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Deutschland steht im WM-Finale, doch in der Großen Koalition ist Krise. Also hat Vizekanzler Sigmar seine Chefin Angela sowie Ursula und Horst zur Gruppentherapie beordert. Unter Anleitung eines professionellen Beraters soll «Mutti» in einer Familienaufstellung endlich lernen, dass sie nicht sämtliche Entscheidungen im Alleingang treffen kann. Während die Nationalelf in Brasilien um den Titel kämpft (von allen angespannt auf ihren Smartphones verfolgt), kommt es daheim zum verbalen Schlagabtausch, zu dem Meinungsumfragen live die wechselnden Beliebtheitswerte der Anwesenden liefern. Besonders Angelas Europa-Politik steht unter Beschuss – leidenschaftlicher soll sie werden. Längst aber ist die Kanzlerin ihren Gegnern ein paar Schritte voraus und verfolgt eine ganz eigene Konter-Strategie.
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Seitenzahl: 88
Juli Zeh • Charlotte Roos
Mutti
Ihr Verlagsname
Juli Zeh, 1974 in Bonn geboren, studierte Jura in Passau und Leipzig, wo sie 1998 ihr Erstes Staatsexamen machte. Ebenfalls in Leipzig studierte sie am Deutschen Literaturinstitut (DLL). Nach ihrem Diplom am DLL folgte 2003 das Zweite Staatsexamen. 2001 erschien ihr erster Roman, «Adler und Engel», wie ihre anderen Bücher, die mittlerweile in fast 30 Sprachen übersetzt wurden, im Verlag Schöffling & Co. Außerdem hat Zeh Theaterstücke, Erzählungen, Essays und Zeitungsartikel veröffentlicht. Ausgezeichnet wurde sie u.a. mit dem Deutschen Buchpreis (2002), Rauriser Literaturpreis (2002), Hölderlin-Förderpreis (2003), Ernst-Toller-Preis (2003), den Jürgen-Bansemer-und-Ute-Nyssen-Dramatikerpreis (2008) und dem Solothurner Literaturpreis (2009). 2010 promovierte sie an der Universität Saarbrücken in internationalem Recht.
Charlotte Roos, geboren 1974 in Düsseldorf, studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und hat Theatertexte und Prosa veröffentlicht. 2007 war sie zu den Wiener Werkstatttagen eingeladen, 2008 nahm sie an dem Autorenprojekt «stück/für/stück» am Schauspielhaus Wien teil sowie am Forum Junger Autoren Europas im Rahmen des Festivals Neue Stücke am Staatstheater Wiesbaden.
Hellmann, undefinierbares Alter, undefinierbarer Typ.
Angela, 60 Jahre, sieht aus wie eine Hausfrau, ist sie aber nicht.
Sigmar, auch schon über 50, hat ein Anliegen.
Ulla, alterslose Powerfrau, mehrfache Mutter, kann und schafft alles.
Horst, 65, würde lieber nicht mitspielen.
Alle außer Hellmann benutzen dauernd ihre Handys.
Auf einer Videoleinwand sehen wir Umfragewerte, die von den einschlägigen Meinungsforschungsinstituten unermüdlich ermittelt werden, sowie Szenen des Endspiels der Fußball-WM in Brasilien und verschiedene Nachrichtensendungen.
Zu Beginn des Stücks zeigt die Demoskopie, dass eine Mehrheit der Bundesbürger mit der großen Koalition unzufrieden ist. 81 Prozent glauben, dass interne Streitigkeiten weiterhin die Regierungsfähigkeit schwächen werden. Ein Säulendiagramm zeigt Beliebtheitswerte, wobei anfangs nur eine einzige Säule zu sehen ist, nämlich die von Angela, die trotz der Misere eine ganz gute Figur macht. 62 Prozent glauben, dass sie bessere Arbeit leistet als der Vizekanzler Sigmar.
Hellmann und Angela in einem kleinen Nebenraum am Tisch.
ANGELA
Sagen wir mal so. Ich hätte heute Abend was Besseres zu tun.
HELLMANN
Fußball gucken.
ANGELA
(lächelnd) Genau. Eigentlich säße ich jetzt in Brasilien auf der Tribüne.
HELLMANN
Warum sind Sie dann hier?
ANGELA
Es war der einzige freie Tag in meinem Terminkalender bis Anfang November. Es ist Krise, wissen Sie.
HELLMANN
Warum Sie überhaupt mitmachen, meine ich.
ANGELA
Da bin ich ganz ehrlich. Sigmar will das unbedingt. Er sagt, wenn ich nicht mitmache, lässt er mich mit Griechenland im Regen stehen. Ohne Schirm.
HELLMANN
Sie erwähnten eingangs, Sie hätten eigentlich keine Probleme.
ANGELA
Hab ich auch nicht. Bis auf Schweinsteigers Sprunggelenk. Sonst läuft alles ganz prima.
HELLMANN
Soll das ein Witz sein?
ANGELA
Ich finde es schön, wenn jeder selbst entscheidet, wann er lacht.
Hellmann lacht laut und herzlich, hört plötzlich wieder auf.
HELLMANN
So in etwa?
ANGELA
(leicht irritiert) So in etwa. Ja.
HELLMANN
Wie geht es Ihnen?
ANGELA
Gut.
HELLMANN
Sie sitzen in einem riesigen Scheißhaufen und sagen, es gehe Ihnen gut?
ANGELA
Dieser Scheißhaufen ist meine Arbeit.
HELLMANN
Die zum größten Teil aus Krisen besteht.
ANGELA
Ich mag Krisen.
HELLMANN
Ich auch. Ich verdiene meinen Lebensunterhalt damit.
ANGELA
Na, sehen Sie.
HELLMANN
Wissen Sie, was eine Systemaufstellung ist?
ANGELA
Unter einer Systemaufstellung versteht man eine angeleitete Selbsterfahrung, bei der diejenigen, die ein sogenanntes Anliegen haben, vom Aufstellungsleiter nach bestimmten Prinzipien und in der Anwesenheit von Zuschauern in den vorhandenen Raum gestellt werden.
HELLMANN
Gut vorbereitet.
ANGELA
Immer.
HELLMANN
Und was glauben Sie, warum Sigmar es so wichtig findet, dass wir das hier zusammen machen?
ANGELA
Das würde mich aufrichtig interessieren.
HELLMANN
Er hält Sie für einen Kontrollfreak.
ANGELA
(lächelt)
HELLMANN
Er sagt, das Kabinett sei völlig zerrüttet. Angela steht entweder auf der Bremse oder macht Top-Down, wenig Verhandlungs-, geschweige denn Kompromissbereitschaft.
ANGELA
(lächelt)
HELLMANN
Ihre gehemmte Emotionalität …
ANGELA
(räuspert sich)
HELLMANN
… bringt nicht nur die Koalition an den Rand des Scheiterns, sondern macht es Ihnen auch unmöglich, jene wichtige Europa-Rede zu halten, die der Kontinent so dringend braucht.
ANGELA
Es ist ja nicht so, dass ich nicht öffentlich über Europa spreche.
HELLMANN
In der aktuellen, absolut verheerenden Situation braucht Europa ein klares Bekenntnis. Sie müssen als Identifikationsfigur vorangehen. Die deutsche Regierungschefin muss die europäische Vision mit Leidenschaft verkörpern.
ANGELA
Finden Sie?
HELLMANN
(klopft auf seine Akte) Findet Sigmar.
ANGELA
(lächelt weiter)
HELLMANN
Können Sie mit Sigmars Einschätzungen etwas anfangen?
ANGELA
Sigmar hat manchmal Schwierigkeiten, die Realität zu sehen. Er ist Sozialdemokrat.
Sigmars Säule erscheint im Diagramm auf der Videoleinwand. Nur 13 Prozent finden, dass er innerhalb der Koalition die bessere Arbeit macht.
HELLMANN
Was sehen Sie in Sigmar?
ANGELA
Der kann ganz schön nerven, das sage ich freiheraus. (Lacht)
HELLMANN
(lacht nicht) Weiter.
ANGELA
Er ist Chef der Partei, die mit der Partei, von der ich Chefin bin, koaliert.
HELLMANN
Sie meinen, er ist Ihr Koalitionspartner.
ANGELA
Parteien koalieren, nicht Menschen.
HELLMANN
Was ist er noch für Sie?
ANGELA
Ich verstehe die Frage nicht.
HELLMANN
Sehen Sie ihn als Freund? Als Partner? Oder als Gegner, Konkurrenten? Als Kollegen, Verbündeten oder sogar als Feind?
ANGELA
Herr Hellmann, ich respektiere Ihre Arbeit. Aber ich schlage vor, dass wir doch lieber bei den Fakten bleiben.
HELLMANN
Bei meinen Systemaufstellungen ist es üblich, dass sich alle Mitglieder der Gruppe duzen.
ANGELA
Kommt nicht in Frage.
HELLMANN
Sie wollen nicht geduzt werden?
ANGELA
Spreche ich undeutlich?
HELLMANN
Darf ich Angela sagen?
ANGELA
Sagen Sie, was Sie wollen, aber nicht «du». (Guckt auf ihr Handy.) Er wird mit falscher Neun spielen. Wie Guardiola.
Mit den Auftritten von Ulla und Horst erscheinen nun auch ihre Säulen im Diagramm auf der Videoleinwand. Ullas Werte sind besser als die von Sigmar. Sie kommt in den Raum gerauscht, ins Handy sprechend.
ULLA
Ich weiß. Ich weiß. Ich weiß. Das ist jetzt eben so. Zwei Stunden vielleicht. Weiß ich nicht. Es dauert so lange, wie es dauert. Klar sind da auch Regierungschefs auf der Tribüne. Das ist das Finale der Fußball-WM, Herrgott noch mal. Ich erwarte minütlich Bericht über die Sicherheitslage.
Sigmar betritt den Raum, ebenfalls am Handy. Ulla und er heben die Hand zur Begrüßung, während sie weiter in die Telefone sprechen.
SIGMAR
Das muss dann eben spontan gehen. PK gegen 23.30 Uhr. Dann sollen sich die lieben Journalisten den Deutschland-Schal abbinden, das Bier wegstellen und ins Bundespresseamt rüberkommen. Das Leben kann hart sein. (Lacht)
ULLA
Weiß ich nicht. Ist meine erste Gruppentherapie. Ich kann die Kanzlerin jetzt nicht fragen. Muss ich auch nicht. Wir haben das im Griff, verstanden?
SIGMAR
Ich habe nicht gesagt, auf jeden Fall Pressekonferenz um halb zwölf, sondern vielleicht Pressekonferenz um halb zwölf. Wegen der Proteste ist noch kein einziges Spiel pünktlich angepfiffen worden. Ja. Nein, es geht nicht um Windräder. Wirklich nicht.
Horst betritt halb den Raum, bleibt in der Tür stehen und unterhält sich mit jemandem, der draußen steht.
HORST
Nein, nein, nein, ihr Leibwächter bleibt draußen, das ist so abgesprochen. Die Fahrbereitschaft soll dann warten. Wenn die Sache hier zu Ende ist, fahr ich sofort nach München zurück. Seien Sie so gut und holen Sie mir ein paar Sandwiches und dann noch das Nackenkissen aus dem Büro. Ich schlafe sonst schlecht im Auto, mit leerem Magen und verdrehtem Hals. Servus, Wiederschauen.
Horst kommt ganz herein, überlegt, wo er sich setzen soll. Nur an der Wand stehen ein paar Stühle, es gibt keinen Tisch. Unentschlossen bleibt er mitten im Raum stehen.
ULLA
Ja. Ja. Ja. Ich meld mich dann. Wegtreten. Guten Abend, Horst! (Sie gibt ihm die Hand). Hallo, Sigmar.
SIGMAR
(macht eine Geste, dass sie warten soll) Ihr macht das schon. Ihr bereitet das vor. Alles wartet auf mein Kommando. (Steckt das Handy weg) Hallo, Horst.
Ulla geht auf Sigmar zu, dieser weicht zurück, winkt ihr zu, nähert sich stattdessen Horst und gibt diesem die Hand.
HORST
Abend, Sigmar.
ULLA
(mit ausgestreckter Hand, zu Sigmar) Geben Sie mir nicht die Hand?
SIGMAR
(Ulla ignorierend, zu Horst) Toll, dass Sie es einrichten konnten.
ULLA
(penetrant ihre Hand in Sigmars Richtung streckend) Sigmar? – Ich fasse es nicht. (Lacht)
HORST
Mir blieb ehrlich gesagt nichts anderes übrig.
SIGMAR
Hat Angela Sie persönlich eingeladen?
HORST
Ihre Leute haben meine Leute informiert. Wir telefonieren zurzeit nicht direkt miteinander.
ULLA
Sigmar?
SIGMAR
(zu Ulla, ohne ihre Hand zu nehmen) Ich habe Ihnen doch schon die Hand gegeben!
ULLA
Haben Sie gar nicht.
SIGMAR
(zu Horst) Höchste Zeit, dass wir was unternehmen. Das kann so alles nicht weitergehen.
ULLA
(mit ausgestreckter Hand, zu Horst, bemüht, ein lustiges Spiel daraus zu machen) Kommen Sie, Horst! Sie sind mein Zeuge! Er hat mir nicht die Hand gegeben, oder?
HORST
Da hab ich jetzt nicht genau darauf geachtet, tut mir leid. (Zu Sigmar) Und was genau ist dieser Hellmann von Beruf?
SIGMAR
Er macht Systemaufstellungen. Eine Art Gruppentherapie.
HORST
(entsetzt) Gruppentherapie?
ULLA
Zum letzten Mal, Sigmar. Geben Sie mir die Hand.
SIGMAR
(genervt) Ich habe Ihnen die Hand gegeben! Ist gut jetzt!
ULLA
Das ist schwach. Einfach nur schwach. (Lässt endlich die Hand sinken und setzt sich auf einen der Stühle.)
HORST
Es hieß doch, Krisensitzung im engsten Kreis, die Kanzlerin verzichtet auf ihre Brasilienreise, Anwesenheit unbedingt obligatorisch. Ich habe in München alles stehen und liegen gelassen!
ULLA
Krisensitzung, Systemaufstellung, wie wir das hier nennen, ist zweitrangig. Knut Hellman hat Ackermann beraten, die Europäische Kommission und den Vorstand von Opel.
HORST
(ironisch)