Mutterherz - Tess Gerritsen - E-Book
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Mutterherz E-Book

Tess Gerritsen

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Beschreibung

Für ihre Tochter würde eine Mutter alles tun. Wirklich alles?

Der brutale Mord an einer Bostoner Krankenschwester hält Detective Jane Rizzoli und Gerichtsmedizinerin Maura Isles in Atem. Noch in ihrer Arbeitskleidung wurde der Frau bei der Heimkehr der Schädel eingeschlagen. Hat sie einen Dieb überrascht, oder hat jemand auf sie gewartet? Was Jane da gar nicht gebrauchen kann, ist eine Mutter, die sie permanent wegen einer vermeintlich entführten Nachbarstochter anruft – eine, die schon mehrmals weggelaufen ist. Zudem sind da noch diese unfreundlichen Neuen in der Straße, die kürzlich eingezogen sind. Mit denen ist etwas nicht koscher, glaubt Angela. Jane wischt die Warnungen ihrer Mutter beiseite. Doch Angelas Bauchgefühl trügt nicht und bringt sie in höchste Gefahr …


Der 13. Fall für Rizzoli & Isles, bekannt aus dem TV! Jeder Band ist mitreißend bis zur letzten Seite und kann eigenständig gelesen werden.

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Seitenzahl: 434

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Buch

Der brutale Mord an einer Bostoner Krankenschwester hält Detective Jane Rizzoli und Gerichtsmedizinerin Maura Isles in Atem. Noch in ihrer Arbeitskleidung wurde ihr bei der Heimkehr der Schädel eingeschlagen. Hat sie einen Dieb überrascht, oder hat jemand auf sie gewartet? Was Jane da gar nicht gebrauchen kann, ist eine Mutter, die sie permanent wegen einer vermeintlich entführten Nachbarstochter anruft – eine, die schon mehrmals weggelaufen ist. Zudem sind da noch diese unfreundlichen Neuen in der Straße, die kürzlich eingezogen sind. Mit denen ist etwas nicht koscher, glaubt Angela. Jane wischt die Warnungen ihrer Mutter beiseite. Doch Angelas Bauchgefühl trügt nicht und bringt sie in höchste Gefahr …

Die Autorin

So gekonnt wie Tess Gerritsen vereint niemand erzählerische Raffinesse mit medizinischer Detailgenauigkeit und psychologischer Glaubwürdigkeit der Figuren. Bevor sie mit dem Schreiben begann, war die Autorin selbst erfolgreiche Ärztin. Der internationale Durchbruch gelang ihr mit dem Thriller »Die Chirurgin«, in dem Detective Jane Rizzoli erstmals ermittelt. Seither sind Tess Gerritsens Thriller um das Bostoner Ermittlerduo Rizzoli & Isles von den internationalen Bestsellerlisten nicht mehr wegzudenken. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Maine.

Weitere Informationen unter: www.tess-gerritsen.de

Die Rizzoli-&-Isles-Thriller

Die Chirurgin · Der Meister · Todsünde · Schwesternmord · Scheintot · Blutmale · Grabkammer · Totengrund · Grabesstille · Abendruh · Der Schneeleopard · Blutzeuge · Mutterherz

Weitere Thriller von Tess Gerritsen

Gute Nacht, Peggy Sue · Kalte Herzen · Roter Engel · Trügerische Ruhe · In der Schwebe · Leichenraub · Totenlied · Das Schattenhaus · Die Studentin (zusammen mit Gary Braver)

Besuchen Sie uns auch auf www.instagram.com/blanvalet.verlagund www.facebook.com/blanvalet.

Tess Gerritsen

Mutterherz

Thriller

Deutsch von Andreas Jäger

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel »Rizzoli & Isles: Listen to Me« bei Ballantine Books, an imprint of Random House, a division of Penguin Random House LLC, New York.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright der Originalausgabe © 2022 by Tess Gerritsen

Published by Arrangement with TESS GERRITSEN INC.

Dieses Werk wurde im Auftrag der Jane Rotrosen Agency LLC vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2022 by Limes in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: © www.buerosued.de

Umschlagmotive: © Sue Anne Hodges/Arcangel Images; www.buerosued.de

JA · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-29079-5V002www.limes-verlag.de

Für Josh und Laura

1

AMY

Ich hätte meine Stiefel anziehen sollen, dachte sie, als sie aus der Snell Library trat und die frische Schicht aus Graupel und Schneematsch erblickte, die den Campus überzog. Heute Morgen hatte sie bei milden neun Grad Celsius das Haus verlassen. Es schien ein weiterer in einer Reihe von frühlingshaften Tagen zu werden, die sie glauben machte, der Winter wäre endlich vorbei. Und so war sie in Bluejeans, Kapuzenjacke und einem nagelneuen Paar rosa Ballerinas aus seidenweichem Leder zur Universität aufgebrochen. Doch während sie den ganzen Tag drinnen an ihrem Laptop gearbeitet hatte, war draußen der Winter mit Macht zurückgekehrt. Jetzt war es dunkel, und bei dem eisigen Wind, der durch den Innenhof fegte, würden die Gehwege bald glatt wie eine Schlittschuhbahn sein.

Mit einem Seufzer zog sie den Reißverschluss ihres Hoodies hoch und schulterte den Rucksack, schwer beladen mit Büchern und ihrem Laptop. Es hilft ja nichts. Also Augen zu und durch. Vorsichtig stieg sie die Stufen vor der Bibliothek hinunter und steckte sogleich knöcheltief im Schneematsch. Mit nassen, vor Kälte schmerzenden Füßen stapfte sie den Fußweg zwischen der Hayden Hall und dem Blackman Auditorium entlang. Tja, die neuen Schuhe waren jetzt ruiniert. Wie dumm von ihr. Das hatte sie nun davon, dass sie heute Morgen nicht in den Wetterbericht geschaut hatte. Dass sie vergessen hatte, wie unbarmherzig der März in Boston sein konnte.

An der Eli Hall angekommen, blieb sie plötzlich stehen. Drehte sich um. Waren das Schritte, die sie hinter sich gehört hatte? Einen Moment lang starrte sie in den Durchgang zwischen den zwei Gebäuden, doch sie sah nur den verlassenen Gehweg, der im Schein der Straßenlaterne glänzte. Die Dunkelheit und das schlechte Wetter hatten den Campus geleert, und sie hörte jetzt keine Schritte mehr, nur noch das leise Prasseln des Graupelschauers und das ferne Zischen der Autos auf der Huntington Avenue.

Sie vergrub sich tiefer in ihren Hoodie und ging weiter.

Der Vorplatz des Campus war mit einer glitzernden Eisschicht überzogen, und mit ihren leider völlig ungeeigneten Schuhen brach sie durch die Kruste in Pfützen ein. Spritzer von Eiswasser benässten ihre Jeans. Schon konnte sie ihre Zehen nicht mehr spüren.

Das war alles Professor Harthoorns Schuld. Er war der Grund, weshalb sie den ganzen Tag in der Bibliothek verbracht hatte. Anstatt längst zu Hause mit ihren Eltern beim Abendessen zu sitzen, lief sie hier mit halb abgefrorenen Zehen durch Eis und Schnee, und alles nur, weil ihre Abschlussarbeit – die zweiunddreißig Seiten, an denen sie monatelang gesessen hatte – angeblich unvollständig war. Ungenügend, hatte er sie genannt, weil Amy das entscheidende Ereignis im Leben der Artemisia Gentileschi nicht thematisiert hatte – das Trauma, das ihr Leben verändert hatte und ihren Gemälden eine derart kraftvolle, ja brutale Intensität verlieh: die Erfahrung, vergewaltigt zu werden.

Als ob Frauen formlose Lehmklumpen wären, die erst geprügelt und missbraucht werden mussten, um sie zu etwas Größerem zu formen. Als ob es eine Vergewaltigung gebraucht hätte, um Artemisia zur Künstlerin werden zu lassen.

Ihre Wut über Harthoorns Bemerkungen wuchs immer weiter an, während sie durch den Schneematsch platschend den Platz überquerte. Was wusste so ein vertrockneter alter Mann wie er schon über Frauen und all die ermüdenden und empörenden Ärgernisse, die sie erdulden mussten? All die hilfreichen Ratschläge, die ihnen von Männern mit ihren Ich-weiß-es-besser-Stimmen aufgedrängt wurden.

Sie erreichte den Fußgängerüberweg und blieb an der Ampel stehen, die gerade auf Rot gesprungen war. Natürlich war sie rot, heute hatte sich doch alles gegen sie verschworen. Autos rauschten vorbei, von ihren Reifen spritzte Schmutzwasser auf. Graupel prasselte auf ihren Rucksack nieder, und sie sorgte sich, dass ihr Laptop nass werden und die Arbeit des ganzen Nachmittags verloren sein könnte. Ja, das wäre die perfekte Krönung dieses Tages. Geschah ihr ganz recht – warum hatte sie auch nicht in den Wetterbericht geschaut? Warum hatte sie keinen Schirm mitgenommen? Warum hatte sie diese albernen Schuhe angezogen?

Die Ampel war immer noch rot. War sie etwa kaputt? Sollte sie sie ignorieren und einfach rasch die Straße überqueren?

Sie war so auf die Ampel konzentriert, dass sie den Mann, der hinter ihr stand, zunächst gar nicht wahrnahm. Dann erregte irgendetwas an ihm ihre Aufmerksamkeit. Vielleicht war es das Rascheln seiner Nylonjacke oder die Alkoholfahne, die er ausströmte. Sobald ihr bewusst wurde, dass da jemand hinter ihr war, fuhr sie herum und sah ihn an.

Er war so eingemummt gegen die Kälte – den Schal ums Kinn geschlungen, die Wollmütze bis über die Augenbrauen gezogen –, dass seine Augen das Einzige waren, was sie von seinem Gesicht sehen konnte. Er wich ihrem Blick nicht aus, sondern erwiderte ihn unverwandt und mit einer solchen Intensität, dass sie es als übergriffig empfand – als ob dieser Blick ihr die intimsten Geheimnisse entreißen könnte. Er machte keine Anstalten, sich ihr zu nähern, doch die Art, wie er sie anstarrte, genügte, um sie aus der Fassung zu bringen.

Sie blickte über die Huntington Avenue hinweg zu den Geschäften auf der anderen Straßenseite. Der Taco-Laden war geöffnet, die Fenster hell erleuchtet, und drinnen konnte sie ein halbes Dutzend Gäste erkennen. Ein sicherer Ort mit Menschen, an die sie sich wenden könnte, wenn sie Hilfe brauchte. Sie könnte dort Unterschlupf finden, sich ein wenig aufwärmen und vielleicht ein Taxi rufen, das sie nach Hause brachte.

Endlich sprang die Ampel auf Grün.

Sie lief zu schnell vom Bordstein los, und die Sohle ihres Lederschuhs fand auf der eisglatten Straße keinen Halt. Sie ruderte mit den Armen, um sich zu fangen, doch der Rucksack brachte sie aus dem Gleichgewicht. Sie kippte nach hinten und fiel mit dem Hintern in den Matsch. Durchnässt und benommen, rappelte sie sich wieder auf.

Die Scheinwerfer, die auf sie zurasten, sah sie nicht.

2

ANGELA

Zwei Monate später

Siehst du etwas, dann sag etwas. Wir alle haben diese Aufforderung schon so oft gehört, dass wir ganz automatisch aufmerken, wenn wir ein verdächtiges Paket irgendwo sehen, wo es nicht hingehört, oder einen Fremden entdecken, der sich in der Nachbarschaft herumtreibt. Bei mir ist es jedenfalls so, zumal meine Tochter Jane Polizistin ist und mein Lebensgefährte Vince Polizist im Ruhestand. Ich kenne alle ihre Horrorgeschichten, und wenn ich etwas sehe, dann sage ich etwas, darauf können Sie Gift nehmen. Es ist mir sozusagen in Fleisch und Blut übergegangen, ein Auge auf meine Nachbarschaft zu haben.

Ich wohne in Revere, was streng genommen nicht mehr zu Boston gehört, sondern eher so etwas wie Bostons erschwinglichere kleine Schwester im Norden ist. Meine Straße besteht aus bescheidenen Einfamilienhäusern, Seite an Seite aufgereiht wie Perlen an einer Kette. Einsteigerhäuser, so nannte sie Frank (der in Kürze mein Exmann sein wird), als wir vor vierzig Jahren hierhergezogen sind, nur dass wir danach nie in etwas Größeres umgezogen sind. Genauso wenig wie Agnes Kaminsky, die immer noch nebenan wohnt, oder Glen Druckmeyer, der in dem Haus schräg gegenüber gestorben ist, was es für ihn quasi zum Gegenteil eines Einsteigerhauses machte. Im Lauf der Jahre habe ich so manche Familie ein- und wieder ausziehen sehen. Das Haus zu meiner Rechten steht wieder einmal leer und wartet auf den nächsten Käufer, die nächste Familie in dem endlosen Reigen. Links von mir wohnt Agnes, die meine beste Freundin war, bis ich anfing, mit Vince Korsak auszugehen, was Agnes schockierte, weil meine Scheidung noch nicht durch ist und ich so in ihren Augen als sündiges Weib dastehe. Obwohl es Frank gewesen ist, der mich wegen einer anderen Frau verlassen hat. Was Agnes so richtig gegen mich aufgebracht hat, ist, dass ich das Leben so sehr genieße, seit Frank nicht mehr da ist. Ich genieße es, einen neuen Mann in meinem Leben zu haben und ihn in meinem eigenen Garten zu küssen. Was sollte ich denn Agnes’ Meinung nach tun, jetzt wo mein Mann mich verlassen hat? Mich in züchtiges Schwarz hüllen und mit übereinandergeschlagenen Beinen dasitzen, bis da unten alles vertrocknet ist? Wir reden kaum noch miteinander, aber das ist auch nicht nötig. Ich weiß auch so, was sie dort drüben den ganzen Tag macht, nämlich dasselbe wie immer: ihre Virginia Slims rauchen, QVC schauen und ihr Gemüse totkochen.

Aber darüber habe ich nicht zu urteilen.

Das blaue Haus auf der anderen Straßenseite, das erste nach der Kreuzung, gehört Larry und Lorelei Leopold, die seit gut zwanzig Jahren hier wohnen. Larry ist Englischlehrer an der hiesigen Highschool. Ich kann zwar nicht behaupten, dass wir eng befreundet wären, aber immerhin spielen wir jeden Donnerstagabend zusammen Scrabble, weshalb ich immerhin weiß, dass Larry über einen beeindruckenden Wortschatz verfügt. Neben den Leopolds befindet sich das Haus, in dem Glen Druckmeyer gestorben ist und das seither zur Vermietung gestanden hat. Und daneben, in dem Haus direkt gegenüber von mir, wohnt Jonas, ein zweiundsechzigjähriger Junggeselle, der früher bei den Navy SEALs war und vor sechs Jahren hierhergezogen ist. Vor Kurzem hat Lorelei Jonas zu den Scrabble-Abenden in meinem Haus eingeladen, was wir eigentlich in der Gruppe hätten entscheiden sollen, aber wie sich herausstellte, ist Jonas ein echter Gewinn für die Runde. Er bringt immer eine Flasche Cabernet von Ecco Domani mit, er hat einen guten Wortschatz, und er versucht nicht, fremdsprachige Wörter einzuschmuggeln, was ohnehin verboten sein sollte. Scrabble ist schließlich ein amerikanisches Spiel. Zudem, das muss ich zugeben, ist Jonas ein gut aussehender Bursche. Leider weiß er das auch, und er mäht gerne mit nacktem Oberkörper den Rasen vor seinem Haus, mit gewölbter Brust und prallen Bizepsen. Ich kann natürlich nicht umhin, ihm dabei zuzusehen, und das weiß er. Wenn er mich an meinem Fenster sieht, winkt er mir immer zu, und deshalb denkt Agnes Kaminsky jetzt, dass wir etwas miteinander haben, was nicht stimmt. Ich will einfach nur eine gute Nachbarin sein, und wenn jemand neu in unsere Straße zieht, bin ich stets die Erste, die mit einem Lächeln und einem Zucchinibrot auf der Matte steht. Die Leute wissen das zu schätzen. Sie laden mich zu sich ein, stellen mir ihre Kinder vor, erzählen mir, wo sie herkommen und was sie beruflich machen. Sie fragen mich, ob ich ihnen einen Klempner oder einen Zahnarzt empfehlen kann. Wir tauschen Telefonnummern aus und versichern einander, dass wir uns bald einmal treffen werden. So ist es mit allen meinen Nachbarn gewesen.

Bis die Greens kamen.

Sie haben die Nummer 2533 gemietet, das gelbe Haus, in dem Glen Druckmeyer gestorben ist. Es hat ein Jahr lang leer gestanden, und ich bin froh, dass es endlich wieder bewohnt ist. Es ist nicht gut, wenn ein Haus zu lange leer steht. Das wirft ein schlechtes Licht auf die ganze Straße und vermittelt den Eindruck einer wenig begehrten Wohnlage.

An dem Tag, an dem ich den Umzugswagen der Greens vor dem Haus vorfahren sehe, nehme ich automatisch eines meiner berühmten Zucchinibrote aus dem Gefrierschrank. Während es auftaut, trete ich auf die Veranda und versuche, einen Blick auf meine neuen Nachbarn zu erhaschen. Den Mann sehe ich zuerst. Er steigt auf der Fahrerseite aus: groß, blond und muskulös. Kein Lächeln. Das ist das erste Detail, das mir auffällt. Sollte man nicht lächeln, wenn man in seinem neuen Zuhause ankommt? Stattdessen blickt er sich mit unbewegter Miene in der Nachbarschaft um, dreht den Kopf hin und her, die Augen hinter einer verspiegelten Sonnenbrille verborgen.

Ich winke ihm zu, doch er erwidert die Begrüßung zunächst nicht. Einen Moment lang steht er nur da und betrachtet mich. Endlich hebt er die Hand zu einem mechanischen Winken, als ob der Chip in seinem Computerhirn die Situation analysiert und entschieden hätte, dass die korrekte Reaktion darin besteht zurückzuwinken.

Na ja, okay, denke ich. Vielleicht ist die Frau ja freundlicher.

Sie steigt auf der Beifahrerseite des Umzugswagens aus. Anfang dreißig, silberblonde Haare, eine schlanke Gestalt in Bluejeans. Auch sie sieht sich zunächst in der Straße um, aber mit schnellen, hektischen Blicken wie ein scheues Eichhörnchen. Ich winke ihr zu, und sie winkt zögerlich zurück.

Das genügt mir vollauf als Einladung. Ich überquere die Straße und sage: »Lassen Sie mich die Erste sein, die Sie in der Nachbarschaft begrüßt!«

»Freut mich, Sie kennenzulernen«, erwidert sie. Sie sieht zu ihrem Mann, als ob sie ihn um Erlaubnis bittet weiterzureden. Sofort sagt mir mein Instinkt, dass bei diesem Paar irgendetwas nicht stimmt. Ich nehme die Spannungen zwischen ihnen wahr und denke sogleich an all die verschiedenen Gründe, aus denen eine Ehe scheitern kann. Ich sollte es schließlich wissen.

»Ich bin Angela Rizzoli«, stelle ich mich vor. »Und Sie sind …?«

»Ich – ähm, ich bin Carrie. Und das ist Matt.« Die Antwort kommt stockend, als ob sie über jedes Wort nachdenken müsste, bevor sie es ausspricht.

»Ich wohne seit vierzig Jahren in dieser Straße – wenn Sie also irgendetwas über das Viertel wissen wollen, egal was, dann müssen Sie nur mich fragen.«

»Erzählen Sie uns etwas über unsere Nachbarn«, sagt der Mann. Er blickt zu Nummer 2535, dem blauen Haus nebenan. »Wie sind die so?«

»Oh, dort wohnen die Leopolds. Larry und Lorelei. Larry ist Englischlehrer an der staatlichen Highschool, und Lorelei ist Hausfrau. Sehen Sie, wie gepflegt ihr Vorgarten ist? Larry hat wirklich ein Händchen dafür, in seinem Garten bleibt nie ein Unkraut stehen. Sie haben keine Kinder – also wirklich nette, ruhige Nachbarn. Auf der anderen Seite von Ihnen wohnt Jonas. Er ist im Ruhestand, war früher bei den Navy SEALs, und er kann Ihnen Geschichten darüber erzählen, das glauben Sie gar nicht. Und auf der anderen Straßenseite, gleich neben meinem Haus, wohnt Agnes Kaminsky. Ihr Mann ist schon lange tot, und sie hat nie wieder geheiratet. Ich denke, ihr Leben gefällt ihr einfach so, wie es ist. Wir waren sehr gut befreundet, bis mein Mann …« Ich merke, dass ich zu viel rede, und halte inne. Sie brauchen nicht zu hören, wie Agnes und ich uns zerstritten haben. Sicher werden sie es früh genug von ihr erfahren. »Und haben Sie auch Kinder?«

Es ist eine einfache Frage, aber wieder schielt Carrie zu ihrem Mann, als ob sie seine Erlaubnis bräuchte, um zu antworten.

»Nein«, sagt er, »noch nicht.«

»Dann brauchen Sie also keine Empfehlungen für Babysitter. Es wird ohnehin immer schwieriger, welche zu finden.« Ich wende mich Carrie zu. »Übrigens, in meiner Küche taut gerade ein leckeres Zucchinibrot auf. Ich bin berühmt für mein Rezept, wenn ich das in aller Bescheidenheit sagen darf. Ich bring es Ihnen gleich rüber.«

Er antwortet für sie beide. »Das ist nett, aber nein danke. Wir sind allergisch.«

»Gegen Zucchini?«

»Gegen Gluten. Keine Weizenprodukte.« Er legt seiner Frau eine Hand auf die Schulter und schiebt sie sanft, aber bestimmt auf das Haus zu. »Also, jetzt müssen wir erst mal ankommen. Man sieht sich, Ma’am.« Sie verschwinden beide im Haus und machen die Tür zu.

Ich sehe den Umzugswagen an, den sie noch nicht einmal geöffnet haben. Jedes andere Paar hätte es doch eilig, seine Sachen ins Haus zu schaffen, oder nicht? Das Erste, was ich auspacken würde, wären meine Kaffeemaschine und der Teekessel. Aber nein, Carrie und Matt Green haben alles im Umzugswagen gelassen.

Den ganzen Nachmittag lang bleibt der Wagen vor ihrem Haus stehen, alle Türen verschlossen.

Erst nach Einbruch der Dunkelheit höre ich ein metallisches Klappern, und als ich aus dem Fenster spähe, sehe ich die Silhouette des Ehemanns. Matt steht am Heck des Wagens, steigt hinein und kommt einen Augenblick später rückwärts die Rampe wieder herunter, einen Rollwagen voller Kartons ziehend. Warum hat er mit dem Entladen gewartet, bis es dunkel ist? Was will er vor den Blicken der Nachbarn verbergen? Es kann nicht viel in dem Umzugswagen sein, denn nach zehn Minuten ist er schon fertig. Er schließt den Wagen ab und zieht sich ins Haus zurück. Drinnen brennt Licht, aber ich kann nichts sehen, weil sie die Jalousien zugezogen haben.

In meinen vier Jahrzehnten in dieser Straße hatte ich Alkoholiker und Ehebrecher als Nachbarn, auch einen Frauenschläger oder vielleicht zwei. Aber ein so reserviertes, unnahbares Paar wie Carrie und Matt Green habe ich noch nicht erlebt. Vielleicht war ich zu aufdringlich. Vielleicht haben sie Eheprobleme und können gerade keine neugierigen Nachbarinnen ertragen. Vielleicht ist es allein meine Schuld, dass wir uns nicht auf Anhieb verstanden haben.

Ich muss ihnen wohl erst mal ihre Ruhe lassen.

Aber am nächsten Tag und auch am übernächsten und am Tag darauf, kann ich nicht umhin, die Nummer 2533 zu beobachten. Ich sehe, wie Larry Leopold zu seiner Schule aufbricht. Ich sehe Jonas ohne Hemd seinen Rasen mähen. Ich sehe meine Erzfeindin Agnes paffend an meinem Haus vorbeimarschieren und es mit missbilligenden Blicken streifen, wie sie es zweimal täglich zu tun pflegt.

Aber die Greens? Sie schaffen es, sich wie Geister an mir vorbeizuschleichen. Ich erhasche nur einen ganz kurzen Blick auf ihn am Steuer eines schwarzen Toyotas, als er in seine Garage fährt. Ich erspähe ihn, wie er an den oberen Fenstern Jalousien anbringt. Ich beobachte, wie sie von FedEx ein Paket zugestellt bekommen, das, wie der Fahrer mir verrät, von B&H Photo in New York City kommt. (Es schadet nie zu wissen, dass der fürs Viertel zuständige FedEx-Fahrer ganz wild auf Zucchinibrot ist.) Was ich nicht sehe, ist irgendein Anzeichen dafür, dass diese Leute einer Arbeit nachgehen. Sie haben einen irregulären Tagesablauf, kommen und gehen zu den unterschiedlichsten Zeiten, gerade so, als ob sie in Rente wären. Ich frage die Leopolds und Jonas nach ihnen, aber sie wissen auch nicht mehr als ich. Die Greens sind uns allen ein Rätsel.

All das habe ich am Telefon meiner Tochter Jane erklärt, und man sollte doch meinen, dass es sie genauso neugierig machen würde wie mich. Aber sie erklärt mir, dass es nicht verboten sei, seiner vorwitzigen Nachbarin aus dem Weg zu gehen. Sie ist stolz auf ihren Instinkt als Polizistin, aber sie hat keinen Respekt vor dem Instinkt einer Mutter. Als ich sie zum dritten Mal wegen der Greens anrufe, reißt ihr schließlich der Geduldsfaden.

»Ruf mich wieder an, wenn tatsächlich etwas passiert«, fährt sie mich an.

Eine Woche später verschwindet die sechzehnjährige Tricia Talley.

3

JANE

Luftblasen umwirbelten ein rosarotes Dornröschenschloss und einen Wald aus Plastik-Seetang mit einer Piratenkiste, die vor Juwelen überquoll. Eine Meerjungfrau mit fließenden roten Haaren ruhte auf ihrem Muschelbett, umgeben von einer Verehrerschar von Meeresgetier. Nur ein Bewohner dieser Unterwasser-Wunderwelt war tatsächlich lebendig, und in diesem Moment glotzte er Detective Jane Rizzoli durch das blutbespritzte Glas an.

»Das ist ein ganz schön schickes Aquarium für einen einzigen kleinen Goldfisch«, bemerkte Jane. »Ich glaube, sie hat da drin das komplette Ensemble von Arielle, die Meerjungfrau versammelt. Und das alles für einen Fisch, der nach einem Jahr schon das Klo runtergespült wird.«

»Nicht unbedingt. Das ist ein Fächerschwanz«, erklärte Dr. Maura Isles. »So ein Fisch kann theoretisch zehn oder zwanzig Jahre alt werden. Das älteste dokumentierte Exemplar erreichte ein Alter von dreiundvierzig Jahren.«

Durch das Glas hindurch konnte Jane Mauras verschwommene Silhouette sehen, wie sie auf der anderen Seite des Aquariums kauerte und die Leiche der zweiundfünfzigjährigen Sofia Suarez untersuchte. Auch um Viertel vor elf an einem Samstagvormittag schaffte es Maura, smarte Eleganz auszustrahlen, ein Kunststück, das Jane noch nie fertiggebracht hatte. Es waren nicht nur Mauras maßgeschneiderte Hosenanzüge und ihre geometrisch geschnittenen schwarzen Haare – nein, es lag auch in Mauras Wesen begründet. In den Augen der meisten Polizistinnen und Polizisten beim Boston PD war sie eine einschüchternde Erscheinung mit ihrem blutroten Lippenstift – eine Frau, die ihren Intellekt als Schutzschild benutzte. Und dieser Intellekt war jetzt voll und ganz damit beschäftigt, die Sprache des Todes in den Wunden und Blutspritzern zu entziffern.

»Ernsthaft? Goldfische können wirklich dreiundvierzig Jahre alt werden?«, fragte Jane.

»Schlag’s nach.«

»Wie kommt es, dass du so eine total nutzlose Information abgespeichert hast?«

»Keine Information ist nutzlos. Sie ist nur ein Schlüssel, der noch auf das passende Schloss wartet.«

»Also, ich werde es nachschlagen. Weil jeder Goldfisch, den ich je besessen habe, spätestens nach einem Jahr tot war.«

»Kein Kommentar.«

Jane richtete sich auf und ließ den Blick noch einmal durch das bescheidene Wohnzimmer der Frau schweifen, die hier gelebt hatte und hier gestorben war. Sofia Suarez, wer warst du? Jane las die Hinweise in den Büchern im Regal, in den akkurat aufgereihten Fernbedienungen auf dem Couchtisch. Eine ordnungsliebende Frau, die gerne strickte, nach den Zeitschriften auf dem Beistelltisch zu schließen. Das Bücherregal war voll mit Fachliteratur zu Krankenpflege und Liebesromanen – die Lektüre einer Frau, die in ihrem Beruf mit dem Tod zu tun hatte, aber dennoch an die Liebe glauben wollte. Und in einer Ecke, auf einem kleinen, mit bunten Plastikblumen geschmückten Tisch, stand das gerahmte Foto eines lächelnden Mannes mit verschmitzten Augen und einem hübschen schwarzen Haarschopf. Eines Mannes, dessen geisterhafte Präsenz noch in jedem Zimmer dieses Hauses zu spüren war.

Über dem Schrein des Verstorbenen hing das Hochzeitsfoto einer jüngeren Sofia und ihres Ehemanns Tony. Am Tag ihrer Trauung hatten ihre Gesichter vor Freude gestrahlt. An jenem Tag mussten sie geglaubt haben, dass noch viele glückliche Jahre vor ihnen lägen, dass sie gemeinsam alt werden würden. Aber im vergangenen Jahr hatte der Tod den Ehemann dahingerafft.

Und gestern Abend war Sofia in die Hände eines Mörders geraten.

Jane ging zurück zur Haustür, wo ein mit Blutspritzern übersätes Stethoskop am Boden lag.

Hier ist er über sie hergefallen.

Hatte der Mörder schon auf sie gewartet, als sie gestern Abend zur Tür hereinkam? Oder wurde er überrascht, als er den Schlüssel im Schloss hörte, und geriet in Panik, als ihm klar wurde, dass er jeden Moment entdeckt würde?

Der erste Schlag ist noch nicht tödlich. Sie lebt noch. Ist noch bei Bewusstsein.

Jane folgte der Spur aus verschmiertem Blut, die sich über den Fußboden zog und vom verzweifelten Versuch des Opfers zeugte, dem Angreifer zu entkommen. Sie führte von der Haustür durchs Wohnzimmer und weiter an dem leise blubbernden Aquarium vorbei.

Und hier endet es, dachte Jane, als sie auf den Leichnam hinabblickte.

Sofia Suarez lag auf der Seite, mit angezogenen Beinen wie ein Embryo in der Gebärmutter. Sie trug ihre blaue Schwesternuniform, das Namensschild vom Krankenhaus steckte noch an ihrer Bluse: S. Suarez, Registrierte Pflegekraft. Eine Blutlache hatte sich um ihren zertrümmerten Schädel gebildet, und ihr Gesicht, das auf dem Hochzeitsfoto so vor Glück strahlte, war bis zur Unkenntlichkeit zerschmettert.

»Ich kann die Umrisse einer Schuhsohle erkennen, hier, in diesem Blutspritzer«, sagte Maura. »Und da drüben ist noch ein partieller Abdruck.«

Jane ging in die Hocke, um den Schuhabdruck zu inspizieren. »Sieht nach einer Art Stiefel aus. Männerschuh, ungefähr Größe vierzig?« Jane wandte sich zur Haustür um. »Ihr Stethoskop liegt nahe bei der Tür. Sie wird angegriffen, sobald sie das Haus betritt. Schafft es noch, sich bis hierher zu schleppen, wo sie sich in Embryonalstellung zusammenrollt, vielleicht in dem Versuch, sich zu schützen, ihren Kopf abzuschirmen. Und er schlägt noch einmal zu.«

»Habt ihr die Waffe schon gefunden?«

»Nein. Wonach sollten wir suchen?«

Maura kniete sich neben die Leiche und teilte mit ihrer behandschuhten Hand behutsam die Haare der toten Frau, um die Kopfhaut freizulegen. »Die Wunden sind scharf begrenzt. Kreisförmig. Ich würde sagen, ihr müsst nach einem Hammer mit flachem Kopf suchen.«

»Einen Hammer haben wir bisher nicht gefunden, weder mit noch ohne Blut.«

Janes Partner Barry Frost trat aus dem hinteren Schlafzimmer. Sein normalerweise blasses Gesicht war erschreckend rot und sonnenverbrannt, die Folge seines gestrigen Strandausflugs, bei dem er keine Kopfbedeckung getragen hatte. Es tat Jane schon weh, wenn sie ihn nur anschaute. »Ich habe weder ihre Brieftasche noch ihr Handy finden können«, sagte er. »Aber dafür habe ich das hier gefunden. Es war im Schlafzimmer eingesteckt.« Er hielt ein Ladekabel hoch. »Scheint zu einem Apple-Laptop zu gehören.«

»Und wo ist der Laptop?«

»Nicht hier jedenfalls.«

»Bist du sicher?«

»Willst du selber nachschauen?«, entgegnete Frost. Es sah ihm gar nicht ähnlich, so gereizt zu reagieren, aber vielleicht hatte sie es herausgefordert. Und er litt bestimmt unter seinem Sonnenbrand.

Sie hatte sich zuvor schon einmal im Haus umgesehen, und nun wiederholte sie den Rundgang. Ihre Schuhüberzieher schleiften raschelnd über den Boden, als sie einen Blick ins Gästezimmer warf, wo das Bett mit zusammengefalteter Wäsche beladen war. Als Nächstes kam das Bad, der Unterschrank vollgestopft mit den üblichen Gesichtscremes und Lotionen, die ewige Jugend versprachen, ohne das Versprechen je einzulösen. Im Arzneischränkchen fanden sich Tabletten gegen Bluthochdruck und Allergien sowie eine Flasche mit verschreibungspflichtigem Hydrocodon, vor einem halben Jahr abgelaufen. Im Bad schien noch alles an seinem Platz zu sein, was Jane verdächtig fand. Die Hausapotheke war normalerweise das Erste, was ein Einbrecher plünderte, und das Hydrocodon war eine begehrte Beute.

Jane ging weiter ins Schlafzimmer, wo sie auf der Kommode ein weiteres gerahmtes Foto von Sofia und ihrem Mann aus glücklicheren Zeiten fand. Sie standen Arm in Arm an einem Strand, und beide hatten in den Jahren seit ihrem Hochzeitsfoto an Falten wie auch an Pfunden zugelegt. Ihre Hüften waren fülliger, ihre Lachfalten tiefer. Sie öffnete den Kleiderschrank und sah, dass darin neben Sofias Kleidern auch noch Tonys Sakkos und Hosen hingen. Wie schmerzlich musste es sein, diesen Schrank jeden Morgen zu öffnen und die Sachen ihres verstorbenen Mannes zu erblicken. Oder war es vielmehr ein Trost, den Stoff zu berühren, den er getragen hatte, und seinen vertrauten Geruch einzuatmen?

Jane schloss die Schranktür. Frost hatte recht – falls Sofia einen Apple-Laptop besessen hatte, war er nicht in diesem Haus.

Sie ging in die Küche. Auf der Arbeitsplatte lagen Tüten mit Maismehl und Plastikbeutel voll getrockneter Maisspelzen. Ansonsten war die Küche aufgeräumt, die Oberflächen sauber gewischt. Sofia war Krankenschwester gewesen, wahrscheinlich war es ihr in Fleisch und Blut übergegangen, immer alle Flächen abzuwischen und zu desinfizieren. Jane öffnete den Vorratsschrank und sah Regale voll mit fremdartigen Gewürzen und Saucen. Sie stellte sich vor, wie Sofia ihren Einkaufswagen durch den Supermarkt schob und die Mahlzeiten plante, die sie nur für sich kochte. Die Frau hatte allein gelebt und wahrscheinlich allein gegessen, und nach ihrem reichlich bestückten Gewürzregal zu urteilen, hatte sie im Kochen Trost gefunden. Es war ein weiteres Puzzleteil im Bild von Sofia Suarez, einer Frau, die gerne gekocht und gestrickt hatte. Einer Frau, die ihren verstorbenen Mann so sehr vermisste, dass sie seine Sachen im Kleiderschrank aufbewahrte und ihm im Wohnzimmer einen Schrein errichtet hatte. Einer Frau, die ein Faible für Liebesromane und Goldfische gehabt hatte. Einer Frau, die allein gelebt hatte, aber sicherlich nicht allein gestorben war. Jemand hatte danebengestanden, die Mordwaffe in der Hand, und ihren Todeskampf beobachtet.

Janes Blick fiel auf die Glasscherben von der zerbrochenen Scheibe in der Hintertür, durch die der Täter offensichtlich eingedrungen war. Er hatte das Glas im Türrahmen eingeschlagen, durch die Öffnung gegriffen und den Riegel zurückgezogen. Jane trat hinaus auf den Grundstücksstreifen an der Seite des Hauses, eine gekieste Fläche mit einer leeren Mülltonne und hier und da etwas Unkraut. Hier draußen lagen ebenfalls Scherben, doch im Kies waren keine Fußabdrücke zurückgeblieben, und das Tor war nur mit einem einfachen Riegel verschlossen, der sich leicht von außen anheben ließ. Keine Überwachungskameras, keine Alarmanlage. Sofia hatte sich in dieser Nachbarschaft offenbar sicher gefühlt.

Janes Handy meldete sich mit kreischenden Geigentönen. Es war die Filmmusik aus Psycho, und sie zerrte an ihren Nerven – was auch ganz passend war. Ohne einen Blick auf die Anruferkennung zu werfen, stellte sie das Telefon auf stumm und ging wieder ins Haus zurück.

Eine Krankenschwester. Wer zum Teufel bringt eine Krankenschwester um?

»Willst du nicht rangehen?«, fragte Maura, als Jane ins Wohnzimmer trat.

»Nein.«

»Aber es ist doch deine Mutter.«

»Und genau deshalb werde ich nicht rangehen.« Sie sah Mauras skeptischen Blick. »Das ist schon das dritte Mal, dass sie heute anruft. Ich weiß genau, was sie sagen wird: Was bist du denn für eine Polizistin, dass du dich überhaupt nicht für eine Entführung interessierst?«

»Jemand ist entführt worden?«

»Nein. Es geht bloß um ein Mädchen aus ihrer Nachbarschaft, das von zu Hause durchgebrannt ist. Und zwar nicht zum ersten Mal.«

»Bist du sicher, dass es weiter nichts ist?«

»Ich habe schon mit den Kollegen vom Revere PD gesprochen, und jetzt sind die dran.« Jane sah wieder auf die Leiche hinunter. »Ich habe selber genug Probleme.«

»Detective Rizzoli?«, rief eine Stimme.

Jane drehte sich um und sah einen Streifenpolizisten in der Haustür stehen. »Ja?«

»Die Enkelin der Nachbarin ist gerade gekommen. Sie ist bereit zu übersetzen, wenn Sie nach nebenan kommen möchten.«

Jane und Frost traten ins Freie, wo die Sonne so blendete, dass Jane einen Moment innehalten und die Augen schließen musste, ehe sie registrierte, dass sich vor dem Haus bereits ein interessiertes Publikum eingefunden hatte. Ein Dutzend Nachbarinnen und Nachbarn standen auf dem Gehsteig, angezogen vom ungewohnten Anblick der Polizeifahrzeuge in ihrer Straße. Während ein Transporter der Spurensicherung hinter der Reihe von Streifenwagen einparkte, sah Jane zwei grauhaarige Frauen den Kopf schütteln und sich betroffen die Hand vor den Mund halten. Das hier war nicht die Zirkusatmosphäre, wie Jane sie so oft in Downtown Boston erlebte, wo Tatorte offenbar Unterhaltungswert hatten. Sofias Tod hatte die Menschen, die sie gekannt hatten, sichtlich erschüttert, und sie sahen in bestürztem Schweigen zu, wie Jane und Frost zum Nachbarhaus hinübergingen.

Die Tür wurde von einer jungen asiatischen Frau in Nadelstreifenhose und gestärkter weißer Bluse geöffnet, ein ungewöhnlich geschäftsmäßiges Outfit für einen Samstagvormittag. »Sie ist immer noch ziemlich erschüttert, aber sie will unbedingt mit Ihnen reden.«

»Sie sind ihre Enkelin?«, fragte Jane.

»Ja. Lena Leong. Ich bin diejenige, die den Notruf abgesetzt hat. Grandma hat in ihrer Panik zuerst mich angerufen und mich gebeten, die Polizei für sie zu alarmieren, weil sie Probleme hat, sich auf Englisch zu verständigen. Ich wäre schon eher hergekommen, um zu dolmetschen, aber ich hatte einen Termin mit einem Mandanten in der Innenstadt.«

»An einem Samstagmorgen?«

»Manche meiner Mandanten haben unter der Woche keine Zeit. Ich bin Fachanwältin für Einwanderungsrecht, und ich vertrete viele Beschäftigte in der Gastronomie, die nur am Samstagvormittag Zeit haben, zu mir zu kommen. Tun Sie, was Sie tun müssen.« Lena bat sie herein. »Sie ist in der Küche.«

Jane und Frost gingen durch das Wohnzimmer, wo das karierte Sofa unter dem Schonbezug aus Plastik wie neu aussah. Auf dem Couchtisch stand eine aus Stein gemeißelte Obstschale mit jadegrünen Äpfeln und Trauben aus Rosenquarz. Unverderbliche Früchte, deren künstlicher Glanz nie verblassen würde.

»Wie alt ist Ihre Großmutter?«, fragte Frost, als sie Lena in die Küche folgten.

»Sie ist neunundsiebzig.«

»Und sie spricht überhaupt kein Englisch?«

»Oh, sie versteht wesentlich mehr, als sie zugibt, aber wenn es ums Sprechen geht, hat sie zu große Hemmungen.« Lena blieb im Flur stehen und deutete auf das Foto an der Wand. »Das ist meine Großmutter mit meinen Eltern und mir, als ich sechs Jahre alt war. Meine Eltern leben unten in Plymouth, und sie fragen Grandma immer wieder, ob sie nicht zu ihnen ziehen möchte, aber sie weigert sich hartnäckig. Sie wohnt seit fünfundvierzig Jahren in diesem Haus, und sie ist nicht bereit, ihre Unabhängigkeit aufzugeben.« Lena zuckte mit den Schultern. »Sie hat nun mal ihren eigenen Kopf. Was will man da machen?«

In der Küche fanden sie Mrs. Leong am Tisch sitzend, den Kopf in die Hände gestützt, ihr silbergraues Haar zerzaust wie eine Pusteblume. Vor ihr stand eine Tasse Tee, von der nach Jasmin duftender Dampf aufstieg.

»Nai nai?«, sagte Lena.

Langsam hob Mrs. Leong den Kopf und sah ihre Besucher an, ihre Augen vom Weinen gerötet. Sie deutete auf die freien Stühle, und sie setzten sich alle an den Tisch, Lena auf den Platz neben ihrer Großmutter.

»Nun, Lena, können Sie uns zunächst einmal wiedergeben, was Ihre Großmutter Ihnen am Telefon gesagt hat?«, fragte Frost, während er sein Notizbuch hervorzog.

»Sie sagte, sie sei für heute Morgen mit Sofia verabredet gewesen. Doch als Grandma nach nebenan ging und klingelte, machte niemand auf. Die Tür war nicht abgeschlossen, also ging sie hinein. Sie sah das Blut. Und dann sah sie Sofia.«

»Um wie viel Uhr war das?«

Lena fragte ihre Großmutter, und Mrs. Leong antwortete mit einem langen Wortschwall auf Mandarin – sicherlich mehr als nur die Antwort auf die Frage nach der Uhrzeit.

»Kurz vor acht«, übersetzte Lena. »Sie wollten zusammen Tamales machen. Normalerweise machen sie das im Januar, aber das war kurz nach Tonys Tod, und Sofia war noch zu mitgenommen.«

»Sie sprechen von Mr. Suarez?«, fragte Jane. »Wie ist er gestorben?«

»Es war ein Schlaganfall. Sie haben ihn noch operiert, aber er ist nicht mehr aufgewacht. Er lag noch drei Wochen im Koma, bevor er starb.« Lena schüttelte den Kopf. »Er war so ein guter Mann, immer nett zu meiner Grandma. Zu allen eigentlich. Man konnte ihn und Sofia immer Händchen haltend um den Block spazieren sehen, wie Frischvermählte.«

Frost blickte von dem Notizbuch auf, in dem er die Antworten festgehalten hatte. »Sie sagten, Ihre Großmutter und Sofia hätten heute Morgen zusammen Tamales machen wollen. Wie haben sie sich denn verständigt?«

Lena runzelte die Stirn. »Was meinen Sie?«

»Ihre Großmutter spricht kein Englisch. Und ich nehme an, dass Sofia kein Chinesisch gesprochen hat.«

»Sie mussten nicht reden, weil Kochen eine Sprache ist. Sie haben einander zugesehen und zusammen probiert. Sie haben ständig Gerichte ausgetauscht – Sofias Tamales, das wunderbare Ochsenschwanzragout meiner Grandma.«

Janes Blick ging zu dem Gewürzregal über dem Herd, dem Sortiment von Zutaten und Saucen, das sich so sehr von dem bei Sofia unterschied. Sie erinnerte sich an die Tüten mit Maismehl in der Küche der toten Frau, und vor ihrem inneren Auge sah sie die beiden Frauen Seite an Seite sitzen, wie sie Maisspelzen um Klumpen von Maisteig wickelten, während sie in verschiedenen Sprachen lachten und schwatzten und einander doch bestens verstanden.

Jane sah, wie Mrs. Leong sich das Gesicht abwischte, auf dem feuchte Streifen zurückblieben, und sie dachte an ihre eigene Mutter: Auch sie war eine Frau, die leidenschaftlich auf ihrer Unabhängigkeit beharrte, auch sie lebte allein. Sie dachte an all die anderen Frauen in dieser Stadt, die abends in ihren Häusern allein waren. Frauen, die in Furcht vor dem Geräusch von splitterndem Glas und fremden Schritten lebten.

»Gestern Abend«, sagte Jane, »hat Ihre Großmutter da irgendetwas Ungewöhnliches gehört? Irgendwelche Stimmen oder verdächtige Geräusche?«

Bevor Lena übersetzen konnte, schüttelte Mrs. Leong bereits den Kopf. Offensichtlich hatte sie die Frage verstanden, und wieder antwortete sie mit einem Wortschwall auf Mandarin.

»Sie sagt, sie hat nichts gehört, aber sie geht immer um zehn zu Bett«, sagte Lena. »Sofia hatte die Abendschicht im Krankenhaus, und sie kam meist erst gegen halb zwölf, zwölf nach Hause, also zu einer Zeit, wo meine Großmutter schon schlief.« Lena hielt inne, während Mrs. Leong noch etwas hinzufügte. »Sie fragt, ob es da passiert ist? Gleich nachdem sie nach Hause kam?«

»Wir nehmen es an«, antwortete Jane.

»War es ein Raubüberfall? Hier in der Nachbarschaft ist nämlich in letzter Zeit ein paarmal eingebrochen worden.«

»Wann war das genau?«, fragte Frost.

»Das eine Mal war vor ein paar Monaten, eine Straße weiter. Die Bewohner lagen im Bett, als es passierte, und sie haben den ganzen Einbruch verschlafen. Danach hat mein Vater bei Grandma Riegel an den Türen anbringen lassen. Ich glaube, Sofia war bei sich noch nicht dazu gekommen.« Lena sah Jane an, dann Frost. »Ist es so passiert? Ist jemand bei ihr eingebrochen, und sie hat ihn überrascht?«

»Es fehlen Gegenstände aus ihrem Haus«, antwortete Jane. »Ihre Brieftasche, ihr Handy. Und möglicherweise ein Laptop. Weiß ihre Großmutter, ob Sofia einen besessen hat?«

Es folgte wieder ein schneller Wortwechsel auf Mandarin. »Ja«, sagte Lena. »Grandma sagt, dass Sofia ihn letzte Woche in ihrer Küche benutzt hat.«

»Kann Sie ihn beschreiben? Welche Farbe, welche Marke?«

»Apple«, sagte Mrs. Leong und deutete auf eine Obstschale, die auf der Arbeitsfläche stand.

Frost und Jane sahen einander verblüfft an. Hatte die Frau gerade ihre Frage beantwortet?

Frost zog sein Handy aus der Tasche und zeigte auf das Logo auf der Rückseite. »Ein Apfel wie dieser? Ein Apple-Computer?«

Die Frau nickte. »Apple.«

Lena lachte. »Ich hab’s Ihnen doch gesagt – sie versteht mehr, als sie zugibt.«

»Kann Sie uns noch mehr über den Computer sagen? Welche Farbe hat er? Ist er alt oder neu?«

»Jamal«, sagte die Großmutter. »Er helfen ihr kaufen.«

»Okay«, sagte Frost und notierte den Namen in seinem Büchlein. »In welchem Laden arbeitet dieser Jamal?«

Mrs. Leong schüttelte den Kopf. Frustriert wandte sie sich an ihre Enkelin und redete auf sie ein.

»Ach, der Jamal!«, rief Lena. »Das ist dieser Junge aus der Nachbarschaft, Jamal Bird. Er hilft vielen älteren Damen hier, wenn sie zum Beispiel nicht wissen, wie sie ihren Fernseher zum Laufen bringen sollen. Ihn müssen Sie nach dem Computer fragen.«

»Das werden wir tun«, erwiderte Frost und klappte sein Notizbuch zu.

»Und sie sagt, Sie sollen kalten Grüntee und Ringelblumensalbe drauftun, Detective.«

»Wie bitte?«

»Auf ihren Sonnenbrand.«

Mrs. Leong deutete auf Frosts hochrotes Gesicht. »Geht gleich viel besser«, sagte sie, und zum ersten Mal brachte sie ein Lächeln zustande. Es war ja klar, dass Frost derjenige sein würde, der dieser betrübten Frau endlich ein Lächeln entlockte. Irgendwie schienen alle älteren Damen in ihm immer ihren lange verloren geglaubten Enkel zu sehen.

»Eine Sache noch«, sagte Lena. »Grandma meint, Sie sollen vorsichtig sein, wenn Sie mit Jamal reden.«

»Wieso?«, fragte Jane.

»Weil Sie Polizisten sind.«

»Hat er etwas gegen Cops?«

»Er nicht. Aber seine Mutter.«

4

»Warum wollen Sie mit meinem Sohn reden? Sie gehen wohl einfach davon aus, dass er was ausgefressen haben muss?«

Beverly Bird baute sich schützend in ihrer offenen Haustür auf, ein unüberwindliches Hindernis für jeden, der es wagte, in ihr Reich einzudringen. Obwohl kleiner als Jane, war sie stämmig wie ein Baum, die Füße in rosa Flip-Flops schulterbreit aufgestellt.

»Wir sind nicht hier, um Ihren Sohn wegen irgendetwas zu beschuldigen, Ma’am«, sagte Frost ruhig. Wenn es darum ging, einen Streit zu schlichten, war Frost der ideale Krisenflüsterer, und Jane konnte sich stets darauf verlassen, dass es ihm gelang, die Gemüter zu kühlen. »Wir hoffen lediglich, dass Jamal uns weiterhelfen kann.«

»Er ist erst fünfzehn. Wie soll er bei einem Mordfall helfen?«

»Er kannte Sofia, und …«

»Jeder in der Nachbarschaft hat sie gekannt. Aber ihr Cops greift euch natürlich den einzigen schwarzen Jungen im Block raus!«

So musste es ihr natürlich vorkommen – wie konnte es anders sein? In den Augen einer Mutter ist die ganze Welt ein Ort voller Gefahren, und das galt umso mehr für die Mutter eines schwarzen Sohnes.

»Mrs. Bird«, sagte Jane. »Ich bin auch Mutter. Ich verstehe, dass Sie besorgt sind, weil wir mit Jamal sprechen wollen. Aber wir brauchen Hilfe bei der Identifizierung von Mrs. Suarez’ Computer, und wir haben gehört, dass Ihr Sohn ihr geholfen hat, ihn zu kaufen.«

»Er hilft vielen Leuten mit ihren Computern. Manchmal kriegt er sogar Geld dafür. Schauen Sie sich doch um in der Nachbarschaft. Was glauben Sie, wie viele von den alten Leuten nicht mal mit ihren eigenen Handys zurechtkommen?«

»Dann ist er genau der Richtige, um uns zu helfen, Sofias verschwundenen Laptop zu finden. Der Einbrecher hat ihn mitgenommen, und wir müssen wissen, welche Marke und welches Modell es war.«

Mrs. Bird beäugte sie einen Moment lang wie eine Bärenmutter, die einzuschätzen versuchte, ob diese Eindringlinge eine Gefahr für ihr Junges darstellten. Dann trat sie widerwillig zur Seite, um sie ins Haus zu lassen. »Nur damit Sie’s wissen, ich hab ein Handy, und ich scheue mich nicht, dieses Gespräch zu filmen.«

»Wenn es Ihnen damit besser geht«, meinte Jane. Wer besaß heutzutage kein Handy? Das war die Welt, mit der sie als Polizisten nun mal zurechtkommen mussten – eine Welt, in der alles, was sie taten und sagten, aufgezeichnet und infrage gestellt werden konnte. Wäre sie an der Stelle dieser Mutter, sie würde es genauso machen.

Mrs. Birds rosa Flip-Flops klatschten an ihre Sohlen, als sie den Flur entlang voranging. Am Zimmer ihres Sohnes blieb sie stehen und rief durch die offene Tür: »Schatz, es ist die Polizei. Sie wollen mit dir über Sofia reden.«

Der Junge musste ihr Gespräch mit angehört haben, denn er reagierte nicht auf die Ankündigung und drehte sich auch nicht zu ihnen um. Er saß mit hängenden Schultern an seinem Computer, als würde er bereits ahnen, dass ihr Besuch nichts Gutes bedeutete. In seinem Zimmer herrschte das übliche Teenager-Chaos: Klamotten auf dem Bett, blaue Nike-Schuhe auf dem Boden, die Regale voll mit Plastik-Actionfiguren – Thor, Captain America, Black Panther.

»Was dagegen, wenn ich mich setze?«, fragte Jane.

Der Junge zuckte mit den Schultern, was Jane als Zustimmung interpretierte. Oder vielleicht nur als ein Mir egal. Als sie einen Stuhl griff und neben ihn rückte, sah sie einen Inhalator auf der Sitzfläche liegen. Der Junge hatte Asthma. Sie legte das Gerät auf den Schreibtisch und setzte sich.

»Ich bin Detective Rizzoli«, stellte sie sich vor. »Und das ist Detective Frost. Wir sind vom Boston PD, und wir brauchen deine Hilfe.«

»Es ist wegen Sofia. Stimmt’s?«

»Dann hast du also gehört, was passiert ist.«

Er nickte, immer noch ohne sie anzusehen. »Ich hab die Polizeiautos gesehen.«

Von der Tür kam Mrs. Birds Stimme: »Er ist im Haus geblieben, und ich bin rüber, um zu schauen, was da los ist. Ich hab ihm verboten rauszugehen, weil ich verhindern wollte, dass es zu Missverständnissen kommt. Ihr Cops seid ja manchmal schnell bei der Hand mit euren Unterstellungen.«

»Ich will niemandem etwas unterstellen, Mrs. Bird«, erwiderte Jane.

»Warum sind Sie dann hier?«, fragte Jamal. Jetzt endlich schwenkte er seinen Stuhl herum und sah Jane an. Seine braunen Augen waren feucht, und Jane fielen die unglaublich langen Wimpern auf. Er war klein für seine fünfzehn Jahre und wirkte schwächlich. Das Asthma, dachte sie.

»Es fehlen ein paar Dinge aus Sofias Haus, darunter ihr Laptop. Mrs. Leong sagte, du hättest Sofia geholfen, diesen Computer zu kaufen.«

Er blinzelte mit feucht glänzenden Wimpern. »Sie war echt nett. Wollte mich immer bezahlen für die Sachen, die ich gemacht hab.«

»Was hast du für sie gemacht?«

»Ach, nur so Kleinkram. Ihr gezeigt, wie sie ihren Fernseher bedienen muss. Ihren neuen Computer eingerichtet. Sie hat mir leidgetan, nachdem ihr Mann gestorben ist.«

»Sie hat uns allen leidgetan«, warf Mrs. Bird ein. »Irgendwie passieren die schlimmsten Sachen immer den guten Leuten.«

»Erzähl uns was über Sofias Laptop«, forderte Frost Jamal auf. »Wann hast du ihr geholfen, ihn zu kaufen?«

»Das war so vor zwei Monaten. Ihr alter Rechner ist kaputtgegangen, und sie wollte einen neuen, um Sachen im Internet zu recherchieren. Sie hatte nicht viel Geld, und sie hat mich gefragt, was für einen sie kaufen soll.«

»Viele Frauen aus der Nachbarschaft bitten ihn um Hilfe«, erklärte Mrs. Bird mit Stolz in der Stimme. »Er ist der Technik-Freak des Viertels.«

»Und wo hat sie nun diesen Computer gekauft?«, fragte Frost.

»Ich hab auf eBay einen für sie gefunden. War ein richtiges Schnäppchen. Ein MacBook Air von 2012 für hundertfünfzig Dollar. Die Grafik war ihr nicht so wichtig, und ich hab mir gedacht, mehr als vier Gigabyte Speicherplatz braucht sie bestimmt nicht. Sie wollte ihn ja nur zum Recherchieren benutzen.«

Frost machte sich eine Notiz. »Also ein MacBook Air von 2012 …«

»Dreizehn Komma drei Zoll Monitor. Eins Komma acht Gigahertz Intel Core …«

»Stopp, nicht so schnell. Lass mich das erst mal aufschreiben.«

»Soll ich Ihnen die technischen Daten schnell ausdrucken?« Jamal drehte sich zu seinem Computer um und drückte ein paar Tasten, um die Informationen aufzurufen. Sekunden später erwachte der Drucker surrend zum Leben und warf ein Blatt Papier aus. »Er war silber«, fügte Jamal hinzu.

»Und du sagst, er hat hundertfünfzig Dollar gekostet?«, fragte Jane.

»Genau. Ihr Gebot hat den Zuschlag bekommen, und der Verkäufer hatte gute Bewertungen. Als sie ihn geliefert bekam, bin ich rüber und hab ihr noch geholfen, das WLAN einzurichten.«

»Wow«, meinte Jane. »So einen persönlichen Support könnte ich auch gut gebrauchen.«

Zum ersten Mal lächelte Jamal, aber es war ein zögerliches Lächeln. Noch vertraute er ihnen nicht. Vielleicht würde er ihnen nie gänzlich vertrauen.

»Manche der Ladys bezahlen ihn, wissen Sie?«, sagte Mrs. Bird. »Nicht dass Sie denken, seine Hilfe wäre umsonst.«

»Aber ich habe nie verlangt, dass Sofia mich bezahlt«, sagte Jamal. »Sie wollte mir stattdessen ein paar Tamales schenken.«

»Die Frau hat wahnsinnig gute Tamales gemacht«, sagte Mrs. Bird.

Die Tamales, die nie fertig wurden, dachte Jane. Manchmal waren es kleine Dinge wie mexikanische Teigtaschen, die Nachbarn zusammenbrachten.

»Was ist mit ihrem Handy, Jamal?«, fragte Frost. »Erinnerst du dich daran?«

Jamal runzelte die Stirn. »Ist das auch verschwunden?«

»Ja.«

»Komisch. Weil, das ist bloß so ein altes Android, das sie schon ewig hatte. Sie hatte Probleme, damit zu surfen, weil ihre Augen nicht so gut waren. Deswegen brauchte sie den Laptop für die Recherchen.«

»Was für Recherchen waren das?«

»Sie hat nach irgendwelchen alten Zeitungsartikeln gesucht. Das ist schwierig auf so einem kleinen Handy, wenn man nicht gut sieht.«

Frost schlug eine neue Seite in seinem Notizbuch auf und schrieb weiter. »Es war also ein altes Android. Welche Farbe?«

»Ich weiß, dass die Hülle blau war, mit so tropischen Fischen drauf. Sie hat Fische gemocht.«

»Blaue Hülle mit tropischen Fischen. Okay«, sagte Frost und klappte sein Notizbuch zu. »Danke.«

Jamal stieß einen tiefen Seufzer aus, offensichtlich erleichtert, dass das Verhör beendet war. Aber das war es nicht. Es gab noch eine Frage, die Jane unbedingt stellen musste.

»Versteh das bitte nicht falsch, Jamal«, sagte sie, »aber ich muss einfach gründlich sein. Kannst du uns sagen, wo du gestern Abend gegen Mitternacht warst?«

Augenblicklich war es, als ob eine Wolke sich vor sein Gesicht schob. Mit dieser einen Frage hatte sie jegliches Vertrauen zerstört, das sie in ihm aufgebaut haben mochten.

»Ich hab’s doch gewusst«, zischte Mrs. Bird empört. »Warum fragen Sie ihn das? Deswegen sind Sie eigentlich hier, nicht wahr? Um ihn zu beschuldigen?«

»Nein, Ma’am. Das ist eine reine Routinefrage.«

»Es ist nie Routine. Sie suchen nach einem Grund, meinem Sohn die Schuld in die Schuhe zu schieben, dabei hätte er Sofia nie etwas zuleide getan. Er hat sie gerngehabt. Wie wir alle.«

»Ich verstehe, aber …«

»Und weil Sie es ja unbedingt wissen wollen, sag ich’s Ihnen lieber gleich. Es war ein warmer Abend gestern, und mein Junge verträgt die Hitze nicht gut. Er hatte einen schlimmen Asthmaanfall. Das Letzte, was ihm da in den Sinn kommen würde, wäre, rauszugehen und jemanden zu überfallen.«

Während seine Mutter schimpfte, sagte Jamal gar nichts. Er saß nur mit steifem Rücken da, die Schultern gestrafft, schweigend darauf bedacht, seine Würde zu wahren. Jane konnte die Frage nicht zurücknehmen, eine Frage, die sie jedem Teenager gestellt hätte, der in einem Viertel wohnte, wo es Einbrüche gegeben hatte. Jedem, der das Opfer gekannt hatte und in ihrem Haus gewesen war.

Ihre nächste Frage würde noch Salz in die Wunde streuen.

»Jamal«, sagte sie leise, »da du in Sofias Haus warst, hast du vielleicht Fingerabdrücke hinterlassen. Deswegen brauchen wir deine, einfach nur zum Abgleich.«

»Sie wollen meine Fingerabdrücke«, sagte er tonlos.

»Nur damit wir wissen, welche wir ausschließen können.«

Er seufzte resigniert. »Okay. Ich hab verstanden.«

»Wir schicken jemanden von der Spurensicherung, der sie dir abnimmt.« Sie sah seine Mutter an. »Ihr Sohn ist nicht verdächtig, Mrs. Bird. Im Gegenteil, er war uns eine sehr große Hilfe, also vielen Dank dafür. Danke Ihnen beiden.«

»Ja, klar doch«, höhnte die Frau.

Als Jane aufstand, um zu gehen, fragte Jamal: »Was ist mit Henry? Was wird jetzt aus ihm?«

Jane schüttelte den Kopf. »Henry?«

»Ihr Fisch. Sofia hat keine Familie, also wer füttert jetzt Henry?«

Jane sah Frost an, der nur den Kopf schüttelte. Sie wandte sich wieder zu Jamal um. »Was weißt du über Goldfische?«

5

In Janes Erfahrung waren Krankenhäuser Orte, an denen schlimme Dinge passierten. Die Geburt ihrer Tochter Regina, eigentlich ein freudiges Ereignis, war stattdessen von Angst und Schmerz geprägt gewesen, ein Albtraum, der in Schüssen und Blutvergießen geendet hatte. Hierher kommen Menschen, um zu sterben, dachte sie, als sie mit Frost das Pilgrim Hospital betrat und mit dem Aufzug in die Chirurgische Intensivstation im fünften Stock fuhr. Während der Pandemie, als COVID-19 in der Stadt grassierte, war dies tatsächlich ein Ort gewesen, an den Menschen zum Sterben gekommen waren, doch an diesem Sonntagabend herrschte auf der Intensivstation eine geradezu unheimliche Ruhe. Eine einsame Stationssekretärin saß an der Anmeldung, wo sechs Monitore die Vitalzeichen der verschiedenen Patienten anzeigten.

»Detective Rizzoli und Detective Frost, Boston PD«, sagte Jane und hielt der Sekretärin ihre Dienstmarke hin. »Wir müssen mit den Kolleginnen und Kollegen von Sofia Suarez sprechen. Mit allen, die mit ihr zu tun hatten.«

Die Frau nickte. »Wir haben uns schon gedacht, dass Sie kommen würden. Ich weiß, dass alle gerne mit Ihnen sprechen wollen.« Sie griff nach dem Telefon. »Und Dr. Antrim piepe ich auch gleich an.«

»Dr. Antrim?«

»Der Leiter der Intensivstation. Er müsste noch im Haus sein.« Sie blickte auf, als eine Krankenschwester aus einer der Kabinen kam. »Mary Beth, die Polizei ist da.«

Sofort eilte die Schwester auf sie zu, eine rothaarige, sommersprossige Frau mit schwarzen Mascara-Krümeln in den Wimpern. »Ich bin Mary Beth Neal, die Stationsschwester. Wir sind alle total geschockt wegen Sofia. Haben Sie den Täter schon gefasst?«

»Wir stehen erst am Anfang«, antwortete Jane.

Nach und nach versammelten sich auch die anderen Krankenschwestern an der Stationszentrale und bildeten einen Halbkreis von ernsten Gesichtern. Frost notierte rasch ihre Namen: Fran Souza, eine kleine, kräftige Frau mit kurz geschorenen dunklen Haaren. Paula Doyle, blonder Pferdeschwanz, schlank, sonnengebräunt und fit wie ein Model für Outdoorkleidung. Alma Aquino, deren fein geschnittenes Gesicht von einer riesigen Brille dominiert wurde.

»Wir konnten es gar nicht glauben, als wir gestern Abend die Nachrichten gehört haben«, sagte Mary Beth. »Wir kennen niemanden, der Grund hätte, Sofia etwas zuleide zu tun.«