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»Sehr beiläufig, sehr melancholisch, sehr eindringlich.« SÜDDEUTSCHE ZEITUNG ›Nach dem Beben‹, sechs Erzählungen, die Haruki Murakami schrieb, als die japanische Insel bebte und ein Giftgasanschlag die Gesellschaft erschütterte. Beide Ereignisse – das Erdbeben von Kobe mit Tausenden von Toten und die Terrorakte in der U-Bahn von Tokyo – bewogen ihn 1995, aus dem ›Exil‹ zurückzukehren, um, wie er sagte, seinem Land beizustehen. ›Nach dem Beben‹: Fünf Tage und Nächte verbringt die Frau eines Verkäufers für HiFi-Geräte vor dem Fernsehen mit den Katastrophenbildern vom Erdbeben – dann verlässt sie ihren Mann, der sich mit einem mysteriösen Päckchen auf eine Reise begibt. Eine Wahrsagerin sieht tief in die hasserfüllte Seele einer Ärztin, die einem Mann aus Kobe, der ihre Hoffnungen zerstört hat, den Tod wünscht. Die vierzehnjährige Sara begegnet in ihren Alpträumen dem Erdbebenmann, der sie in eine Kiste sperren will. Und der Bankangestellte Katagiri hat in seiner Wohnung Besuch von einem Riesenfrosch, der Tokyo vor der Zerstörung durch einen Wurm retten will. Aber der zwingendste Charakter von allen ist das Erdbeben selbst: Der sichtbare Schaden ist weniger schmerzlich als der untröstliche in der Seele der Menschen. Dieser Band enthält die folgenden Erzählungen: ›Ufo in Kushiro‹ ›Stilleben mit Bügeleisen‹ ›Alle Kinder Gottes tanzen‹ ›Thailand‹ ›Frosch rettet Tokyo‹ ›Honigkuchen‹
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Seitenzahl: 186
»Lisa, was war denn das gestern?«
»Es war das, was es war.«
»Unmöglich! Das ist grausam!«
F. M. Dostojewski,
Die Dämonen
Radio: ... hatte die Truppe nach einem Überfall des Vietcong erhebliche Verluste zu verzeichnen. Anderen Berichten zufolge hat der Feind selbst bei diesem Unternehmen 115 Mann verloren.
Frau: Entsetzlich ist das, nicht? So anonym. Mann: Wieso?
Frau: Man spricht von 115 toten Partisanen und geht zur nächsten Meldung über. Dabei war doch jeder einzelne von ihnen ein Mensch. Wir wissen nichts von ihm. Ob sie ihre Frau geliebt haben, ob sie Kinder hatten, ob sie lieber ins Kino gegangen sind oder ins Theater. Gar nichts weiß man. Man sagt einfach: 115 Tote.
Jean-Luc Godard,
Pierrot Le Fou (dt. Elf Uhr nachts)
Fünf Tage lang verbrachte sie ihre gesamte Zeit vor dem Fernseher, starrte stumm auf die Bilder von zerstörten Banken und Krankenhäusern, niedergebrannten Einkaufszentren und eingestürzten Schienen und Hochstraßen. Tief ins Sofa geschmiegt, die Lippen fest zusammengepresst, saß sie da und gab auch keine Antwort, wenn Komura sie ansprach. Sie reagierte nicht einmal mit einem Kopfschütteln oder Nicken, und er wusste nicht, ob seine Worte überhaupt bis zu ihr durchgedrungen waren.
Komuras Frau stammte aus Yamagata und hatte seines Wissens in der Umgebung von Kobe weder Verwandte noch Bekannte. Dennoch saß sie wie gebannt von morgens bis abends vor dem Fernseher, ohne etwas zu essen oder zu trinken. Sie ging nicht einmal auf die Toilette. Allenfalls griff sie hin und wieder nach der Fernbedienung, um auf ein anderes Programm umzuschalten. Sonst rührte sie sich nicht.
Morgens machte Komura sich selbst seinen Toast, trank allein seinen Kaffee und ging zur Arbeit. Abends, wenn er nach Hause kam, saß seine Frau noch in der gleichen Haltung vor dem Fernseher wie am Morgen. Ratlos bereitete er sich mit dem, was er im Kühlschrank fand, ein einfaches Abendessen und verzehrte es allein. Wenn er zu Bett ging, verfolgte seine Frau gerade mit starrem Blick und von einer Mauer aus undurchdringlichem Schweigen umgeben die Spätnachrichten. Komura gab es auf, sie auch nur anzusprechen.
Und als er an jenem Sonntag, dem fünften Tag, um die übliche Zeit von der Arbeit nach Hause kam, war seine Frau verschwunden.
Komura arbeitete als Verkäufer für hochwertige Stereoanlagen in einem der alteingesessenen Geschäfte für Hi-Fi-Geräte in Akihabara und erhielt neben seinem Gehalt bei jedem Abschluss eine Provision. Seine Kunden waren zumeist Ärzte, wohlhabende Unternehmer und gut situierte Leute aus der Provinz. Seit fast acht Jahren arbeitete er in dieser Branche, und er hatte von Anfang an nicht schlecht verdient. Die Wirtschaft florierte, die Preise waren hoch, und in Japan gab es Geld in Hülle und Fülle. Die Geldbörsen der Leute quollen nur so über vor Zehntausend-Yen-Scheinen, und alle waren ganz scharf darauf, sie auszugeben. Je teurer eine Ware, desto begehrter war sie.
Groß, schlank und stets gut gekleidet, wirkte Komura ansprechend auf die meisten Menschen. Als Junggeselle hatte er viel Erfolg bei Frauen gehabt, aber nachdem er mit sechsundzwanzig geheiratet hatte, war sein Appetit auf sexuelle Abenteuer seltsamerweise schlagartig versiegt. In den fünf Jahren seiner Ehe hatte er mit keiner anderen Frau als seiner eigenen geschlafen. Nicht dass es ihm an Gelegenheiten gefehlt hätte. Er hatte einfach das Interesse an flüchtigen Affären verloren. Viel lieber ging er gleich von der Arbeit nach Hause und aß gemütlich mit seiner Frau zu Abend. Nachdem sie noch eine Weile auf dem Sofa gesessen und sich unterhalten hatten, gingen sie zu Bett, und er schlief mit ihr. Andere Bedürfnisse hatte er nicht.
Komuras Hochzeit hatte bei seinen Freunden und Kollegen einige Verwunderung ausgelöst, denn neben dem gut aussehenden Komura mit dem markanten Gesicht wirkte seine Frau ausgesprochen durchschnittlich. Aber nicht nur ihr Äußeres war unscheinbar, sondern auch ihr Wesen wirkte wenig anziehend. Sie war klein, hatte dickliche Arme und sah alles in allem plump aus. Zudem redete sie wenig, und ihr Gesicht war meistens ziemlich mürrisch.
Dennoch fühlte sich Komura, ohne dass er einen Grund dafür gewusst hätte, immer erleichtert, wenn er mit seiner Frau zusammen war – als würde ihm eine schwere Last von den Schultern genommen. Nachts schlief er ruhig, und die seltsamen Träume, die ihn früher bedrückt hatten, suchten ihn schon lange nicht mehr heim. Seine Erektionen waren stabil, und sein Sexualleben war befriedigend. Gedanken an den Tod, Geschlechtskrankheiten oder die Weite des Universums beunruhigten ihn längst nicht mehr.
Seine Frau dagegen hasste das klaustrophobische Leben in der Großstadt Tokyo und sehnte sich nach Yamagata zurück, wo ihre Eltern und ihre beiden älteren Schwestern lebten. Sooft dieses Gefühl überhand nahm, fuhr sie nach Hause. Ihre Eltern führten ein gutgehendes traditionelles Gasthaus, und ihr Vater, der sehr an seiner jüngsten Tochter hing, übernahm gern ihre Reisekosten. Es war schon mehrmals vorgekommen, dass Komura von der Arbeit nach Hause kam und auf dem Küchentisch einen Zettel vorgefunden hatte, auf dem seine Frau ihm mitteilte, sie sei für eine Weile zu ihren Eltern gefahren. Komura hatte sich nie darüber beschwert, sondern geduldig auf ihre Rückkehr gewartet, und nach einer Woche oder zehn Tagen war sie in bester Laune wieder da.
Doch in dem Brief, den sie ihm bei ihrem Verschwinden fünf Tage nach dem Erdbeben hinterließ, erklärte sie ihm in schlichten, klaren Worten, dass sie nicht mehr zurückkommen würde und nicht länger mit Komura leben wolle.
»Das Problem ist, dass Du mir nichts gibst«, schrieb sie. »Um es noch deutlicher zu sagen: Du hast nichts in Dir, was Du mir geben könntest. Du bist liebevoll, sympathisch und siehst gut aus, aber mit Dir zu leben, ist für mich, wie mit einem Klumpen Luft zu leben. Doch das liegt natürlich nicht nur an Dir. Bestimmt gibt es viele Frauen, die sich in Dich verlieben würden. Versuch bitte nicht, mich anzurufen. Die Sachen, die ich dagelassen habe, kannst Du fortwerfen.«
Doch eigentlich hatte sie kaum etwas zurückgelassen. Ihre Kleider, ihre Schuhe, ihr Schirm, ihr Kaffeebecher und ihr Föhn, sie waren nicht mehr da. Wahrscheinlich hatte sie alles in Kartons gepackt und mit der Post verschickt, nachdem er zur Arbeit gegangen war. Von ihren »Sachen« waren nur noch das Fahrrad, mit dem sie immer zum Einkaufen gefahren war, und ein paar Bücher übrig. Dafür war Komuras Sammlung von Beatles- und Bill-Evans-CDs, die noch aus seiner Junggesellenzeit stammte, aus dem Regal verschwunden.
Am nächsten Tag rief er dennoch bei der Familie seiner Frau in Yamagata an. Ihre Mutter war am Apparat und erklärte, seine Frau wolle nicht mit Komura sprechen. Sie klang entschuldigend. Sie würden ihm die entsprechenden Papiere zuschicken, fügte sie hinzu. Er möge seinen Stempel darunter setzen und sie möglichst rasch zurücksenden.
»›Möglichst rasch‹ ist gut. Immerhin handelt es sich um eine wichtige Angelegenheit. Ihr müsst mir zumindest etwas Bedenkzeit lassen«, sagte Komura.
»Du kannst nachdenken, so lange du willst«, erwiderte seine Schwiegermutter, »aber ich glaube kaum, dass sich dadurch etwas ändern wird.«
Wahrscheinlich hat sie Recht, dachte Komura. Ich kann warten und nachdenken, bis ich schwarz werde, aber zurückkommen wird sie nicht.
Kurz nachdem Komura die Scheidungspapiere zurückgeschickt hatte, bat er um eine Woche bezahlten Urlaub. Sein Vorgesetzter war in die Umstände eingeweiht und hatte keine Einwände, zumal im Februar ohnehin nicht viel los war. Er machte ein Gesicht, als wolle er noch etwas sagen, hielt aber dann doch den Mund.
»Ich höre, Sie nehmen Urlaub, Herr Komura. Was haben Sie denn vor?«, fragte sein Kollege Sasaki.
»Hm, das weiß ich noch nicht so recht.«
Sasaki war drei Jahre jünger als Komura und unverheiratet. Er war klein, hatte kurzes Haar und trug eine Brille mit Goldrand. Viele fanden, dass er zu viel redete und allzu selbstsicher auftrat, aber der ausgeglichene Komura kam nicht schlecht mit ihm aus.
»Wenn schon, denn schon. Gönnen Sie sich doch eine kleine Erholungsreise.«
»Hm«, machte Komura.
Sasaki putzte sich mit einem Taschentuch die Brille und sah Komura forschend ins Gesicht.
»Waren Sie schon mal in Hokkaido?«
»Nein«, antwortete Komura.
»Haben Sie Lust hinzufahren?«
»Wieso?«
Sasaki kniff die Augen zusammen und räusperte sich. »Also ehrlich gesagt, ich habe da ein Päckchen, das nach Kushiro soll, und hatte gehofft, Sie könnten es vielleicht für mich hinbringen. Sie würden mir damit einen großen Gefallen tun. Natürlich bezahle ich Ihnen Hin- und Rückflug. Und um Ihre Unterkunft würde ich mich auch kümmern.«
»Ist es ein kleines Päckchen?«
»Ungefähr so groß«, sagte Sasaki und bildete mit den Fingern ein Viereck von etwa zehn Zentimetern im Quadrat. »Schwer ist es auch nicht.«
»Hat es mit beruflichen Dingen zu tun?«
Sasaki schüttelte den Kopf. »Überhaupt nicht. Eine hundertprozentig persönliche Angelegenheit. Ich kann es nicht mit der Post schicken, weil ich nicht möchte, dass es herumgeworfen wird. Am liebsten würde ich es jemandem anvertrauen, den ich kenne. Selbst habe ich nicht die Zeit gefunden, es nach Hokkaido zu bringen.«
»Ist es etwas Wichtiges?«
Sasaki verzog die zusammengepressten Lippen und nickte. »Schon, aber der Inhalt ist weder zerbrechlich noch gefährlich, also gibt es keinen Grund zur Beunruhigung. Man kann es ganz normal transportieren. Wenn es am Flughafen durchleuchtet wird, brauchen Sie auch keine Scherereien zu befürchten. Ich möchte es nur eben nicht mit der Post verschicken.«
Bestimmt war es im Februar in Hokkaido furchtbar kalt. Andererseits spielte es für Komura keine Rolle, ob es dort kalt oder heiß war.
»Und wem soll ich das Päckchen übergeben?«
»Meiner jüngeren Schwester.«
Komura hatte überhaupt noch nicht darüber nachgedacht, wie er seinen Urlaub verbringen wollte. Sich jetzt noch mit Vorbereitungen herumzuschlagen, erschien ihm zu lästig, und so ging er auf Sasakis Vorschlag ein. Schließlich hatte er ja auch keinen Grund, nicht nach Hokkaido zu fliegen. Sogleich rief Sasaki bei einer Fluggesellschaft an und buchte ihm für den übernächsten Tag einen Nachmittagsflug nach Kushiro.
Am nächsten Tag übergab Sasaki ihm im Büro ein Kästchen von der Größe einer Urne, das in braunes Packpapier eingeschlagen war. Es schien aus Holz zu sein und wog, wie Sasaki gesagt hatte, fast nichts. Um das braune Papier war ringsum breites transparentes Klebeband geklebt. Komura nahm das Päckchen in die Hand und betrachtete es. Er schüttelte es probeweise, spürte aber keinen Widerstand. Es verursachte auch kein Geräusch.
»Meine Schwester holt Sie vom Flughafen ab. Sie kümmert sich auch um Ihre Übernachtung«, sagte Sasaki. »Bleiben Sie einfach mit dem Päckchen in der Hand am Ausgang des Flugsteigs stehen. Keine Sorge, der Flughafen ist nicht sehr groß.«
Komura verließ das Haus mit einer Reisetasche, in der sich, eingewickelt in ein dickes Unterhemd, das ihm anvertraute Päckchen befand. Die Maschine war wesentlich voller, als er erwartet hatte, und er fragte sich, was wohl so viele Menschen dazu veranlassen mochte, mitten im Winter nach Kushiro zu fliegen.
Die Zeitung war immer noch voller Artikel über das Erdbeben. Er nahm seinen Platz ein und las sie von vorn bis hinten durch. Die Anzahl der Todesopfer stieg weiter, viele Gegenden waren von Trinkwasser und Strom abgeschnitten, und zahllose Menschen hatten ihr Heim verloren. Immer mehr tragische Vorfälle kamen ans Licht. Doch seltsamerweise nahmen die Einzelheiten für Komura keine plastische Gestalt an, sondern berührten ihn nur wie ein fernes, gleichförmiges Rauschen, das aus dem Hintergrund an sein Ohr drang. Der einzige Gedanke, der ihn ernstlich beschäftigte, war der an seine Frau, die sich immer weiter von ihm entfernte.
Während er mechanisch die Artikel über das Erdbeben überflog, schweifte er in Gedanken immer wieder zu ihr. Als er es leid war, an seine Frau zu denken oder den Buchstaben zu folgen, schloss er die Augen und döste für eine Weile. Doch kaum war er wieder wach, musste er schon wieder an seine Frau denken. Warum nur hatte sie so gebannt von morgens bis abends die Fernsehberichte über das Erdbeben verfolgt, ohne zu essen oder zu schlafen? Was konnte sie darin nur gesehen haben?
Am Flughafen wurde Komura von zwei jungen Frauen in Mänteln von gleichem Schnitt und gleicher Farbe angesprochen. Die eine war sehr hellhäutig, fast einen Meter siebzig groß und hatte kurzes Haar. Die Partie zwischen ihrer Nase und ihrer Oberlippe war so seltsam lang, dass Komura sich an ein kurzhaariges Huftier erinnert fühlte. Die andere Frau war vielleicht fünfzehn Zentimeter kleiner und eigentlich recht hübsch, nur dass sie eine so winzige Nase hatte, störte. Das Haar fiel ihr glatt bis auf die Schultern und ließ die Ohren frei, auf dem linken hatte sie zwei Muttermale, die besonders ins Auge fielen, weil sie Ohrringe trug. Die beiden Frauen, die anscheinend Mitte zwanzig waren, führten Komura in ein Café am Flughafen.
»Ich bin Keiko Sasaki«, stellte die größere sich vor. »Und das ist meine Freundin Shimao. Sie haben meinem Bruder einen großen Gefallen getan.«
»Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte Komura.
»Guten Tag«, sagte Shimao.
»Mein Bruder hat mir erzählt, dass Ihre Frau vor kurzem verstorben ist«, sagte Keiko Sasaki mit teilnahmsvoller Miene.
Komura zögerte ein wenig, bevor er antwortete. »Nein, nein, sie ist nicht gestorben.«
»Aber mein Bruder hat mir gestern am Telefon gesagt: Herrn Komuras Frau ist kürzlich von ihm gegangen.«
»Nein, sie ist nur ausgezogen. Soviel ich weiß, ist sie am Leben und bei bester Gesundheit.«
»Wie seltsam! Bei so etwas verhört man sich doch nicht!«
Obwohl sie diejenige war, die sich geirrt hatte, wirkte Keiko gekränkt. Komura tat Zucker in seinen Kaffee und rührte langsam um. Dann nahm er einen Schluck. Der Kaffee war dünn und schmeckte nach nichts. Es war nur dem Namen nach Kaffee. Komura begann sich zu fragen, was er eigentlich in Hokkaido verloren hatte.
»Aber ich muss es ja missverstanden haben, etwas anderes kann ich mir nicht vorstellen«, lenkte Keiko Sasaki ein. Sie schien sich wieder gefasst zu haben. Nach einem tiefen Seufzer biss sie sich leicht auf die Lippe. »Entschuldigen Sie bitte, das war sehr taktlos von mir.«
»Macht nichts. In gewisser Weise ist sie ja wirklich von mir gegangen.«
Während die beiden miteinander sprachen, schaute Shimao ihn stumm und lächelnd an. Sie fand ihn sympathisch. Zumindest glaubte Komura dies ihrem Gesicht und ihren verhaltenen Gesten entnehmen zu können. Einen Moment lang schwiegen sie alle drei.
»Zunächst will Ihnen einmal das Päckchen geben«, sagte Komura schließlich. Er öffnete den Reißverschluss seiner Reisetasche und wickelte das Päckchen aus dem dicken Skiunterhemd. Erst jetzt fiel ihm ein, dass er es ja eigentlich in der Hand hatte halten sollen, damit Sasakis Schwester ihn erkennen konnte. Wieso hatten die Frauen ihn trotzdem sofort entdeckt?
Keiko Sasaki nahm das Päckchen über den Tisch entgegen und betrachtete es mit ausdrucksloser Miene. Wie auch Komura es getan hatte, prüfte sie sein Gewicht und schüttelte es mehrmals leicht an ihrem Ohr. Um Komura zu signalisieren, dass alles in Ordnung war, lächelte sie ihm zu und ließ das Kästchen in ihrer großen Schultertasche verschwinden.
»Ich muss telefonieren. Ob Sie mich kurz entschuldigen würden?«, fragte sie.
»Aber sicher. Natürlich, bitte«, sagte Komura.
Keiko hängte sich ihre Tasche um und machte sich auf den Weg zu einer Telefonzelle, die ein Stück entfernt war. Komura sah ihr nach. Ihr Oberkörper blieb reglos, während sie sich von der Hüfte abwärts rhythmisch, geschmeidig und ausladend bewegte. Als er ihre Art zu gehen sah, hatte er das sonderbare Gefühl, unversehens sei eine Szene aus der Vergangenheit in sein gegenwärtiges Blickfeld geraten.
»Waren Sie schon mal in Hokkaido?« fragte ihn Shimao.
Komura schüttelte den Kopf.
»Eine ganz schön weite Reise, nicht?«
Komura nickte und blickte sich um. »Aber wenn ich hier so sitze, habe ich nicht das Gefühl, eine so lange Strecke zurückgelegt zu haben. Seltsam.«
»Das kommt, weil Sie geflogen sind. Es geht einfach zu schnell«, sagte Shimao. »Der Körper kann bei so einer Geschwindigkeit mithalten, aber das Bewusstsein nicht.«
»Da könnten Sie Recht haben.«
»Wollten Sie denn überhaupt eine so weite Reise machen?«
»Vielleicht.«
»Weil Ihre Frau nicht mehr da ist?«
Komura nickte.
»Sich selbst entkommt man nie, da kann man so weit fliegen, wie man will«, sagte Shimao.
Komura, der geistesabwesend die Zuckerdose auf dem Tisch angestarrt hatte, hob den Kopf und schaute ihr ins Gesicht.
»Sie sagen es. Wohin man auch geht, sich selbst entkommt man nicht. Es ist so wie mit dem eigenen Schatten, der folgt einem auch überallhin.«
»Sie haben Ihre Frau geliebt, nicht wahr?«
Komura drückte sich um die Antwort herum. »Sie sind eine Freundin von Keiko Sasaki?«
»Ja, wir sind sehr gute Freundinnen.«
»Wie gut?«
»Haben Sie Hunger?« Diesmal wich Shimao aus.
»Hm«, machte Komura. »Einerseits ja, andererseits aber auch wieder nicht.«
»Wir drei sollten etwas Heißes essen gehen. Eine warme Mahlzeit tut Ihnen bestimmt gut.«
Shimao fuhr einen kleinen Subaru mit Vierradantrieb, der aussah, als hätte er weit mehr als hunderttausend Kilometer auf dem Buckel. In der hinteren Stoßstange war eine prächtige Delle. Keiko Sasaki ließ sich auf dem Beifahrersitz nieder, und Komura quetschte sich auf die enge Rückbank. Shimao fuhr nicht schlecht, aber hinten dröhnte es entsetzlich. Außerdem waren die Stoßdämpfer so gut wie am Ende. Die automatische Gangschaltung krachte, und die Heizung spielte völlig verrückt. Als Komura die Augen schloss, kam er sich vor, wie in einer vollautomatischen Waschmaschine eingeschlossen.
In Kushiro lag kein Schnee auf den Straßen, dafür türmte er sich schmutzig und vereist zu beiden Seiten, chaotisch wie Worte, die ihren Sinn verloren haben. Die Wolken hingen tief, und es war schon sehr dunkel, obwohl die Sonne noch nicht untergegangen war. Gellend pfiff der Wind durch die Dunkelheit. Kein Mensch war zu Fuß unterwegs. In dieser trostlosen Szenerie waren sogar die Ampeln offenbar eingefroren.
»In dieser Gegend haben wir nicht sehr viel Schnee«, schrie Keiko Sasaki, wobei sie sich zu ihm umdrehte. »Hier an der Küste bläst der Wind sehr stark, sodass alles gleich wieder weggeweht wird. Dafür wird es hier superkalt. So kalt, dass einem fast die Ohren abfallen.«
»Ab und zu erfriert auch ein Betrunkener, der auf der Straße eingeschlafen ist«, sagte Shimao.
»Gibt es hier in der Gegend Bären?« fragte Komura.
Keiko warf Shimao einen Blick zu und lachte. »Hast du das gehört? Er fragt nach Bären.«
Shimao kicherte einvernehmlich.
»Ich habe nicht viel Ahnung von Hokkaido«, sagte Komura zu seiner Entschuldigung.
»Ich kenne da eine spannende Geschichte, in der Bären eine Rolle spielen«, sagte Keiko. »Stimmt doch, Shimao, oder?«.
»Ausgesprochen spannend«, sagte Shimao.
An dieser Stelle brach das Gespräch ab, und die Bärengeschichte wurde nicht erzählt, aber Komura hakte auch nicht nach. Bald darauf erreichten sie ihr Ziel – ein großes Nudel-Restaurant an der Autobahn. Sie stellten den Wagen ab und gingen hinein. Komura bestellte ein Bier und eine heiße Nudelsuppe. Das Lokal war schmutzig und leer, die Tische und Stühle wirkten schäbig, aber die Suppe war ausgezeichnet, und als Komura damit fertig war, fühlte er sich tatsächlich schon viel wohler.
»Was würden Sie denn gern in Hokkaido unternehmen, Herr Komura?«, fragte Keiko Sasaki. »Mein Bruder sagte, Sie könnten ungefähr eine Woche bleiben.«
Komura überlegte einen Moment, aber es fiel ihm nichts ein.
»Wie wäre es denn mit einer heißen Quelle? Hätten Sie nicht Lust, sich in einem Thermalbad zu entspannen? Ich kenne da einen hübschen kleinen Badeort ganz in der Nähe.«
»Das wäre gar nicht schlecht«, sagte Komura.
»Es wird Ihnen dort bestimmt gefallen. Ein sehr angenehmer Ort, und Bären gibt es auch keine.«
Wieder tauschten die beiden Frauen Blicke und lachten.
»Herr Komura, stört es Sie, wenn ich Sie nach Ihrer Frau frage?« sagte Keiko.
»Nein.«
»Wann hat Ihre Frau Sie verlassen?«
»Fünf Tage nach dem Erdbeben, also vor über zwei Wochen.«
»Hatte es etwas mit dem Erdbeben zu tun?«
Komura schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht.«
»Ich frage mich, ob solche Dinge nicht immer etwas miteinander zu tun haben«, sagte Shimao nachdenklich.
»Es ist einem nur nicht bewusst«, sagte Keiko.
»So was gibt’s«, sagte Shimao.
»Was meinen Sie mit ›so was‹?«, fragte Komura.
»So was Ähnliches, wie es jemandem passiert ist, den ich kenne«, sagte Keiko.
»Meinst du Herrn Saeki?« fragte Shimao.
»Genau«, sagte Keiko. »Herr Saeki lebt in Kushiro, ist etwa vierzig und Friseur von Beruf. Es geschah im vergangenen Herbst. Als seine Frau eines Nachts allein mit dem Auto unterwegs war, hat sie mitten auf einem Feld vor der Stadt ein großes UFO landen sehen. Wie in Unheimliche Begegnungen der dritten Art. Eine Woche später war sie fort. Sie hatten auch keine Familienprobleme oder so was. Sie verschwand einfach und ist nie wieder aufgetaucht.«
»Spurlos«, fügte Shimao hinzu.
»Und das UFO war der Grund?«, fragte Komura.
»Das weiß ich nicht. Nur dass sie eines Tages fortgegangen ist, ohne eine Nachricht zu hinterlassen, obwohl sie zwei Kinder im Grundschulalter hat«, sagte Keiko. »In der Woche vor ihrem Verschwinden redete sie von nichts anderem als dem UFO. In einem fort. Wie groß es war und wie schön – pausenlos.«
Die beiden Frauen ließen Komura einen Moment Zeit, damit er die Geschichte verdauen konnte.
»Immerhin hat meine Frau mir eine Nachricht hinterlassen«, sagte er. »Und wir haben keine Kinder.«
»Dann sind Sie ein wenig besser dran als Herr Saeki«, sagte Keiko.
»Ja, für die Kinder ist es am schlimmsten.« Shimao nickte.
»Shimaos Vater hat ihre Familie verlassen, als Shimao sieben war«, erklärte Keiko und runzelte die Stirn. »Er ist mit der jüngeren Schwester ihrer Mutter durchgebrannt.«
»Eines Tages, ganz plötzlich«, sagte Shimao und lächelte.
Schweigen senkte sich über die drei.
»Vielleicht ist Frau Saeki gar nicht weggelaufen, sondern die Außerirdischen im UFO haben sie mitgenommen«, sagte Komura, um die Situation zu entschärfen.
»Das ist möglich«, sagte Shimao ernst. »So etwas hört man oft.«
»Oder sie wurde auf der Straße von einem Bären gefressen«, sagte Keiko. Wieder lachten die beiden Frauen.
Nachdem sie das Lokal verlassen hatten, fuhren sie zu einem Love Hotel in der Nähe. Es lag außerhalb der Stadt an einer Straße, an der Grabsteinhändler und Hotels für Liebespaare einander abwechselten. Eines, das die ungewöhnliche Form einer europäischen Burg hatte, steuerte Shimao nun an. Von der Zinne wehte ein roter Wimpel.