Mythos Titanic - Wolf Schneider - E-Book

Mythos Titanic E-Book

Wolf Schneider

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Beschreibung

Hundert Jahre Untergang der Titanic Keine Phantasie reicht an die schaurige Wahrheit heran, wie und warum am 15. April 1912 das Eiswasser des nächtlichen Atlantiks über der Titanic zusammenschlug, dem siebenstöckigen schwimmenden Palasthotel mit 762 Zimmern. 1490 Menschen wurde das größte Schiff der Welt zum Sarg, darunter 52 Kindern und vier Milliardären. Exakt nach den Protokollen der Überlebenden, ohne Ausschmückung und frei von Legenden erzählt Wolf Schneider in diesem atemberaubenden und reich bebilderten Bericht die letzten drei Stunden des Dramas gleichsam im Minutentakt nach. «Wolf Schneider ist ein Meister der deutschen Sprache.» Stern-Gründer Henri Nannen

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Wolf Schneider

Mythos Titanic

Das Protokoll der Katastrophe - drei Stunden, die die Welt erschütterten

Inhaltsverzeichnis

VORWORT

WARUM DIESES BUCH GESCHRIEBEN WURDE

23.39 BIS 23.45 UHR

EIN PALASTHOTEL WIRD AUFGESCHLITZT

23.50BIS 0.15UHR

DAS TODESURTEIL IST GEFÄLLT

0.15BIS 0.45UHR

«WARUM BENIMMT SICH DIESES SCHIFF SO ALBERN?»

0.50BIS 0.55UHR

DIE RETTER SIND NAH – ABER SIE SCHLAFEN

1.00BIS 1.40UHR

DIE LETZTE NOTRAKETE ZISCHT IN DEN HIMMEL

1.45BIS 2.07UHR

DIE MILLIARDÄRE WERDEN ABGEWIESEN

2.07BIS 2.19UHR

DAS SCHIFF STELLT SICH AUF DEN KOPF

2.20BIS 2.30UHR

CHORÄLE GEGEN TODESSCHREIE

1912BIS 1986

EIN SPUKSCHLOSS AUF DEM MEERESGRUND

BILDNACHWEIS

Er ist als die größte Blamage, die die Technik je erlitten hat, zum Mythos geworden: der Untergang der Titanic vor hundert Jahren. Mit ihr versank der hemmungslose Fortschrittsglaube der modernen Menschheit. Sie war das größte Schiff der Welt, erbaut auf der Werft Harland & Wolff in Belfast, zur Jungfernfahrt ausgelaufen am 10.April 1912, untergegangen am 15.April, Rauminhalt: 46328BRT, Wasserverdrängung 60000Tonnen, Länge 269m, Breite 28m, Geschwindigkeit: 22Knoten (41km/​h). Für 1490Menschen wurde sie zum Sarg.

Exakt nach den Protokollen der Überlebenden, ohne Ausschmückung und frei von Legenden hat Wolf Schneider in einem atemberaubenden Bericht die dramatischen letzten drei Stunden der Titanic im Minutentakt nacherzählt. Der Text dieses Buches ist ein Klassiker der Titanic-Literatur und schon einmal als Stern-Buch erschienen. Er wurde vom Autor aktualisiert, die reichhaltige lllustrierung wurde für diesen Band neu besorgt und vom Autor mit neuen Texten versehen.

«Wenn du nicht aufhörst, durch dieses Loch in deiner Visage zu quatschen, dann haben wir bald einen weniger im Boot.» Das ist ein starker Satz, zumal da er in einem der Rettungsboote der Titanic gesprochen worden ist, von einem Steward zu einem Matrosen, der ihm einen Befehl erteilen wollte; und ein starker Satz erst recht, wenn eine gehbehinderte Dame mit einem Herrensitz im Staat New York und einer ständigen Suite im Waldorf-Astoria-Hotel ihn empört zitiert, weil sie als Überlebende nach dem Hergang der Katastrophe befragt wird.

Zu lesen, was diese Dame in der Nussschale ihres Rettungsboots erlebte an jenem schrecklichen 15.April 1912, ihre Aussage vor dem Untersuchungsausschuss des amerikanischen Senats im englischen Original zu lesen und hundert solcher Episoden mehr in den 1200Seiten, die das Protokoll umfasst: Das war für mich, nach der Lektüre von zwei Dutzend Büchern aus zweiter Hand, wie ein Hinabtauchen zu dem geschundenen Wrack – ja noch faszinierender, weil hier die Toten noch sprechen, weil der Atem jener eisigen Nacht einem heiß entgegenschlägt.

Zu der Faszination kam ein Erstaunen: Wie ist es möglich, dass man in zwei Dutzend Büchern den Satz mit dem Loch in der Visage und hundert weitere atemraubende Details aus dem Protokoll und den anderen Berichten der Überlebenden nie gelesen hat? Das ermutigte mich, über die Titanic doch noch ein Buch zu schreiben – strikt nach den Quellen, weil sie von keiner Phantasie übertroffen werden können; energisch gegen die berühmten Legenden wie die, die Titanic habe einen Geschwindigkeitsrekord aufstellen wollen, und der Kapitän habe die Passagiere der dritten Klasse mutwillig ersaufen lassen; erst recht gegen die oft albernen Erfindungen, von denen es in Romanen und der Mehrzahl der Verfilmungen wimmelt.

Auch las man bisher nirgends, welcher Sicherheitsfanatiker ausgerechnet der legendäre Milliardär John Jacob Astor war: Sechs Rettungsboote und vier Schnellfeuergeschütze hatte er auf seiner Privatyacht installiert, und mit der Titanic ging er unter. So wenig wie man über die menschlichen Hintergründe las oder über das Zeitklima zwei Jahre vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs: Da gab es jene angelsächsische Herrenkaste, die ihre Pferde bedeutend besser behandelte als ihre Diener, wie die amerikanische Historikerin Barbara Tuchman schreibt – und deren Angehörige unter den Passagieren der Titanic dennoch mit stoischer Ruhe zusahen, wie ihre Dienstboten gerettet wurden und sie selber nicht.

Kurz: Zu entdecken gab es vieles, und irgendetwas zu erfinden lohnte sich nicht – so unglaublich ist das, was in jener Schreckensnacht des Jahres 1912 wirklich geschah.

Mythen haben die Katastrophe überwuchert.

Ein bisschen lieben wir alle das versunkene Riesenschiff. Was Goethe 1787 über den Untergang von Pompeji schrieb, hätte er auch über den Untergang der Titanic schreiben können: «Es ist viel Unheil in der Welt geschehen, aber wenig, das den Nachfahren so viel Freude gemacht hätte.»

Wolf Schneider

So ist nie zuvor und nie danach ein Milliardär gestorben: Im Eiswasser des nächtlichen Atlantiks mit dem Erfrieren ringend, wurde John Jacob Astor von fünfzig Tonnen funkensprühenden Eisens erschlagen – einem der 24Meter hohen Schornsteine der Titanic, der sich aus den Halterungen riss, als das Hinterschiff sich hoch wie ein Wolkenkratzer ins Wasser stellte. Hätte Astor nicht einen auffallenden Diamanten am Finger getragen und 4000Dollar in den Taschen gehabt: Nie hätte man die Leiche identifizieren können, die da zerschmettert und rußverschmiert in der Schwimmweste hing.

Erst 28Minuten zuvor hatte der Milliardär höflich gefragt, ob er seiner Frau ins Rettungsboot folgen dürfe, denn sie sei schwanger. Doch die Reichen wurden auf der Titanic nicht bevorzugt, einer offenbar unsterblichen Legende entgegen – es galt: Frauen und Kinder zuerst!

Wiederum 130Minuten vor Astors Frage hatte der Eisberg den Unterleib der Titanic aufgeschlitzt, zehn Sekunden lang und überraschend sanft. Leiser hat selten eine Katastrophe begonnen als die um 23.40Uhr am 14.April des Jahres 1912 bei spiegelglatter See, und keine hat mit einem grässlicheren Lärm geendet: aus tausend Kehlen die Entsetzensschreie, das klägliche Heulen, die gewinselten Gebete derer, die in Schwimmwesten im Eiswasser trieben, wobei die Kälte ihnen wie mit Messern in Bauch und Beine schnitt, während zwischen ihnen Kisten, Bretter, Korbstühle, Korkstücke, halbe Türen aus dem Wasser schnellten.

Viele paddelten in letzter Panik durch das Meer der Schreie auf die halbleeren Rettungsboote zu, die ihrerseits in Panik vor ihnen flüchteten, mit Ruderhieben auf die Hände derer, die den Bootsrand trotzdem erreicht hatten. Und auch aus manchem der Boote stieg Geheul zum Himmel, aus Angst vor dem Kentern, ja etliche der Geretteten grölten Seemannslieder oder brachen in Hochrufe aus, um die Todesschreie der Erfrierenden zu übertönen.

Manche Frauen hätten noch mehr geschrien, hätten sie nur geahnt, dass ihre Männer sich unter den Sterbenden befanden – doch wer wusste schon Bescheid in den Rettungsbooten? «Ich dachte, das wären nur die Männer von der Besatzung, die da schrien», gab Mrs.Eloise Hughes Smith später zu Protokoll, «oder vielleicht Zwischendeck-Passagiere, die den Untergang verschlafen hatten.»

Was im und über Wasser keiner hörte, das war das Röcheln und Brüllen jener Hunderte, die an Bord geblieben waren und dort ertranken, erstickten oder erschlagen wurden von niederstürzenden Dampfkesseln, Maschinenteilen, Möbeln, Klavieren, Wandverkleidungen, Kronleuchtern, Statuen und Palmentöpfen – während ihr 269Meter langer Sarg zehn Minuten lang, den Bug voran, dem Grund des Ozeans entgegensank.

Ein siebenstöckiges Palasthotel mit drei Kellergeschossen, 762Zimmern und mehr als sieben Kilometern Korridoren und Promenaden – das war die Titanic, mit dem üppigsten Luxus der Belle Époque ausgestattet und mit dem Geldadel zweier Kontinente an Bord. Doch nun sollte der Palast auch noch schwimmen, und das gelang ihm nur dreizehn Tage lang. Es war, als hätten die dröhnenden 46000PS in seinem Keller, betreut und befeuert von 325Heizern, Kohlentrimmern, Maschinisten, allein dem Zweck gedient, so rasch wie irgend möglich den Eisberg zu rammen und den Palast in den Untergang zu jagen.

23.39Uhr – 161Minuten vor dem Ende: Mit ihrer Höchstgeschwindigkeit von 22Knoten durchpflügt die Titanic den Atlantik mit direktem Kurs auf New York. Fünf Eiswarnungen von anderen Schiffen hat sie erhalten – die erste vor 14Stunden, die letzte vor 40Minuten. Die Wassertemperatur ist binnen drei Stunden um sieben Grad gesunken, auf ein Grad unter null (womit beim salzhaltigen Meerwasser der Gefrierpunkt noch nicht erreicht ist).

Zwei Möglichkeiten hätte der Kapitän gehabt, um der Kollision mit einem Eisberg auszuweichen, stellt später die englische Untersuchungskommission fest, die in Konkurrenz zur amerikanischen arbeitet: Kurs nach Süd oder Südwest zu nehmen, also die Route zu verlängern – oder mit Einbruch der Dunkelheit die Geschwindigkeit zu drosseln.

«Warum tat er keins von beiden?», heißt es in dem Abschlussbericht. «Weil es seit mindestens einem Vierteljahrhundert üblich war, dass bei klarer Sicht die Ozeandampfer diesen Kurs einhielten, ihre Geschwindigkeit beibehielten und dem Ausguck vertrauten. Diese Übung war durch Erfahrung gestützt: Es waren keine Unfälle aus ihr gefolgt… Captain Smith versuchte nicht, eine Rekordfahrt zu machen; er versuchte nicht, irgendjemandem einen Gefallen zu tun. Er machte einen Fehler, einen sehr schmerzlichen Fehler; doch es lässt sich nicht behaupten, dass er grob fahrlässig gehandelt hätte.»

Es bleibt rätselhaft, wie unter diesen Umständen die Legende entstehen konnte, der Kapitän sei dem «Blauen Band» nachgejagt, dem Wimpel, den von 1838 bis 1969 jenes Passagierschiff trug, das den Atlantik am schnellsten überquerte. Darauf war die Titanic gar nicht angelegt: bauchiger und viel größer als die «Mauretania», Rekordhalterin seit 1907, und dabei mit weniger starken Maschinen (46000PS gegen 70000PS).

Nein, ihre Aufgabe war, den höchsten Luxus anzubieten, der je die Meere befahren hatte. Und pure Erfindung ist, was der Ufa-Film von 1943 genüsslich ausmalte: Lord Ismay, der Reeder, habe den Kapitän bestochen, um jeden Preis pünktlich oder vorzeitig in New York einzulaufen, um den Kurs der Reederei-Aktien in die Höhe zu treiben.

Was schließlich zu bedenken bleibt: Unmöglich konnte Captain Edward J.Smith so schlau sein, wie es seine Nachfolger durch den Untergang der Titanic geworden sind.

An Bord herrscht Ruhe um 23.39Uhr. In der eisigen Aprilnacht ist keiner der 1316Passagiere an Deck; einzelne Herren sitzen noch in den Rauchsalons, die meisten Fahrgäste haben sich in ihre Kabinen zurückgezogen. «Mein Mann und ich hatten an dem Dinner teilgenommen, das Mr.Ismay (der Reeder) gab», berichtete Mrs.Eloise Hughes Smith aus Philadelphia später. «Das Dinner war nicht besonders fröhlich, wir gingen gegen neun. Nebenan tranken wir noch Kaffee und Likör, halb zwölf ging ich ins Bett.» Das ist zehn Minuten vor der Kollision.

Die einen entkleiden sich gerade, andere lesen noch im Bett, die Mehrzahl schläft schon – wohlig eingehüllt in das größte, komfortabelste und scheinbar perfekteste Stück Technik, das der Mensch je auf die Natur losgelassen hat. Man wird auch vermuten dürfen, dass so manches Paar sich liebt, vertrauensselig wie nur je in einem so eleganten Hotel mit 762Zimmern. Einige Paare sind gar auf Hochzeitsreise wie der 25-jährige Fabrikant George Harder aus Brooklyn und seine Frau, die die Katastrophe überleben.

Die Gouvernante Elizabeth Shutes allerdings kann nicht schlafen, weil ein Geruch sie irritiert: Von draußen weht es klamm herein wie aus jener Eishöhle, die sie am Eiger-Gletscher besucht hat.

Im Mastkorb («Krähennest») spähen die Matrosen Frederick Fleet und Reginald Lee in die sternklare, aber mondlose Nacht – nur sie. Warum ist kein zusätzlicher Ausguck am Bug postiert?, fragt später die englische Untersuchungskommission. Warum durchforscht nicht auf jeder Seite der Kommandobrücke ein Offizier die Dunkelheit? Beides ist auf dem nahen Frachter «Californian» geschehen, der später eine so unselige Rolle spielt. Und ist der hohe Mastkorb für den einzigen Ausguck nicht gerade der falsche Platz in einer mondlosen Nacht ohne Brandung, die am Eis aufglitzern könnte – müsste der Späher nicht gerade möglichst weit unten hocken, damit ein Eisberg sich wenigstens gegen die Sterne abhebt?

Und warum gibt es auf der Titanic keinen Suchscheinwerfer? Alle britischen Kriegsschiffe führen ihn längst; nur die Handelsmarine leistet sich noch den Leichtsinn, ihre Schiffe lediglich mit Positionslichtern auszustatten. «Ein Suchscheinwerfer hätte uns helfen können», sagen später der Zweite und der Dritte Offizier der Titanic vor dem amerikanischen Ausschuss übereinstimmend.

Auf nur vier Augen also ruht das Schicksal des größten Schiffes der Erde im matten Licht der Sterne. Unbewaffneten Augen noch dazu: Im Mastkorb war zwar ein Fernglas vorhanden, aber nur für die kurze Fahrt von Belfast nach Southampton – nicht von Southampton bis New York! Es klingt unglaublich, und so klang es schon 1912 in den Ohren der amerikanischen Senatoren, die die Überlebenden befragten: Haben Sie denn kein Fernglas angefordert? «Doch», erwiderte der Matrose Fleet, «aber man sagte uns, das sei nicht vorgesehen.» Angenommen, Sie hätten nach Southampton das Fernglas noch gehabt, das Sie vor Southampton hatten – hätten Sie dann den Eisberg auf größere Entfernung erkannt? «Ja, ein bisschen eher.» Wie viel eher? «Nun ja, genug, um dran vorbei zu kommen.» An zwei Sekunden wird dann auch wirklich alles hängen.

23.40Uhr – 160Minuten vor dem Untergang: Frederick Fleet sichtet vor dem Bug eine schwarze Masse und läutet die Alarmglocke zur Brücke hinab. Wie weit war die Masse entfernt, als Sie sie entdeckten?, fragt später Senator William Alden Smith, der Vorsitzende des amerikanischen Untersuchungsausschusses. «Keine Ahnung, Sir.». (450Meter, nimmt die britische Kommission an.) Wie lange vor dem Zusammenstoß machten Sie Ihre Meldung «Eis voraus»? – «Keine Ahnung, Sir.». (Im Ausschuss breitet sich Unruhe aus.) Wollen Sie sagen, dass Sie den Eisberg eine Stunde vor dem Zusammenstoß gemeldet haben? «No, Sir.» Eine halbe Stunde? «No, Sir.» Zehn Minuten? «No, Sir.» Können Sie uns sagen, wie hoch über dem Bootsdeck der Mastkorb war? «No, Sir.» Wissen Sie, ob er 300 oder 60Meter höher war? Fleet antwortet nicht.

Und wie groß war der Eisberg, als Sie ihn zuerst sahen? «Von Entfernungen und Größen habe ich keine Ahnung, Sir.» War der Eisberg, fragt der Ausschussvorsitzende mit mühsamer Selbstbeherrschung, vielleicht so groß wie der Tisch, an dem ich sitze? «Eher so groß wie zwei von diesen Tischen, Sir.»

So ist also der Mann beschaffen, der den Feind sieht, die Glocke dreimal läutet und zur Sicherheit das Telefon ergreift, das ihn mit der Brücke verbindet. «Eisberg hart voraus!», ruft er hinunter. Unverzüglich befiehlt der Erste Offizier, William Murdoch, dem Steuermann im Ruderhaus: Kurs backbord! In den Maschinenraum ruft Murdoch hinunter: «Äußerste Kraft zurück!» Leider ist das ein Fehler – der erste von vielen.

Der schwimmende Palast macht eine Fahrt von 22Knoten, gleich 41Stundenkilometern oder 11,5Metern pro Sekunde. Um ihn zu stoppen oder am Eis vorbeizusteuern, stehen also, bei einer Entfernung von 450Metern, 39Sekunden zur Verfügung. Das macht das Bremsen – mindestens 90Sekunden – hoffnungslos und das Ausweichen zu einem Manöver, zu dessen Gelingen eine oder zwei Sekunden fehlen: Denn 37Sekunden, das wird später mit Hilfe des Schwesterschiffs «Olympic» getestet, dauert es, bis die 60000Tonnen Stahl ihren Kurs geändert haben; hinzuzurechnen sind die Schrecksekunde des Ersten Offiziers und die des Steuermanns sowie die Zeit, die dieser braucht, um das Ruder zu drehen.

Dem Eisfeld nicht ausgewichen, das Tempo nicht gedrosselt, den Ausguck nicht verstärkt, weder Fernglas noch Scheinwerfer an Bord – all diese Fehler summieren sich noch nicht zur Katastrophe. Die vollendet sich erst durch den Befehl des Ersten Offiziers. Befahl er Linkskurs, um dem Eisberg auszuweichen, so durfte er gerade nicht beiden Maschinen «Äußerste Kraft zurück» befehlen, sondern nur die linke Schraube hätte rückwärts, die rechte aber mit voller Kraft weiter vorwärts laufen müssen, um die Kurskorrektur zu verstärken und zu beschleunigen.

Tat er das jedoch nicht, so hätte er gerade den Kurs beibehalten müssen: Die Titanic hätte dann zwar den Eisberg noch gerammt, einen furchtbaren Schlag hätte es gegeben, Hunderte von Verletzten und vielleicht Dutzende von Toten – aber untergegangen wäre sie nicht, wenn bloß der Bug eingedrückt gewesen wäre: Darüber werden sich später die Experten einig.

Doch William Murdoch, der Erste Offizier, hat keine Expertenrunde zur Verfügung und keine Zeit, eine Güterabwägung vorzunehmen. Er will dem Palast die Kollision überhaupt ersparen, und indem er dies versucht – mit falschen Mitteln und trotzdem nicht ohne Chance, da es ja nur an zwei Sekunden fehlt–, treibt er ihn in den Untergang.

Das Eis schrammt die Titanic fünf bis sieben Meter unter Wasser fast in einem Drittel ihrer Länge und schlägt, vermutlich durch mehrfachen Anprall verursacht, sechs Löcher in ihre Außenhaut. (Das wissen wir erst seit 1996 – woher, steht im letzten Kapitel.) Jedes dieser Löcher ist so klein, dass der Laie staunt, wie durch sie ein solches Riesenschiff in die Tiefe gezerrt werden konnte: zusammen nämlich etwas kleiner als die Oberfläche eines durchschnittlichen Schreibtischs.

Die Größe errechnete noch 1912 der für die Schotten zuständige Ingenieur in Belfast, Edward Wilding – einfach, indem er fragte: Wie viele Tonnen Wasser müssen in die Titanic hineingedrückt haben, damit sie absoff? Mindestens 60000Tonnen. Da es 160Minuten dauerte bis zum Untergang: Wie viel Wasser muss demnach pro Minute hineingeschossen sein? Rund 400Tonnen. Und wie groß ist ein Loch, das mit dem Wasserdruck dicht unter der Oberfläche 400Tonnen pro Minute durchlässt, etwas weniger als sieben Kubikmeter pro Sekunde? 1,2Quadratmeter. Diesem bescheidenen Maß entsprechend ist der Anprall an Bord kaum zu spüren. Aufs vordere Welldeck, den 4.Stock, poltern ein paar Tonnen Eis, aber nicht einem Menschen an Bord wird auch nur ein Haar gekrümmt: Gerade dass es ein paar Heizer aus ihrer Koje auf den Boden wirft, rechts vorn auf dem Salondeck sind sie einquartiert (dem 3.Stock), direkt über den klaffenden Wunden.

Die Wunden selbst sehen zunächst nur die Heizer im vordersten Kesselraum auf dem Orlopdeck, dem obersten der drei Kellergeschosse, knapp unter der Wasserlinie: Als es «Äußerste Kraft zurück!» aus dem Maschinentelegraphen kreischt, heulen die Sirenen, flackern rote Lämpchen – und eine halbe Minute später ein Krachen und Bersten, und der Atlantik schießt durch die Schiffswand in den Kesselraum.

Alle anderen in den zehn Etagen spüren wenig oder nichts. In der Backstube im 3.Stock rutscht ein Blech mit frischen Brötchen vom Ofen. Im Speisesaal der ersten Klasse, ebenfalls im 3.Stock, registrieren die vier Stewards, die sich dort als letzte Gäste eine späte Mahlzeit gönnen, leicht irritiert ein Klappern des Bestecks.

Sonst gibt es nichts als ein Geräusch, grotesk in seiner scheinbaren Harmlosigkeit: ein Schaben, ein Kratzen, sagen die einen, ein Scharren, ein Schurfen, ein Schleifen, die anderen. Die meisten schlafen und hören nichts.

Wie kann ein so mächtiger Anprall mit so wenig Erschütterung einhergehen? Weil die Stahlplatten der Titanic im Verhältnis zu ihrer Größe etwa so dick sind wie das Blech einer Keksdose!, schreibt kurz nach der Katastrophe der polnische Kapitän Jozef Konrad Korzeniowski, der als Schriftsteller in englischer Sprache unter dem Namen Joseph Conrad berühmt geworden ist. Die Dicke von Haut und Spanten lasse sich nicht beliebig vergrößern, sagt Conrad; also sei ein Schiff von 3000Tonnen immer sicherer als dieses mit seinen 46300Tonnen – «eine monströse Atlantik-Fähre, die von einem Hotelsyndikat gemanagt wurde».

George Harder und seine Braut vernehmen immerhin einen dumpfen Schlag, und dann erblicken sie, höchst verwirrt, eine Eiswand vor dem Bullauge. Mrs.J.Stuart White aus Briarcliff Manor im Staat New York, die mit Diener, Zofe und Gesellschafterin reist, sitzt auf dem Bett, im Begriff, das Licht zu löschen, als sie ein Geräusch vernimmt, «als ob wir über tausend Murmeln führen». Nein, erschreckend sei daran nichts gewesen, erzählt sie später.

Auch Frederick Fleet im Mastkorb registriert nur «ein schleifendes Geräusch». Hat Sie das nicht alarmiert?, fragt der Vorsitzende des amerikanischen Ausschusses. «No, Sir. Ich dachte, wir sind mit knapper Not davongekommen.» Wörtlich: «It was a narrow shave»: eine scharfe Rasur; nur dass sich eben die Titanic dabei tief geschnitten hat.

23.42Uhr – noch 158Minuten bis zum Untergang: