersehen. Ihr Leiden wird – anders als das der Männer – hingenommen. Dabei, so schreiben die Wissenschaftler*innen in The Lancet, bräuchten betroffene Frauen vor allem Unterstützung und medizinische Behandlung, die auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten sind. Denn Fehlgeburten, insbesondere wiederholte, können ernsthafte Gesundheitsprobleme nach sich ziehen, darunter höhere Risiken für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Thrombosen.
Eine Studie der University of Queensland belegt, dass Fehl- und »Totgeburten« das Risiko für einen Schlaganfall erhöhen. Bei Frauen mit mehreren »Totgeburten« ist demnach das Risiko am höchsten. Für einen nicht-tödlichen Schlaganfall ist es um 31 Prozent erhöht, für einen tödlichen Schlaganfall um 26 Prozent. Aber auch bereits eine Fehlgeburt lässt die Wahrscheinlichkeit für einen späteren Schlaganfall um 11 Prozent gegenüber Frauen ohne Fehlgeburt ansteigen. Das Forschungsteam spricht sich dafür aus, die Erkenntnisse über diesen geschlechtsspezifischen Risikofaktor in die Schlaganfallprävention einfließen zu lassen.[5]
Auch zu psychischen Erkrankungen liegen seit Jahrzehnten Erkenntnisse vor. Die britische Forscherin Jessica Farren betont die schwerwiegenden psychischen Folgen für Frauen nach Fehlgeburten. Laut ihrer Studie »Post-traumatic Stress, Anxiety and Depression Following Miscarriage and Ectopic Pregnancy« litten noch drei Monate nach dem Verlust fast 40 Prozent der Frauen an einer posttraumatischen Belastungsstörung.[6] In der Übersicht »The Psychological Impact of Early Pregnancy Loss«, die Studienergebnisse aus fast dreißig Jahren zusammenfasst, zeigt Farren auf, dass im ersten Monat nach dem Verlust mehr als 40 Prozent der Frauen an einer Angststörung leiden. Mehr als jede dritte Frau wies laut der Befragung eine Depression auf.[7] In der Lancet-Studienserie weisen die Forschenden zudem darauf hin, dass das Suizidrisiko infolge einer Fehlgeburt um das Vierfache ansteigt.[8] Sie fordern daher nicht nur eine bessere medizinische Ursachenforschung, sondern auch eine intensivere psychologische Betreuung.
Wie kann es sein, dass die mentale Gesundheit von Frauen, die den Verlust eines Kindes zu verarbeiten haben, so vernachlässigt wird? Warum werden traumatisierte Frauen von ihren Frauenärzt*innen lediglich mit dem Rat nach Hause geschickt, es noch einmal zu versuchen, ohne einen Hinweis auf den psychiatrischen Notdienst, spezialisierte Therapeut*innen, Hebammen oder andere Hilfsangebote wie Selbsthilfegruppen oder Beratungsstellen? Und wie kann man mit dieser riesigen Lücke umgehen, die zwischen der medizinischen Einordnung einer »fehlgeschlagenen« Schwangerschaft, die Alltag für Gynäkolog*innen ist, und der subjektiven Erfahrungswelt der Eltern, die ein totes Kind beklagen, klafft?
Antje-Kathrin Allgaier ist eine der wenigen Professorinnen, die in Deutschland zum Thema »Fehlgeburten« forscht. Seit 2019 beschäftigt sie sich mit betroffenen Frauen, ihren Partner*innen, behandelnden Gynäkolog*innen und Psychotherapeut*innen. Sie ist Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität der Bundeswehr in München. Das Tabu um Fehlgeburten reiche bis in den professionellen Bereich hinein, sagt sie.
Viele Menschen um die Betroffenen herum wissen nicht, wie sie das Thema ansprechen können. Aus Sprach- und Hilflosigkeit und aus Angst, etwas Falsches zu sagen, gehen viele über das Thema hinweg. Das sei die mit Abstand schlechteste Option. »Auch die Gynäkolog*innen verstummen oft und vermeiden es, die Frauen bei Folgeuntersuchungen danach zu fragen, wie es ihnen geht. Dabei ist das besonders wichtig, da dann erst langfristige psychische Probleme deutlich werden. Die meisten Ärzt*innen wollen helfen, wissen aber nicht, wie sie mit Schicksalsschlägen umgehen und es auffangen können, wenn die Frau beispielsweise anfängt zu weinen«, sagt Allgaier.
Viele Mediziner*innen, die sie für ihre Studien befragt hat, führen an, keine Zeit für Gespräche zu haben und sich um ein volles Wartezimmer kümmern zu müssen. Sie verschanzen sich hinter ihrer professionellen Rolle und besprechen nur das Physische. So umgehen sie ihre eigene Unsicherheit mit dem Thema. »Ich glaube, viele Gynäkolog*innen haben die falsche Idee, dass es zeitlich komplett den Rahmen sprengt, wenn sie Raum lassen für die emotionalen Reaktionen der betroffenen Frauen«, sagt Allgaier. Mediziner*innen würden oft annehmen, dass sich die Büchse der Pandora öffne, wenn sie Betroffene nach ihrem psychischen Befinden fragen. Das Gegenteil ist jedoch der Fall, betont Allgaier. Es sei wichtig, gerade Menschen, die schwierige Erfahrungen gemacht haben, nach ihrer psychischen Verfassung zu fragen, auch nach Suizidgedanken. Wenn Patientinnen mit ihrer Ärztin oder ihrem Arzt über den Verlust sprechen dürfen, sich verstanden und mit ihren Emotionen gesehen fühlen, reichen oft wenige Minuten, damit es ihnen etwas besser geht.
Wie umsichtig Ärzt*innen mit den hochvulnerablen Frauen umgehen, hängt vom Zufall ab. Manche fangen die Frauen in der Schocksituation des Kindsverlustes gut auf, manche Betroffene erleben zusätzliche Traumatisierungen durch medizinisches Personal, etwa in Form von unangemessenen Kommentaren oder empathielosem Umgang. Besonders problematisch ist die Situation in den ambulanten Kliniken, wo die Frauen für eine Kürettage – also eine Ausschabung mit einem löffelartigen Instrument oder eine Absaugung, die schonender ist – hingeschickt werden. Dort stoßen die Betroffenen in der Regel auf Personal, das keinerlei Bezug zu den Frauen hat. Es betreut sie nicht längerfristig und hat dementsprechend nur den chirurgischen Eingriff im Blick, der gemacht werden muss, nicht aber die psychische Verfassung der Betroffenen.
Wissenschaftlerin Allgaier stellt immer wieder fest, dass es schwierig ist, Ärzt*innen dafür zu gewinnen, sich mit dem psychosozialen Zustand der Frauen nach Fehl- und Stillen Geburten auseinanderzusetzen. In Bezug auf die Frage, über welche Kontakte zu Unterstützungssystemen wie Selbsthilfegruppen oder Kriseninterventionsangeboten die Gynäkolog*innen verfügen, hätten einige ein umfangreiches Netzwerk vorzuweisen, andere dagegen keine einzige Adresse. Manche gaben an, bisher keine Patientin betreut zu haben, die intensivere Begleitung wegen psychischer Probleme nach einem Schwangerschaftsverlust gebraucht hätte. Allgaier vermutet, dass die betroffenen Frauen häufig nicht von sich aus über ihre psychische Verfassung sprechen und die Ärzt*innen auch nicht aktiv nachfragen.
Infolge ihrer Befragungen hat Allgaier zusammen mit ihrem Team eine Broschüre entwickelt, die Gynäkolog*innen betroffenen Frauen und ihren Familien in Zukunft geben können. Darin stehen Antworten auf die wichtigsten Fragen, die möglicherweise aufkommen. Viele Frauen sind in einem solch vulnerablen Zustand, dass sie nicht alles mitbekommen, was ihnen gesagt wird: dass sie nach der Fehlgeburt Anspruch auf eine begleitende Hebamme haben, dass sie im Normalfall mehrere Optionen haben, von denen die operative Ausschabung nur eine von dreien ist (mehr dazu im Kapitel »Julia«). Was auch darin steht: Jede Frau hat Zeit, in Ruhe die für sie passende Entscheidung zu treffen. In den seltensten Fällen liegt ein medizinischer Notfall vor. Auf einem zugehörigen Flyer stehen psychosoziale Anlaufstellen, an die Frauen sich wenden können: Selbsthilfegruppen, Schwangerschaftsberatungsstellen, Frauenzentren, Telefonseelsorge, Psychotherapeut*innen, Kriseninterventionsstellen.
Mit den Materialien will Allgaier Frauen nach einer Fehlgeburt ermächtigen, genug zu wissen, um für sich sorgen und aufgeklärt entscheiden zu können. Manchmal, sagt sie, würden Beratungsstellen ihr vorwerfen, Frauen zu pathologisieren. Schließlich bewältigt die Mehrheit der Frauen die Verlusterfahrung ohne langfristige psychische Folgen. Ein Trauerjahr ist normal, sagen die Berater*innen, es sei falsch, vorher Diagnosen zu psychischen Erkrankungen zu stellen. »Das Gegenteil ist mein Anliegen«, sagt Allgaier. »Eine Depression oder eine Angststörung kann man qualitativ ganz klar von Trauer abgrenzen. Es gibt da sehr viele Missverständnisse und Berührungsängste. Man muss genau hinschauen, um nichts zu übersehen, denn psychische Störungen sollten frühzeitig erkannt werden, um Chronifizierungen zu vermeiden und möglichst gute Behandlungserfolge zu erreichen.«
Viele der Missstände liegen allerdings nicht bei den Ärzt*innen. Sie wollen ihre Patientinnen in der Regel bestmöglich versorgen. Ein großer Missstand liegt im System. Beratungs- und Gesprächszeit werden als ärztliche Leistungen kaum vergütet. 10 bis 15 Minuten stehen Ärzt*innen für einen Termin pro Patientin zur Verfügung. Wie soll diese Zeit ausreichen, um einen Ultraschall zu machen, der Patientin, die guter Dinge zur Routineuntersuchung in der Schwangerschaft gekommen ist, vom Tod ihres Kindes zu berichten, sie über ihre Optionen aufzuklären, auf ihren emotionalen Zustand angemessen einzugehen und sie über Hilfsangebote aufzuklären?
Pro Quartal bekommen die Frauenärzt*innen für jede gesetzlich versicherte Patientin eine Grundpauschale zwischen 20 und 40 Euro – unabhängig davon, ob die Frau nur einmal ein Rezept für die Pille abholt oder ob sie innerhalb des Quartals fünfmal untersucht und beraten wird. Zusätzliche Vergütungen für längere Gespräche, wie Mediziner*innen sie bei Krebsdiagnosen oder der Aufklärung über Verhütungsmöglichkeiten ansetzen dürfen, gibt es bei Fehlgeburten nicht. Der Grund dafür: Sie kommen zu häufig vor. Zu teuer also.
Empathie, Verständnis und Beratung – all das, was Frauen unbedingt brauchen, wenn sie ein Kind verlieren, lohnt sich für Ärzt*innen nicht. Wenn sie ihren Patientinnen länger als ein paar Minuten zuhören, sie aufklären und ihnen Anlaufstellen für weitere Hilfsangebote nennen wollen, müssen sie das unvergütet tun. So sieht es das Gesundheitssystem vor. Kein Wunder also, dass nicht alle Mediziner*innen bereit sind, das zu tun.
Ein weiterer Missstand ist, dass es bislang keine systematischen Schulungen in Krankenhäusern gibt. Wie das medizinische Personal also mit Frauen, die nach einer Fehlgeburt psychisch belastet sind, umgeht, ist ihm überlassen. Fortbildungen in einzelnen Kliniken reichen für eine adäquate Betreuung nicht aus.
Am weitreichendsten informieren die sogenannten medizinischen Leitlinien. Dabei handelt es sich um rechtlich nicht bindende, aber hochwertige Empfehlungen, wie eine Erkrankung angemessen diagnostiziert und behandelt werden soll. Sie dienen aber nicht dazu, medizinisches Personal im Umgang mit Patient*innen zu schulen. Sie geben vielmehr den aktuellen Erkenntnisstand zu einem medizinischen Thema wieder, um die Entscheidungsfindung von Ärzt*innen, medizinischem Personal und auch von Patient*innen zu unterstützen. Ziel ist es, Forschungserkenntnisse in die Praxis zu überführen.
Die Leitlinien sind ein wichtiges Organ für die Qualitätssicherung in der Medizin. Die Gremien sind interdisziplinär besetzt und bestehen aus Hunderten von Expert*innen, die Gruppen und Untergruppen bilden, die viele verschiedene Studien bewerten, um zu einer einheitlichen Empfehlung zu kommen. Ärzt*innen dürfen ihre Patient*innen individuell behandeln, sind allerdings dazu angehalten, sich zunächst an die Leitlinien zu halten. Das ist wichtig, damit nicht jede*r Patient*in anders beraten wird, sondern es einen Grundkonsens zu den wirksamsten Therapien gibt.
Die Expert*innen, die die Leitlinien verfassen, tun das ehrenamtlich für die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF). Derzeit stellt die AWMF mehr als 750 Leitlinien zur Verfügung, unter anderem zu Herzerkrankungen, Rückenschmerzen oder eben zur Geburtshilfe. Die Leitlinie zu Gebärmutterhalskrebs enthält beispielsweise neben Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie auch solche zur psychosozialen Unterstützung, Rehabilitation und Nachsorge.
Die entscheidende Leitlinie bei Fehlgeburten nennt sich »Diagnostik und Therapie von Frauen mit wiederholten Spontanaborten«. Sie gibt nur wenige Empfehlungen für den Umgang mit psychischen Folgen. Die Studienlage zur Therapie wird als unzureichend oder umstritten beschrieben. Es ist lediglich zu lesen: »Ein durchgängig empathischer und entlastender Umgang mit der Patientin (und ihrem Partner) ist unbedingt empfehlenswert.« Bei Verdacht auf eine Depression wird geraten, psychotherapeutische Unterstützung hinzuzuziehen. Ansonsten sollen die Patientinnen auf Beratungsstellen sowie auf Selbsthilfegruppen oder Internetforen hingewiesen werden. Zugespitzt formuliert liest sich dieser Hinweis wie: »Surfen Sie doch mal ein bisschen im Internet herum. Da finden Sie dann schon irgendwas.« Wie der Körper der Frau behandelt werden soll, wird auf mehr als fünfzig Seiten dargelegt. Die Therapie psychischer Faktoren wird auf eineinhalb Seiten abgehandelt.
Der Missstand liegt hier nicht bei den Autor*innen der Leitlinie, sie werten schließlich nur wissenschaftliche Daten aus und leiten daraus Empfehlungen ab. Der Missstand liegt in der Forschung selbst. Die seelische Verarbeitung des Erlebten spielt in der Wissenschaft kaum eine Rolle. Eine Fehlgeburt wird vor allem als körperliches Phänomen betrachtet. Wie Frauen den Verlust eines Kindes psychisch bewältigen können, dafür interessiert sich die Forschung bislang kaum.